MYTHOS TOD Das Leben und seine Grenze - Vom Denken und Fühlen Mythos Tod: Was passiert beim Sterben? Vergänglichkeit macht Sinn: Gedanken zum Tod ...
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HOSPIZBEWEGUNG HERFORD e.V. 2021 | 7. AUSGABE MYTHOS TOD • Das Leben und seine Grenze – Vom Denken und Fühlen • Mythos Tod: Was passiert beim Sterben? • Vergänglichkeit macht Sinn: Gedanken zum Tod bei Viktor Frankl TEIL 1
GRUSSWORT GRUSSWORT Liebe Leserin, lieber Leser, „Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten Der Mythos Tod ist ein Thema, was uns alle beschäftigt. Woher kommt der Tod? im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.“ Anrührend sind diese Wor- Und warum sterben wir? Was geschieht nach dem Tod? Diese existentiellen te von Rainer Maria Rilke und: geheimnisvoll. Wir können den Tod mit unse- Fragen beschäftigen die Menschheit seit Anbeginn der Zeit. Und besonders rem Verstand nicht fassen, er kann uns überraschen, er wirft viele Fragen auf. jene Menschen, die sich in ihrem letzten Lebensabschnitt be inden. Für diese Menschen, die so sehr Hilfe und Unterstützung benötigen, ist die Hospizbewe- „Mythos Tod“ unter diesem Thema steht unsere Zeitung „Mittelpunkt Mensch“ gung Herford seit nunmehr 25 Jahren da. zum 25jährigen Jubiläum unserer Hospizbewegung. Ein Mythos ist in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Erzählung. Was also erzählt uns der Tod? Was 25 Jahre, in denen Sie Menschen, die sich in ihrer letzten Lebensphase be in- hat er schon unseren Begleiterinnen und Begleitern in diesen 25 Jahren er- den, und ihren Angehörigen Zeit schenken. 25 Jahre, in denen Sie für diese zählt? Wird uns der Tod verständlicher, wenn wir viel mit ihm zu tun haben? Menschen ein offenes Ohr haben, Ihnen Entlastung und Halt bieten. Die eh- renamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hospizbewegung stam- Es bleibt so, wie Rainer Maria Rilke sagt, der Tod ist größer als unser Verstand, men aus unterschiedlichen Berufen und Altersgruppen. Sie investieren Teile immer sind wir von ihm umgeben, täglich können wir ihm begegnen. Das muss ihrer Freizeit in die Hospizarbeit. Dafür gebührt Ihnen mein herzlichster Dank uns nicht ängstigen, denn wir wissen, dass der Tod zum Leben gehört und dass - denn das was Sie für die Menschen in unserem Kreis tun, ist nicht selbstver- wir eines Tages sterben müssen. Gleichgültig, wann das sein wird, dürfen wir ständlich. darauf vertrauen, dass dann unser Leben erfüllt zu Ende geht, dass wir dann ein Leben gehabt haben, in dem es Liebe, Sinn und Not gegeben hat, wie Rai- Sie achten die Würde eines jeden Menschen, bringen ihm in seinen letzten Ta- ner Maria Rilke es von einem erfüllten Leben sagt. Nach einem gelebten Leben gen Wertschätzung und Zuwendung entgegen und ermöglichen ihm sogar me- sterben zu dürfen, ist eine gute Perspektive. Das irdische Leben ist zu Ende, dizinische und p legerische Hilfe. Das erfordert wahre Stärke und Mut - und aber der Tod ist nicht das Letzte, sondern wir dürfen darauf vertrauen, dass wir alle wissen Ihre Arbeit zu schätzen. wir neues Leben geschenkt bekommen bei Gott in seinem Reich. Davon erzählt der christliche Glaube. Und auch das gehört zum Mythos Tod. Als ambulante Hospizbewegung kommen Sie zu den Menschen. Ob in den Haushalt, in das Alten- oder P legeheim oder auch in die Klinik. Es freut mich 25 Jahre sich als Verein mit dem Sterben und dem Tod zu beschäftigen, ist et- ungemein, dass wir nun auch die stationäre Betreuung sterbender Menschen was, was uns reicher gemacht hat, es hat unseren Blick geweitet und es hat mit einem Hospiz in unserem Kreis weiterentwickeln können. Ein Mensch mit Ängste genommen. Unsere ehrenamtlichen Begleiterinnen und Begleiter kom- einer lebensbegrenzenden Erkrankung bedarf einer umfassenden P lege, Un- men aus ganz unterschiedlichen Berufen, sie sind jung oder alt, sie haben Fa- terstützung und Begleitung, die wir zusammen mit Ihnen bald auch stationär milie oder sind alleinstehend, aber alle verbindet das große Thema „Tod und gewährleisten können. Darüber hinaus gründen wir eine Stiftung, die sowohl Sterben“. Ihnen war und ist es wichtig, dem Tod die Schrecken zu nehmen, da die stationäre als auch die ambulante Hospizarbeit im Kreisgebiet unterstüt- zu sein, wenn ein Leben zu Ende geht. Für diesen berührenden und Kräfte zeh- zen soll. renden Dienst, für den Mut, sich immer wieder von Tod und Sterben herausfor- dern zu lassen, können wir nicht genug danken. Gemeinsam entwickeln wir die Hospizarbeit in unserem Kreis immer weiter. Und ich