Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte

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Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Magazin tierrechte                                  Ausgabe  1/2017

tierrechte
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte
Konflikte mit Wildtieren: Es geht auch anders!
Ausstieg aus dem Tierversuch: Die Niederlande packen an
NRW-CDU macht Wahlkampf auf dem Rücken der Tiere
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Inhalt

                                                                                                                                                                                       Titelfoto:
                                                                                                                                                                                       otsphoto/
                                                                                                                                                                                       fotolia.com

Gestörte Beziehung ............................................................................................................ 4
 Die Ratte ist eines der meistgehassten und verfolgten Tiere. Dies hat viel damit zu
 tun, dass der intelligente Kleinsäuger dem Menschen besonders nah ist.

Sichtbare Erfolge................................................................................................................. 10
  Auch wenn der Fortschritt aus Sicht der Tiere quälend langsam voranschreitet – aus
  wissenschaftlicher Sicht sind im Bereich der tierversuchsfreien Verfahren revolutio-
  näre Entwicklungen in Gang gekommen.

Es geht auch anders!........................................................................................................... 13
  Der Brite Kevin Newell geht neue Wege. Seine Firma „Humane Wildlife Solutions“ ist
  die weltweit erste, die Konflikte mit ungewollten Wildtieren auf humane Weise löst.

Ausstieg aus dem Tierversuch: Die Niederlande packen an ........................................ 18
                                                                                                                                                Impressum
 Die Niederlande erstellen derzeit einen Abbauplan für Tierversuche. Währenddes-
 sen beharren die deutschen Wissenschaftsorganisationen auf dem Tierversuch.                                                                    ISSN 1434-220
                                                                                                                                                tierrechte ist der Infodienst der Menschen für
                                                                                                                                                Tierrechte – Bundesverband der Tierversuchs-
                                                                                                                                                gegner e. V. und erscheint viermal jährlich.
                                                                                                                                                Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag
Leben in Freiheit und Labor – ein Vergleich .................................................................... 5                              enthalten.

„Die Ratte verdient es, im Mittelpunkt unserer Gefühle zu stehen!“ ......................... 6                                                  Herausgeber/Verlag
                                                                                                                                                Menschen für Tierrechte – Bundesverband der
Versuchstier Nummer zwei ................................................................................................ 7                     Tierversuchsgegner e. V.
                                                                                                                                                Roermonder Straße 4 a | 52072 Aachen
Töten im Namen des Gesetzes ........................................................................................ 12                         Tel. 02 41 - 15 72 14 | Fax 02 41 - 15 56 42
                                                                                                                                                info@tierrechte.de | www.tierrechte.de
Eine Ratte namens Nick .................................................................................................... 14
                                                                                                                                                Redaktion
                                                                                                                                                Christina Ledermann, ViSP
Wir suchen Verstärkung ................................................................................................... 15                   Christiane Baumgartl-Simons
                                                                                                                                                Christiane Hohensee
Interview: Ein grundsätzliches Umdenken in Gang setzen ........................................ 16
                                                                                                                                                Gestaltung
NRW-CDU macht Wahlkampf auf dem Rücken der Tiere ............................................ 19                                                Das Atelier | Alexa Binnewies
                                                                                                                                                www.dasatelier.de
Erfolg: Küken-Urteil kommt vor Bundesverwaltungsgericht ..................................... 20
                                                                                                                                                Druck
                                                                                                                                                Bartels Druck GmbH, 21337 Lüneburg
Vorträge: Bundesverband informiert ............................................................................. 20                             www.bartelsdruckt.de

EU-Kongress: Tierversuchsfreie Verfahren .................................................................... 20                                Papier
                                                                                                                                                tierrechte wird auf 100% Recyclingpapier
Hochschulgesetze ermöglichen tierversuchsfreies Studium ...................................... 20                                               – ausgezeichnet mit dem Umweltengel –
                                                                                                                                                gedruckt
Vorgestellt: Juristische Verstärkung für das NRW-Landesbüro ................................. 21
                                                                                                                                                Vorstand
Systemwechsel statt Tierwohllabel ................................................................................ 21
                                                                                                                                                ▪ Dr.-Ing. Kurt W. Simons (Vorsitzender)
                                                                                                                                                   Tel. 0241 - 44 65 273 | Fax 0241 - 44 65 284
Nitrat gefährdet Grundwasser ........................................................................................ 21                           simons@tierrechte.de
                                                                                                                                                ▪ Dr. med. vet. Christiane Baumgartl-Simons
                                                                                                                                                   (stellvertretende Vorsitzende)
                                                                                                                                                   Tel. 06751 - 95 03 91 | Fax 06751 - 95 03 92
                                                                                                                                                   baumgartl@tierrechte.de
                                                                                                                                                ▪ Christina Ledermann (M.A.)
Rubriken                                                                                                                                           (stellvertretende Vorsitzende)
                                                                                                                                                   Tel. 0211 - 16 34 54 29
Impressum ............................................................................................................................ 2           ledermann@tierrechte.de
Editorial ................................................................................................................................. 3   Vorstandsmitglieder
Shop ..................................................................................................................................... 22   (alphabetisch)
                                                                                                                                                ▪ Susanne Pfeuffer
Helfen .................................................................................................................................. 23       Telefon + Fax 09848 - 96 94 18
Kontakt ............................................................................................................................... 24         pfeuffer@tierrechte.de
                                                                                                                                                ▪ Manuela Sägner
                                                                                                                                                   Tel. 0157 - 77 84 44 42
                                                                                                                                                   saegner@tierrechte.de
                                                                                                                                                ▪ Dr. Ute Teichgräber
                                                                                                                                                   Tel. 030 - 23 27 03 46
                                                                                                                                                   teichgraeber@tierrechte.de
                                                                                                                                                Ehrenmitglied:
                                                                                                                                                ▪ Dr. jur. Eisenhart von Loeper

2                     tierrechte | Ausgabe 1/2017
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Editorial

                                                Liebe Leserinnen und Leser,
                                                liebe Freunde,

                                                haben Sie sich gewundert, als Sie die neue tierrechte in
                                                Ihrem Briefkasten fanden? Nach genau zwanzig Jahren
                                                – die erste Ausgabe erschien 1997 – war es Zeit für eine
                                                Verjüngungskur. Wir hoffen, Ihnen gefällt das neue Design
                                                so gut wie uns. Außer der frischen Gestaltung bleibt aber alles beim Alten. Es gibt wei-
                                                terhin einen Schwerpunkt- und einen Magazinteil und die Kurzmeldungen am Ende. Aus
   Mitglied bei              n
                pean Coalitio                   Kostengründen sparen wir uns den extra Einleger in der Mitte des Heftes und die Unter-
   ECEAE – Euro             ts                  schriftenliste. Sie können aber alle Unterschriftenlisten in unserer Geschäftsstelle bestellen
                al Experimen
   To End Anim                                  oder auf unserer Webseite herunterladen. Und nicht ganz unwichtig: das Überweisungs-
    und                        nal
                 The Internatio                 formular finden Sie nun auf der letzten Seite.
    InterNICHE –               ation
                 Humane Educ
    Network for                                 Mit dieser Ausgabe stellen wir auch das Versuchstier des Jahres 2017 vor. Dieses Jahr hat
                                                die Jury die Ratte ausgewählt. Der kleine Nager ist nicht nur das Lieblingstier der Vivi-
                                                sektion, sondern auch eines der am meisten verfolgten und gehassten Tiere überhaupt.
                                                Zu Unrecht, wie wir finden. Deswegen haben wir dem intelligenten Kleinsäuger viel Platz
                                                in dieser Ausgabe eingeräumt. Wir wollen zeigen, dass es Zeit wird, neue Wege zu gehen,
                                                in der Wissenschaft, bei der sogenannten „Schädlingsbekämpfung“ und bei der Haltung
                                                als „Haustier“. Ich hoffe, das ist uns gelungen. Die Ratte hat es verdient.

                                                Es klingt in dieser Ausgabe schon an, dass 2017 unter dem Zeichen der bevorstehenden
                                                Wahlen steht. Am 26. März wählt das Saarland einen neuen Landtag. Am 7. Mai folgen
                                                Schleswig-Holstein und am 14. Mai Nordrhein-Westfalen. Der Höhepunkt des Wahljahrs
                                                ist der 24. September, wenn der Bundestag neu gewählt wird. In diesem Wahlkampf
                                                könnte der Tierschutz aufgrund der nicht abreißenden Krise in der landwirtschaftlichen
                                                Tierhaltung an Bedeutung gewinnen. Es ist zu hoffen, dass die Initiativen von Umweltmi-
                                                nisterin Barbara Hendricks (SPD) nach der Wahl nicht versanden. Denn ihr Eintreten für
                                                eine Wende in der Agrarpolitik, den Klimaschutz, die Einschränkung der industriellen Tier-
                                                haltung, die Reduzierung des Fleischkonsums und den Schutz des Grundwassers geben
                                                der SPD endlich ein umweltpolitisches Profil, das auch den Tieren nützen kann.

