Die neue Landliebe - Raetia Publica

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Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020

Die neue Landliebe
von Veronika Rall. Die Autorin hat überwiegend in Städten gelebt: in Frankfurt und San Francisco, Berlin
und Zürich. Seit 2015 wohnt sie im Bergell, zunächst als Zweiheimische, seit 2017 als Einheimische. Nach
Tätigkeiten als Redaktorin und Dozentin arbeitet sie heute als freie Autorin.

Die Generationen Y und Z stehen auf Gardening, «Pilzlen» und Wandern – noch nie schien Landliebe so
beliebt. Raus aus dem Dichtestress, rein in die Natur. Produzieren statt Konsumieren. Aber die Realität
der Dörfer in den Berggebieten ist oft nicht «instagrammable». Ein Bericht über Verlust von
Arbeitsplätzen, Abwanderung, marginal funktionierendem öffentlichem Verkehr – und von der Abkehr
von konventionellen Wirtschaftskonzepten.

Raus aufs Land? Das ist gegenwärtig ein Traum, den viele hegen. Schon im Mai 2018 rief die deutsche
Schriftstellerin Charlotte Roche dazu auf, die Städte zu verlassen: «Was ist», fragte sie reichlich polemisch,
«wenn Burnout nicht von der Arbeit kommt, sondern von dem Ort an dem wir leben und arbeiten?»
Zahmer verbreitet eine Instagram- und Tiktok-Welle die pittoreske Ländlichkeit unter dem Hashtag
#cottagecore: «In Metropolen von Berlin bis San Francisco scheinen sich junge Frauen morgens nichts
lieber zu wünschen, als noch vor dem ersten Soja-Latte einen Stall auszumisten», schreibt der Zürcher
Tages-Anzeiger. Mehr Landliebe war noch nie. Und: Neu prägt sie eine Szene der Generationen Y & Z, die
bislang der Urbanität verpflichtet waren, das ist ein Trend, der sich in der (Post-) Corona-Epoche noch
verstärkt. Raus aus dem Dichtestress der Städte, rein in die Natur. Wandern ist so hipp wie Gardening, Pilze
sammeln und Marmelade kochen.

Diese neue Landliebe verliert das folkloristische, konservative Image und nimmt politisch einen modernen
«grünen», anti-konsumistischen Farbton an: «In einer Gesellschaft, in der zunehmend alles käuflich ist,»
schreibt Wolf Schmidt in Luxus Landleben, «wird das Landleben zu einer neuen Form, sich selbst zu
spüren.» Produzieren statt konsumieren ist die neue Parole einer erfüllten Existenz, die Vorteile in der
Überschaubarkeit, in der Selbstbestimmbarkeit von Raum und Zeit entwickelt.

Aber die Realität der Dörfer in den Berggebieten der Schweiz ist kein Insta-Post. Entsprechend fokussiert
der Bericht Alptraum des Wirtschaftsforums Graubünden in der Vision 2050 auf die Schwächen und Risiken
im Rahmen seiner SWOT-Analyse: Graubünden ist Teil des «verkehrstechnisch benachteiligten
Alpenraums» und schlecht an Schweizer Metropolitanräume angebunden. Der Kanton verliert dadurch
insbesondere ausserhalb des Rheintals Arbeitsplätze und verzeichnet die Abwanderung qualifizierter junger
Arbeitnehmer*innen. Entsprechend schwindet die ohnehin schon überalterte Bevölkerung und es folgt ein
Verlust an Steuersubstrat. Eine Negativspirale.

Trendwende im Selbstversuch
Seit 2017 ist das Bergell meine Heimat, ein schmales Tal, das von Maloja (1810m) bis hinunter ins
italienische Chiavenna (333m) führt und von schroffen Dreitausendern gesäumt wird. Seit 2010 bilden die
Schweizer Dörfer des Tals politisch die Gemeinde Bregaglia, die etwa 1550 Einwohner*innen zählt.
Historisch war das Tal wichtiger Abschnitt einer Passage über die Alpen, es erschliesst den Weg über den
bereits von den Römern genutzten Septimerpass. Heute liegt das Bergell abseits der zentralen
Alpentransversalen: der Malojapass bildet den Zugang zum Engadin, er dient den Bergeller*innen, aber
auch vielen Italiener*innen als Zufahrt zu ihren Arbeitsplätzen der Tourismushochburg rund um St. Moritz.