bin froh, dass wir Menschen wie Sie haben, die diese so wichtige Arbeit Sehr herzlich bedanke ich mich bei allen Mitarbeitenden, bei den Koordina- immer gewährleisten. torinnen und den Ehrenamtlichen und bei allen, die unsere Arbeit begleiten und unterstützen und wünsche unserer Hospizbewegung viel Kraft für ihren Ich wünsche Ihnen alles Gute und überbringe zu Ihrem Jubiläum zugleich die Dienst an schwerkranken und sterbenden Menschen und Gottes Geleit für alle besten Glückwünsche des Kreistages und der Verwaltung des Kreises Herford. Herausforderungen. Ihre Annette Beer Jürgen Müller Vorsitzende der Hospizbewegung Herford Landrat des Kreises Herford 2 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 3
INHALT INHALT EINDRÜCKE AUS DER ARBEIT 05 Signore: Mar na Althoff 08 Anders als gedacht: Melanie Kuhlmann TITELTHEMA: MYTHOS TOD 10 8 Mythen 12 Persönlich: „Der Tod des Vaters“ 14 Psychologisch: Das Leben und seine Grenze – 16 Vom Denken und Fühlen“ Medizinisch: Mythos Tod: Was passiert beim Sterben? Signore 20 Philosophisch / Existenzanaly sch: Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen: Heute also lerne ich „meinen“ neuen Pa enten ken- Die Szene, die sich mir bietet, hat wenig – eher rein Todesangst als Lebenskra nen. Wie immer, wenn ich auf der Pallia vsta on eine gar nichts – mit der sonst üblichen S lle und gewis- 26 Fragebogen Max Frisch neue Begleitung beginne, so melde ich mich auch heu- sen mentalen Schwere eines Pallia v-Zimmers gemein 27 Ein Bild sagt mehr als tausend Worte te kurz an der Anmeldung und frage nach, ob mein und ich kann ein plötzlich in mir aufsteigendes Grinsen 28 Philosophisch / Existenzanaly sch: Besuch jetzt gerade passe oder ich besser zu einem nicht unterdrücken. Vergänglichkeit macht Sinn: anderen Zeitpunkt wiederkommen solle. Nein, gar Gedanken zum Tod bei Viktor Frankl kein Problem, so die Auskun der ne en Pflegerin, Der Pa ent (in Gedanken nenne ich ihn schon jetzt 32 Lebensgrenze - Wortbilder über Sterben und Tod ich könne mich gern gleich vorstellen. Der Pa ent und „Signore“) sitzt - nein: thront - he ig ges kulierend in seine Frau hä en zwar gerade Besuch von einer der seinem Be . Zu seiner Rechten sitzt eine ältere, kleine Töchter, der Physiotherapeut sei auch zugegen, zudem Dame, zu seiner Linken steht, etwas irri ert blickend, noch eine Kollegin und ein Azubi. Aber ich könne mich ein hochgewachsener Mann mi leren Alters, am Tisch MITTELPUNKT MENSCH trotzdem gerne dazugesellen, der Pa ent freue sich erblicke ich eine junge Frau, ihr gegenüber noch eine bes mmt über jeden weiteren Besucher. Pflegerin samt eingeschüchtert wirkendem Pflege- 34 Buch pps Azubi. 35 Impressum Noch bevor ich an die Zimmertür klopfe, höre ich ein 36 Veranstaltungskalender S mmengewirr, aus dem besonders eine männliche Auch ich bin, sagen wir – ein wenig zögerlich – und fra- 37 Was wir tun S mme hervors cht. Nachdem auf mein Klopfen ein ge vorsichtshalber noch einmal nach, ob mein Besuch 38 Mitgliedscha serklärung ermunterndes „Jaaaa bi ä ...!“ ertönt, öffne ich ge- zu diesem Zeitpunkt denn nun wirklich passend sei. 39 Danke spannt die Tür. Signore schme ert mir sogleich freundlich entgegen: 4 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 5
EINDRÜCKE AUS DER ARBEIT EINDRÜCKE AUS DER ARBEIT „Siescher, siescher – treten Sie doch bi ä geeernee ein, Tochter, entsetzt: „Oh nein, Pappa, nein!! Du weißt lem Umfang bewußt wird, dass wir immerhin noch Sig- „Frau Mar na“, fragte er leise, „würdene Sie miche au- Gnädigste!“ Die he ige Ausholbewegung seiner Arme doch: RICHTIGE Spaghe macht nur Mamma! Die Spa- nores Menuewahl für Mi woch, Donnerstag und Frei- che inne Lübbäckä besuche?“ Ich bejahte und freute unterstreicht diese Aufforderung auf eindeu ge Weise. ghe , die du hier bekommen wirst, werden auf garrr tag vor der Brust haben. mich, dass er sich freute. keinen Fall al dente sein ...!“ Ich trete an sein Be und reiche ihm die Hand. Er sieht Er zuckt etwas nervös, räuspert sich kurz, ra sich dann Dort besuchte ich ihn noch zweimal. Bei meinem letzten mir ef in die Augen und erklärt: „Ich musse sterbe.“ Ich Ehefrau: schaut erschrocken, da sie kein Deutsch ver- jedoch auf und fragt entschlossen nach, ob er besser Besuch ging es ihm sehr schlecht. Die gesamte Famiglia erwidere: „Ich auch.