                                                Währenddessen demonstrieren Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU)
                                                und die CDU in Nordrhein-Westfalen, was den Konservativen der Schutz unserer Mitge-
                                                schöpfe wert ist. Nicht viel, denn sie bedienen weiterhin die starken Lobbys der Agrar-
                                                wirtschaft, Industrie und des Handels auf Kosten der Tiere. Ein Beispiel ist der Gesetzan-
                                                trag der NRW-CDU, mit dem sie Ende Januar die Abschaffung des Verbandsklagerechtes
                                                für Tierschutzvereine forderte. Dabei war es den Konservativen einerlei, ob der Antrag
                                                schlicht Falschinformationen enthielt. Die Hauptsache war offensichtlich: den Tiernutzern
                                                ein Wahlgeschenk zu machen.

                                                Um Ihnen Orientierung zu geben, welche Partei sich für einen effektiven Schutz der Tiere
                                                einsetzt, werden wir die Parteien auch dieses Jahr befragen und ihre bisherige Tierschutz-
                                                politik genau unter die Lupe nehmen. Damit eine Partei wählbar ist, erwarten wir, dass
                                                sie praxistaugliche Ausstiegskonzepte aus Tierversuchen und der industriellen Tierhaltung
                                                vorlegt. Was die Tierversuche anbetrifft machen uns die Niederlande gerade vor, was hier
                                                möglich ist. Sie haben einen Abbauplan für Tierversuche vorgelegt und wollen bis 2025
                                                Weltspitze für tierversuchsfreie Innovationen sein.
Spenden-/Beitragskonto
                                                Sie sehen, vor uns liegt ein ereignisreiches Jahr, in dem wir viel für die Tiere erreichen
Bundesverband der                               wollen. Vielen Dank für Ihre Hilfe!
Tierversuchsgegner e. V.
Sparkasse Aachen                                Herzliche Grüße Ihre
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Menschen für Tierrechte – Bundesverband der
Tierversuchsgegner e. V. ist als gemeinnützig
                                                Christina Ledermann
und besonders förderungswürdig anerkannt.
Spenden und Mitgliedsbeiträge sind steuerlich
absetzbar. Erbschaften und Vermächtnisse sind
von der Erbschaftssteuer befreit.                                                                   Ausgabe 1/2017 | tierrechte              3
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte

                                                  Gestörte Beziehung
                                                                          Die Ratte folgt dem Menschen in dessen Lebensraum. Dies
                                                                       tut sie hauptsächlich, weil sie in der Umgebung des Menschen
                                                                       leichter an Futter kam. Als sogenannter Kulturfolger wurde sie
                                                                       schon früh zum Nahrungskonkurrenten. Aus Sicht der Ratte ist
                                                                       es die richtige Überlebensstrategie, dahin zu gehen, wo es leicht
                                                                       zugängliches Futter gibt. Doch mit Logik hat die Beziehung von
                                                                       Mensch und Ratte nichts zu tun. Sie ist geprägt von Irrationali-
                                                                       tät und Abscheu.

                                                                       Opfer menschlicher Projektionen
                                                                         Der Mensch hat der Ratte schon früh die Rolle des Bösewichts
                                                                       zugewiesen, weil sie sich an seinen Kornspeichern gütlich tat. Im
                                                                       Rückblick ist dies nachvollziehbar, denn eine große Rattenpopu-
                                                                       lation konnte menschliche Nahrungsreserven ernsthaft bedro-
                                                                       hen. Nicht nachvollziehbar ist, dass der Mensch die Ratte zu
                                                                       einem Ekeltier hochstilisiert hat, auf das er dunkle menschliche
                                                                       Eigenschaften wie Bosheit und Verschlagenheit projiziert. Dies
                                                                       machte die Ratte zum Opfer menschlicher Irrtümer und Ängste.

                                                                       Manisch verfolgt
                                                                         Als „Schädling“ und Krankheitsüberträger stigmatisiert,
                                                                       wird der kleine Säuger fast manisch verfolgt. Der Hausratte ist
                                                                       dies nicht gut bekommen: sie ist mittlerweile vom Aussterben
                                                                       bedroht. Auch die Wanderratte, die vor etwa 250 Jahren nach
                                                                       Europa kam, muss für die überbordende Rattenangst bitter
                                                                       bezahlen. Die Definition als Schädling macht sie zu Freiwild. Sie
                                                                       darf überall gnadenlos verfolgt und getötet werden, teilwei-
                                                                       se sogar behördlich angeordnet. Ganze Industriezweige und
                                                                       Branchen verdienen gut daran. Auch die Ratte im Labor und die
                                                                       Farbratte im Zoogeschäft, beides Abkömmlinge der Wanderrat-
                                                                       te, erwartet meist kein besseres Schicksal. Die Grausamkeiten,
                                                                       die den Nagern im Tierversuch angetan werden, erscheinen
                                                                       Vielen legitim. Ebenso wie das Leiden der intelligenten Tiere,
                                                                       die infiziert, vergiftet oder durch gentechnische Manipulation
                                                                       künstlich krank gemacht werden und zu einem Leben in einem
                                                                       engen, sterilen Käfig verdammt sind. Die wenigen Farbratten,
                                                                       die in einer artgerechten Haltung landen, haben Glück. Die
Foto: svet110, Fotolia.com                                             meisten enden jedoch als Futtertier, das nur auf seinen Tod
                                                                       wartet.

Es gibt wohl kein Tier mit einem solch schlechten Ruf                  Neue Wege
                                                                         Wir wollen in dieser Ausgabe mit den Vorurteilen, Ängsten
wie die Ratte. Unter den Säugetieren rangiert sie in
                                                                       und Projektionen unserer eigenen Spezies aufräumen. Wir
der Beliebtheitsskala an letzter Stelle. Absurderweise                 wollen ein anderes Bild der Ratte zeigen, ohne die Fakten außer
hat dies viel damit zu tun, dass der intelligente                      Acht zu lassen. Wir wollen zeigen, dass Ratten reinliche, soziale
                                                                       und äußerst intelligente Wesen sind. Und wir wollen zeigen,
Kleinsäuger dem Menschen besonders nah ist.
                                                                       dass es andere Wege gibt, in der Forschung, im privaten Bereich
                                                                       und bei der sogenannten „Schädlingsbekämpfung“.

                                                                         „Die Ratte verdient es, im Mittelpunkt unserer Gefühle zu
                                                                       stehen“, sagt der Tierarzt und Zoologe Franz Gruber, der dieses
                                                                       Jahr die Schirmherrschaft für das Versuchstier des Jahres über-
                                                                       nommen hat. Dem ist nichts hinzuzufügen.

