Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
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Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 tierrechte Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte Konflikte mit Wildtieren: Es geht auch anders! Ausstieg aus dem Tierversuch: Die Niederlande packen an NRW-CDU macht Wahlkampf auf dem Rücken der Tiere
Inhalt Titelfoto: otsphoto/ fotolia.com Gestörte Beziehung ............................................................................................................ 4 Die Ratte ist eines der meistgehassten und verfolgten Tiere. Dies hat viel damit zu tun, dass der intelligente Kleinsäuger dem Menschen besonders nah ist. Sichtbare Erfolge................................................................................................................. 10 Auch wenn der Fortschritt aus Sicht der Tiere quälend langsam voranschreitet – aus wissenschaftlicher Sicht sind im Bereich der tierversuchsfreien Verfahren revolutio- näre Entwicklungen in Gang gekommen. Es geht auch anders!........................................................................................................... 13 Der Brite Kevin Newell geht neue Wege. Seine Firma „Humane Wildlife Solutions“ ist die weltweit erste, die Konflikte mit ungewollten Wildtieren auf humane Weise löst. Ausstieg aus dem Tierversuch: Die Niederlande packen an ........................................ 18 Impressum Die Niederlande erstellen derzeit einen Abbauplan für Tierversuche. Währenddes- sen beharren die deutschen Wissenschaftsorganisationen auf dem Tierversuch. ISSN 1434-220 tierrechte ist der Infodienst der Menschen für Tierrechte – Bundesverband der Tierversuchs- gegner e. V. und erscheint viermal jährlich. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag Leben in Freiheit und Labor – ein Vergleich .................................................................... 5 enthalten. „Die Ratte verdient es, im Mittelpunkt unserer Gefühle zu stehen!“ ......................... 6 Herausgeber/Verlag Menschen für Tierrechte – Bundesverband der Versuchstier Nummer zwei ................................................................................................ 7 Tierversuchsgegner e. V. Roermonder Straße 4 a | 52072 Aachen Töten im Namen des Gesetzes ........................................................................................ 12 Tel. 02 41 - 15 72 14 | Fax 02 41 - 15 56 42 info@tierrechte.de | www.tierrechte.de Eine Ratte namens Nick .................................................................................................... 14 Redaktion Christina Ledermann, ViSP Wir suchen Verstärkung ................................................................................................... 15 Christiane Baumgartl-Simons Christiane Hohensee Interview: Ein grundsätzliches Umdenken in Gang setzen ........................................ 16 Gestaltung NRW-CDU macht Wahlkampf auf dem Rücken der Tiere ............................................ 19 Das Atelier | Alexa Binnewies www.dasatelier.de Erfolg: Küken-Urteil kommt vor Bundesverwaltungsgericht ..................................... 20 Druck Bartels Druck GmbH, 21337 Lüneburg Vorträge: Bundesverband informiert ............................................................................. 20 www.bartelsdruckt.de EU-Kongress: Tierversuchsfreie Verfahren .................................................................... 20 Papier tierrechte wird auf 100% Recyclingpapier Hochschulgesetze ermöglichen tierversuchsfreies Studium ...................................... 20 – ausgezeichnet mit dem Umweltengel – gedruckt Vorgestellt: Juristische Verstärkung für das NRW-Landesbüro ................................. 21 Vorstand Systemwechsel statt Tierwohllabel ................................................................................ 21 ▪ Dr.-Ing. Kurt W. Simons (Vorsitzender) Tel. 0241 - 44 65 273 | Fax 0241 - 44 65 284 Nitrat gefährdet Grundwasser ........................................................................................ 21 simons@tierrechte.de ▪ Dr. med. vet. Christiane Baumgartl-Simons (stellvertretende Vorsitzende) Tel. 06751 - 95 03 91 | Fax 06751 - 95 03 92 baumgartl@tierrechte.de ▪ Christina Ledermann (M.A.) Rubriken (stellvertretende Vorsitzende) Tel. 0211 - 16 34 54 29 Impressum ............................................................................................................................ 2 ledermann@tierrechte.de Editorial ................................................................................................................................. 3 Vorstandsmitglieder Shop ..................................................................................................................................... 22 (alphabetisch) ▪ Susanne Pfeuffer Helfen .................................................................................................................................. 23 Telefon + Fax 09848 - 96 94 18 Kontakt ............................................................................................................................... 24 pfeuffer@tierrechte.de ▪ Manuela Sägner Tel. 0157 - 77 84 44 42 saegner@tierrechte.de ▪ Dr. Ute Teichgräber Tel. 030 - 23 27 03 46 teichgraeber@tierrechte.de Ehrenmitglied: ▪ Dr. jur. Eisenhart von Loeper 2 tierrechte | Ausgabe 1/2017
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, liebe Freunde, haben Sie sich gewundert, als Sie die neue tierrechte in Ihrem Briefkasten fanden? Nach genau zwanzig Jahren – die erste Ausgabe erschien 1997 – war es Zeit für eine Verjüngungskur. Wir hoffen, Ihnen gefällt das neue Design so gut wie uns. Außer der frischen Gestaltung bleibt aber alles beim Alten. Es gibt wei- terhin einen Schwerpunkt- und einen Magazinteil und die Kurzmeldungen am Ende. Aus Mitglied bei n pean Coalitio Kostengründen sparen wir uns den extra Einleger in der Mitte des Heftes und die Unter- ECEAE – Euro ts schriftenliste. Sie können aber alle Unterschriftenlisten in unserer Geschäftsstelle bestellen al Experimen To End Anim oder auf unserer Webseite herunterladen. Und nicht ganz unwichtig: das Überweisungs- und nal The Internatio formular finden Sie nun auf der letzten Seite. InterNICHE – ation Humane Educ Network for Mit dieser Ausgabe stellen wir auch das Versuchstier des Jahres 2017 vor. Dieses Jahr hat die Jury die Ratte ausgewählt. Der kleine Nager ist nicht nur das Lieblingstier der Vivi- sektion, sondern auch eines der am meisten verfolgten und gehassten Tiere überhaupt. Zu Unrecht, wie wir finden. Deswegen haben wir dem intelligenten Kleinsäuger viel Platz in dieser Ausgabe eingeräumt. Wir wollen zeigen, dass es Zeit wird, neue Wege zu gehen, in der Wissenschaft, bei der sogenannten „Schädlingsbekämpfung“ und bei der Haltung als „Haustier“. Ich hoffe, das