“ Der Bann ist gebrochen und wir steht, dem Tonfall jedoch durchaus die Brisanz ent- später noch einmal wiederkommen solle ...? Auch Pfle- war im Zimmer versammelt. Ich wurde aufgenommen, müssen beide laut lachen. nimmt, die sich soeben entzündet hat. gekra und Azubi scheinen ihren Feierabend in weite als sei auch ich ein Teil davon. Einige Zeit saß ich an sei- Ferne gerückt zu sehen und schicken sich daher emsig nem Be . Er drückte meine Hand ein letztes Mal. Die ältere Dame an Signores rechter Seite scheint seine Signore: „Ja, mia cara, du haste natürrrlische Rächte – an, den Rest der Menue-Woche möglichst reibungslos Ehefrau zu sein. Bei dem Mann mi leren Alters handelt wie konnte ich das nur vergessene, eh? Was hällste due und ohne größere Zwischenfälle zügig abzuarbeiten... Auf dem Heimweg gingen mir noch einmal unsere Ge- es sich – wie ich dem Namensschild an seinem Shirt davohne, wenn ich beställe das Geflügälle mit Reis??“ spräche durch den Kopf - die Eindrücke und Erzählun- entnehme – um einen Physiotherapeuten. Die junge Ich erzähle dieses erste Aufeinandertreffen mit Signore gen, die ich dabei aus seinem Leben mitnehmen dur e. Frau zu Füßen von Signores Thron ist wohl eine seiner Tochter, konsterniert: „Pappa, bedenke bi e: dieser, so ausführlich, weil es bezeichnend für ihn ist. Er wußte Das genau ist es, dachte ich, was wir aus den jeweiligen Töchter; das passt jedenfalls zu den Vorabinfos über Si- nun ja, eh ... Reis ... - ... wird nicht der Riso o sein, den genau, wie es um ihn bestellt war und wir haben offen Biografien der Menschen, die wir begleiten, geschenkt gnores Familienkonstella on, die ich vorab von Susan- du gewohnt bist .... also .... eh ...???“ und ohne Umschweife darüber reden können. Schwer- bekommen. Und daraus schöpfen für unseren eigenen ne bekommen habe. mut machte sich nicht breit, sta dessen Pragma s- Lebensweg. Ehefrau: irri ert, es folgt eine Beratung der Lage auf ita- mus. Er zog es eben vor, sein Schicksal anders zu ver- Wie sich nun herausstellt, sind Krankenschwester und lienisch. arbeiten. Text: Mar na Althoff Azubi gerade dabei, Signores Menuewahl für die kom- Begleiterin bei der Hospizbewegung Herford e.V. mende Woche aufzunehmen. Signore: „S mmtä – das kanne iche unmögliche bestel- Fortan nannte er mich „Frau Mar na“, erzählte mir gut- lä ... und diese modärrrnä vegätarrrischä Krimsekramse gelaunt und humorvoll von Sizilien, wo er geboren und Ich ziehe mich also vorerst in die hintere, noch einzig sowieso nikt ....“ aufgewachsen war. Mit einem Augenzwinkern riet er freie Zimmerecke zurück und wohne dem weiteren Ge- mir jedoch dringend davon ab, jemals dorthin zu rei- schehen erstmal aus sicherer Deckung heraus als Zu- Tochter, besän igend: „Pappa, nimm die Rouladen – sen. Auf der Insel herrsche absolutes Chaos, weil die schauer bei. das wird recht gutes Fleisch sein ....“ Sizilianer grundsätzlich keinerlei Disziplin hä en, stets ausschließlich bei Rot über die Ampel führen und sich Die Pflegerin verliest nun mit wich ger Miene die für Signore, ergänzend: „... unde die Kartoffelle werdene generell der Mafia unterwürfen: Sicilia è molto läää- die Folgewoche zur Auswahl stehenden Menue-Ange- sie schone irgendewie hinkriegene ...“ Er lächelt zuver- bensgefäääährrrlisch! bote. Wir sind bei Dienstag: sichtlich. Er hingegen sei nach mi lerweile 47 Jahren in Deutsch- 1. Geflügel-Geschnetzeltes auf Reis im Gemüsekranz, Uff. land im Grunde seines Herzens ein typischer Deutscher, 2. Rinderroulade mit Kartoffelklößen & Rotkohl, 3. Spa- der auf Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin setze. Sei- ghe -Bolognese und kleine Sala-tbeilage, 4. vegetari- Erleichterung macht sich in den Reihen der Anwesen- ne freundliche Frau wohnte mit in seinem Zimmer auf scher Gemüseauflauf mit Pfiff. den breit – immerhin: der Dienstag ist unter Dach und der Pallia vsta on, hielt sich jedoch meistens schüch- Fach. Jetzt aber fix hin zu Mi woch, denke ich besorgt, tern im Hintergrund. Wie schön, dachte ich, dass die Es stehen somit bedeutende Überlegungen an, denn damit Signore nicht etwa noch auf die Idee kommt, sei- beiden diese Möglichkeit des intensiven Zusammen- die rich ge Essenswahl will selbstverständlich sorgsam ne Dienstag-Entscheidung zu revidieren. seins in der ihnen noch verbleibenden Zeit ha en. abgewogen, mit der Famiglia umfassend eruiert und naturallemente überhaupt nicht übers Knie gebrochen Nicht auszudenken, welche betriebswirtscha lichen Eines Tages erzählte mir Signore, dass ein Zimmer im werden. Aber glücklicherweise sind ja Signores Ehefrau Kosten das nicht nur im Physio-Studio, nein, sogar im Hospiz in Lübbecke für ihn und seine Frau zur Verfü- samt Tochter zugegen und stehen Signore somit bera- gesamten Klinikum zur Folge hä e. Nicht zu vergessen gung stünde und sie demnächst dorthin gebracht wür- tend zu Seite. den möglichen Arbeitgeber der Berater-Tochter. den. Zum ersten Mal schaute er mich traurig und ernst an. Der Begriff „Hospiz“ machte ihm Angst, denn für ihn Signore: „Was meinste due, Tochter, auf Spaghe hä e Den bis eben noch geduldigen Physio scheinen jetzt war klar, dass dort sein letzter Aufenthalt auf Erden sein ich mal wieder Appe to ....“ ähnliche Gedanken zu plagen, da ihm nun wohl in vol- würde. 6 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 7
