Die neue Landliebe - Raetia Publica
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Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020 Die neue Landliebe von Veronika Rall. Die Autorin hat überwiegend in Städten gelebt: in Frankfurt und San Francisco, Berlin und Zürich. Seit 2015 wohnt sie im Bergell, zunächst als Zweiheimische, seit 2017 als Einheimische. Nach Tätigkeiten als Redaktorin und Dozentin arbeitet sie heute als freie Autorin. Die Generationen Y und Z stehen auf Gardening, «Pilzlen» und Wandern – noch nie schien Landliebe so beliebt. Raus aus dem Dichtestress, rein in die Natur. Produzieren statt Konsumieren. Aber die Realität der Dörfer in den Berggebieten ist oft nicht «instagrammable». Ein Bericht über Verlust von Arbeitsplätzen, Abwanderung, marginal funktionierendem öffentlichem Verkehr – und von der Abkehr von konventionellen Wirtschaftskonzepten. Raus aufs Land? Das ist gegenwärtig ein Traum, den viele hegen. Schon im Mai 2018 rief die deutsche Schriftstellerin Charlotte Roche dazu auf, die Städte zu verlassen: «Was ist», fragte sie reichlich polemisch, «wenn Burnout nicht von der Arbeit kommt, sondern von dem Ort an dem wir leben und arbeiten?» Zahmer verbreitet eine Instagram- und Tiktok-Welle die pittoreske Ländlichkeit unter dem Hashtag #cottagecore: «In Metropolen von Berlin bis San Francisco scheinen sich junge Frauen morgens nichts lieber zu wünschen, als noch vor dem ersten Soja-Latte einen Stall auszumisten», schreibt der Zürcher Tages-Anzeiger. Mehr Landliebe war noch nie. Und: Neu prägt sie eine Szene der Generationen Y & Z, die bislang der Urbanität verpflichtet waren, das ist ein Trend, der sich in der (Post-) Corona-Epoche noch verstärkt. Raus aus dem Dichtestress der Städte, rein in die Natur. Wandern ist so hipp wie Gardening, Pilze sammeln und Marmelade kochen. Diese neue Landliebe verliert das folkloristische, konservative Image und nimmt politisch einen modernen «grünen», anti-konsumistischen Farbton an: «In einer Gesellschaft, in der zunehmend alles käuflich ist,» schreibt Wolf Schmidt in Luxus Landleben, «wird das Landleben zu einer neuen Form, sich selbst zu spüren.» Produzieren statt konsumieren ist die neue Parole einer erfüllten Existenz, die Vorteile in der Überschaubarkeit, in der Selbstbestimmbarkeit von Raum und Zeit entwickelt. Aber die Realität der Dörfer in den Berggebieten der Schweiz ist kein Insta-Post. Entsprechend fokussiert der Bericht Alptraum des Wirtschaftsforums Graubünden in der Vision 2050 auf die Schwächen und Risiken im Rahmen seiner SWOT-Analyse: Graubünden ist Teil des «verkehrstechnisch benachteiligten Alpenraums» und schlecht an Schweizer Metropolitanräume angebunden. Der Kanton verliert dadurch insbesondere ausserhalb des Rheintals Arbeitsplätze und verzeichnet die Abwanderung qualifizierter junger Arbeitnehmer*innen. Entsprechend schwindet die ohnehin schon überalterte Bevölkerung und es folgt ein Verlust an Steuersubstrat. Eine Negativspirale. Trendwende im Selbstversuch Seit 2017 ist das Bergell meine Heimat, ein schmales Tal, das von Maloja (1810m) bis hinunter ins italienische Chiavenna (333m) führt und von schroffen Dreitausendern gesäumt wird. Seit 2010 bilden die Schweizer Dörfer des Tals politisch die Gemeinde Bregaglia, die etwa 1550 Einwohner*innen zählt. Historisch war das Tal wichtiger Abschnitt einer Passage über die Alpen, es erschliesst den Weg über den bereits von den Römern genutzten Septimerpass. Heute liegt das Bergell abseits der zentralen Alpentransversalen: der Malojapass bildet den Zugang zum Engadin, er dient den Bergeller*innen, aber auch vielen Italiener*innen als Zufahrt zu ihren Arbeitsplätzen der Tourismushochburg rund um St. Moritz. Überraschend ist im Bergell die historische Bausubstanz der intakten Dörfer, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht und Italianità verspricht. Es gibt (absehen von Maloja) kaum Zweitwohnungsbauten, die wenigen Siedlungen aus den 60er Jahren stammen von renommierten Architekten wie Bruno Giacometti, seit 2003 wird die Kantonsstrasse ausserhalb der (meisten) Dörfer geführt. 