Überraschend ist im Bergell die historische Bausubstanz der intakten Dörfer, die bis ins 12. Jahrhundert
zurückreicht und Italianità verspricht. Es gibt (absehen von Maloja) kaum Zweitwohnungsbauten, die
wenigen Siedlungen aus den 60er Jahren stammen von renommierten Architekten wie Bruno Giacometti,
seit 2003 wird die Kantonsstrasse ausserhalb der (meisten) Dörfer geführt. 2015 wurde die Gemeinde mit
dem Wakkerpreis ausgezeichnet, gewürdigt wurde, dass «eine Talschaft am Rande der Schweiz aus dem
baukulturellen Erbe die Kraft schöpft, eine eigenständige Entwicklung voranzutreiben. Der Willen zum
Erhalt der eigenen Identität ermöglicht selbständige und kreative Lösungsansätze für Herausforderungen
wie den Zweitwohnungsbau, die Abwanderung oder die Entleerung der Dorfkerne.»

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Was zieht Menschen wie mich in dieses abgelegene Tal? Zum grossen Teil war es genau diese Schönheit der
Region, die sich in den alten Ortskernen mit ihren wunderschönen Häusern, aber auch auf zahlreichen
Wanderwegen erschliesst. Wer zumeist in der Grossstadt gelebt hat, erlebt die Stille, den Raum, den Duft
nach Blüten und Früchten, aber die etwas langsamer vergehende Zeit als heilsamen Kontrast, der vom
ständigen passiven, doch hektischen Input auf aktive Selbstbesinnung und kreativen Output umschalten
lässt. Es ist die «Reduktion der Reize, Konzentration auf das Wesentliche» (Schmidt), aber auch eine neue
und andere Natur- und Selbsterfahrung. So gesehen erlebt man den ländlichen Raum nicht als Defizit,
sondern tatsächlich täglich als Geschenk, als Luxus.

Gewinn und Suffizienz neu definiert
Luxus – per Definition eine «Verhaltensweise, Aufwendung oder Ausstattung, die über das übliche Mass
bzw. den üblichen Lebensstandard hinausgeht» (Wikipedia) – muss man sich leisten können. Hier spielen
die im Dossier Alptraum benannten Defizite der Bergregion: Insbesondere Lohnarbeit und ein
Unternehmertum, das einen finanziellen Mehrwert schafft, sind auch im Bergell knapp. Lange Wege zu
potenziellen Arbeitsorten und ein nur marginal funktionierender öffentlicher Verkehr erschweren die
Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion der Bergbevölkerung.

Ursprünglich aber bedeutet das Wort Luxus «üppige Fruchtbarkeit» (Wikipedia) und weist damit auch auf
die Güter, die das Berggebiet seinem Unterland gratis und in Fülle zur Verfügung steht: Wasser, frische Luft
und ein angenehmes Klima, sowie Freizeiträume und Erholungsgebiete. Sie fallen aus dem Katalog der als
Wirtschaftsleistung erhobenen Daten. Ähnlich ist das Berggebiet auch nicht arm an Arbeit, sondern an
Lohnarbeit. Das beginnt bei der Pflege der Kulturlandschaft auf den Alpen (die, wie der Kulturgeograf
Werner Bätzing argumentiert, eben keine «reine» Natur sind), in den Dörfern, den Kastanienhainen, den
Gärten und auf den Wanderwegen. Viele dieser Leistungen übernehmen Vereine, Kooperativen, Stiftungen
oder Gesellschaften gratis, genauso wie die Pflege der Sprache und des kulturellen Erbes oder die
Organisation kultureller Veranstaltungen, die später den Eventkalender der Tourismusorganisationen
prägen.