EINDRÜCKE AUS DER ARBEIT Ich war sehr gespannt, was mich bei meiner ersten Es waren sehr schöne, aber auch herausfordernde Be- Sterbebegleitung erwarten würde. Mit der umfangrei- gegnungen. Es hat mich sehr beeindruckt, wie Frau T. chen Ausbildung und dem Austausch mit den anderen mit der Krankheit umging, wie sie trotz der Schmerzen Begleiterinnen und Begleitern war ich ja gut darauf vor- und Einschränkungen die Hoffnung und ihren Humor bereitet. Aber wenn es dann ernst wird, ist es ja doch behielt, wie sie sich ihren Ängsten und auch allen an- noch mal was anderes. Ich ha e im Vorfeld versucht, deren Gefühlen stellte, wie sie e raurig und zuweilen mir ein Bild davon zu machen – zumindest vom ersten bi er sein konnte und auch wieder etwas fand, wofür Treffen: Worüber man wohl spricht und wie man in sie dankbar war oder worüber sie schmunzeln konnte. Kontakt kommt. Ob man überhaupt in Kontakt kommt. All das hä e ich mir im Vorfeld nie ausdenken kön- Und dann kam Frau T.: Eine ganz feine, alte Dame mit nen. Genauso wenig, wie das Ende der Begleitung. Ihr fortgeschri ener Krebserkrankung. Wir lernten uns auf Wunsch, wieder zurück in ihre Wohnung zu können, er- der Pallia vsta on kennen. Sie ha e noch Hoffnung, füllte sich nicht mehr. Wir haben auch keinen Ausflug wieder nach Hause zu kommen. Sie empfing mich mit mehr gemacht. Dafür erfüllte sich ein anderer Wunsch, der Frage, was ich mir denn das Gewäsch einer alten den sie ha e: Wenn es nicht mehr besser würde, soll- Tante wie ihr anhören wollte?! Ob ich mir das gut über- te es zumindest schnell gehen. Das tat es: Als klar war, legt hä e. Dabei lächelte sie verschmitzt und das, was dass sie nicht mehr nach Hause konnte, ist sie in ein in ihren Augen „Gewäsch“ war, entpuppte sich als sehr Hospiz im Ruhrgebiet umgezogen, wo sie zwei Wochen bewegende Lebensgeschichte einer lebenstüch gen, später starb. Dort ha e sie einen Teil ihrer Familie in charmanten und starken Frau. der Nähe. Sie erzählte aus ihrem Leben – von einer eigenwilligen, Ich erfuhr von dem Umzug erst, als sie schon im Hos- jungen Frau, einer großen Liebe, dem frühen Verlust ih- piz war. Wir haben dann noch einmal telefoniert – ihre rer Tochter, die keine 20 Jahre alt wurde, und wie die Nichte ha e für uns die Verbindung geschaffen. Frau T. große Liebe an dem Verlust der Tochter zerbrach. Sie wollte es sich nicht nehmen lassen, sich zu verabschie- erzählte von einer Familienbande, die zwar groß und den und sich zu bedanken: Die Begleitung sei ein Ge- immer noch da ist, aber zu weit weg und verstreut über schenk gewesen – vor allem, dass sie ihre Geschichte ganz Deutschland. Von einer ungewöhnlichen Wohnge- noch einmal jemandem erzählen konnte, der sie nicht meinscha einer alten Dame und einigen Studierenden, kannte. Uns blieb die Frage, wie man ein Telefonat be- die es ihr ermöglichten, noch lange trotz der abneh- endet, von dem man weiß, dass es das letzte sein wür- menden Krä e in ihrem geliebten Haus zu leben und de. Es schmerzte, aber ich war froh, ihr noch alles Gute den großen Garten zu genießen. Inzwischen wohnte sie für das letzte Stück des Wegs wünschen zu können, in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt. wenn ich schon nicht da sein konnte. Wie weit die Wohngemeinscha zurücklag, konnte ich Text: Melanie Kuhlmann nicht rauskriegen – und ist ja eigentlich auch egal – ihre Erinnerungen daran waren jedenfalls so lebha , als hät- te sie dort noch vor zwei Wochen gewohnt. Ich war jedes Mal gespannt, wenn ich sie besuchte, und habe in den paar Wochen, die ich sie begleiten dur e, ganz unterschiedliche Face en von ihr kennengelernt. Mal haben wir herzlich über alte Geschichten gelacht, mal die frühen Verluste betrauert. Mal ging es um ge- Anders als gedacht – meinsame Pläne – wie einen Ausflug mit dem Auto und dass sie mir ihre Wohnung zeigen wollte – und mal sprach sie über ihre Angst vor dem Sterben. Manchmal Melanie Kuhlmann die Erfahrung einer ersten Begleitung all das innerhalb derselben halben Stunde. Begleiterin bei der Hospizbewegung Herford e.V. 8 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 9