4                   tierrechte | Ausgabe 1/2017
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Leben in Freiheit und Labor –
ein Vergleich
Die Ratte ist weltweit verbreitet und hat sich als Kulturfolger der Lebensweise           und Lärmbelastung sind genau geregelt.
des Menschen angepasst. Doch dies wurde dem intelligenten Kleinsäuger                     Im Gegensatz zu freilebenden Ratten,
zum Verhängnis. Ihre Anpassungsfähigkeit trug dazu bei, die sprichwörtliche               die einen Aktivitätsradius von bis zu 600
„Laborratte“ nach der Maus zum Lieblingstier der Vivisektion zu machen.                   Metern haben, leben Ratten im Labor
                                                                                          – je nach Körpergewicht – in Käfigen zwi-
   Es gibt nicht nur einfach die „Ratte“.      Fähigkeiten weitervermitteln. Ratten le-   schen 200 bis 600 Quadratzentimetern.
Zur Gattung „Rattus“ gehören insgesamt         ben von Natur aus in Gruppen mit enger     Dies entspricht im besten Falle der Fläche
etwa 55 Arten. Die bekanntesten sind           sozialer Bindung. Wissenschaftler haben    eines Schuhkartons.
die Hausratte (Rattus rattus) und die          aber auch beobachtet, dass sie in losen
Wanderratte (Rattus norvegicus), wobei         Kolonien zusammenleben.                    Verurteilt zu abgrundtiefer
die Hausratte seit den 1960er-Jahren sehr                                                 Langeweile
selten geworden ist und auf der Roten          Hierarchien mit sozialem                     In den genormten 18 Zentimeter
Liste steht. Die als Versuchstier eingesetz-   Anspruch                                   hohen Plexiglas- oder Makrolonkäfigen
ten Ratten und die als Haustier beliebte          Ratten regeln ihr Zusammenleben in      können die bewegungsfreudigen Tieren
Farbratte stammen von der Wanderratte          einer Art Dreiklassensystem. Mitglieder    ihre natürlichen Bewegungsmuster wie
ab, die vor etwa 200 Jahren aus Asien          einer rangniederen Klasse unterwerfen      Aufrichten und Strecken kaum ausfüh-
einwanderte. Weswegen die Wander-              sich den Ranghöheren. Es wurde aber        ren. Die Ratte im Labor wird nie erfah-
ratte nicht – wie häufig angenommen            auch beobachtet, dass innerhalb der        ren, was Klettern, Rennen oder eine
– für die Übertragung der europäischen         einzelnen Klassen stärkere Männchen        befriedigende Beschäftigung bedeuten.
Pestepedemien verantwortlich war. Der          schwächeren, Weibchen und Jungtieren       Zusätzlich zu den Schmerzen und Schä-
grau-braun gefärbte dämmerungs- und            beim Futter den Vortritt ließen. Während   den, die ihnen in den Versuchsreihen
nachtaktive Nager lebt bevorzugt in            die Gruppen in der Natur bis zu hundert    zugefügt werden, leiden die intelligen-
Ufernähe und legt dort weitverzweigte          Einzeltiere umfassen können, bilden sich   ten Nager unter Enge und abgrundtiefer
unterirdische Gangsysteme an.                  innerhalb von Siedlungsbereichen eher      Langeweile in den Laboren. Statt einem
                                               kleine Gruppen von jeweils drei Tieren     Füllhorn aus Obst, Beeren, Kräutern und
Begabter Kletterkünstler und                   aus. Wanderratten betreiben unterein-      Sämereien lernen die neugierigen Gour-
Fischfänger                                    ander soziale Hautpflege und erkennen      mets in ihrem kurzen Leben nur trockene
   Die Wanderratte kann sehr gut               einander am Geruch.                        Pellets kennen.
schwimmen, tauchen, klettern und sprin-
gen und ist sogar ein geschickter Fisch-       Leben auf der Fläche eines                 Lebenslänglich in der Todeszelle
fänger. In der Nähe des Menschen lebt          Schuhkartons                                  Die Vorgaben zur Anreicherung der
sie vorzugweise in Kellern, Abwasserka-          Ganz anders ergeht es den Ratten         Käfige (sogenanntes „Environmental
nälen sowie in Ställen, Gräben, Deichen        im Labor: Hier leben die intelligenten     Enrichment“) haben den sozialen Tieren
und Mülldeponien und ernährt sich von          Nager unter standardisierten Bedin-        zwar eine Haltung in Gruppen, ein Nest
Vorräten und Essensresten. Rattenru-           gungen in meist fensterlosen Räumen.       aus Papierschnipseln und ein kleines Plas-
del können sich aber auch völlig neue          Alle Lebensfaktoren, wie Futter, Licht,    tikhäuschen eingebracht. Das ist zweifel-
Nahrungsquellen erschließen und diese          Einstreu, Temperatur, Luftfeuchtigkeit     los besser als ein strukturloser Käfig ohne
                                                                                          Rückzugs- und Beschäftigungsmöglich-
                                                                                          keit. Doch im Vergleich zum Lebensraum
                                                                                          ihrer freilebenden Artgenossen erinnert
                                                                                          das einförmige, kurze und leidvolle Le-
                                                                                          ben der „Laborratte“ eher an die Höchst-
                                                                                          strafe: Lebenslänglich in der Todeszelle.

                                                                                          Dr. Christiane Hohensee
                                                                                          Christina Ledermann

                                                                                          Ratten im Labor Foto: Ragne Kabanova, Fotolia.com

                                                                                           Ausgabe 1/2017 | tierrechte                        5
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte

                                                                                                                                                   Immer dabei: Zahme Ratten leben in
                                                                                                                                                   enger Bindung mit ihren „Besitzern“.
                                                                                                                                                   Foto links: mariesacha/ fotolia.com

                                                                                                                                                   Prof. emer. Dr. Franz Paul Gruber
                                                                                                                                                   Foto: Privat

Die Ratte verdient es, im Mittelpunkt
  unserer Gefühle zu stehen!
Der Tierarzt und Zoologe Prof. emer. Dr. Franz Paul Gruber ist der diesjährige Schirmherr des Versuchstiers des Jahres.
Er beschäftigt sich seit 1982 mit Alternativen zu Tierversuchen, war bis 2008 Chefredakteur der Zeitschrift ALTEX¹ und
ist Präsident der Doerenkamp-Zbinden-Stiftung². Er findet, dass die Ratte verdient, dass wir unserem Umgang mit ihr
überdenken – aus ethischen und aus wissenschaftlichen Gründen.

  Die „Karriere“ der Ratte als „Versuchstier“ begann in den                         Artikel des „Look back in anger – what clinical studies tell us
1860er Jahren in London mit grausamen Wettbewerben: Ein                             about preclinical work“³ zu lesen.
auf das Töten von Ratten dressierter Terrier, brauchte etwa
fünfeinhalb Minuten, um 100 Ratten in einer kleinen Arena                           Übertragbarkeit fragwürdig
tot zu beißen. Darauf wurden hohe Wetten abgeschlossen.                                Doch damit nicht genug: 95 Prozent aller Medikamente, die
Das Englische Tierschutzgesetz von 1825 erlaubte diese Art der                      sich im Tierversuch als Erfolg versprechend darstellten, erwei-
„Schädlingsbekämpfung“. Da die Rattenfänger bald mit ihren                          sen sich als untauglich für den Menschen. Hierzu ein kleines
Lieferungen nicht mehr nachkamen, entstanden daraus die                             Beispiel: Die meisten heutigen Lebertransplantationen müssen
ersten professionellen Rattenzuchten, aus denen schon bald die                      durchgeführt werden, weil sich Medikamente beim Menschen
ersten Albinoratten hervorgingen. Für diese besonderen Tiere                        toxisch auf die Leber auswirken. Im Tierversuch war dies zuvor
interessierten sich bald die „Wissenschaftler“ unter den wett-                      nicht feststellbar. Tierexperimentell tätige Wissenschaftler
lustigen Zuschauern. So kam die Ratte ins Labor.                                    haben jedoch ihre Überzeugungen. Es bringt nichts, sie dafür
                                                                                    zu verteufeln. Wir sollten sie stattdessen dazu bringen, diese
Die Punks und die Ratten                                                            Überzeugungen in Frage zu stellen und nach neuen Wegen zu
   In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Ratten                        suchen.
auch als Haustiere „entdeckt“. In meiner Berliner Zeit am
Institut für Versuchstierkunde verging kaum eine Woche, in der                      Leid im Labor
nicht irgendein liebenswerter „Punk“ um Ratten nachsuchte.                             Welche Tiere uns näherstehen und welche nicht, entscheiden
Natürlich war das auch als Provokation gedacht: ein Tier, das                       die meisten Menschen unterschiedlich. Die Ratte kommt bei die-
(fast) alle Menschen verabscheuten, auf der Schulter sitzen zu                      ser Abwägung meist nicht gut weg. Deswegen habe ich diese
haben oder aus dem Ärmel kriechen zu lassen. Doch Ratten                            Schirmherrschaft gerne übernommen. Denn solch liebenswerte
erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Deswegen wird auch                           und schlaue Geschöpfe wie Ratten verdienen es, im Mittelpunkt
immer häufiger hinterfragt, was für einen wissenschaftlichen                        unserer Gefühle für die Kreatur zu stehen. Die Ratte war als die
Nutzen es denn wirklich hat, diese neuen Freunde in Labors zu                       „Alkoholratte“ 2007 schon einmal das Versuchstier des Jahres.
Tode zu quälen.                                                                     Die Berliner Tierversuchsgegnerin Brigitte Jenner schrieb damals
                                                                                    „Die den Ratten bei dieser Forschung zugefügten Leiden durch
Menschen sind keine 70 kg Ratten                                                    Isolierung, Immobilisierung und anderen Stress, durch belasten-
  Sprach man früher noch von einer „grausamen Notwendig-                            de Verhaltenstests und durch Entzug sind gravierend. Ich habe
keit“, die uns im Geiste des medizinischen Fortschritts zu Tier-                    sie gesehen, die süchtigen, isoliert in kleinsten kahlen Käfigen
versuchen geradezu verpflichte, wird an diese „Notwendigkeit“                       gehaltenen, vor sich hinstarrenden Ratten – ein Anblick, den
heute auch in Forscherkreisen nicht mehr so unerschütterlich                        ich nicht vergessen kann.“ Wollen wir hoffen, dass wir es doch
geglaubt. „Menschen sind keine 70 Kilo-Ratten“ klärte uns                           einmal vergessen können, was wir den Tieren angetan haben –
Thomas Hartung 2009 in Nature auf³. Es lohnt sich, dazu seinen                      wenn Tierversuche endlich Vergangenheit sind.