2015 wurde die Gemeinde mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet, gewürdigt wurde, dass «eine Talschaft am Rande der Schweiz aus dem baukulturellen Erbe die Kraft schöpft, eine eigenständige Entwicklung voranzutreiben. Der Willen zum Erhalt der eigenen Identität ermöglicht selbständige und kreative Lösungsansätze für Herausforderungen wie den Zweitwohnungsbau, die Abwanderung oder die Entleerung der Dorfkerne.» Seite 1 von 6
Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020 Was zieht Menschen wie mich in dieses abgelegene Tal? Zum grossen Teil war es genau diese Schönheit der Region, die sich in den alten Ortskernen mit ihren wunderschönen Häusern, aber auch auf zahlreichen Wanderwegen erschliesst. Wer zumeist in der Grossstadt gelebt hat, erlebt die Stille, den Raum, den Duft nach Blüten und Früchten, aber die etwas langsamer vergehende Zeit als heilsamen Kontrast, der vom ständigen passiven, doch hektischen Input auf aktive Selbstbesinnung und kreativen Output umschalten lässt. Es ist die «Reduktion der Reize, Konzentration auf das Wesentliche» (Schmidt), aber auch eine neue und andere Natur- und Selbsterfahrung. So gesehen erlebt man den ländlichen Raum nicht als Defizit, sondern tatsächlich täglich als Geschenk, als Luxus. Gewinn und Suffizienz neu definiert Luxus – per Definition eine «Verhaltensweise, Aufwendung oder Ausstattung, die über das übliche Mass bzw. den üblichen Lebensstandard hinausgeht» (Wikipedia) – muss man sich leisten können. Hier spielen die im Dossier Alptraum benannten Defizite der Bergregion: Insbesondere Lohnarbeit und ein Unternehmertum, das einen finanziellen Mehrwert schafft, sind auch im Bergell knapp. Lange Wege zu potenziellen Arbeitsorten und ein nur marginal funktionierender öffentlicher Verkehr erschweren die Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion der Bergbevölkerung. Ursprünglich aber bedeutet das Wort Luxus «üppige Fruchtbarkeit» (Wikipedia) und weist damit auch auf die Güter, die das Berggebiet seinem Unterland gratis und in Fülle zur Verfügung steht: Wasser, frische Luft und ein angenehmes Klima, sowie Freizeiträume und Erholungsgebiete. Sie fallen aus dem Katalog der als Wirtschaftsleistung erhobenen Daten. Ähnlich ist das Berggebiet auch nicht arm an Arbeit, sondern an Lohnarbeit. Das beginnt bei der Pflege der Kulturlandschaft auf den Alpen (die, wie der Kulturgeograf Werner Bätzing argumentiert, eben keine «reine» Natur sind), in den Dörfern, den Kastanienhainen, den Gärten und auf den Wanderwegen. Viele dieser Leistungen übernehmen Vereine, Kooperativen, Stiftungen oder Gesellschaften gratis, genauso wie die Pflege der Sprache und des kulturellen Erbes oder die Organisation kultureller Veranstaltungen, die später den Eventkalender der Tourismusorganisationen prägen. Für die Zukunft des Berggebiets braucht es deshalb eine Abkehr von konventionellen Wirtschaftskonzepten und eine Besinnung auf Suffizienz-Modelle, wie sie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Sachs entwickelt hat. Gegenüber dem Wachstumsmodell der industriellen Wirtschaft bevorzugt es ein ökologisches Modell, in dem nicht nur Ressourcen geschont werden, sondern im Zuge von «Entschleunigung, Entflechtung, Entrümpelung und Entkommerzialisierung» neue Reproduktionsmodelle entdeckt werden. Im Zentrum eines solchen Modells könnte das «Bedingungslose Grundeinkommen» für Bewohner*innen der Berggebiete stehen, das nicht nur kleinere bäuerliche Betriebe substanziell entlasten (vgl. zalp.ch), sondern auch die bislang kostenfrei erbrachten Leistungen mit einem Wert versehen würde. Es könnte den Braindrain aufhalten und sogar den Zuzug von Forscher*innen und Kreativen ermöglichen, die dem Berggebiet neue Impulse und eine andere Repräsentanz zu geben vermögen. Während die Vorteile der Digitalisierung genutzt werden, könnten analoge und manuelle Fertigkeiten wieder aufgewertet und eingesetzt werden. Kurz: Das Wirtschaften im Berggebiet könnte «multifunktionale Zielsetzungen» (Bätzing) realisieren, statt sich auf den Ertrag zu fokussieren. Das müssen keine Wolkenschlösser bleiben. Es kann nicht darum gehen, ob wir uns das Berggebiet leisten können. Es existiert und versorgt alle mit lebensnotwendigen Gütern. Wichtig ist, dass das Berggebiet lebbar ist und bleibt – dazu braucht es zuallererst Einheimische, die es kultivieren, aber auch Zweiheimische und Tourist*innen, die kreativ nachhaltig operieren und einen Austausch zwischen Stadt und Land herstellen. Ob dazu eine «Creative-Outlet-Plattform» wie Instagram taugt? Zumindest kann sie dabei helfen, eine neue kulturelle Imagination des Berggebiets zu schaffen. Seite 2 von 6
Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020 Literatur Bätzing, Werner (2015) Zwischen Wildnis und Freizeitpark: Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen. Zürich: Rotpunkt. Göbel, Anne (2020) «Das Leben ist ein Ponyhof» in: Tages-Anzeiger, 18.07.2020, https://www.tagesanzeiger.ch/das-leben-ist-ein-ponyhof-770793856896 Rall, Veronika (2017) «Produzieren statt konsumieren». 27.09.2017. Abrufbar auf http://bergell- blog.ch/2017/09/27/produzieren-statt-konsumieren/#more-1373 Roche, Charlotte (2018) «Verlasst die Städte!» in: SZ Magazin, 09. Mai 2018. https://sz- magazin.sueddeutsche.de/charlotte-roche-jetzt-koennte-es-kurz-wehtun/stadtflucht-grossstadt-land- 85686 Schmidt, Wolf (2017) Luxus Landleben: Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs. Wismar: Mecklenburger AnStiftung, 2017. Schweizer Heimatschutz (2015) «Wakkerpreis an die Gemeinde Bergell». 20.01.2015. Abrufbar auf http://www.heimatschutz.ch/uploads/media/Medienmitteilung_20_01_2015.pdf zalp (2013) «Bedingungsloses Grundeinkommen und die Landwirtschaft». Abrufbar auf https://www.zalp.ch/aktuell/suppen/suppe_2013_04/grundeinkommen.php Graubünden: Zwischen Ballenberg und Hightech? von Rudolf Minsch, stv. Vorsitzender der Geschäftsleitung, Leiter allgemeine Wirtschaftspolitik & Bildung bei economiesuisse. Das Wirtschaftsforum Graubünden fasst die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre folgendermassen zusammen: «Rheintal gewinnt, ländliche Regionen verlieren.» Auf der einen Seite wächst die Bevölkerung und die Wirtschaft im Gebiet zwischen Fläsch und Rhäzüns nicht weit vom Schweizer Durchschnitt entfernt. Auf der anderen Seite stagniert oder schrumpft die Bevölkerung im ländlichen Raum und die Wirtschaftsentwicklung ist schwach. Geht diese Entwicklung so weiter und was ist allenfalls dagegen zu unternehmen? Der wirtschaftliche Strukturwandel hat viele ländliche Gebiete fest im Griff. Erstens verliert der Tourismus als wichtigste Einnahmequelle Graubündens an Bedeutung. Die Gründe sind vielfältig: Klimawandel, kurzfristiges Buchungsverhalten der Gäste, schärfere Konkurrenz, starker Franken, hohe Kosten, komplizierte Bewilligungsverfahren oder