TITELTHEMA: MYTHOS TOD TITELTHEMA: MYTHOS TOD ACHT MYTHEN 4)) Heißt Sterbebegleitung in in dder Hospizarbeit und Palliativ- versorgung v ve errssorgung auch Sterbehilfe? Nein Nein. n. Die Diie Hospizbewegung D Hosp Ho spiizzb beewegung bejaht das Leben Leb und engagiert sich für die Verbesserung und Erhaltung haltung derr Lebensqualität Erh Leebensqualität von schwerstkranken sch und sterbenden Menschen. Dies schließt Tötung ng auf Verlangen und Beihilfe ng B zur Selbs ötung aus. Vielmehr bietet die pallia ve Versorgung und hospizliche Begleitung ak ve Hilfe für ein würdevolles Leben bis zuletzt. In den n meisten m isten Fällen möchten me m Sterbende ihre Zeit auskosten. Sie möchten mööchten dabei möglichst frei frei von Schmerzen, fre fr Schme Angst und anderen Beschwerden sein. 1) Woran merkt man, dass es jetzt so weit ist? Dies zu gewährleisten, ist das Ziell der de Hos de Hospizarbeit und Pallia vversorgung. Der Verlauf des Sterbens ist sehr individuell – so wie der sterbende Mensch selbst. Es gibt jedoch einige Anzeichen, dass der Tod naht: Die Atmung verändert sich und die Phasen, in denen man wach ist, 5) Wie i llange d darff man iim Hospiz i bleiben? bl ib Muss man wieder werden kürzer. In den letzten Stunden sind die meisten Sterbenden gehen, wenn man nicht „rechtzeitig“ stirbt?“ nicht mehr bei Bewusstsein. Die meisten Gäste sind für einige Wochen oder auch nur für Tage im Hospiz. Eine Ärz n oder ein Arzt und der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) müssen eine sta onäre Hospizversorgung befürworten. Voraussetzung für die Aufnahme ist eine le- 2) Tut Sterben weh? bensverkürzende Erkrankung, bei der eine Heilung ausgeschlossen ist. Die Einschätzung Ein Sterben ohne Schmerzen wünschen sich eigentlich alle Menschen. Dies ist der Lebenserwartung durch die Ärz n beziehungsweise den Arzt ist natürlich schwierig. leider nicht immer der Fall. Insbesondere bei Tumorerkrankungen treten häufig Es kommt daher auch vor, dass Hospizgäste sehr lange im Hospiz leben. Manchmal ver- verschiedene Schmerzformen auf. Eine gute Pallia vversorgung ermöglicht heute bessert sich ihr Allgemeinzustand aber auch so, dass sie (vorübergehend) nach Hause eine wirksame Schmerztherapie, die eine zufriedenstellende Linderung erreichen entlassen werden können. kann. Auch andere körperliche Symptome wie Übelkeit, Unruhe, Atemprobleme oder Ängste kann die Pallia vmedizin heute gut behandeln, damit die Lebensqua- lität möglichst lange erhalten bleibt. 6) Stimmt es, dass die meisten Menschen dann sterben, wenn gerade niemand bei ihnen ist? Es gibt keine genauen Zahlen dazu, aber einige Hospiz- und Pallia vmitarbeiterinnen 3) Stimmt es, dass Tote sofort vom Bestattungs- und -mitarbeiter berichten, dass viele Menschen genau dann sterben, wenn gerade unternehmen abgeholt werden müssen? alle aus dem Raum gegangen sind. Für Angehörige ist das o schwer, da sie das Gefühl Nein. Wenn der Tod eingetreten ist und von einer Ärz n oder einem haben, diesen wich gen Moment nicht mit der oder dem Sterbenden geteilt zu haben Arzt festgestellt wurde, hat man mindestens 36 Stunden Zeit, ein – vielleicht weil sie es versprochen ha en. Es kann aber gut sein, dass es für manche Besta ungsins tut einzuschalten. Da das Besta ungsrecht Angele- Menschen leichter ist, das eigene Leben loszulassen, wenn sie einen Moment allein genheit der Bundesländer ist, gibt es hier kleine Unterschiede. Eine sind. Manchmal scheint es so, als würden sie genau diesen Moment abwarten. bundesweite gesetzliche Vorschri , dass ein Besta ungsunternehmen eingeschaltet werden muss, exis ert nicht. Allerdings dürfen nur 7) Verhungert oder verdurstet man, wenn man in der Sterbe- Besta erinnen oder Besta er Verstorbene transpor eren. Bereits phase nicht mehr essen und trinken kann, aber keine künstli- zu Lebzeiten kann es sinnvoll sein, sich ein Besta ungsunternehmen seines Vertrauens zu suchen. Hierbei kann man auch besprechen, che Ernährung bekommt? welche Aufgaben später das Besta ungsins tut übernehmen soll und Nein. In der Sterbephase braucht der Körper weniger Flüssigkeit und wenig Nahrung. was Angehörige lieber selbst erledigen. Unabhängig vom Sterbeort Ein Leitspruch in der Hospizarbeit und Pallia vversorgung besagt, dass man nicht kann der verstorbene Mensch auch nach Hause oder an den Ort sei- deshalb s rbt, weil man nicht isst, sondern nicht isst, weil man s rbt. Die künstliche nes Lebensmi elpunktes gebracht werden, um das Abschiednehmen Ernährung über Sonden oder Infusionen ist o sogar unpassend, da sie den Körper mit zu gestalten. Tradi onell werden Verstorbene zu Hause o in einem zusätzlicher Stoffwechselarbeit belastet, die er nicht mehr leisten kann. Sarg oder im eigenen Be aufgebahrt. 