                                             1) ALTEX (Alternativen zu Tierexperimenten). www.altex-edition.org; 2) Die Doerenkamp-Zbinden Stiftung fördert Lehrstühle für tierversuchsfreie Ver-

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                                             fahren in Baltimore, Genf, Konstanz, Tiruchirappalli (Indien) und Utrecht. www.doerenkamp.ch; 3) Toxicology for the twenty-first century. The testing of
                                             substances for adverse effects on humans and the environment needs a radical overhaul if we are to meet the challenges of ensuring health and safety.
             tierrechte | Ausgabe 1/2017     NATURE|Vol 460|9 July 2009; 4) ALTEX, Ausgabe 30 (3), 2013, 275–291
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Versuchstier Nummer zwei
Das Erbgut der Ratte stimmt zu 90 Prozent mit dem des Menschen überein. Doch dies ist nicht der einzige Grund, warum die
Ratte ein so beliebtes Versuchstier ist. Der kleine Nager ist handlich, fortpflanzungsfreudig, kostengünstig und gut erforscht.
Außerdem hat er als vermeintlicher Schädling keine Lobby. Doch – und das wird gerne bei dieser Diskussion verschwiegen –
die Ratte ist hochintelligent und leidensfähig.

  Im Jahr 2015 wurden über 320.000           eingesetzt. An rund 12.600 Ratten, dies     ihr schlechtes Image mit weniger Wider-
Ratten in Versuchen eingesetzt. Die          entspricht etwa vier Prozent, wurde 2015    stand zu rechnen als beim Affen. Es wird
Ratte steht damit an zweiter Stelle der      der Umgang mit sogenannten Versuchs-        eher akzeptiert, dass an einem vermeint-
Tierversuchsstatistik und ist – nach der     tieren erlernt und Techniken trainiert.     lichen Schädling geforscht wird. Zudem
Maus – das am häufigsten in Versuchen                                                    sind Ratten deutlich günstiger zu kaufen,
eingesetzte Tier. Über die Hälfte aller      Warum wird die Ratte so oft in              zu vermehren und zu halten. Die behörd-
Ratten musste für gesetzlich vorgeschrie-    Versuchen eingesetzt?                       lichen Testrichtlinien begründen den
bene Sicherheitsprüfungen, sogenannte          Die Frage, welche Tiere bevorzugt in      Einsatz von Ratten damit, dass sie schon
regulatorische Tests, ihr Leben lassen (53   Versuchen eingesetzt werden, regeln die     immer eingesetzt wurden und deswegen
Prozent). Denn ohne Sicherheitsprüfun-       EU-Tierversuchsrichtlinie (2010/63/EU)      umfangreiche Daten zu ihrer Physiologie
gen am Tier dürfen Produkte wie Chemi-       und das Tierschutzgesetz. Nach Erwä-        und Pathologie vorliegen. Zudem haben
kalien, Arzneimittel, Medizinprodukte,       gungsgrund 13 der Tierversuchsrichtlinie    Ratten eine relative kurze Lebensspanne
Pestizide und Biozide nicht zugelassen       müssen "...die Arten ausgewählt werden,     und bilden zuchtbedingt leicht Tumore
und vermarktet werden. Sogar für Nah-        die die geringste Fähigkeit zum Empfin-     aus. Ratten und Mäuse werden auch
rungs- und Futtermittel werden Tierver-      den von Schmerzen, Leiden oder Ängs-        deshalb gern in der Giftigkeitsforschung
suche gemacht.                               ten haben oder die geringsten dauerhaf-     eingesetzt, weil sie nicht erbrechen
                                             ten Schäden erleiden (…)." Ähnlich regelt   können. Per Schlundsonde verabreichte
Ein Drittel stirbt für die Grund-            es das Tierschutzgesetz in Paragraf 7a.     Substanzen bleiben sicher im Magen.
lagenforschung
   Während im Bereich der vorgeschriebe-     Leidet die Ratte weniger als ein            Mehr als 100.000 Ratten starben
nen Sicherheitsprüfungen die Tierzahlen      Affe?                                       in Giftigkeitstests
langsam zu sinken beginnen, steigen            Die Tatsache, dass die Ratte am zweit-      Im Jahr 2015 wurden über 100.000
sie in anderen Bereichen rapide an:          häufigsten in Tierversuchen eingesetzt      Ratten in Giftigkeitstests von Chemikali-
Mit 27 Prozent starben fast ein Drittel      wird, legt nahe, dass der kleine Nager      en, Pestiziden, Bioziden und Arzneimit-
aller Ratten für die anwendungsoffene        in dieser Systematik niedriger bewertet     teln eingesetzt. Zusätzlich starben etwa
Grundlagenforschung und 16 Prozent           wird und weniger leidet als beispielswei-   67.220 Ratten nach Qualitätskontrollen
für die angewandte Forschung. Damit          se ein Affe. Doch der Nachweis, dass der    und Sicherheitstests. Wegen der Viel-
wuchs die Zahl der Ratten in der Grund-      hochintelligente Kleinsäuger weniger lei-   zahl der vorgeschriebenen Tierversuche,
lagenforschung von 2014 auf 2015 um          det als beispielsweise ein Makak, wurde     in denen Ratten eingesetzt werden,
61,2 Prozent auf 88.488 Tiere und in der     bisher nicht erbracht. Viel wahrscheinli-   können wir hier nur einige aktuelle
angewandten Forschung um 22,3 Pro-           cher ist, dass die Ratte aus rein prakti-   Beispiele anführen. Im Bereich der ge-
zent auf 52.107 Tiere an. Ratten werden      schen Erwägungen so häufig eingesetzt       setzlich vorgeschriebenen Tests müssen
auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung    wird. Zum einen ist bei der Ratte durch     ein Großteil der Ratten in sogenannten
                                                                                         Reproduktions- und Entwicklungstoxi-
                                                                                         kologischen Tests leiden. Bei diesen Tests
  Welche Tiere werden in Tierversuchen verwendet?
                                                                                         soll untersucht werden, ob sich ein Stoff
                                             Nach aktueller Datenlage (2015) ist die     schädlich auf die Reproduktionsfähigkeit
                                                MAUS das am häufigsten verwendete        und die Entwicklung der Nachkommen,
                                                 Versuchstier (72,83 % oder 2.005.097    beispielsweise auf die Organe und das
                                                  Tiere), danach folgen
                                                                                         Nervensystem auswirkt.
                                                      RATTEN
                                                       (11,65 % oder 320.629 Tiere),
                                                       FISCHE                            2600 Tiere pro Testsubstanz
                                                       (7,24 % oder 199.172 Tiere) und      Dazu wird Rattenmüttern eine Test-
                                                       KANINCHEN                         substanz in mindestens drei unterschied-
                                                       (3,91 % oder 107.652 Tiere).
                                                                                         lichen Dosierungen während der Trag-
                                                     Aber auch
                                                                                         und Stillzeit verabrecht. Dies erfolgt über
                                                    VÖGEL (1,59 % oder 43.673),
                                                   SCHWEINE (0,45 % oder 12.279),        eine Schlundsonde, über das Trinkwasser,
                                                 HUNDE (0,09 % oder 2.437),              per Inhalation oder über die Haut.            »»
                                               AFFEN (0,09 % oder 2.424)) und
                                                                                         Foto oben: Pakhnyushchyy/Fotolia.com
                                             KATZEN (0,02 % oder 502
                                                                                          Ausgabe 1/2017 | tierrechte            7
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte

»»      Einige Testrichtlinien verlangen, zusätz-   staubförmigen Stoffen für Industriearbei-    Tiere getötet. In diesem Versuch leiden
     lich zu den Rattenmüttern zwei Generati-       ter auswirkt. Beim 90-Tage Inhalations-      sie erheblich unter den Operationen und
     onen (also Kinder- und Enkel) zu untersu-      test werden 80 bis 100 junge Ratten an       den künstlich erzeugten Parkinson-Symp-
     chen. So müssen je nach Testrichtlinie bis     fünf Tagen in der Woche für sechs Stun-      tomen.
     zu 2600 Tiere pro Substanz sterben. Um         den täglich in eine Inhalationsapparatur
     die hohe Zahl der Tiere zu reduzieren,         eingespannt und müssen 90 Tage lang          Leiden unter Entzug: alkohol-
     hat man die sogenannte die „Exten-             eine Substanz über die Nase einatmen.        kranke Ratten
     ded-One-Generation“-Studie eingeführt.         Bei Arzneimitteln müssen die Tiere die         Ratten werden auch in der Suchtfor-
     Mit ihr kann die Zahl der Tiere um etwa        leidvolle Fixierung sogar an sieben Tagen    schung eingesetzt: Um herauszubekom-
     1000 pro Substanz reduziert werden.            in der Woche ertragen. Nach 13 Wochen        men, inwieweit das "Kuschelhormon"
                                                    werden sie getötet, ihre Organe ent-         Oxytocin einen positiven Einfluss auf das
     Todesangst im Wasser                           nommen und untersucht. Ähnliche Tests        Verlangen nach Alkohol hat, werden Rat-
        Während der Tragzeit und nach der           werden gemacht, um herauszufinden, ob        ten künstlich alkoholabhängig gemacht.
     Geburt werden Muttertier und Säug-             inhalierbare Stoffe beispielsweise Gen-      Bei einem Teil der Ratten wird dann der
     linge auf Vergiftungsanzeichen und             oder Chromosomenmutationen auslösen.         Oxytocin-Rezeptor im Gehirn blockiert.
     Schäden untersucht. Bis zum Ende der                                                        Anschließend wird Oxytocin in die Bauch-
     Stillzeit wird dann eine bestimmte Anzahl      Die Ratte in der Grundlagenfor-              höhle gespritzt, um die Auswirkungen
     Säuglingen getötet und ihre Gehirne            schung                                       des Hormons auf das Suchtverhalten
     auf Veränderungen untersucht. Andere              Die Grundlagenforschung versteht sich     zu untersuchen. Die Tiere leiden dabei
     Rattensäuglinge werden funktionellen           als erkenntnisorientierte und anwen-         mehrfach: Einmal unter den Eingriffen,
     und Verhaltenstests unterzogen. Neben          dungsoffene Wissenschaft. Sie unter-         dann unter den Untersuchungen und
     Tests zur sexuellen Reife und Verhalten        sucht unter anderem Aufbau, Verhalten        den Entzugserscheinungen. Am Ende
     werden auch motorische und sensorische         und Funktionsweise des gesunden und          des Versuches steht – wie bei fast allen
     Funktionen sowie Lernen und Erinnern           kranken Körpers. Das Erbgut der Ratte        Versuchen – der Tod. Versuche dieser Art
     überprüft. Um den Orientierungssinn            stimmt zu 90 Prozent mit dem des Men-        werden in unterschiedlichen Variationen
     zu testen, wird auch der berüchtigte           schen überein. Deshalb meinen Forscher,      durchgeführt.
     Water-Maze-Test eingesetzt. Dabei muss         so gut wie alle genetisch bedingten
     die Ratte eine unter der Wasseroberflä-        Erkrankungen des Menschen auch an            Die Ratte in der angewandten
     che befindliche, nicht sichtbare Plattform     Ratten erforschen zu können. Ratten          Forschung
     finden und sich deren räumliche Position       werden in der Grundlagenforschung              Ratten werden ebenfalls in der ange-
     merken. Da es aus der Perspektive des          vor allem für Studien des Nervensystems      wandten Forschung, auch translationale
     Tieres kein Ufer gibt, kann es bei un-         eingesetzt, gefolgt von Krankheiten des      Forschung genannt, eingesetzt. Hier
     trainierten und durch die Chemikalien          Herz-Kreislauf-Systems wie Herzinfarkt       wird geprüft, ob die Erkenntnisse aus der
     beeinträchtigten Ratten dazu kommen,           oder Schlaganfall, für neurodegenerative     Grundlagenforschung sich auch in der
     dass sie Panik entwickeln und zumindest        Erkrankungen wie Parkinson und in der        Praxis bewahrheiten, beispielsweise, ob
     zeitweise unter Todesangst leiden.             Erforschung von Suchterkrankungen. Da        eine neue Substanz sich tatsächlich als
                                                    Ratten lernfähiger sind als Mäuse, sind      Arzneimittel oder Medizinprodukt eig-
     Stundenlange Inhalation unter                  sie auch in der Kognitionswissenschaft       net und ob sie wirkt. In 2015 mussten die
     Zwang                                          beliebt. Untersuchungen zu Krebserkran-      meisten Ratten in Tests von Medikamen-
        Ein weiteres Beispiel für einen ge-         kungen spielten in 2015 eine untergeord-     ten für Hormon- und Stoffwechsel-
     setzlich vorgeschriebenen Test ist der         nete Rolle.                                  erkrankungen sowie für Nerven- und
     subchronische Inhalationstoxizitätstest.                                                    psychische Erkrankungen leiden. Fast
     Damit soll erforscht werden, wie schäd-        Künstlich krank gemacht                      20.000 Ratten wurden beispielsweise zur
     lich sich beispielsweise das Einatmen von        Beispiel Parkinsonforschung: Als The-      Untersuchung der Wirksamkeit von Arz-
                                                    rapie gegen Parkinson werden Patienten       neimitteln gegen Rheumatoide Arthritis
                                                    Zellen implantiert, die den Nervenboten-     (RA) genehmigt – eine entzündliche und
                                                    stoff Dopamin produzieren. Um heraus-        sehr schmerzhafte Gelenkentzündung.
                                                    zufinden, wie dabei Nebenwirkungen re-
                                                    duziert werden können, wird dies in der      Arthritis-Tests: erst Schmerzen,
                                                    Ratte nachgestellt. Hierzu wird bei den      dann Tod
                                                    Ratten zunächst ein parkinsonähnlicher         Auch hier wird die Krankheit künstlich
                                                    Zustand ausgelöst, indem die entspre-        in der Ratte erzeugt, indem entspre-
                                                    chenden Nervenzellen mit Gift zerstört       chende Bakterien in ein Gelenk injiziert
                                                    werden. In einer zweiten Operation wer-      werden. Durch die entstehende Ent-
                                                    den – wie beim Menschen – neue Zellen        zündung schwillt das Gelenk an und
                                                    in das Hirn der Ratte implantiert. Nach 20   beginnt stark zu schmerzen. Nun wird
                                                    Wochen Untersuchungszeit werden die          der Ratte das Medikament verabreicht
                   Foto: Human Toxicology Project

     8             tierrechte | Ausgabe 1/2017
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Tierversuche mit Ratten 2015
                                               Quelle: Versuchstierstatistik BMEL