ist uns gelungen. Die Ratte hat es verdient. Es klingt in dieser Ausgabe schon an, dass 2017 unter dem Zeichen der bevorstehenden Wahlen steht. Am 26. März wählt das Saarland einen neuen Landtag. Am 7. Mai folgen Schleswig-Holstein und am 14. Mai Nordrhein-Westfalen. Der Höhepunkt des Wahljahrs ist der 24. September, wenn der Bundestag neu gewählt wird. In diesem Wahlkampf könnte der Tierschutz aufgrund der nicht abreißenden Krise in der landwirtschaftlichen Tierhaltung an Bedeutung gewinnen. Es ist zu hoffen, dass die Initiativen von Umweltmi- nisterin Barbara Hendricks (SPD) nach der Wahl nicht versanden. Denn ihr Eintreten für eine Wende in der Agrarpolitik, den Klimaschutz, die Einschränkung der industriellen Tier- haltung, die Reduzierung des Fleischkonsums und den Schutz des Grundwassers geben der SPD endlich ein umweltpolitisches Profil, das auch den Tieren nützen kann. Währenddessen demonstrieren Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) und die CDU in Nordrhein-Westfalen, was den Konservativen der Schutz unserer Mitge- schöpfe wert ist. Nicht viel, denn sie bedienen weiterhin die starken Lobbys der Agrar- wirtschaft, Industrie und des Handels auf Kosten der Tiere. Ein Beispiel ist der Gesetzan- trag der NRW-CDU, mit dem sie Ende Januar die Abschaffung des Verbandsklagerechtes für Tierschutzvereine forderte. Dabei war es den Konservativen einerlei, ob der Antrag schlicht Falschinformationen enthielt. Die Hauptsache war offensichtlich: den Tiernutzern ein Wahlgeschenk zu machen. Um Ihnen Orientierung zu geben, welche Partei sich für einen effektiven Schutz der Tiere einsetzt, werden wir die Parteien auch dieses Jahr befragen und ihre bisherige Tierschutz- politik genau unter die Lupe nehmen. Damit eine Partei wählbar ist, erwarten wir, dass sie praxistaugliche Ausstiegskonzepte aus Tierversuchen und der industriellen Tierhaltung vorlegt. Was die Tierversuche anbetrifft machen uns die Niederlande gerade vor, was hier möglich ist. Sie haben einen Abbauplan für Tierversuche vorgelegt und wollen bis 2025 Weltspitze für tierversuchsfreie Innovationen sein. Spenden-/Beitragskonto Sie sehen, vor uns liegt ein ereignisreiches Jahr, in dem wir viel für die Tiere erreichen Bundesverband der wollen. Vielen Dank für Ihre Hilfe! Tierversuchsgegner e. V. Sparkasse Aachen Herzliche Grüße Ihre IBAN: DE02 3905 0000 0016 007973 BIC: AACSDE33 Menschen für Tierrechte – Bundesverband der Tierversuchsgegner e. V. ist als gemeinnützig Christina Ledermann und besonders förderungswürdig anerkannt. Spenden und Mitgliedsbeiträge sind steuerlich absetzbar. Erbschaften und Vermächtnisse sind von der Erbschaftssteuer befreit. Ausgabe 1/2017 | tierrechte 3
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte Gestörte Beziehung Die Ratte folgt dem Menschen in dessen Lebensraum. Dies tut sie hauptsächlich, weil sie in der Umgebung des Menschen leichter an Futter kam. Als sogenannter Kulturfolger wurde sie schon früh zum Nahrungskonkurrenten. Aus Sicht der Ratte ist es die richtige Überlebensstrategie, dahin zu gehen, wo es leicht zugängliches Futter gibt. Doch mit Logik hat die Beziehung von Mensch und Ratte nichts zu tun. Sie ist geprägt von Irrationali- tät und Abscheu. Opfer menschlicher Projektionen Der Mensch hat der Ratte schon früh die Rolle des Bösewichts zugewiesen, weil sie sich an seinen Kornspeichern gütlich tat. Im Rückblick ist dies nachvollziehbar, denn eine große Rattenpopu- lation konnte menschliche Nahrungsreserven ernsthaft bedro- hen. Nicht nachvollziehbar ist, dass der Mensch die Ratte zu einem Ekeltier hochstilisiert hat, auf das er dunkle menschliche Eigenschaften wie Bosheit und Verschlagenheit projiziert. Dies machte die Ratte zum Opfer menschlicher Irrtümer und Ängste. Manisch verfolgt Als „Schädling“ und Krankheitsüberträger stigmatisiert, wird der kleine Säuger fast manisch verfolgt. Der Hausratte ist dies nicht gut bekommen: sie ist mittlerweile vom Aussterben bedroht. Auch die Wanderratte, die vor etwa 250 Jahren nach Europa kam, muss für die überbordende Rattenangst bitter bezahlen. Die Definition als Schädling macht sie zu Freiwild. Sie darf überall gnadenlos verfolgt und getötet werden, teilwei- se sogar behördlich angeordnet. Ganze Industriezweige und Branchen verdienen gut daran. Auch die Ratte im Labor und die Farbratte im Zoogeschäft, beides Abkömmlinge der Wanderrat- te, erwartet meist kein besseres Schicksal. Die Grausamkeiten, die den Nagern im Tierversuch angetan werden, erscheinen Vielen legitim. Ebenso wie das Leiden der intelligenten Tiere, die infiziert, vergiftet oder durch gentechnische Manipulation künstlich krank gemacht werden und zu einem Leben in einem engen, sterilen Käfig verdammt sind. Die wenigen Farbratten, die in einer artgerechten Haltung landen, haben Glück. Die Foto: svet110, Fotolia.com meisten enden jedoch als Futtertier, das nur auf seinen Tod wartet. Es gibt wohl kein Tier mit einem solch schlechten Ruf Neue Wege Wir wollen in dieser Ausgabe mit den Vorurteilen, Ängsten wie die Ratte. Unter den Säugetieren rangiert sie in und Projektionen unserer eigenen Spezies aufräumen. Wir der Beliebtheitsskala an letzter Stelle. Absurderweise wollen ein anderes Bild der Ratte zeigen, ohne die Fakten außer hat dies viel damit zu tun, dass der intelligente Acht zu lassen. Wir wollen zeigen, dass Ratten reinliche, soziale und äußerst intelligente Wesen sind. Und wir wollen zeigen, Kleinsäuger dem Menschen besonders nah ist. dass es andere Wege gibt, in der Forschung, im privaten Bereich und bei der sogenannten „Schädlingsbekämpfung“. „Die Ratte verdient es, im Mittelpunkt unserer Gefühle zu stehen“, sagt der Tierarzt und Zoologe Franz Gruber, der dieses Jahr die Schirmherrschaft für das Versuchstier des Jahres über- nommen hat. Dem ist nichts hinzuzufügen. 4 tierrechte | Ausgabe 1/2017
Leben in Freiheit und Labor – ein Vergleich Die Ratte ist weltweit verbreitet und hat sich als Kulturfolger der Lebensweise und Lärmbelastung sind genau geregelt. des Menschen angepasst. Doch dies wurde dem intelligenten Kleinsäuger Im Gegensatz zu freilebenden Ratten, zum Verhängnis. Ihre Anpassungsfähigkeit trug dazu bei, die sprichwörtliche die einen Aktivitätsradius von bis zu 600 „Laborratte“ nach der Maus zum Lieblingstier der Vivisektion zu machen. Metern haben, leben Ratten im Labor – je nach Körpergewicht – in Käfigen zwi- Es gibt nicht nur einfach die „Ratte“. Fähigkeiten weitervermitteln. Ratten le- schen 200 bis 600 Quadratzentimetern. Zur Gattung „Rattus“ gehören insgesamt ben von Natur aus in Gruppen mit enger Dies entspricht im besten Falle der Fläche etwa 55 Arten. Die bekanntesten sind sozialer Bindung. Wissenschaftler haben eines Schuhkartons. die Hausratte (Rattus rattus) und die aber auch beobachtet, dass sie in losen Wanderratte (Rattus norvegicus), wobei Kolonien zusammenleben. Verurteilt zu