einschneidende behördliche Auflagen. Zweitens ist der Bauboom durch die Zweitwohnungsinitiative ins Stocken geraten. Drittens arbeiten immer weniger Menschen in der Landwirtschaft. Viertens geht der strukturelle Wandel der Finanzindustrie oft auf Kosten ländlicher Gebiete. Fünftens sind die Verkehrswege derart gut ausgebaut, dass sich nur Orte mit einer Zentrumsfunktion gegen den Strom stellen können. Der wirtschaftliche Strukturwandel auf dem Land ist aber nur deswegen problematisch, weil wenig neue Stellen in anderen Branchen hinzukommen. Ganz im Gegenteil im Bündner Rheintal und den angrenzenden Gebieten des Domleschg oder des vorderen Prättigaus. Klar profitiert das Rheintal auch von seiner Zentrumsfunktion für den ganzen Kanton. Doch wichtiger ist, dass hier neue, oft anspruchsvolle Jobs in der Industrie und im Dienstleistungsbereich entstanden sind. Die Tätigkeiten im Maschinenbau, Software-Entwicklung, Medizinaltechnik oder Bio-tech setzen ein hohes Ausbildungsniveau voraus und werden entsprechend auch gut entlöhnt. Die Wertschöpfung wird oft im Seite 3 von 6
Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020 Export erzielt. Etliche Beispiele zeigen, dass die Vorteile der Globalisierung nicht nur in Zürich oder Basel ausgenützt werden können, sondern auch bei uns. Nun gibt es zwei Strategien: Man jammert über die Ungerechtigkeit, dass das Bündner Rheintal diese Privilegien im Vergleich zu Restbünden hat oder wir versuchen, davon zu profitieren. Wie könnte letzteres gelingen? Sicher nicht mit einem Gärtchendenken. Es spielt doch keine Rolle, wo die Jobs entstehen, entscheidend ist, dass sie irgendwo bei uns entstehen. Je stärker sich das Bündner Rheintal in den zukunftsträchtigen Branchen positionieren kann, desto besser für alle. Aufgrund der guten Verkehrswege ist das Prättigau/Davos, das Albulatal, die Surselva oder auch das Hinterrheintal in Pendeldistanz zum Bündner Rheintal. Doch wichtiger ist, dass mit einer starken wirtschaftlichen Region die Netzwerke spielen können. Unternehmen profitieren davon, dass sie Mitarbeiter von anderen Unternehmen übernehmen können. Mitarbeiter profitieren, weil sie die Stelle in der Region wechseln können und nicht jeweils einen Wohnortwechsel in Kauf nehmen müssen. Die Fachhochschule kann diese Netzwerke verstärken, indem sie in Forschungsfragen mit Unternehmen zusammenarbeitet und hochstehende technische Ausbildungen anbietet. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, den Technopark Graubünden in Landquart anzusiedeln. Er soll das Netzwerk verstärken und dazu beitragen, dass junge technologieorientierte Unternehmen in Graubünden den Start wagen. Ein starkes Netzwerk muss aber über das Bündner Rheintal hinausgehen. Zum einen ist natürlich die Anbindung an den Rest der Schweiz zentral. Netzwerke zu den Entwicklungen in Zürich, in Basel oder in Lausanne sind wichtig und heutzutage auch recht gut zu realisieren. Zum anderen aber bedeutet ein Netzwerk auch, dass wir uns austauschen und gegenseitig unterstützen innerhalb des Kantons. So entsteht hoffentlich bald der InnHub in La Punt, der im Engadin ein Innovations- und Bewegungszentrum etablieren will. Eine Initiative, die seinesgleichen sucht und hoffentlich grossen Erfolg haben wird. Auch die Davoser Forschungsinstitutionen gehören zum Netzwerk. Das SLF schafft in den nächsten Jahren neue Stellen, die auch vom Kanton und von der ETH Zürich mitfinanziert werden. Je besser das Netzwerk ist, desto grösser ist auch die Chance, dass neue Jobs auch ausserhalb des Rheintals geschaffen werden. Statt sich also über die positive Entwicklung im Bündner Rheintal zu ärgern, sollten wir