und untersucht, ob es die Entzündung                                  4%
beseitigt oder lindert. Am Ende der                                                          Grundlagenforschung
Versuche werden alle Ratten getötet.                                                         Translationale/angewandte
                                                                                    27%
Der Versuch wurde wegen der dauerhaf-                                                          Forschung
ten und starken Schmerzen als schwer                                                         Regulatorik/Routineproduktion
belastend eingestuft. Auch hier werden                                                       Aus-, Fort- und Weiterbildung
unterschiedliche Versuche durchgeführt.                        53%                   16 %
Ein weiterer Bereich, in dem viele Ratten                                                    Erhaltung von Arten
eingesetzt werden, ist die Untersuchung                                                      Forensische Untersuchungen
der Wirksamkeit von Arzneimitteln für                                                        Erhaltung von Kolonien
die sogenannte Osteoarthrose (OA).
Die OA ist die häufigste Gelenkerkran-
kung. Erkrankte leiden unter chroni-         lässig auf den Menschen übertragen.            Für all diese unnötigen Medikamente
schen Schmerzen durch den Abbau von          Grund sind die Artunterschiede. Selbst         wurden Tierversuche durchgeführt. Der
Knorpel und Knochen. Auch hier wird          Menschenaffen reagieren mitunter ganz          vermeintliche „Zusatznutzen“ lieferte die
die Erkrankung auf verschiedene Arten        anders auf Wirkstoffe als wir. Belege da-      Begründung für die „Unerlässlichkeit“
künstlich bei der Ratte erzeugt. Die         für sind die vielen für sicher gehaltenen      der Versuche.
Ratten leiden an dauerhaften Schmerzen       Medikamente, die trotz tierexperimentel-
und werden nach Abschluss der Testrei-       ler Erprobung wegen unerwarteter oder          Lichtblicke bei den Sicherheits-
hen getötet.                                 gefährlicher Nebenwirkungen wieder             tests
                                             vom Markt genommen werden mussten.               Doch es gibt auch Lichtblicke: Im
Großes Geschäft: Transgene Rat-              Ähnlich sieht es bei den sogenannten           Vergleich zu 2014 ist der Anteil der
tenmodelle                                   Tiermodellen aus. Mittlerweile kritisieren     verwendeten Ratten bei gesetzlich
   Noch ist die Maus das am häufigsten       selbst Tierversuchsbefürworter deren           vorgeschriebenen Sicherheitstests um
gentechnisch manipulierte Tier, doch         Übertragbarkeit auf den Menschen.              7,5 Prozent auf 171.861 zurückgegangen.
auch die Zahl der genetisch veränderten                                                     Auf OECD-Ebene laufen zudem aktuell
Rattenmodelle wächst. So wurde bei-          Kein Medikament trotz Tiermo-                  mehrere Initiativen, um die Zahl der
spielsweise eine Nacktratte für die Krebs-   dellen                                         verwendeten Tiere im Bereich der akuten
forschung erzeugt, deren Immunsystem            Konkretes Beispiel Osteoarthrose: Trotz     Giftigkeitstests weiter zu reduzieren. Dies
ausgeschaltet wurde. Weitere Beispiele       der vielen „Tiermodelle“ gibt es bisher        zeigt, dass auch bei den Behörden ein
sind Ratten mit künstlich erzeugtem Dia-     kein zugelassenes Medikament, das den          Umdenken einsetzt.
betes, Nierenerkrankungen, Herzinsuf-        Krankheitsverlauf der Erkrankung nach-
fizienz, Bluthochdruck, Darmkrebs oder       weislich verbessert. In einem Faktenblatt      Nötig: Gesamtstrategie zum
Chorea Huntington. Für Untersuchungen        der Internationalen Gesellschaft zum           Ausstieg aus dem Tierversuch
an der Haut wurden durch gentechnische       Studium des Schmerzes wird einge-                Noch hat die Entwicklung tierversuchs-
Veränderungen spezielle haarlose Albino-     räumt, dass die translationale Validität       freier Verfahren jedoch wenig Auswir-
ratten „erzeugt“. Die „Herstellung“ und      beschränkt sei und mehrere Arzneimittel        kung auf die tatsächliche Lage der fast
Zucht dieser gentechnisch krank gemach-      sich zwar bei Tiermodellen als wirksam         drei Millionen Tiere, die jedes Jahr in
ten Tiere ist mittlerweile ein großes Ge-    erwiesen hätten, bei der menschlichen          Deutschland ihr Leben in Tierversuchen
schäft. Eine schlanke Ratte eines nicht      Schmerzlinderung jedoch erfolglos ge-          lassen. Um hier endlich den überfälligen
insulinpflichtigen Diabetes Typ II kostet    wesen seien.                                   Paradigmenwechsel weg vom Tier-
beispielsweise je nach Alter des Tie-                                                       versuch durchzusetzen, setzt sich der
res zwischen 330 und 590 Euro pro Tier.      Leiden für unnötige Medika-                    Bundesverband für eine Gesamtstrategie
Bei all diesen Tieren, die als Modelle für   mente                                          zum Ausstieg aus dem Tierversuch ein.
die verschiedensten Krankheiten die-            Ein weiterer zentraler Kritikpunkt ist,     Dazu brauchen wir einen Masterplan,
nen, steckt das Leid quasi schon in den      dass ein Drittel der neu auf den Markt         der klare Verantwortliche benennt, die
Genen und sie leiden ihr ganzes, meist       gebrachten Medikamente keinen zusätz-          gezielte Förderung tierversuchsfreier
kurzes, Leben unter den Symptomen.           lichen Nutzen für Patienten haben. Dies        Verfahren und neue Kriterien bei der
                                             ergab eine Anfang Januar 2017 veröf-           Vergabe von Fördermitteln.
Zweifel an der Übertragbarkeit               fentlichte Untersuchung der gesetzlichen
   Die Befürworter von Tierversuchen         Krankenversicherungen (GKV). Nur bei           Dr. Christiane Hohensee
– seien es Giftigkeitsstudien, Arznei-       44 von 129 Medikamenten wurde ein klar         Christina Ledermann
mittelwirksamkeitsprüfungen oder die         nachweisbarer Zusatznutzen festgestellt.
Grundlagenforschung – können sich der        Bewertet wurden vor allem Medikamen-
                                                                                              Weitere ausführliche Informationen
zentralen Kritik an der tierexperimentel-    te, die bei Krebserkrankungen, Infekti-
                                                                                              zum Versuchstier des Jahres finden Sie
len Forschung nicht entziehen: Tierver-      onserkrankungen wie Hepatitis oder bei
                                                                                              unter: www.tierrechte.de
suchsergebnisse lassen sich nicht zuver-     Diabetes mellitus zum Einsatz kommen.

                                                                                             Ausgabe 1/2017 | tierrechte            9
Tierrechte - Magazin tierrechte Ausgabe 1/2017 - Menschen für Tierrechte
Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte

                                                                                                                            Foto: Photographee.eu, Fotolia.com

Sichtbare Erfolge
Auch wenn der Fortschritt aus Sicht der Tiere quälend langsam voranschreitet – aus wissenschaftlicher Sicht sind in den
letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der tierversuchsfreien Verfahren revolutionäre Entwicklungen in Gang gekommen –
auch im Bereich der Tierversuche an Ratten.

  Deutschland hat sich in der EU-Tierversuchsrichtlinie – wie    akuten Toxikologie sind in bestimmten Fällen gegenstands-
alle anderen Mitgliedsstaaten – dazu bekannt, Tierversuche       los und können mit tierversuchsfreien Methoden durchge-
für wissenschaftliche- und Bildungszwecke vollständig zu         führt werden.
ersetzen, sobald dies wissenschaftlich möglich ist. Außer-
dem haben sich alle EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet,       Behörden reduzieren Tierversuche
die Weiterentwicklung alternativer Ansätze zu erleichtern           Außerdem stellten sich viele Tests bei genauerem Hinsehen
und zu fördern. Dies ist jetzt sieben Jahre her. Die Zahl der    als verzichtbar heraus, weil der Mensch mit bestimmten Sub-
in Tierversuchen eingesetzten Tieren ist aber mit rund 2,8       stanzen praktisch gar nicht in Kontakt kommt. So erübrigt
Millionen immer noch (fast) unverändert hoch. Das Problem:       sich beispielswiese die Giftigkeitsprüfung für die Aufnahme
In Deutschland stehen nicht alle Wissenschaftler zu diesen       über den Mund, wenn der zu testende Stoff aufgrund seiner
Vereinbarungen. Sie „kleben“ an der tierexperimentellen          Konsistenz gar nicht oral aufgenommen werden kann. Ebenso
Forschung.                                                       verhält es sich mit Augenätzungs- oder Augenreizungstests und
                                                                 Hautsensibilisierungsprüfungen. Für diese sollen stattdessen
Ansätze für die Abschaffung spezieller                           abgestufte tierversuchsfreie Verfahren eingesetzt werden. Die
Giftigkeitstests                                                 Vorschläge beziehen sich zunächst zwar nur auf die Testung von
  Doch es gibt auch Signale dafür, dass es eine Bereitschaft     Pestiziden, die Prinzipien können – und müssen – aber auch auf
zur Abschaffung beziehungsweise zur Reduzierung von              andere Chemikalien, Formulierungen und Materialien übertragen
Tierversuchen gibt. Auf Ebene der Organisation für Wirt-         werden. Die europäische Validierungsbehörde (EURL ECAM)
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) laufen         hat sich zudem für die Abschaffung einer Testrichtlinie ausge-
derzeit mehrere Initiativen, um die Zahl der verwendeten         sprochen, die Schäden am Erbgut vorhersagen soll. Die benötig-
Tiere im Bereich der Giftigkeitstests zu reduzieren. Zwei For-   ten Daten können auch aus anderen Tests bezogen werden.
schergruppen haben 2016 festgestellt, dass der Giftigkeits-
test über 28 Tage für gering-toxische Substanzen genug           Fehlen: Verfahren bei Langzeitgiftigkeit
Aussagekraft hat. Deswegen können die Tierversuche zur             Anders sieht es bei den Tests aus, die zeigen sollen, ob ein
Bestimmung der akuten und subchronischen Toxizität über          Stoff über längere Zeit giftig wirkt oder ob er sich schädlich
90 Tage wegfallen. Diese Erkenntnis muss nun zügig zur           auf die Nachkommen auswirkt. Im Bereich der regulatori-
tatsächlichen Abschaffung dieser leidvollen Tests beitragen.     schen, also gesetzlich vorgeschriebenen, Tests zur Langzeit-
Ein weiterer Einsparvorschlag kommt aus den USA und Ca-          toxizität und zur Reproduktionstoxizität gibt es noch keine
nada: auch die sogenannten „Six-Pack“-Test* im Bereich der       anerkannten tierversuchsfreien Verfahren. Das Kernproblem

                                                                 * Die sognannte „Six-Pack“-Tests umfassen Inhalationstoxikologie, orale Toxikologie, Hautätzung, Hautreizung,