abgrundtiefer die Hausratte seit den 1960er-Jahren sehr Langeweile selten geworden ist und auf der Roten Hierarchien mit sozialem In den genormten 18 Zentimeter Liste steht. Die als Versuchstier eingesetz- Anspruch hohen Plexiglas- oder Makrolonkäfigen ten Ratten und die als Haustier beliebte Ratten regeln ihr Zusammenleben in können die bewegungsfreudigen Tieren Farbratte stammen von der Wanderratte einer Art Dreiklassensystem. Mitglieder ihre natürlichen Bewegungsmuster wie ab, die vor etwa 200 Jahren aus Asien einer rangniederen Klasse unterwerfen Aufrichten und Strecken kaum ausfüh- einwanderte. Weswegen die Wander- sich den Ranghöheren. Es wurde aber ren. Die Ratte im Labor wird nie erfah- ratte nicht – wie häufig angenommen auch beobachtet, dass innerhalb der ren, was Klettern, Rennen oder eine – für die Übertragung der europäischen einzelnen Klassen stärkere Männchen befriedigende Beschäftigung bedeuten. Pestepedemien verantwortlich war. Der schwächeren, Weibchen und Jungtieren Zusätzlich zu den Schmerzen und Schä- grau-braun gefärbte dämmerungs- und beim Futter den Vortritt ließen. Während den, die ihnen in den Versuchsreihen nachtaktive Nager lebt bevorzugt in die Gruppen in der Natur bis zu hundert zugefügt werden, leiden die intelligen- Ufernähe und legt dort weitverzweigte Einzeltiere umfassen können, bilden sich ten Nager unter Enge und abgrundtiefer unterirdische Gangsysteme an. innerhalb von Siedlungsbereichen eher Langeweile in den Laboren. Statt einem kleine Gruppen von jeweils drei Tieren Füllhorn aus Obst, Beeren, Kräutern und Begabter Kletterkünstler und aus. Wanderratten betreiben unterein- Sämereien lernen die neugierigen Gour- Fischfänger ander soziale Hautpflege und erkennen mets in ihrem kurzen Leben nur trockene Die Wanderratte kann sehr gut einander am Geruch. Pellets kennen. schwimmen, tauchen, klettern und sprin- gen und ist sogar ein geschickter Fisch- Leben auf der Fläche eines Lebenslänglich in der Todeszelle fänger. In der Nähe des Menschen lebt Schuhkartons Die Vorgaben zur Anreicherung der sie vorzugweise in Kellern, Abwasserka- Ganz anders ergeht es den Ratten Käfige (sogenanntes „Environmental nälen sowie in Ställen, Gräben, Deichen im Labor: Hier leben die intelligenten Enrichment“) haben den sozialen Tieren und Mülldeponien und ernährt sich von Nager unter standardisierten Bedin- zwar eine Haltung in Gruppen, ein Nest Vorräten und Essensresten. Rattenru- gungen in meist fensterlosen Räumen. aus Papierschnipseln und ein kleines Plas- del können sich aber auch völlig neue Alle Lebensfaktoren, wie Futter, Licht, tikhäuschen eingebracht. Das ist zweifel- Nahrungsquellen erschließen und diese Einstreu, Temperatur, Luftfeuchtigkeit los besser als ein strukturloser Käfig ohne Rückzugs- und Beschäftigungsmöglich- keit. Doch im Vergleich zum Lebensraum ihrer freilebenden Artgenossen erinnert das einförmige, kurze und leidvolle Le- ben der „Laborratte“ eher an die Höchst- strafe: Lebenslänglich in der Todeszelle. Dr. Christiane Hohensee Christina Ledermann Ratten im Labor Foto: Ragne Kabanova, Fotolia.com Ausgabe 1/2017 | tierrechte 5
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte Immer dabei: Zahme Ratten leben in enger Bindung mit ihren „Besitzern“. Foto links: mariesacha/ fotolia.com Prof. emer. Dr. Franz Paul Gruber Foto: Privat Die Ratte verdient es, im Mittelpunkt unserer Gefühle zu stehen! Der Tierarzt und Zoologe Prof. emer. Dr. Franz Paul Gruber ist der diesjährige Schirmherr des Versuchstiers des Jahres. Er beschäftigt sich seit 1982 mit Alternativen zu Tierversuchen, war bis 2008 Chefredakteur der Zeitschrift ALTEX¹ und ist Präsident der Doerenkamp-Zbinden-Stiftung². Er findet, dass die Ratte verdient, dass wir unserem Umgang mit ihr überdenken – aus ethischen und aus wissenschaftlichen Gründen. Die „Karriere“ der Ratte als „Versuchstier“ begann in den Artikel des „Look back in anger – what clinical studies tell us 1860er Jahren in London mit grausamen Wettbewerben: Ein about preclinical work“³ zu lesen. auf das Töten von Ratten dressierter Terrier, brauchte etwa fünfeinhalb Minuten, um 100 Ratten in einer kleinen Arena Übertragbarkeit fragwürdig tot zu beißen. Darauf wurden hohe Wetten abgeschlossen. Doch damit nicht genug: 95 Prozent aller Medikamente, die Das Englische Tierschutzgesetz von 1825 erlaubte diese Art der sich im Tierversuch als Erfolg versprechend darstellten, erwei- „Schädlingsbekämpfung“. Da die Rattenfänger bald mit ihren sen sich als untauglich für den Menschen. Hierzu ein kleines Lieferungen nicht mehr nachkamen, entstanden daraus die Beispiel: Die meisten heutigen Lebertransplantationen müssen ersten professionellen Rattenzuchten, aus denen schon bald die durchgeführt werden, weil sich Medikamente beim Menschen ersten Albinoratten hervorgingen. Für diese besonderen Tiere toxisch auf die Leber auswirken. Im Tierversuch war dies zuvor interessierten sich bald die „Wissenschaftler“ unter den wett- nicht feststellbar. Tierexperimentell tätige Wissenschaftler lustigen Zuschauern. So kam die Ratte ins Labor. haben jedoch ihre Überzeugungen. Es bringt nichts, sie dafür zu verteufeln. Wir sollten sie stattdessen dazu bringen, diese Die Punks und die Ratten Überzeugungen in Frage zu stellen und nach neuen Wegen zu In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Ratten suchen. auch als Haustiere „entdeckt“. In meiner Berliner Zeit am Institut für Versuchstierkunde verging kaum eine Woche, in der Leid im Labor nicht irgendein liebenswerter „Punk“ um Ratten nachsuchte. Welche Tiere uns näherstehen und welche nicht, entscheiden Natürlich war das auch als Provokation gedacht: ein Tier, das die meisten Menschen unterschiedlich. Die Ratte kommt bei die- (fast) alle Menschen verabscheuten, auf der Schulter sitzen zu ser Abwägung meist nicht gut weg. Deswegen habe ich diese haben oder aus dem Ärmel kriechen zu lassen. Doch Ratten Schirmherrschaft gerne übernommen. Denn solch liebenswerte erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Deswegen wird auch und schlaue Geschöpfe wie Ratten verdienen es, im Mittelpunkt immer häufiger hinterfragt, was für einen wissenschaftlichen unserer Gefühle für die Kreatur zu stehen. Die Ratte war als die Nutzen es denn wirklich hat, diese neuen Freunde in Labors zu „Alkoholratte“ 2007 schon einmal das Versuchstier des Jahres. Tode zu quälen. Die Berliner Tierversuchsgegnerin Brigitte Jenner schrieb damals „Die den Ratten bei dieser Forschung zugefügten Leiden durch Menschen sind keine 70 kg Ratten Isolierung, Immobilisierung und anderen Stress, durch belasten- Sprach man früher noch von einer „grausamen Notwendig- de Verhaltenstests und durch Entzug sind gravierend. Ich habe keit“, die uns im Geiste des medizinischen Fortschritts zu Tier- sie gesehen, die süchtigen, isoliert in kleinsten kahlen Käfigen versuchen geradezu verpflichte, wird an diese „Notwendigkeit“ gehaltenen, vor sich hinstarrenden Ratten – ein Anblick, den heute auch in Forscherkreisen nicht mehr so unerschütterlich ich nicht vergessen kann.“ Wollen wir hoffen, dass wir es doch geglaubt. „Menschen sind keine 70 Kilo-Ratten“ klärte uns einmal vergessen können, was wir den Tieren angetan haben – Thomas Hartung 2009 in Nature auf³. Es lohnt sich, dazu seinen wenn Tierversuche endlich Vergangenheit sind. 1) ALTEX (Alternativen zu Tierexperimenten). www.altex-edition.org; 2) Die Doerenkamp-Zbinden Stiftung fördert Lehrstühle für tierversuchsfreie Ver- 6 fahren in Baltimore, Genf, Konstanz, Tiruchirappalli (Indien) und Utrecht. www.doerenkamp.ch; 3) Toxicology for the twenty-first century. The testing of substances for adverse effects on humans and the environment needs a radical overhaul if we are to meet the challenges of ensuring health and safety. tierrechte | Ausgabe 1/2017 NATURE|Vol 460|9 July 2009; 4) ALTEX, Ausgabe 30 (3), 2013, 275–291