diese stärken. Doch wir verfügen nicht wie Zürich über eine ETH vor der Haustüre oder wie Lausanne über eine EPFL. Wir haben auch kein Cluster in der Uhrenindustrie, Finanzindustrie oder Pharmaindustrie. Viel zu verzettelt scheinen unsere Unternehmen, Forschungsinstitute und Ausbildungsstätten zu sein. Die Chance kann daher nur in der Vernetzung liegen. Dann hat Graubünden eine gute Chance, den Strukturwandel erfolgreich zu meistern. Die Chancen stehen denn auch gar nicht so schlecht. Die Digitalisierung hilft und lässt Distanzen schrumpfen. Immer mehr Menschen finden es auch wichtig, abseits der Menschenmassen arbeiten zu können und in einer intakten Umwelt zu leben. Viele sind Bündner Fans und können sich vorstellen, hier wieder tätig zu sein oder hier eine Firma aufzubauen. Mit einem Gärtchendenken ziehen wir aber diese Menschen nicht an. Aber mit einem guten Netzwerk. Progressive Provinz von Jon Pult, Nationalrat und Strategie- und Kommunikationsberater Graubünden driftet auseinander – dieses Narrativ zur Etwicklung unseres Kantons verfestigt sich seit Jahren. Hier das prosperierende Churer Rheintal und die beiden touristischen «Hot Spots» Davos und Oberengadin. Dort der alpine Rest. «Randregionen» oder sogar «potentialarme Räume», die mit Abwanderung oder den strukturellen Problemen des (Winter-)Tourismus kämpfen. Die Erzählung ist nicht falsch. Aber natürlich undifferenziert. Schliesslich hat die Mesolcina ganz andere Herausforderungen als die Surselva, das Unterengadin andere Chancen als Mittelbünden und Puschlaver wie Prättigauer würden sich kaum in der gleichen Kategorie sehen. Zudem gibt es neben «Engadin St. Moritz» und «Davos Seite 4 von 6
Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020 Klosters» auch weitere Top-Destinationen mit erfreulichen Zahlen. Und zwar nicht erst seit Corona dafür gesorgt hat, dass die halbe Schweiz die Bündner Berge (wieder-)entdeckt. Trotzdem lässt sich ein schleichender Niedergang grosser Teile Graubündens nicht wegdiskutieren. Die Gründe sind vielfältig und die Lösungen kompliziert. Doch ein zentraler Faktor ist offensichtlich und verdient mehr Aufmerksamkeit. Zu viele unserer besten Leute wandern ab. Zu viele gut ausgebildete Fachkräfte, Akademikerinnen, Künstler, Querdenkende und wirtschaftlich wie gesellschaftlich Engagierte kehren nach den Lehr- und Wanderjahren nicht nach Graubünden zurück. Zugleich schaffen wir es nicht, sie durch eine vergleichbare Zuwanderung von Talenten aus dem Aus- und Unterland zu kompensieren. Genau das müssen wir ändern. Ja, wir brauchen mehr Zuwanderung! Wir sollten noch mehr Vielfalt in unserer Bevölkerung anstreben. Mehr Macherinnen und Querköpfe anziehen. Mehr fortschrittliches Lebensgefühl wagen. Offenheit kann unser Bündner Markenkern werden. Beliebt sind wir schon. Und von Haus aus auch ziemlich divers. Nicht nur unsere spektakuläre Natur und unser kultureller Reichtum faszinieren. Man traut uns auch eine spannende Mischung aus knorrigem Berglertum und moderner Weltläufigkeit zu. Natürlich müssen wir noch an uns arbeiten. Verkrustete Strukturen müssen wir sprengen und eingespielte Seilschaften auflösen. Für den Filz hat keinen Platz im neuen Graubünden. Wir stehen für Neugier und Willkommenskultur. Vorurteile waren gestern. Unser neues Motto: Nicht nur Stadtluft, auch Bergluft macht frei! Klar, das ist etwas hoch gegriffen. Und eine richtige Metropole werden wir wohl nie. Aber die erste progressive Provinz vielleicht schon. Das sollte unsere gemeinsame Vision sein. Wetten, dass dann auch mehr Bündner Talente zurückkehren? Ein Graubünden – oder zwei? von Johannes Flury, Präsident der Pro Raetia