10           tierrechte | Ausgabe 1/2017
                                                                    Hautsensibilisierung und Augenätzung.
bei der Entwicklung geeigneter tierfreier Testmethoden ist es,      Miniorgane können Tierversuche ersetzen
die komplexen Vorgänge und Wechselwirkungen im Körper                 Ein weiterer vielversprechender Ansatz auf Basis von Einzel-
nachzubilden. Zwar wurden schon zahlreiche in-vitro-Verfah-         organen sind die sogenannten Organoide. Dies sind kugelige
ren entwickelt. Doch nach Ansicht der Europäischen Chemi-           Gebilde, die alle Zelltypen besitzen, die auch im Originalorg-
kalienagentur (ECHA) reichen diese nicht aus, um umfassende         an des Menschen vorhanden sind, beispielsweise Minilebern.
Aussagen zur Wirkung der Substanzen beispielsweise bei der          Doch diese Modelle sind für Langzeitgiftigkeitstests noch nicht
Verstoffwechslung zu machen. Vorhersagen zu Aufnahme,               ausreichend entwickelt. Besser sieht es im Bereich der Inhala-
Verteilung, Stoffwechsel und Ausscheidung von Substanzen            tionstoxizität aus, die die schädliche Wirkung von eingeatme-
können jedoch schon jetzt mit Kombinationen aus mathemati-          ten Substanzen erforscht. Wissenschaftlern von der Harva-
schen Modellen und in-vitro-Verfahren gemacht werden.               rd-Universität in Boston ist es gelungen, eine "Mikrolunge
                                                                    auf dem Chip" zu entwickeln. Das Chipmodell arbeitet mit
Entscheidend: Eine konsequente Förderung                            menschlichen Bronchialzellen und stellt sogar die Flimmerhär-
  Erfreulich ist, dass das europäische Förderprojekt „EU-ToxRisk“   chen und den Schleim in den Bronchien nach. Dieses Modell
die Ergebnisse der Vorgängerprojekte „ReproTect“ und „Seu-          könnte vielleicht bald die leidvollen Tierversuche in diesem
rat“ aufgreift. Das Ziel ist, Machbarkeitsstudien und Umset-        Bereich ersetzen.
zungsmöglichkeiten jenseits des Tierversuchs zu erarbeiten.
Dies wird die Entwicklung von tierfreien Verfahren auch in den      Hühnerei statt Ratte
Bereichen Langzeitstudien, Reproduktionstoxikologie und In-           Bisher wird eine Substanz an lebenden Tieren getestet,
halationstoxikologie entscheidend voranbringen. Und sind die        wenn Tests an Bakterien (Ames-Test, OECD 471) oder an
Verfahren erst einmal entwickelt, können sie oft auch in For-       Säugetierzellen (OECD 476) ergeben haben, dass der Stoff das
schungsbereichen jenseits der Toxikologie dazu beitragen, Tier-     Erbgut verändert. Die europäische Validierungsbehörde hat
versuche abzulösen. Dies zeigt einmal mehr: Entscheidend für        vor Kurzem einen Hühnerei-Mikrokern-Test (HET-NM) validiert
die Entwicklung leistungsfähiger tierversuchsfreier Verfahren ist   und schlägt vor, ihn in eine Teststrategie mitaufzunehmen.
und bleibt, dass in diesen Bereichen konsequent investiert wird.    Statt an der Ratte oder der Maus soll dann am Ei überprüft
                                                                    werden, ob eine Substanz gefährlich für das Erbgut ist.
Hoffnungen liegen auf Multi-Organ-Systemen
  Die größten Hoffnungen liegen berechtigterweise auf den           Krankheitsmodelle in der Petrischale
Multi-Organ-Systemen, bei denen die wichtigsten Organe                Auch bei der Erforschung der Wirksamkeit von Arzneimit-
des Menschen auf einem Mikrochip nachgebildet werden.               teln werden zunehmend Krankheitsmodelle in der Petrischale
Die Industrie testet bereits den 4-Organ-Chip, bestehend aus        verwendet. Heute ist es beispielsweise möglich, aus einer
Haut, Darm, Niere und Leber. Zwar lassen sich mit der Chip-         Hautzelle eines Patienten ein völlig anderes Organgewebe
technologie die Auswirkungen auf die Nachkommen nicht               herzustellen und damit in-vitro-Untersuchungen durchzufüh-
direkt simulieren, wohl aber künftig die Auswirkung auf die         ren. So wie die sogenannte CRISPR/Cas9-Technik genutzt wird,
Fortpflanzungsorgane und die Entwicklung von Organen.               um transgene Tiere herzustellen, lässt sich diese Technik auch
Deswegen wird der 4-Organ-Chip bereits als Krankheitsmodell         nutzen, um damit aus Stammzellen krankes Gewebe in der
genutzt. Das Berliner Unternehmen TissUse arbeitet derzeit          Petrischale oder auf dem Mikrochip zu produzieren. Beispiele
schon an einem 10-Organ-Chip, der auch das Hormon- und Im-          sind die Erforschung der Schizophrenie mittels eines Gehirn-
munsystem nachbilden wird. Die Validierungsstudie soll schon        on-a-Chip-Modells, in-vitro-Studien zur nicht-alkoholischen
2018 beginnen. Diese Organsysteme wären dazu geeignet,              Fettleber oder in-vitro-Lungenkrebsstudien.
die noch bestehenden Lücken der vorhandenen Verfahren in
Langzeitgiftigkeitstests zu schließen. Perspektivisch wird es       Die Abkehr vom Tierversuch hat begonnen
auch möglich sein, den Organismus eines alten Menschen, der           Auch wenn die tierversuchsfreien Methoden ihr gesamtes
an mehreren Erkrankungen leidet, auf dem Chip zu simulieren.        Potenzial noch nicht zeigen konnten, die Abkehr vom Tier-
Bisher werden in diesem Bereich in präklinischen Versuchen          versuch hat – wissenschaftlich wie politisch – begonnen. Ein
noch gesunde junge Ratten eingesetzt.                               unschätzbarer Vorteil ist, dass auch die Industrie aus ökono-
                                                                    mischen Gründen ein großes Interesse an humanspezifischen
Hautzellen testen Schädlichkeit für Nachkommen                      Verfahren hat. Große Erfolge gibt es unter anderem im
  An einem Testverfahren, das die Auswirkungen von Sub-             Bereich der Stammzellforschung, der Chiptechnologie und der
stanzen auf das sich entwickelnde Gehirn im Frühstadium des         bildgebenden Verfahren. Diese werden zu einer Beschleuni-
Fötus im Mutterleib tierversuchsfrei feststellen kann, wird         gung der Entwicklung im Sinne der Tiere beitragen.
derzeit am Leibniz Institut für umweltmedizinische Forschung
(IUF) an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf geforscht.       Dr. Christiane Hohensee
Das neue Verfahren, das mit verschiedenen Nervenzelltypen           Christina Ledermann
aus Nervenvorläuferzellen arbeitet, soll zukünftig in Kombi-
nation mit anderen Tests Tierversuche mit unzähligen Ratten
beenden.
                                                                      »   Lesen Sie dazu auch den Artikel auf Seite 18.

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Verfolgte, Versuchsobjekt und Haustier: Die Ratte

Töten im Namen des Gesetzes
Wir kritisieren zu Recht, dass jedes Jahr über 320.000 Ratten im Tierversuch sterben. Doch was ist mit den unzähligen Tieren,
die als sogenannte Schädlinge mit Gift, Schlagfallen und Hightech-Bolzenschussgeräten bekämpft werden?
Die Definition als Schädling hebelt das letzte bisschen Tierschutz aus. Die Tötung ist sogar gesetzlich vorgeschrieben.