Versuchstier Nummer zwei Das Erbgut der Ratte stimmt zu 90 Prozent mit dem des Menschen überein. Doch dies ist nicht der einzige Grund, warum die Ratte ein so beliebtes Versuchstier ist. Der kleine Nager ist handlich, fortpflanzungsfreudig, kostengünstig und gut erforscht. Außerdem hat er als vermeintlicher Schädling keine Lobby. Doch – und das wird gerne bei dieser Diskussion verschwiegen – die Ratte ist hochintelligent und leidensfähig. Im Jahr 2015 wurden über 320.000 eingesetzt. An rund 12.600 Ratten, dies ihr schlechtes Image mit weniger Wider- Ratten in Versuchen eingesetzt. Die entspricht etwa vier Prozent, wurde 2015 stand zu rechnen als beim Affen. Es wird Ratte steht damit an zweiter Stelle der der Umgang mit sogenannten Versuchs- eher akzeptiert, dass an einem vermeint- Tierversuchsstatistik und ist – nach der tieren erlernt und Techniken trainiert. lichen Schädling geforscht wird. Zudem Maus – das am häufigsten in Versuchen sind Ratten deutlich günstiger zu kaufen, eingesetzte Tier. Über die Hälfte aller Warum wird die Ratte so oft in zu vermehren und zu halten. Die behörd- Ratten musste für gesetzlich vorgeschrie- Versuchen eingesetzt? lichen Testrichtlinien begründen den bene Sicherheitsprüfungen, sogenannte Die Frage, welche Tiere bevorzugt in Einsatz von Ratten damit, dass sie schon regulatorische Tests, ihr Leben lassen (53 Versuchen eingesetzt werden, regeln die immer eingesetzt wurden und deswegen Prozent). Denn ohne Sicherheitsprüfun- EU-Tierversuchsrichtlinie (2010/63/EU) umfangreiche Daten zu ihrer Physiologie gen am Tier dürfen Produkte wie Chemi- und das Tierschutzgesetz. Nach Erwä- und Pathologie vorliegen. Zudem haben kalien, Arzneimittel, Medizinprodukte, gungsgrund 13 der Tierversuchsrichtlinie Ratten eine relative kurze Lebensspanne Pestizide und Biozide nicht zugelassen müssen "...die Arten ausgewählt werden, und bilden zuchtbedingt leicht Tumore und vermarktet werden. Sogar für Nah- die die geringste Fähigkeit zum Empfin- aus. Ratten und Mäuse werden auch rungs- und Futtermittel werden Tierver- den von Schmerzen, Leiden oder Ängs- deshalb gern in der Giftigkeitsforschung suche gemacht. ten haben oder die geringsten dauerhaf- eingesetzt, weil sie nicht erbrechen ten Schäden erleiden (…)." Ähnlich regelt können. Per Schlundsonde verabreichte Ein Drittel stirbt für die Grund- es das Tierschutzgesetz in Paragraf 7a. Substanzen bleiben sicher im Magen. lagenforschung Während im Bereich der vorgeschriebe- Leidet die Ratte weniger als ein Mehr als 100.000 Ratten starben nen Sicherheitsprüfungen die Tierzahlen Affe? in Giftigkeitstests langsam zu sinken beginnen, steigen Die Tatsache, dass die Ratte am zweit- Im Jahr 2015 wurden über 100.000 sie in anderen Bereichen rapide an: häufigsten in Tierversuchen eingesetzt Ratten in Giftigkeitstests von Chemikali- Mit 27 Prozent starben fast ein Drittel wird, legt nahe, dass der kleine Nager en, Pestiziden, Bioziden und Arzneimit- aller Ratten für die anwendungsoffene in dieser Systematik niedriger bewertet teln eingesetzt. Zusätzlich starben etwa Grundlagenforschung und 16 Prozent wird und weniger leidet als beispielswei- 67.220 Ratten nach Qualitätskontrollen für die angewandte Forschung. Damit se ein Affe. Doch der Nachweis, dass der und Sicherheitstests. Wegen der Viel- wuchs die Zahl der Ratten in der Grund- hochintelligente Kleinsäuger weniger lei- zahl der vorgeschriebenen Tierversuche, lagenforschung von 2014 auf 2015 um det als beispielsweise ein Makak, wurde in denen Ratten eingesetzt werden, 61,2 Prozent auf 88.488 Tiere und in der bisher nicht erbracht. Viel wahrscheinli- können wir hier nur einige aktuelle angewandten Forschung um 22,3 Pro- cher ist, dass die Ratte aus rein prakti- Beispiele anführen. Im Bereich der ge- zent auf 52.107 Tiere an. Ratten werden schen Erwägungen so häufig eingesetzt setzlich vorgeschriebenen Tests müssen auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung wird. Zum einen ist bei der Ratte durch ein Großteil der Ratten in sogenannten Reproduktions- und Entwicklungstoxi- kologischen Tests leiden. Bei diesen Tests Welche Tiere werden in Tierversuchen verwendet? soll untersucht werden, ob sich ein Stoff Nach aktueller Datenlage (2015) ist die schädlich auf die Reproduktionsfähigkeit MAUS das am häufigsten verwendete und die Entwicklung der Nachkommen, Versuchstier (72,83 % oder 2.005.097 beispielsweise auf die Organe und das Tiere), danach folgen Nervensystem auswirkt. RATTEN (11,65 % oder 320.629 Tiere), FISCHE 2600 Tiere pro Testsubstanz (7,24 % oder 199.172 Tiere) und Dazu wird Rattenmüttern eine Test- KANINCHEN substanz in mindestens drei unterschied- (3,91 % oder 107.652 Tiere). lichen Dosierungen während der Trag- Aber auch und Stillzeit verabrecht. Dies erfolgt über VÖGEL (1,59 % oder 43.673), SCHWEINE (0,45 % oder 12.279), eine Schlundsonde, über das Trinkwasser, HUNDE (0,09 % oder 2.437), per Inhalation oder über die Haut. »» AFFEN (0,09 % oder 2.424)) und Foto oben: Pakhnyushchyy/Fotolia.com KATZEN (0,02 % oder 502 Ausgabe 1/2017 | tierrechte 7