Für die Zukunft des Berggebiets braucht es deshalb eine Abkehr von konventionellen Wirtschaftskonzepten
und eine Besinnung auf Suffizienz-Modelle, wie sie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Sachs entwickelt
hat. Gegenüber dem Wachstumsmodell der industriellen Wirtschaft bevorzugt es ein ökologisches Modell,
in dem nicht nur Ressourcen geschont werden, sondern im Zuge von «Entschleunigung, Entflechtung,
Entrümpelung und Entkommerzialisierung» neue Reproduktionsmodelle entdeckt werden. Im Zentrum
eines solchen Modells könnte das «Bedingungslose Grundeinkommen» für Bewohner*innen der
Berggebiete stehen, das nicht nur kleinere bäuerliche Betriebe substanziell entlasten (vgl. zalp.ch), sondern
auch die bislang kostenfrei erbrachten Leistungen mit einem Wert versehen würde. Es könnte den
Braindrain aufhalten und sogar den Zuzug von Forscher*innen und Kreativen ermöglichen, die dem
Berggebiet neue Impulse und eine andere Repräsentanz zu geben vermögen. Während die Vorteile der
Digitalisierung genutzt werden, könnten analoge und manuelle Fertigkeiten wieder aufgewertet und
eingesetzt werden. Kurz: Das Wirtschaften im Berggebiet könnte «multifunktionale
Zielsetzungen» (Bätzing) realisieren, statt sich auf den Ertrag zu fokussieren.

Das müssen keine Wolkenschlösser bleiben. Es kann nicht darum gehen, ob wir uns das Berggebiet leisten
können. Es existiert und versorgt alle mit lebensnotwendigen Gütern. Wichtig ist, dass das Berggebiet
lebbar ist und bleibt – dazu braucht es zuallererst Einheimische, die es kultivieren, aber auch Zweiheimische
und Tourist*innen, die kreativ nachhaltig operieren und einen Austausch zwischen Stadt und Land
herstellen. Ob dazu eine «Creative-Outlet-Plattform» wie Instagram taugt? Zumindest kann sie dabei
helfen, eine neue kulturelle Imagination des Berggebiets zu schaffen.

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Literatur
Bätzing, Werner (2015) Zwischen Wildnis und Freizeitpark: Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen. Zürich:
Rotpunkt.

Göbel, Anne (2020) «Das Leben ist ein Ponyhof» in: Tages-Anzeiger, 18.07.2020,
https://www.tagesanzeiger.ch/das-leben-ist-ein-ponyhof-770793856896

Rall, Veronika (2017) «Produzieren statt konsumieren». 27.09.2017. Abrufbar auf http://bergell-
blog.ch/2017/09/27/produzieren-statt-konsumieren/#more-1373

Roche, Charlotte (2018) «Verlasst die Städte!» in: SZ Magazin, 09. Mai 2018. https://sz-
magazin.sueddeutsche.de/charlotte-roche-jetzt-koennte-es-kurz-wehtun/stadtflucht-grossstadt-land-
85686

Schmidt, Wolf (2017) Luxus Landleben: Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs. Wismar:
Mecklenburger AnStiftung, 2017.

Schweizer Heimatschutz (2015) «Wakkerpreis an die Gemeinde Bergell». 20.01.2015. Abrufbar auf
http://www.heimatschutz.ch/uploads/media/Medienmitteilung_20_01_2015.pdf

zalp (2013) «Bedingungsloses Grundeinkommen und die Landwirtschaft». Abrufbar auf
https://www.zalp.ch/aktuell/suppen/suppe_2013_04/grundeinkommen.php

Graubünden: Zwischen Ballenberg und Hightech?
von Rudolf Minsch, stv. Vorsitzender der Geschäftsleitung, Leiter allgemeine Wirtschaftspolitik & Bildung
bei economiesuisse.

Das Wirtschaftsforum Graubünden fasst die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre
folgendermassen zusammen: «Rheintal gewinnt, ländliche Regionen verlieren.» Auf der einen Seite
wächst die Bevölkerung und die Wirtschaft im Gebiet zwischen Fläsch und Rhäzüns nicht weit vom
Schweizer Durchschnitt entfernt. Auf der anderen Seite stagniert oder schrumpft die Bevölkerung im
ländlichen Raum und die Wirtschaftsentwicklung ist schwach. Geht diese Entwicklung so weiter und was
ist allenfalls dagegen zu unternehmen?