8) Darf man Tote anfassen? Ja. Es ist ein Mythos, dass Leichen »gi ig« sind. Zum Abschied können Tote genauso Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): berührt werden, wie man sie auch als Lebende berührt hat. Einen nahen Menschen „Letzte Wege. Wenn das Leben Abschied nimmt. Magazin zur Hospizarbeit und Pallia vversorgung.“ Juni 2019, S. 26 - 27 nach dem Tod zum Abschied zu küssen, ist ebenfalls nicht gesundheitsschädlich. 10 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 11
TITELTHEMA: MYTHOS TOD TITELTHEMA: MYTHOS TOD Der Tod des Vaters heit da. Der, der ihn hoch auf den Schultern getragen, der ihn durch die Lu gewirbelt, der ihm wunderbare Geschenke mitgebracht ha e, der, der sich unendlich rierte, wenn er seine innere Kra über die Hand in den Körper des Vaters fließen ließ, wurde er ruhiger. Franz sah, wie er sich entspannte, wie er weniger kämp e. freuen konnte, wenn es seinen Kindern gut ging. Immer Aber nach einiger Zeit begann er wieder hek sch nach Fern von Zuhause erreichte Franz die Nachricht vom aus der Tiefe seiner Seele. Er wollte ihn re en, wollte neue Bilder tauchten auf, Bilder vom Vater, der die Na- Lu zu schnappen, in all seiner Not versuchte er, etwas bedrohlichen Zustand seines Vaters: „Es kann sein, dass ihn erhalten, er wollte noch mit ihm reden, sein Lachen men der Hauptstädte aller Länder der Welt kannte, der zu sagen, er stöhnte, er riss den Mund weit auf, sein At- er nicht mehr lange lebt, du musst kommen.“ Sofort sehen, seine Hand halten, wollte einfach noch eine Zeit alte Balladen vortrug und packend von seiner Kindheit men setzte aus. Nur durch den starken Druck, den Franz machte sich Franz auf und fuhr die 500 Kilometer lange lang mit ihm zusammen sein. Er rief durch den Äther, er erzählen konnte, der mit seiner Tenors mme fast wie in die Hand des Vaters gab, kam die Atmung wieder zu- Strecke in einem durch. schrie, er glaubte fest daran, ihn zu erreichen: „Bi e“, ein Profi sang. „Papa, Papa, Papa“ rief Franz wieder laut rück. Ihm war, als läge das Leben des Vaters in seinem rief er, „bi e geh noch nicht, bleib noch, du musst noch vor sich hin. Sein Rufen war wie eine Beschwörung, wie Handeln. Er spürte die Wechselwirkung zwischen den Beim Fahren musste er sich immer wieder dazu brin- bleiben, bi e, bi e, bi e!“ ein Appell, der durch den Äther gehen und den Ster- Körpern, spürte, wie er den Vater mit Mühe am Leben gen, die Konzentra on auf die Fahrt zu lenken. Das Bild benden erreichen sollte. „Papa, Papa, warte auf mich, hielt und wusste nicht, wie lange er das noch schaffen des Vaters ha e ihn voll im Besitz. Es war nicht das Bild Alle Auseinandersetzungen, alle Dispute, Streitereien bi e, warte auf mich, ich bin bald da, ich komme, ja, ich konnte. „Papa. Papa, Papa.“ Franz konnte die Spannung, des leidenden, des alten Vaters. Nein – er sah einen la- und Kränkungen, die er mit ihm ausgetragen ha e, die komme! Bi e geh noch nicht.“ die sich in ihm gestaut ha e, kaum noch ertragen, er chenden, einen Draufgänger, einen der sang und lus g fast immer ihr Verhältnis bes mmt ha en, waren wie heulte, er erlebte die Schwelle vom Leben zum Tod. Er war. Und in Franz war ein Drang, ein Au rag, ein Befehl verflogen. Plötzlich war nur noch der Vater seiner Kind- Immer in Richtung Heimat. Franz staunte, wie schnell er spürte sie ganz deutlich. Die Hand des Vaters wurde im- voran kam, er nahm den Fahrtverlauf kaum wahr, sah mer kra loser und trotzdem drückte Franz weiter seine nur die Hinweisschilder zu den großen Städten. Sein Hand, versuchte ihn zu erhalten, wollte ihn nicht ster- Mund war trocken und der Körper steif und in sich ge- ben lassen. Die Mu er stellte sich hinter Franz, sie legte fangen. Franz fühlte sich wie eingeschnürt. Alle Gedan- ihre Hände auf seine Schultern und sagte zu ihm: „Es ist ken drehten sich um ihn, um den Vater. genug, du hast das gut gemacht, jetzt kann er sterben.“ Ihre Worte waren für Franz wie eine Erlösung. Er küsste Im Tal das Dorf. Endlich angekommen. Er rannte zur den Handrücken des Vaters und ließ danach die Hand Haustür, eine Schwester öffnete, alle andern waren los. Noch einmal rang der Vater um Lu , er mobilisierte auch da. „Er lebt noch!“ Franz umarmte die Mu er. Sie seine letzten Krä e. Dann sackte er zusammen. S ll lag war ruhig und gab ihm ein ernstes Lächeln. „Gut, dass er da, bewegungslos, friedlich. du da bist.