  Die Ratte wurde als unmittelbarer                             der Biozidgesetzgebung geprüft und         Die Kosten trägt der Eigentümer. Wer-
Nahrungskonkurrent des Menschen                                 zugelassen.                                den in der gesamten Gemeinde Ratten
seit jeher bekämpft. Doch zu Beginn                                                                        festgestellt, so sind flächendeckende
des 20. Jahrhundert begann ein wahrer                           Gift, Fallen und Bolzenschuss              „Entrattungen“ mit anschließenden
Vernichtungsfeldzug. Im Dienste der                               Unterschieden werden schnell             Vorbeugemaßnahmen von der Kom-
Volksgesundheit machten Chemiekon-                              wirkende Akutgifte und Blutgerin-          mune durchzuführen und zu bezahlen.
zerne mit dem Verkauf von Giften aller                          nungshemmer, deren Wirkung erst            Wer Ratten als Schädlingsbekämpfer
Art Milliardenumsätze. Vom Töten un-                            nach mehreren Tagen zum Tod führt.         gewerbsmäßig töten will, braucht einen
gewollter Kulturfolger lebt auch heute                          Mittlerweile gibt es auch Akutgifte,       Sachkundenachweis zum Töten von Wir-
noch eine ganze Branche: die sogenann-                          die verzögert wirken (z.B. Bromethalin,    beltieren (Tierschutzgesetz § 4 Abs. 1 a).
ten Schädlingsbekämpfer oder Kammer-                            Alpha-Chlorohydrin). So verbinden die
jäger. Viele haben ein Eigeninteresse                           Artgenossen den Tod eines Tieres nicht     Verbeugen ist Tierschutz
daran, die Nagerzahlen pro Einwohner                            mehr mit der Futteraufnahme und               Die Probleme mit Wild- und verwilder-
hochzurechnen und mögliche Gefahren,                            nehmen die Fraßköder ebenfalls auf.        ten Haustieren sind menschengemacht.
die von ihnen ausgehen, zu beschwören.                          Totschlag- und Lebendfallen sind eben-     Richtiges Verhalten unsererseits schützt
Sobald der Mensch ein Tier als Schädling                        falls erlaubt. Neu auf dem Markt ist ein   nicht nur uns Menschen, sondern auch
oder Plage definiert, sind fast alle Mittel                     Bolzenschussgerät mit 14 Kunststoff-       die Ratten vor der tödlichen Bekämp-
recht, um es ausmerzen. Ähnlich ergeht                          bolzen, die mit 130 Stundenkilometern      fung. Alles, was Ratten schmeckt, ist so
es auch der Stadttaube, dem vormals                             die Ratte regelrecht zertrümmern. Das      aufzubewahren und zu entsorgen, dass
positiv besetzen Friedensboten. Doch,                           Gerät wurde vom Umweltbundesamt            sie es nicht erreichen können. Organi-
ob Wildtier oder verwildertes Haustier,                         als „tierschutzgerecht“ eingestuft.        sche Abfälle gehören nicht in Toiletten,
gemeinsam ist Ratten, Mäusen, Füchsen                                                                      auf den Kompost und schon gar nicht
oder Tauben, dass die Probleme allesamt                         Flächendeckende „Entrattungen“             in die Grünanlage. Gebäude sollten
menschengemacht sind.                                              Zur Überwachung der Rattenpopula-       instand gehalten und versiegelt werden,
                                                                tionen haben die Bundesländer Rechts-      um die cleveren Nager am Eindringen
Gesetzlich angeordnet:                                          verordnungen erlassen. Auf privaten        zu hindern. Vorbeugen ist in diesem
Bekämpfungsmaßnahmen                                            Grundstücken muss der Eigentümer           Fall der beste Tierschutz. Beim Fang von
  Es ist richtig, dass Ratten – ebenso wie                      Vorsorge treffen. Gelingt dies nicht,      Einzeltieren ist die Lebendfalle immer
andere Wildtiere – Infektionskrankhei-                          ist das Ordnungsamt zu informieren,        die erste Wahl.
ten übertragen können, wie Hantavirus,                          damit professionelle Maßnahmen durch
Leptospirose, Fleckfieber, Tollwut, Maul-                       Schädlingsbekämpfer ergriffen werden.      Dr. Baumgartl-Simons
und Klauenseuche oder die Weil’sche
Krankheit, die Berufskrankheit der
Kanalarbeiter. Richtig ist auch, dass sich
Ratten stark vermehren. Von theoretisch
2000 Nachkommen pro Weibchen pro
Jahr überleben circa 500. Durch die Ein-
stufung als Gesundheits-, Vorrats- und
Materialschädlinge fallen die Kleinsäu-
ger unter das Infektionsschutz- und
Tiergesundheitsgesetz. Diese ordnen
Überwachungs- und Bekämpfungsmaß-
nahmen durch die zuständigen Behör-
den an. Bekämpft werden die Tiere
überwiegend mit chemischen Mitteln,
den Rodentiziden. Sie werden nach

Links: Nicht gern gesehen: Eine Ratte bedient sich am
Vogelfutter.                    Foto: Annamartha/pixelio.de

Rechts: Eine Ratte in der Falle
                              Foto: akelomongkol, Fotolia.com

12                  tierrechte | Ausgabe 1/2017
In der Natur nicht gerade wasserscheu: Die Wanderratte (Rattus norvegicus)           Foto: Dieter Rycek/pixelio.de   Kevin Newell
                                                                                                                     Seine Firma „Humane Wildlife Solutions“ wurde für ihre
                                                                                                                     tierfreundlichen Alternativen mit einem Ethik-Preis
                                                                                                                     ausgezeichnet.                                   Foto: Privat

Es geht auch anders!
                                                                                                                     unserem Youtube-Kanal wollen wir
Der Brite Kevin Newell geht neue Wege. Seine Firma „Humane Wildlife Solutions“                                       möglichst viele Menschen erreichen
ist die weltweit erste, die Konflikte mit ungewollten Wildtieren auf humane Wei-                                     und ihnen beibringen, wie sie mit Wild-
se löst, ohne den Tieren zu schaden. Sein Ziel ist, irgendwann die herkömmlichen                                     tieren umgehen sollten und die Proble-
Schädlingsbekämpfer mit ihren grausamen Methoden ersetzen zu können.                                                 me lösen, ohne den Tieren zu schaden.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie                          zum Beispiel Gerüche einsetzen, um sie                Sie haben Kunden in England, Frank-
dazu motivierte, sich für alternative                          zu vertreiben. Sie suchen dann oft das                reich und den Niederlanden. Was ist mit
Konzepte im Umgang mit Wildtieren                              Weite und kommen nicht zurück.                        Deutschland?
einzusetzen?                                                                                                           Wir hoffen, unseren Service auch bald
  Ich liebe wilde Tiere und finde, dass                        Können Sie uns von einem Beispiel                     in Deutschland anbieten zu können.
jedes Tier es verdient, so zu leben,                           berichten, bei dem Sie damit erfolgreich              Derzeit läuft eine Aufklärungskampa-
wie es möchte, ohne dass Menschen                              waren?                                                gne in Deutschland über die sozialen
es fangen und töten. Ich war 18 Jahre                            Ein Kunde hatte ein Problem mit                     Medien. Darauf wollen wir aufbauen.
Tierrechtsak-tivist und Veganer, bevor                         Ratten in seinem Garten. Sie lebten in                Jeder, der aktuell in Deutschland ein
mir klar wurde, dass es nicht nur um die                       seinen Komposttonnen und fraßen das                   Problem mit Wildtieren hat, kann sich
Tiere geht, die offensichtlich vom Men-                        Futter aus dem Vogelhäuschen. Wir                     aber jetzt schon bei uns melden.
schen ausge-beutet werden. Es geht                             haben zunächst den Zugang zum Futter
auch um viele hunderttausend Tiere, die                        unterbunden, indem wir die Tonnen                     Stehen Sie in Kontakt mit den Behörden?
in unseren Städten vergiftet, erschos-                         versiegelten und das Vogelfüttern be-                   Ja, in Schottland stehen wir in gutem
sen, gefangen und auf viele grausame                           endeten. Dann haben wir vorsichtig die                Kontakt mit den lokalen Behörden. Be-
Arten getötet werden – ohne dass                               Gänge umgegraben und die Nester ent-                  sonders, wenn es um Füchse geht, be-
ihnen jemand hilft. Ich beschloss etwas                        fernt. Das geht natürlich nur, wenn da                kommen wir viele Anfragen. Wir haben
dagegen zu tun und begann an ethi-                             keine Jungen drin sind. Das Ziel ist, dass            beispielsweise schon für die Stadtver-
schen Alternativen zur konventionellen                         sie von selbst das Weite suchen. Wir                  waltung von Glasgow gearbeitet.
„Schädlingsbekämpfung“ zu arbeiten,                            haben oft erlebt, dass das funktioniert.
die nicht-tödlich, umweltfreundlich und                        Die Ratten gingen und kamen nicht                     Gibt es Probleme mit den gesetzlichen
vegan sind. Dabei lernte ich John Bryant                       zurück. Im Grunde geht es darum, den                  Vorgaben und Ihrem Konzept?
kennen, der sich bereits mit solchen                           Menschen klarzumachen, wie Ratten                       Die Gesetze schreiben nicht zwingend
Konzepten beschäftigte. Das Ziel ist,                          leben. Die Probleme sind menschenge-                  vor, dass man Tiere unbedingt vergiften
unsere tierfreundlichen Alternativen                           macht und können gelöst werden.                       oder töten muss. Deswegen haben wir
bekanntzumachen, die Menschen aufzu-                                                                                 mit unseren nicht-tödlichen Konzepten
klären und unseren Service irgendwann                          Haben Sie den Eindruck, dass das Be-                  viele Möglichkeiten.
europaweit anzubieten.                                         wusstsein dafür wächst?
                                                                 In den letzten vier Jahren kontak-                  Akzeptieren die Behörden Ihre Metho-
Was machen Sie zum Beispiel, wenn                              tieren uns immer mehr Menschen, die                   den?
jemand Probleme mit Ratten hat?                                nach einer ethischen Alternative im                     Ja, sie akzeptieren sie als einen An-
  Ratten reagieren sehr sensibel auf                           Umgang mit Wildtieren suchen. Durch                   satz, um bei Problemen mit Wildtieren
alles, was in ihrer Umgebung geschieht.                        unseren Service erfahren die Leute                    Abhilfe zu schaffen. Manche stellen
Da kann man gut ansetzen. Neben dem                            überhaupt erst, dass es Alternativen                  unseren Ansatz auch in Frage, aber wir
Abdichten von Gebäuden, kann man                               gibt und dass sie die Wahl haben. Mit                 können immer wieder beweisen, dass                          »»

                                                                                                                      Ausgabe 1/2017 | tierrechte                         13
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