Der wirtschaftliche Strukturwandel hat viele ländliche Gebiete fest im Griff. Erstens verliert der Tourismus
als wichtigste Einnahmequelle Graubündens an Bedeutung. Die Gründe sind vielfältig: Klimawandel,
kurzfristiges Buchungsverhalten der Gäste, schärfere Konkurrenz, starker Franken, hohe Kosten,
komplizierte Bewilligungsverfahren oder einschneidende behördliche Auflagen. Zweitens ist der
Bauboom durch die Zweitwohnungsinitiative ins Stocken geraten. Drittens arbeiten immer weniger
Menschen in der Landwirtschaft. Viertens geht der strukturelle Wandel der Finanzindustrie oft auf Kosten
ländlicher Gebiete. Fünftens sind die Verkehrswege derart gut ausgebaut, dass sich nur Orte mit einer
Zentrumsfunktion gegen den Strom stellen können.

Der wirtschaftliche Strukturwandel auf dem Land ist aber nur deswegen problematisch, weil wenig neue
Stellen in anderen Branchen hinzukommen. Ganz im Gegenteil im Bündner Rheintal und den
angrenzenden Gebieten des Domleschg oder des vorderen Prättigaus. Klar profitiert das Rheintal auch
von seiner Zentrumsfunktion für den ganzen Kanton. Doch wichtiger ist, dass hier neue, oft
anspruchsvolle Jobs in der Industrie und im Dienstleistungsbereich entstanden sind. Die Tätigkeiten im
Maschinenbau, Software-Entwicklung, Medizinaltechnik oder Bio-tech setzen ein hohes
Ausbildungsniveau voraus und werden entsprechend auch gut entlöhnt. Die Wertschöpfung wird oft im

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Export erzielt. Etliche Beispiele zeigen, dass die Vorteile der Globalisierung nicht nur in Zürich oder Basel
ausgenützt werden können, sondern auch bei uns.

Nun gibt es zwei Strategien: Man jammert über die Ungerechtigkeit, dass das Bündner Rheintal diese
Privilegien im Vergleich zu Restbünden hat oder wir versuchen, davon zu profitieren. Wie könnte letzteres
gelingen? Sicher nicht mit einem Gärtchendenken. Es spielt doch keine Rolle, wo die Jobs entstehen,
entscheidend ist, dass sie irgendwo bei uns entstehen. Je stärker sich das Bündner Rheintal in den
zukunftsträchtigen Branchen positionieren kann, desto besser für alle. Aufgrund der guten Verkehrswege
ist das Prättigau/Davos, das Albulatal, die Surselva oder auch das Hinterrheintal in Pendeldistanz zum
Bündner Rheintal. Doch wichtiger ist, dass mit einer starken wirtschaftlichen Region die Netzwerke
spielen können. Unternehmen profitieren davon, dass sie Mitarbeiter von anderen Unternehmen
übernehmen können. Mitarbeiter profitieren, weil sie die Stelle in der Region wechseln können und nicht
jeweils einen Wohnortwechsel in Kauf nehmen müssen. Die Fachhochschule kann diese Netzwerke
verstärken, indem sie in Forschungsfragen mit Unternehmen zusammenarbeitet und hochstehende
technische Ausbildungen anbietet. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, den Technopark
Graubünden in Landquart anzusiedeln. Er soll das Netzwerk verstärken und dazu beitragen, dass junge
technologieorientierte Unternehmen in Graubünden den Start wagen.

Ein starkes Netzwerk muss aber über das Bündner Rheintal hinausgehen. Zum einen ist natürlich die
Anbindung an den Rest der Schweiz zentral. Netzwerke zu den Entwicklungen in Zürich, in Basel oder in
Lausanne sind wichtig und heutzutage auch recht gut zu realisieren. Zum anderen aber bedeutet ein
Netzwerk auch, dass wir uns austauschen und gegenseitig unterstützen innerhalb des Kantons. So
entsteht hoffentlich bald der InnHub in La Punt, der im Engadin ein Innovations- und Bewegungszentrum
etablieren will. Eine Initiative, die seinesgleichen sucht und hoffentlich grossen Erfolg haben wird. Auch
die Davoser Forschungsinstitutionen gehören zum Netzwerk. Das SLF schafft in den nächsten Jahren neue
Stellen, die auch vom Kanton und von der ETH Zürich mitfinanziert werden. Je besser das Netzwerk ist,
desto grösser ist auch die Chance, dass neue Jobs auch ausserhalb des Rheintals geschaffen werden.