“ Er grüßte alle Schwestern und setzte sich ans Be des Vaters. Der Vater atmete schwer, er atmete Wie stumm alle waren. Und fast so bewegungslos wie viel zu schnell, er kämp e, kämp e gegen sein Ende. der tote Vater. Die Zeit stand s ll. Sprachlos verharrten Franz sah, dass er nicht sterben wollte, er wollte sich die Anwesenden an ihren Plätzen. Zagha gingen die erhalten, wollte sich aus der Not re en. Dicke Schweiß- Blicke von einem zum andern. Die Mu er schloss die perlen standen auf seiner S rn. Die Mu er trocknete Augen des Toten. Alle umarmen sich, weinten und spü- sie ab und kühlte mit einem kalten Tuch seinen Kopf. rten ihre Kra losigkeit. Der Körper des Vaters war in starker Bewegung, sein Brustkorb ging auf und ab. Seine trüben Augen suchten Franz ging zum Auto und holte seine Reisetasche ins den Kontakt zu Franz. Schwach, irgendwie verschwom- Haus. Es war für ihn so, als ob die Reise erst zu diesem men, schon etwas aus der Welt sah der Vater Franz an. Zeitpunkt beendet gewesen wäre. Alle saßen am Kü- Er erkannte seinen Sohn, er lachte. Ganz leise und weit chen sch und waren wie aus der Gegenwart gefallen. weg sah Franz sein Lachen. Ein müdes Lachen, fern und Das Schweigen verband sie. Nach einiger Zeit durch- doch so schön. Franz weinte. Die Tränen quollen hervor, brach die Mu er die S lle und fragte ihre Kinder, ob sie liefen über seine Wangen. Zwischen dem schweren At- Hunger hä en. men und dem Pfeifen der Lu hörte Franz, wie der Vater versuchte, seinen Namen auszusprechen. Franz beugte sich über ihn und streichelte seine Wangen. Der Vater reagierte mit noch intensiverem Atmen, er atmete nur Der Autor dieses Beitrags möchte anonym bleiben. noch ein, dachte Franz, nicht mehr aus. Sein Stöhnen Er freut sich über Reak onen an die Herausgeber der und seine mühsam ausgestoßenen Töne waren wie Hil- Zeitschri . ferufe. Franz hielt die Hand des Vaters, er spürte sein Halten, sein Klammern. Wenn er sich auf ihn konzent- 12 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 13
TITELTHEMA: MYTHOS TOD TITELTHEMA: MYTHOS TOD Immer alles in Bewegung. (…) Dieses Meer zu sehen ist für Inbeziehungtreten mit der Welt und mit der Grenze des Le- mich seitdem das Herrlichste, was es in der natürlichen Welt bens (Geheimnis) brauchen wir die Wahrnehmungsfähigkeit gibt. Es ist das Meer, weil immer im Wandel, weil immer in des fühlenden Selbst, das weitgehend unbewusst arbeitet. der großen Ordnung des Unendlichen, wie ein Spiegel des Es ist aber deshalb auch in der Lage, Wirklichkeit umfassen- Lebens und des Philosophierens. Alles Feste, herrlich geord- der und vernetzter zu erfühlen als der Verstand zu erkennen nete, das Wohnen, das Geborgensein, unentbehrlich. Dass in der Lage ist. Die Fühlfunk on des Selbst ist auch eine Art es aber dies andere gibt, die Unendlichkeit des Meeres, das Ra onalität. Sie ist nicht unvernün ig, sondern erfasst und befreit gleichsam, das bringt uns dorthin, wo alle Fes gkeit verarbeitet Informa onen im Gegensatz zum bewussten Ich au ört aber wir nicht ins Bodenlose sinken, sondern in das nicht bewusst linear, d. h. Schri für Schri , sondern intui v unendliche Geheimnis.“ gleichzei g (Parallelverarbeitung). Deshalb kann das fühlen- de Selbst in einem bes mmten Moment viel mehr erfassen Und darauf kommt es jetzt an. Dass man die Grundstruktur als das denkende Ich. des Lebens erfasst: „Alle Dinge kann man doppelt betrachten: Das Leben und seine Grenze - als Faktum und als Geheimnis“ (Hans Urs von Balthasar). An dieser Stelle lohnt es sich innezuhalten. Faktum und Geheim- nis, das sind genau die beiden Bezugswörter, die seit jeher Der zehnjährige Junge hat sich seine Erfahrung mit dem Abendhimmel nicht erdacht, sondern intui v fühlend erfasst. Karl Jaspers hat seine Erfahrung mit dem Meer nicht erdacht, Vom Denken und Fühlen im Mi elpunkt der menschlichen Reflexion stehen. Denken und Fühlen, Kopf und Herz, logisches Denken und ganzheit- liches Fühlen. Und immer kippt es mal zur einen Seite, mal sondern ef empfunden. Und diese Erlebnisse, Erfahrungen und Informa onen bilden einen tragenden Grund für das weitere Leben. Ohne solche Erfahrungen können Menschen zur anderen Seite. Einmal soll das Leben erfassbar sein durch eigentlich gar nicht leben. Rein ra onales Denken vermag reines Denken, dann wiederum durch reines Fühlen. Aber es sich nicht im Geheimnis zu verankern, es ist notwendigerwei- ist beides, das ra onale abstrakte und von Gefühlen distan- se auf die Zuflüsterungen des fühlenden Selbst angewiesen. zierte und manchmal abgekoppelte