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte »» Einige Testrichtlinien verlangen, zusätz- staubförmigen Stoffen für Industriearbei- Tiere getötet. In diesem Versuch leiden lich zu den Rattenmüttern zwei Generati- ter auswirkt. Beim 90-Tage Inhalations- sie erheblich unter den Operationen und onen (also Kinder- und Enkel) zu untersu- test werden 80 bis 100 junge Ratten an den künstlich erzeugten Parkinson-Symp- chen. So müssen je nach Testrichtlinie bis fünf Tagen in der Woche für sechs Stun- tomen. zu 2600 Tiere pro Substanz sterben. Um den täglich in eine Inhalationsapparatur die hohe Zahl der Tiere zu reduzieren, eingespannt und müssen 90 Tage lang Leiden unter Entzug: alkohol- hat man die sogenannte die „Exten- eine Substanz über die Nase einatmen. kranke Ratten ded-One-Generation“-Studie eingeführt. Bei Arzneimitteln müssen die Tiere die Ratten werden auch in der Suchtfor- Mit ihr kann die Zahl der Tiere um etwa leidvolle Fixierung sogar an sieben Tagen schung eingesetzt: Um herauszubekom- 1000 pro Substanz reduziert werden. in der Woche ertragen. Nach 13 Wochen men, inwieweit das "Kuschelhormon" werden sie getötet, ihre Organe ent- Oxytocin einen positiven Einfluss auf das Todesangst im Wasser nommen und untersucht. Ähnliche Tests Verlangen nach Alkohol hat, werden Rat- Während der Tragzeit und nach der werden gemacht, um herauszufinden, ob ten künstlich alkoholabhängig gemacht. Geburt werden Muttertier und Säug- inhalierbare Stoffe beispielsweise Gen- Bei einem Teil der Ratten wird dann der linge auf Vergiftungsanzeichen und oder Chromosomenmutationen auslösen. Oxytocin-Rezeptor im Gehirn blockiert. Schäden untersucht. Bis zum Ende der Anschließend wird Oxytocin in die Bauch- Stillzeit wird dann eine bestimmte Anzahl Die Ratte in der Grundlagenfor- höhle gespritzt, um die Auswirkungen Säuglingen getötet und ihre Gehirne schung des Hormons auf das Suchtverhalten auf Veränderungen untersucht. Andere Die Grundlagenforschung versteht sich zu untersuchen. Die Tiere leiden dabei Rattensäuglinge werden funktionellen als erkenntnisorientierte und anwen- mehrfach: Einmal unter den Eingriffen, und Verhaltenstests unterzogen. Neben dungsoffene Wissenschaft. Sie unter- dann unter den Untersuchungen und Tests zur sexuellen Reife und Verhalten sucht unter anderem Aufbau, Verhalten den Entzugserscheinungen. Am Ende werden auch motorische und sensorische und Funktionsweise des gesunden und des Versuches steht – wie bei fast allen Funktionen sowie Lernen und Erinnern kranken Körpers. Das Erbgut der Ratte Versuchen – der Tod. Versuche dieser Art überprüft. Um den Orientierungssinn stimmt zu 90 Prozent mit dem des Men- werden in unterschiedlichen Variationen zu testen, wird auch der berüchtigte schen überein. Deshalb meinen Forscher, durchgeführt. Water-Maze-Test eingesetzt. Dabei muss so gut wie alle genetisch bedingten die Ratte eine unter der Wasseroberflä- Erkrankungen des Menschen auch an Die Ratte in der angewandten che befindliche, nicht sichtbare Plattform Ratten erforschen zu können. Ratten Forschung finden und sich deren räumliche Position werden in der Grundlagenforschung Ratten werden ebenfalls in der ange- merken. Da es aus der Perspektive des vor allem für Studien des Nervensystems wandten Forschung, auch translationale Tieres kein Ufer gibt, kann es bei un- eingesetzt, gefolgt von Krankheiten des Forschung genannt, eingesetzt. Hier trainierten und durch die Chemikalien Herz-Kreislauf-Systems wie Herzinfarkt wird geprüft, ob die Erkenntnisse aus der beeinträchtigten Ratten dazu kommen, oder Schlaganfall, für neurodegenerative Grundlagenforschung sich auch in der dass sie Panik entwickeln und zumindest Erkrankungen wie Parkinson und in der Praxis bewahrheiten, beispielsweise, ob zeitweise unter Todesangst leiden. Erforschung von Suchterkrankungen. Da eine neue Substanz sich tatsächlich als Ratten lernfähiger sind als Mäuse, sind Arzneimittel oder Medizinprodukt eig- Stundenlange Inhalation unter sie auch in der Kognitionswissenschaft net und ob sie wirkt. In 2015 mussten die Zwang beliebt. Untersuchungen zu Krebserkran- meisten Ratten in Tests von Medikamen- Ein weiteres Beispiel für einen ge- kungen spielten in 2015 eine untergeord- ten für Hormon- und Stoffwechsel- setzlich vorgeschriebenen Test ist der nete Rolle. erkrankungen sowie für Nerven- und subchronische Inhalationstoxizitätstest. psychische Erkrankungen leiden. Fast Damit soll erforscht werden, wie schäd- Künstlich krank gemacht 20.000 Ratten wurden beispielsweise zur lich sich beispielsweise das Einatmen von Beispiel Parkinsonforschung: Als The- Untersuchung der Wirksamkeit von Arz- rapie gegen Parkinson werden Patienten neimitteln gegen Rheumatoide Arthritis Zellen implantiert, die den Nervenboten- (RA) genehmigt – eine entzündliche und stoff Dopamin produzieren. Um heraus- sehr schmerzhafte Gelenkentzündung. zufinden, wie dabei Nebenwirkungen re- duziert werden können, wird dies in der Arthritis-Tests: erst Schmerzen, Ratte nachgestellt. Hierzu wird bei den dann Tod Ratten zunächst ein parkinsonähnlicher Auch hier wird die Krankheit künstlich Zustand ausgelöst, indem die entspre- in der Ratte erzeugt, indem entspre- chenden Nervenzellen mit Gift zerstört chende Bakterien in ein Gelenk injiziert werden. In einer zweiten Operation wer- werden. Durch die entstehende Ent- den – wie beim Menschen – neue Zellen zündung schwillt das Gelenk an und in das Hirn der Ratte implantiert. Nach 20 beginnt stark zu schmerzen. Nun wird Wochen Untersuchungszeit werden die der Ratte das Medikament verabreicht Foto: Human Toxicology Project 8 tierrechte | Ausgabe 1/2017
Tierversuche mit Ratten 2015 Quelle: Versuchstierstatistik BMEL und untersucht, ob es die Entzündung 4% beseitigt oder lindert. Am Ende der Grundlagenforschung Versuche werden alle Ratten getötet. Translationale/angewandte 27% Der Versuch wurde wegen der dauerhaf- Forschung ten und starken Schmerzen als schwer Regulatorik/Routineproduktion belastend eingestuft. Auch hier werden Aus-, Fort- und Weiterbildung unterschiedliche Versuche durchgeführt. 53% 16 % Ein weiterer Bereich, in dem viele Ratten Erhaltung von Arten eingesetzt werden, ist die Untersuchung Forensische Untersuchungen der Wirksamkeit von Arzneimitteln für Erhaltung von Kolonien die sogenannte Osteoarthrose (OA). Die OA ist die häufigste Gelenkerkran- kung. Erkrankte leiden unter chroni- lässig auf den Menschen übertragen. Für all diese unnötigen Medikamente schen Schmerzen durch den Abbau von Grund sind die Artunterschiede. Selbst wurden Tierversuche durchgeführt. Der Knorpel und Knochen. Auch hier wird Menschenaffen reagieren mitunter ganz vermeintliche „Zusatznutzen“ lieferte die die Erkrankung auf verschiedene Arten anders auf Wirkstoffe als wir. Belege da- Begründung für die „Unerlässlichkeit“ künstlich bei der Ratte erzeugt. Die für sind die vielen für sicher gehaltenen der Versuche. Ratten leiden an dauerhaften Schmerzen Medikamente, die trotz tierexperimentel- und werden nach Abschluss der Testrei- ler Erprobung wegen unerwarteter oder Lichtblicke bei den Sicherheits- hen getötet. gefährlicher Nebenwirkungen wieder tests vom Markt genommen werden mussten. Doch es gibt auch Lichtblicke: Im Großes Geschäft: Transgene Rat- Ähnlich sieht es bei den sogenannten Vergleich zu 2014 ist der Anteil der tenmodelle Tiermodellen aus. Mittlerweile kritisieren verwendeten Ratten bei gesetzlich Noch ist die Maus das am häufigsten selbst Tierversuchsbefürworter deren vorgeschriebenen Sicherheitstests um gentechnisch manipulierte Tier, doch Übertragbarkeit auf den Menschen. 