Statt sich also über die positive Entwicklung im Bündner Rheintal zu ärgern, sollten wir diese stärken.
Doch wir verfügen nicht wie Zürich über eine ETH vor der Haustüre oder wie Lausanne über eine EPFL.
Wir haben auch kein Cluster in der Uhrenindustrie, Finanzindustrie oder Pharmaindustrie. Viel zu
verzettelt scheinen unsere Unternehmen, Forschungsinstitute und Ausbildungsstätten zu sein. Die
Chance kann daher nur in der Vernetzung liegen. Dann hat Graubünden eine gute Chance, den
Strukturwandel erfolgreich zu meistern. Die Chancen stehen denn auch gar nicht so schlecht. Die
Digitalisierung hilft und lässt Distanzen schrumpfen. Immer mehr Menschen finden es auch wichtig,
abseits der Menschenmassen arbeiten zu können und in einer intakten Umwelt zu leben. Viele sind
Bündner Fans und können sich vorstellen, hier wieder tätig zu sein oder hier eine Firma aufzubauen. Mit
einem Gärtchendenken ziehen wir aber diese Menschen nicht an. Aber mit einem guten Netzwerk.

Progressive Provinz
von Jon Pult, Nationalrat und Strategie- und Kommunikationsberater

Graubünden driftet auseinander – dieses Narrativ zur Etwicklung unseres Kantons verfestigt sich seit
Jahren. Hier das prosperierende Churer Rheintal und die beiden touristischen «Hot Spots» Davos und
Oberengadin. Dort der alpine Rest. «Randregionen» oder sogar «potentialarme Räume», die mit
Abwanderung oder den strukturellen Problemen des (Winter-)Tourismus kämpfen. Die Erzählung ist nicht
falsch. Aber natürlich undifferenziert. Schliesslich hat die Mesolcina ganz andere Herausforderungen als
die Surselva, das Unterengadin andere Chancen als Mittelbünden und Puschlaver wie Prättigauer würden
sich kaum in der gleichen Kategorie sehen. Zudem gibt es neben «Engadin St. Moritz» und «Davos

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Klosters» auch weitere Top-Destinationen mit erfreulichen Zahlen. Und zwar nicht erst seit Corona dafür
gesorgt hat, dass die halbe Schweiz die Bündner Berge (wieder-)entdeckt.

Trotzdem lässt sich ein schleichender Niedergang grosser Teile Graubündens nicht wegdiskutieren. Die
Gründe sind vielfältig und die Lösungen kompliziert. Doch ein zentraler Faktor ist offensichtlich und
verdient mehr Aufmerksamkeit. Zu viele unserer besten Leute wandern ab. Zu viele gut ausgebildete
Fachkräfte, Akademikerinnen, Künstler, Querdenkende und wirtschaftlich wie gesellschaftlich Engagierte
kehren nach den Lehr- und Wanderjahren nicht nach Graubünden zurück. Zugleich schaffen wir es nicht,
sie durch eine vergleichbare Zuwanderung von Talenten aus dem Aus- und Unterland zu kompensieren.
Genau das müssen wir ändern.

Ja, wir brauchen mehr Zuwanderung! Wir sollten noch mehr Vielfalt in unserer Bevölkerung anstreben.
Mehr Macherinnen und Querköpfe anziehen. Mehr fortschrittliches Lebensgefühl wagen. Offenheit kann
unser Bündner Markenkern werden. Beliebt sind wir schon. Und von Haus aus auch ziemlich divers. Nicht
nur unsere spektakuläre Natur und unser kultureller Reichtum faszinieren. Man traut uns auch eine
spannende Mischung aus knorrigem Berglertum und moderner Weltläufigkeit zu. Natürlich müssen wir
noch an uns arbeiten. Verkrustete Strukturen müssen wir sprengen und eingespielte Seilschaften
auflösen. Für den Filz hat keinen Platz im neuen Graubünden. Wir stehen für Neugier und
Willkommenskultur. Vorurteile waren gestern. Unser neues Motto: Nicht nur Stadtluft, auch Bergluft
macht frei!

Klar, das ist etwas hoch gegriffen. Und eine richtige Metropole werden wir wohl nie. Aber die erste
progressive Provinz vielleicht schon. Das sollte unsere gemeinsame Vision sein. Wetten, dass dann auch
mehr Bündner Talente zurückkehren?