Die Überschrift mag seltsam erscheinen: Wenn es mehr als ein Graubünden geben sollte, dann gewiss viele. Denn wir sind stolz auf unsere jeweils verschiedenen Täler mit ihren eigenen Sprachen, Traditionen und Mentalitäten. Diese alle machen doch in den Augen vieler die Besonderheit des Kanons aus und wir rühmen uns auch, damit in der Schweiz etwas Einzigartiges zu sein. Das ist nicht falsch, aber in dieser Sichtweise ist doch auch eine gute Portion Nostalgie drin. In der Zwischenzeit haben sich die Täler und Gebiete Graubündens verschieden entwickelt und in einer neuen Studie des Wirtschafsforums Graubünden wird diese Entwicklung dann auch sehr klar beschrieben. Da ist einerseits das Churer Rheintal mit dem Vorderprättigau und wenigen grossen Tourismuszentren und auf der anderen Seite das verbleibende Gebiet, gross in der Fläche, aber schwach in der wirtschaftlichen Kraft und abnehmend bezüglich Bevölkerung. Wenn es so weitergeht – und die Studie sieht kaum etwas Anderes – droht der Kanton in zwei Teile zu zerfallen: Einen kleineren, in Bevölkerung und Wirtschaftskraft viel stärkeren und in einen grösseren mit wenig Aussichten auf Entwicklung. Nehmen wir einmal an, diese Analyse sei richtig, dann stellen sich eine Vielzahl von Fragen: Gibt es Gegenmittel? Kann der «abgehängte» Teil ebenso entwickelt werden, bzw. sich entwickeln? Was müsste dafür geschehen? Und wenn es diese Gegenmittel nicht gibt? Kann diese gegenläufige Bewegung abgefedert, sozial verträglich gestaltet werden? Wie kann der besser gestellte Teil Graubündens zur Solidarität angehalten werden und wie lange wird diese andauern? Und was heisst es für den andern Teil, sich abhängig zu fühlen? Angewiesen zu sein auf die Unterstützung? Seite 5 von 6
Raetia Publica | Ausgabe 21, 24. September 2020 Das Beschriebene gilt ja nicht nur für die kantonale Politik und den Finanzausgleich. Es berührt ebenso die Sprach- und Kulturpolitik, es macht sich spürbar in den Kirchen, in den politischen Parteien, im Tourismus, sogar in der Landwirtschaftspolitik. Überall fühlen sich dann einzelne Teile, Dörfer, Regionen, Gesellschaften, Sprachen, als quantité négligeable, die man gerne unterstützt, solange das Geld da ist, die im Grunde aber wenig Bedeutung haben. Das mag jetzt aber sehr schwarz gemalt sein. Aber es ist wichtig, das zu sehen und zu thematisieren, auch wenn erst Bewegungen in diese Richtung vorhanden sein sollten. Regieren heisst vorausschauen. Natürlich stützt der Kanton mit vielen Mitteln die entwicklungsschwachen Regionen. Genügt das? Und was sollten, könnten und wollen die Regionen selbst tun? Was ist ihr Ziel? Junge Familien, volle Schulhäuser, lebendige Dörfer! Sicher, aber wie? Genau diesen Fragen widmet sich die diesjährige Landtagung der Pro Raetia am letzten September- Wochenende in Malans. Sie will dies so tun, dass sie Exponenten und Exponentinnen beider Teile miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch bringt. Es ist ihr bewusst, dass sie damit thematisiert, was vielfach übergangen oder gar totgeschwiegen wird. Das kann aber nicht der Umgang damit sein, wie es auch der einfache Geldtransfer nicht sein kann. Ziel muss doch in jedem Fall eine geteilte Verantwortung sein, geteilte Aufgaben und eine geteilte Entwicklungsrichtung. Man wird auch nicht davor zurückschrecken dürfen, unangenehmen Tatsachen ins Auge zu sehen. Das ist immer noch besser, als von ihnen eines Tages überrascht zu werden. Die Pro Raetia freut sich auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die diskussions- und überlegungsfreudig sind (www.pro-raetia.ch). Seite 6 von 6
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