7,5 Prozent auf 171.861 zurückgegangen. auch die Zahl der genetisch veränderten Auf OECD-Ebene laufen zudem aktuell Rattenmodelle wächst. So wurde bei- Kein Medikament trotz Tiermo- mehrere Initiativen, um die Zahl der spielsweise eine Nacktratte für die Krebs- dellen verwendeten Tiere im Bereich der akuten forschung erzeugt, deren Immunsystem Konkretes Beispiel Osteoarthrose: Trotz Giftigkeitstests weiter zu reduzieren. Dies ausgeschaltet wurde. Weitere Beispiele der vielen „Tiermodelle“ gibt es bisher zeigt, dass auch bei den Behörden ein sind Ratten mit künstlich erzeugtem Dia- kein zugelassenes Medikament, das den Umdenken einsetzt. betes, Nierenerkrankungen, Herzinsuf- Krankheitsverlauf der Erkrankung nach- fizienz, Bluthochdruck, Darmkrebs oder weislich verbessert. In einem Faktenblatt Nötig: Gesamtstrategie zum Chorea Huntington. Für Untersuchungen der Internationalen Gesellschaft zum Ausstieg aus dem Tierversuch an der Haut wurden durch gentechnische Studium des Schmerzes wird einge- Noch hat die Entwicklung tierversuchs- Veränderungen spezielle haarlose Albino- räumt, dass die translationale Validität freier Verfahren jedoch wenig Auswir- ratten „erzeugt“. Die „Herstellung“ und beschränkt sei und mehrere Arzneimittel kung auf die tatsächliche Lage der fast Zucht dieser gentechnisch krank gemach- sich zwar bei Tiermodellen als wirksam drei Millionen Tiere, die jedes Jahr in ten Tiere ist mittlerweile ein großes Ge- erwiesen hätten, bei der menschlichen Deutschland ihr Leben in Tierversuchen schäft. Eine schlanke Ratte eines nicht Schmerzlinderung jedoch erfolglos ge- lassen. Um hier endlich den überfälligen insulinpflichtigen Diabetes Typ II kostet wesen seien. Paradigmenwechsel weg vom Tier- beispielsweise je nach Alter des Tie- versuch durchzusetzen, setzt sich der res zwischen 330 und 590 Euro pro Tier. Leiden für unnötige Medika- Bundesverband für eine Gesamtstrategie Bei all diesen Tieren, die als Modelle für mente zum Ausstieg aus dem Tierversuch ein. die verschiedensten Krankheiten die- Ein weiterer zentraler Kritikpunkt ist, Dazu brauchen wir einen Masterplan, nen, steckt das Leid quasi schon in den dass ein Drittel der neu auf den Markt der klare Verantwortliche benennt, die Genen und sie leiden ihr ganzes, meist gebrachten Medikamente keinen zusätz- gezielte Förderung tierversuchsfreier kurzes, Leben unter den Symptomen. lichen Nutzen für Patienten haben. Dies Verfahren und neue Kriterien bei der ergab eine Anfang Januar 2017 veröf- Vergabe von Fördermitteln. Zweifel an der Übertragbarkeit fentlichte Untersuchung der gesetzlichen Die Befürworter von Tierversuchen Krankenversicherungen (GKV). Nur bei Dr. Christiane Hohensee – seien es Giftigkeitsstudien, Arznei- 44 von 129 Medikamenten wurde ein klar Christina Ledermann mittelwirksamkeitsprüfungen oder die nachweisbarer Zusatznutzen festgestellt. Grundlagenforschung – können sich der Bewertet wurden vor allem Medikamen- Weitere ausführliche Informationen zentralen Kritik an der tierexperimentel- te, die bei Krebserkrankungen, Infekti- zum Versuchstier des Jahres finden Sie len Forschung nicht entziehen: Tierver- onserkrankungen wie Hepatitis oder bei unter: www.tierrechte.de suchsergebnisse lassen sich nicht zuver- Diabetes mellitus zum Einsatz kommen. Ausgabe 1/2017 | tierrechte 9
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte Foto: Photographee.eu, Fotolia.com Sichtbare Erfolge Auch wenn der Fortschritt aus Sicht der Tiere quälend langsam voranschreitet – aus wissenschaftlicher Sicht sind in den letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der tierversuchsfreien Verfahren revolutionäre Entwicklungen in Gang gekommen – auch im Bereich der Tierversuche an Ratten. Deutschland hat sich in der EU-Tierversuchsrichtlinie – wie akuten Toxikologie sind in bestimmten Fällen gegenstands- alle anderen Mitgliedsstaaten – dazu bekannt, Tierversuche los und können mit tierversuchsfreien Methoden durchge- für wissenschaftliche- und Bildungszwecke vollständig zu führt werden. ersetzen, sobald dies wissenschaftlich möglich ist. Außer- dem haben sich alle EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, Behörden reduzieren Tierversuche die Weiterentwicklung alternativer Ansätze zu erleichtern Außerdem stellten sich viele Tests bei genauerem Hinsehen und zu fördern. Dies ist jetzt sieben Jahre her. Die Zahl der als verzichtbar heraus, weil der Mensch mit bestimmten Sub- in Tierversuchen eingesetzten Tieren ist aber mit rund 2,8 stanzen praktisch gar nicht in Kontakt kommt. So erübrigt Millionen immer noch (fast) unverändert hoch. Das Problem: sich beispielswiese die Giftigkeitsprüfung für die Aufnahme In Deutschland stehen nicht alle Wissenschaftler zu diesen über den Mund, wenn der zu testende Stoff aufgrund seiner Vereinbarungen. Sie „kleben“ an der tierexperimentellen Konsistenz gar nicht oral aufgenommen werden kann. Ebenso Forschung. verhält es sich mit Augenätzungs- oder Augenreizungstests und Hautsensibilisierungsprüfungen. Für diese sollen stattdessen Ansätze für die Abschaffung spezieller abgestufte tierversuchsfreie Verfahren eingesetzt werden. Die Giftigkeitstests Vorschläge beziehen sich zunächst zwar nur auf die Testung von Doch es gibt auch Signale dafür, dass es eine Bereitschaft Pestiziden, die Prinzipien können – und müssen – aber auch auf zur Abschaffung beziehungsweise zur Reduzierung von andere Chemikalien, Formulierungen und Materialien übertragen Tierversuchen gibt. Auf Ebene der Organisation für Wirt- werden. Die europäische Validierungsbehörde (EURL ECAM) schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) laufen hat sich zudem für die Abschaffung einer Testrichtlinie ausge- derzeit mehrere Initiativen, um die Zahl der verwendeten sprochen, die Schäden am Erbgut vorhersagen soll. Die benötig- Tiere im Bereich der Giftigkeitstests zu reduzieren. Zwei For- ten Daten können auch aus anderen Tests bezogen werden. schergruppen haben 2016 festgestellt, dass der Giftigkeits- test über 28 Tage für gering-toxische Substanzen genug Fehlen: Verfahren bei Langzeitgiftigkeit Aussagekraft hat. Deswegen können die Tierversuche zur Anders sieht es bei den Tests aus, die zeigen sollen, ob ein Bestimmung der akuten und subchronischen Toxizität über Stoff über längere Zeit giftig wirkt oder ob er sich schädlich 90 Tage wegfallen. Diese Erkenntnis muss nun zügig zur auf die Nachkommen auswirkt. Im Bereich der regulatori- tatsächlichen Abschaffung dieser leidvollen Tests beitragen. schen, also gesetzlich vorgeschriebenen, Tests zur Langzeit- Ein weiterer Einsparvorschlag kommt aus den USA und Ca- toxizität und zur Reproduktionstoxizität gibt es noch keine nada: auch die sogenannten „Six-Pack“-Test* im Bereich der anerkannten tierversuchsfreien Verfahren. Das Kernproblem * Die sognannte „Six-Pack“-Tests umfassen Inhalationstoxikologie, orale Toxikologie, Hautätzung, Hautreizung, 10 tierrechte | Ausgabe 1/2017 Hautsensibilisierung und Augenätzung.