Ein Graubünden – oder zwei?
von Johannes Flury, Präsident der Pro Raetia

Die Überschrift mag seltsam erscheinen: Wenn es mehr als ein Graubünden geben sollte, dann gewiss
viele. Denn wir sind stolz auf unsere jeweils verschiedenen Täler mit ihren eigenen Sprachen, Traditionen
und Mentalitäten. Diese alle machen doch in den Augen vieler die Besonderheit des Kanons aus und wir
rühmen uns auch, damit in der Schweiz etwas Einzigartiges zu sein.

Das ist nicht falsch, aber in dieser Sichtweise ist doch auch eine gute Portion Nostalgie drin. In der
Zwischenzeit haben sich die Täler und Gebiete Graubündens verschieden entwickelt und in einer neuen
Studie des Wirtschafsforums Graubünden wird diese Entwicklung dann auch sehr klar beschrieben. Da ist
einerseits das Churer Rheintal mit dem Vorderprättigau und wenigen grossen Tourismuszentren und auf
der anderen Seite das verbleibende Gebiet, gross in der Fläche, aber schwach in der wirtschaftlichen
Kraft und abnehmend bezüglich Bevölkerung.

Wenn es so weitergeht – und die Studie sieht kaum etwas Anderes – droht der Kanton in zwei Teile zu
zerfallen: Einen kleineren, in Bevölkerung und Wirtschaftskraft viel stärkeren und in einen grösseren mit
wenig Aussichten auf Entwicklung.

Nehmen wir einmal an, diese Analyse sei richtig, dann stellen sich eine Vielzahl von Fragen: Gibt es
Gegenmittel? Kann der «abgehängte» Teil ebenso entwickelt werden, bzw. sich entwickeln? Was müsste
dafür geschehen? Und wenn es diese Gegenmittel nicht gibt? Kann diese gegenläufige Bewegung
abgefedert, sozial verträglich gestaltet werden? Wie kann der besser gestellte Teil Graubündens zur
Solidarität angehalten werden und wie lange wird diese andauern? Und was heisst es für den andern Teil,
sich abhängig zu fühlen? Angewiesen zu sein auf die Unterstützung?

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Das Beschriebene gilt ja nicht nur für die kantonale Politik und den Finanzausgleich. Es berührt ebenso
die Sprach- und Kulturpolitik, es macht sich spürbar in den Kirchen, in den politischen Parteien, im
Tourismus, sogar in der Landwirtschaftspolitik. Überall fühlen sich dann einzelne Teile, Dörfer, Regionen,
Gesellschaften, Sprachen, als quantité négligeable, die man gerne unterstützt, solange das Geld da ist, die
im Grunde aber wenig Bedeutung haben.

Das mag jetzt aber sehr schwarz gemalt sein. Aber es ist wichtig, das zu sehen und zu thematisieren, auch
wenn erst Bewegungen in diese Richtung vorhanden sein sollten. Regieren heisst vorausschauen.
Natürlich stützt der Kanton mit vielen Mitteln die entwicklungsschwachen Regionen. Genügt das? Und
was sollten, könnten und wollen die Regionen selbst tun? Was ist ihr Ziel? Junge Familien, volle
Schulhäuser, lebendige Dörfer! Sicher, aber wie?

Genau diesen Fragen widmet sich die diesjährige Landtagung der Pro Raetia am letzten September-
Wochenende in Malans. Sie will dies so tun, dass sie Exponenten und Exponentinnen beider Teile
miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch bringt. Es ist ihr bewusst, dass sie damit thematisiert,
was vielfach übergangen oder gar totgeschwiegen wird. Das kann aber nicht der Umgang damit sein, wie
es auch der einfache Geldtransfer nicht sein kann.

Ziel muss doch in jedem Fall eine geteilte Verantwortung sein, geteilte Aufgaben und eine geteilte
Entwicklungsrichtung. Man wird auch nicht davor zurückschrecken dürfen, unangenehmen Tatsachen ins
Auge zu sehen. Das ist immer noch besser, als von ihnen eines Tages überrascht zu werden.

Die Pro Raetia freut sich auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die diskussions- und überlegungsfreudig
sind (www.pro-raetia.ch).

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