bei der Entwicklung geeigneter tierfreier Testmethoden ist es, Miniorgane können Tierversuche ersetzen die komplexen Vorgänge und Wechselwirkungen im Körper Ein weiterer vielversprechender Ansatz auf Basis von Einzel- nachzubilden. Zwar wurden schon zahlreiche in-vitro-Verfah- organen sind die sogenannten Organoide. Dies sind kugelige ren entwickelt. Doch nach Ansicht der Europäischen Chemi- Gebilde, die alle Zelltypen besitzen, die auch im Originalorg- kalienagentur (ECHA) reichen diese nicht aus, um umfassende an des Menschen vorhanden sind, beispielsweise Minilebern. Aussagen zur Wirkung der Substanzen beispielsweise bei der Doch diese Modelle sind für Langzeitgiftigkeitstests noch nicht Verstoffwechslung zu machen. Vorhersagen zu Aufnahme, ausreichend entwickelt. Besser sieht es im Bereich der Inhala- Verteilung, Stoffwechsel und Ausscheidung von Substanzen tionstoxizität aus, die die schädliche Wirkung von eingeatme- können jedoch schon jetzt mit Kombinationen aus mathemati- ten Substanzen erforscht. Wissenschaftlern von der Harva- schen Modellen und in-vitro-Verfahren gemacht werden. rd-Universität in Boston ist es gelungen, eine "Mikrolunge auf dem Chip" zu entwickeln. Das Chipmodell arbeitet mit Entscheidend: Eine konsequente Förderung menschlichen Bronchialzellen und stellt sogar die Flimmerhär- Erfreulich ist, dass das europäische Förderprojekt „EU-ToxRisk“ chen und den Schleim in den Bronchien nach. Dieses Modell die Ergebnisse der Vorgängerprojekte „ReproTect“ und „Seu- könnte vielleicht bald die leidvollen Tierversuche in diesem rat“ aufgreift. Das Ziel ist, Machbarkeitsstudien und Umset- Bereich ersetzen. zungsmöglichkeiten jenseits des Tierversuchs zu erarbeiten. Dies wird die Entwicklung von tierfreien Verfahren auch in den Hühnerei statt Ratte Bereichen Langzeitstudien, Reproduktionstoxikologie und In- Bisher wird eine Substanz an lebenden Tieren getestet, halationstoxikologie entscheidend voranbringen. Und sind die wenn Tests an Bakterien (Ames-Test, OECD 471) oder an Verfahren erst einmal entwickelt, können sie oft auch in For- Säugetierzellen (OECD 476) ergeben haben, dass der Stoff das schungsbereichen jenseits der Toxikologie dazu beitragen, Tier- Erbgut verändert. Die europäische Validierungsbehörde hat versuche abzulösen. Dies zeigt einmal mehr: Entscheidend für vor Kurzem einen Hühnerei-Mikrokern-Test (HET-NM) validiert die Entwicklung leistungsfähiger tierversuchsfreier Verfahren ist und schlägt vor, ihn in eine Teststrategie mitaufzunehmen. und bleibt, dass in diesen Bereichen konsequent investiert wird. Statt an der Ratte oder der Maus soll dann am Ei überprüft werden, ob eine Substanz gefährlich für das Erbgut ist. Hoffnungen liegen auf Multi-Organ-Systemen Die größten Hoffnungen liegen berechtigterweise auf den Krankheitsmodelle in der Petrischale Multi-Organ-Systemen, bei denen die wichtigsten Organe Auch bei der Erforschung der Wirksamkeit von Arzneimit- des Menschen auf einem Mikrochip nachgebildet werden. teln werden zunehmend Krankheitsmodelle in der Petrischale Die Industrie testet bereits den 4-Organ-Chip, bestehend aus verwendet. Heute ist es beispielsweise möglich, aus einer Haut, Darm, Niere und Leber. Zwar lassen sich mit der Chip- Hautzelle eines Patienten ein völlig anderes Organgewebe technologie die Auswirkungen auf die Nachkommen nicht herzustellen und damit in-vitro-Untersuchungen durchzufüh- direkt simulieren, wohl aber künftig die Auswirkung auf die ren. So wie die sogenannte CRISPR/Cas9-Technik genutzt wird, Fortpflanzungsorgane und die Entwicklung von Organen. um transgene Tiere herzustellen, lässt sich diese Technik auch Deswegen wird der 4-Organ-Chip bereits als Krankheitsmodell nutzen, um damit aus Stammzellen krankes Gewebe in der genutzt. Das Berliner Unternehmen TissUse arbeitet derzeit Petrischale oder auf dem Mikrochip zu produzieren. Beispiele schon an einem 10-Organ-Chip, der auch das Hormon- und Im- sind die Erforschung der Schizophrenie mittels eines Gehirn- munsystem nachbilden wird. Die Validierungsstudie soll schon on-a-Chip-Modells, in-vitro-Studien zur nicht-alkoholischen 2018 beginnen. Diese Organsysteme wären dazu geeignet, Fettleber oder in-vitro-Lungenkrebsstudien. die noch bestehenden Lücken der vorhandenen Verfahren in Langzeitgiftigkeitstests zu schließen. Perspektivisch wird es Die Abkehr vom Tierversuch hat begonnen auch möglich sein, den Organismus eines alten Menschen, der Auch wenn die tierversuchsfreien Methoden ihr gesamtes an mehreren Erkrankungen leidet, auf dem Chip zu simulieren. Potenzial noch nicht zeigen konnten, die Abkehr vom Tier- Bisher werden in diesem Bereich in präklinischen Versuchen versuch hat – wissenschaftlich wie politisch – begonnen. Ein noch gesunde junge Ratten eingesetzt. unschätzbarer Vorteil ist, dass auch die Industrie aus ökono- mischen Gründen ein großes Interesse an humanspezifischen Hautzellen testen Schädlichkeit für Nachkommen Verfahren hat. Große Erfolge gibt es unter anderem im An einem Testverfahren, das die Auswirkungen von Sub- Bereich der Stammzellforschung, der Chiptechnologie und der stanzen auf das sich entwickelnde Gehirn im Frühstadium des bildgebenden Verfahren. Diese werden zu einer Beschleuni- Fötus im Mutterleib tierversuchsfrei feststellen kann, wird gung der Entwicklung im Sinne der Tiere beitragen. derzeit am Leibniz Institut für umweltmedizinische Forschung (IUF) an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf geforscht. Dr. Christiane Hohensee Das neue Verfahren, das mit verschiedenen Nervenzelltypen Christina Ledermann aus Nervenvorläuferzellen arbeitet, soll zukünftig in Kombi- nation mit anderen Tests Tierversuche mit unzähligen Ratten beenden. » Lesen Sie dazu auch den Artikel auf Seite 18. Ausgabe 1/2017 | tierrechte 11
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte Töten im Namen des Gesetzes Wir kritisieren zu Recht, dass jedes Jahr über 320.000 Ratten im Tierversuch sterben. Doch was ist mit den unzähligen Tieren, die als sogenannte Schädlinge mit Gift, Schlagfallen und Hightech-Bolzenschussgeräten bekämpft werden? Die Definition als Schädling hebelt das letzte bisschen Tierschutz aus. Die Tötung ist sogar gesetzlich vorgeschrieben. Die Ratte wurde als unmittelbarer der Biozidgesetzgebung geprüft und Die Kosten trägt der Eigentümer. Wer- Nahrungskonkurrent des Menschen zugelassen. den in der gesamten Gemeinde Ratten seit jeher bekämpft. Doch zu Beginn festgestellt, so sind flächendeckende des 20. Jahrhundert begann ein wahrer Gift, Fallen und Bolzenschuss „Entrattungen“ mit anschließenden Vernichtungsfeldzug. Im Dienste der Unterschieden werden schnell Vorbeugemaßnahmen von der Kom- Volksgesundheit machten Chemiekon- wirkende Akutgifte und Blutgerin- mune durchzuführen und zu bezahlen. zerne mit dem Verkauf von Giften aller nungshemmer, deren Wirkung erst Wer Ratten als Schädlingsbekämpfer Art Milliardenumsätze. Vom Töten un- nach mehreren Tagen zum Tod führt. gewerbsmäßig töten will, braucht einen gewollter Kulturfolger lebt auch heute Mittlerweile gibt es auch Akutgifte, Sachkundenachweis zum Töten von Wir- noch eine ganze Branche: die sogenann- die verzögert wirken (z.B. Bromethalin, beltieren (Tierschutzgesetz § 4 Abs. 1 a). ten Schädlingsbekämpfer oder Kammer- Alpha-Chlorohydrin). So verbinden die jäger. Viele haben ein Eigeninteresse Artgenossen den Tod eines Tieres nicht Verbeugen ist Tierschutz daran, die Nagerzahlen pro Einwohner mehr mit der Futteraufnahme und Die Probleme mit Wild- und verwilder- hochzurechnen und mögliche Gefahren, nehmen die Fraßköder ebenfalls auf. ten Haustieren sind menschengemacht. die von ihnen ausgehen, zu beschwören. Totschlag- und Lebendfallen sind eben- Richtiges Verhalten unsererseits schützt Sobald der Mensch ein Tier als Schädling falls erlaubt. Neu auf dem Markt ist ein nicht nur uns Menschen, sondern auch oder Plage definiert, sind fast alle Mittel Bolzenschussgerät mit 14 Kunststoff- die Ratten vor der tödlichen Bekämp- recht, um es ausmerzen. Ähnlich ergeht bolzen, die mit 130 Stundenkilometern fung. Alles, was Ratten schmeckt, ist so es auch der Stadttaube, dem vormals die Ratte regelrecht zertrümmern. Das aufzubewahren und zu entsorgen, dass positiv besetzen Friedensboten. Doch, Gerät wurde vom Umweltbundesamt sie es nicht erreichen können. Organi- ob Wildtier oder verwildertes Haustier, als „tierschutzgerecht“ eingestuft. sche Abfälle gehören nicht in Toiletten, gemeinsam ist Ratten, Mäusen, Füchsen auf den Kompost und schon gar nicht oder Tauben, dass die Probleme allesamt Flächendeckende „Entrattungen“ in die Grünanlage. Gebäude sollten menschengemacht sind. Zur Überwachung der Rattenpopula- instand gehalten und versiegelt werden, tionen haben die Bundesländer Rechts- um die cleveren Nager am Eindringen Gesetzlich angeordnet: verordnungen erlassen. Auf privaten zu hindern. Vorbeugen ist in diesem Bekämpfungsmaßnahmen Grundstücken muss der Eigentümer Fall der beste Tierschutz. Beim Fang von Es ist richtig, dass Ratten – ebenso wie Vorsorge treffen. Gelingt dies nicht, Einzeltieren ist die Lebendfalle immer andere Wildtiere – Infektionskrankhei- ist das Ordnungsamt zu informieren, die erste Wahl. ten übertragen können, wie Hantavirus, damit professionelle Maßnahmen durch Leptospirose, Fleckfieber, Tollwut, Maul- Schädlingsbekämpfer ergriffen werden. Dr. Baumgartl-Simons und Klauenseuche oder die Weil’sche Krankheit, die Berufskrankheit der Kanalarbeiter. Richtig ist auch, dass sich Ratten stark vermehren. Von theoretisch 2000 Nachkommen pro Weibchen pro Jahr überleben circa 500. Durch die Ein- stufung als Gesundheits-, Vorrats- und Materialschädlinge fallen die Kleinsäu- ger unter das Infektionsschutz- und Tiergesundheitsgesetz. Diese ordnen Überwachungs- und Bekämpfungsmaß- nahmen durch die zuständigen Behör- den an. Bekämpft werden die Tiere überwiegend mit chemischen Mitteln, den Rodentiziden. Sie werden nach Links: Nicht gern gesehen: Eine Ratte bedient sich am Vogelfutter. Foto: Annamartha/pixelio.de Rechts: Eine Ratte in der Falle Foto: akelomongkol, Fotolia.com 12 tierrechte | Ausgabe 1/2017
In der Natur nicht gerade wasserscheu: Die Wanderratte (Rattus norvegicus) Foto: Dieter Rycek/pixelio.de Kevin Newell Seine Firma „Humane Wildlife Solutions“ wurde für ihre tierfreundlichen Alternativen mit einem Ethik-Preis ausgezeichnet. Foto: Privat Es geht auch anders! unserem Youtube-Kanal wollen wir Der Brite Kevin Newell geht neue Wege. Seine Firma „Humane Wildlife Solutions“ möglichst viele Menschen erreichen ist die weltweit erste, die Konflikte mit ungewollten Wildtieren auf humane Wei- und ihnen beibringen, wie sie mit Wild- se löst, ohne den Tieren zu schaden. Sein Ziel ist, irgendwann die herkömmlichen tieren umgehen sollten und die Proble- Schädlingsbekämpfer mit ihren grausamen Methoden ersetzen zu können. me lösen, ohne den Tieren zu schaden. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie zum Beispiel Gerüche einsetzen, um sie Sie haben Kunden in England, Frank- dazu motivierte, sich für alternative zu vertreiben. Sie suchen dann oft das reich und den Niederlanden. Was ist mit Konzepte im Umgang mit Wildtieren Weite und kommen nicht zurück. Deutschland? einzusetzen? Wir hoffen, unseren Service auch bald Ich liebe wilde Tiere und finde, dass Können Sie uns von einem Beispiel in Deutschland anbieten zu können. jedes Tier es verdient, so zu leben, berichten, bei dem Sie damit erfolgreich Derzeit läuft eine Aufklärungskampa- wie es möchte, ohne dass Menschen waren? gne in Deutschland über die sozialen es fangen und töten. Ich war 18 Jahre Ein Kunde hatte ein Problem mit Medien. Darauf wollen wir aufbauen. Tierrechtsak-tivist und Veganer, bevor Ratten in seinem Garten. Sie lebten in Jeder, der aktuell in Deutschland ein mir klar wurde, dass es nicht nur um die seinen Komposttonnen und fraßen das Problem mit Wildtieren hat, kann sich Tiere geht, die offensichtlich vom Men- Futter aus dem Vogelhäuschen. Wir aber jetzt schon bei uns melden. schen ausge-beutet werden. Es geht haben zunächst den Zugang zum Futter auch um viele hunderttausend Tiere, die unterbunden, indem wir die Tonnen Stehen Sie in Kontakt mit den Behörden? in unseren Städten vergiftet, erschos- versiegelten und das Vogelfüttern be- Ja, in Schottland stehen wir in gutem sen, gefangen und auf viele grausame endeten. Dann haben wir vorsichtig die Kontakt mit den lokalen Behörden. Be- Arten getötet werden – ohne dass Gänge umgegraben und die Nester ent- sonders, wenn es um Füchse geht, be- ihnen jemand hilft. Ich beschloss etwas fernt. Das geht natürlich nur, wenn da kommen wir viele Anfragen. Wir haben dagegen zu tun und begann an ethi- keine Jungen drin sind. Das Ziel ist, dass beispielsweise schon für die Stadtver- schen Alternativen zur konventionellen sie von selbst das Weite suchen. Wir waltung von Glasgow gearbeitet. „Schädlingsbekämpfung“ zu arbeiten, haben oft erlebt, dass das funktioniert. die nicht-tödlich, umweltfreundlich und Die Ratten gingen und kamen nicht Gibt es Probleme mit den gesetzlichen vegan sind. Dabei lernte ich John Bryant zurück. Im Grunde geht es darum, den Vorgaben und Ihrem Konzept? kennen, der sich bereits mit solchen Menschen klarzumachen, wie Ratten Die Gesetze schreiben nicht zwingend Konzepten beschäftigte. Das Ziel ist, leben. Die Probleme sind menschenge- vor, dass man Tiere unbedingt vergiften unsere tierfreundlichen Alternativen macht und können gelöst werden. oder töten muss. Deswegen haben wir bekanntzumachen, die Menschen aufzu- mit unseren nicht-tödlichen Konzepten klären und unseren Service irgendwann Haben Sie den Eindruck, dass das Be- viele Möglichkeiten. europaweit anzubieten. wusstsein dafür wächst? In den letzten vier Jahren kontak- Akzeptieren die Behörden Ihre Metho- Was machen Sie zum Beispiel, wenn tieren uns immer mehr Menschen, die den? jemand Probleme mit Ratten hat? nach einer ethischen Alternative im Ja, sie akzeptieren sie als einen An- Ratten reagieren sehr sensibel auf Umgang mit Wildtieren suchen. Durch satz, um bei Problemen mit Wildtieren alles, was in ihrer Umgebung geschieht. unseren Service erfahren die Leute Abhilfe zu schaffen. Manche stellen Da kann man gut ansetzen. Neben dem überhaupt erst, dass es Alternativen unseren Ansatz auch in Frage, aber wir Abdichten von Gebäuden, kann man gibt und dass sie die Wahl haben. Mit können immer wieder beweisen, dass »» Ausgabe 1/2017 | tierrechte 13
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