Denken und dann das Denken und Fühlen sollen zusammenarbeiten und sich ge- ganzheitliche Fühlen, das die Wirklichkeit nicht in scharf ab- gensei g ernst nehmen und wertschätzen, sonst bleibt die Man möchte gerne in Ruhe gelassen werden mit diesem The- Als der zehnjährige Junge auf der Straße vor dem Haus an gegrenzten Begrifflichkeiten erfasst, sondern in Bildern, die Erfahrung unreflek ert und das Denken gefühl- und subs- ma, diesem unausweichlichen Ereignis der Sterblichkeit, das einem milden, warmen, sommerlichen Abend mit anderen mit S mmungen und Emo onen verbunden sind. Beides sind tanzlos. allen Menschen widerfahren wird und bei einem selbst nicht Kindern spielte, erblickte er mit Staunen den Himmel über wich ge und gül ge Erkenntnisformen des Lebens und bei- einmal eine einzige Ausnahme machen will. Man möchte in ihm, der sich in ein feuriges Rot verwandelt ha e. Eines der de Erkenntnisformen sollten miteinander im ständigen Aus- Ein Verhältnis zur Grenze und zum Geheimnischarakter des Ruhe gelassen werden mit diesem Bewusstsein der Endlich- Kinder sagte: Die Engel backen Brot! Die kindliche Seele, die tausch sein. Es ist nicht das eine oder das andere, es ist das Lebens zu finden gelingt nur, wenn das Denken und Fühlen keit, das einem den Lebenssinn aus den Adern herausfließen ganz offen war, fühlte Wohlsein, Verbundenheit und efs- Zusammenspiel von Verstand und Gefühl, welches ein ganzes zusammenarbeiten, wenn das bewusste Ich und das intui ve lässt. Man möchte in Ruhe gelassen werden, um einfach tes Vertrauen, das jede noch so en ernte Zelle des Körpers Bild von Realität und Wirklichkeit formt. Selbst freundscha lich verbunden sind. nur leben zu können. — Doch das ist nicht möglich! Deshalb berührte. Das Kind war sich gewiss: Hier geht nichts mehr Konkret bedeutet das, dass man neben dem bewussten nicht, weil uns das Leben mit diesem Thema ständig konfron- schief, hier ist alles gut, hier kann ich sein. Zwischen Himmel In der Persönlichkeitstheorie (PSI-Theorie) von Julius Kuhl, Leben, ein Verstehen für intui ve Fühlprozesse bekommt. ert. Deshalb nicht, weil es auch nicht klug ist, etwas, was und Erde gab es eine ganz natürliche Verbindung. Das Himm- die er in den letzten 30 Jahren hochdifferenziert ausgearbei- Dann, und eigentlich nur dann, gelingt es, einen Bezug zum sich immer wieder aufdrängt, einfach zur Seite zu schieben. lische war schon im Irdischen fühlbar. tet hat, wird das Denken und Fühlen den Begrifflichkeiten von Urvertrauen zu bekommen und der Angst ins Gesicht zu la- Es stellt sich uns doch wieder in den Weg. Ich und Selbst zugeordnet. Man spricht auch vom denkenden chen. Nur so wird es gelingen die Grenze des Lebens als Ge- Der Philosoph Karl Jaspers (1883 - 1969) erinnert seine Kind- Ich und vom fühlenden Selbst. Ich und Selbst beziehen sich heimnis zu erleben und auf eine Kon nuität des Lebens auch Das, was unheimlich ist, macht Angst. Das, was uns nicht ver- heit in ähnlicher Weise. Aufgewachsen mit dem Meer in auf Funk onsunterschiede zwischen der linken und rechten jenseits der Grenze des Todes zu vertrauen. traut ist, macht uns unsicher. Alles, was ein Gegengewicht ge- Norddeutschland und in den Ferien o auf den friesischen Hirnhäl e und beschreibt die je unterschiedliche Wahrneh- gen Angst und Unsicherheit ist, war schon immer das Lei he- Inseln, berichtet er, vermutlich war er ebenfalls etwa 10 Jah- mungsweise und Informa onsverarbeitung. Das denkende „Alle Dinge kann man doppelt betrachten: als Faktum und als ma in der Geschichte der Menschheit. Dichter und Denker, re alt, von einer berührenden Erfahrung: „Und abends ging Ich wird durch logische lineare, Schri -für-Schri Prozesse Geheimnis“. Diese Erkenntnis ist ein großer Trost und Grund Propheten und Philosophen suchen nach dem, was die ängst- mein Vater, mich an der Hand, den weiten Strand hinunter beschrieben. Es ist bewusst und sprachfähig und kann sich, zur Freude. liche Seele beruhigt, was den Kummervollen tröstet, was den zum Meer. Es war efe Ebbe. Der Weg über den frischen, damit es entlang von abstrakter Logik arbeiten kann, von innerlich Zerrissenen wieder vereint. Auch wenn nicht jeder reinen Strand war erst immer weiter, immer weiter, so ef subjek ven Gefühlen abschirmen. Das logische Denken ist bewusst nach lebbaren Antworten sucht, jeder sucht sie intu- war die Ebbe, und wir kamen ans Wasser. Da lagen die Qual- die Grundlage für naturwissenscha liches Arbeiten und hat i v und insgeheim. Wir wollen im Leben auf sicherem Boden len, die Seesterne und ich war wie verzaubert. Das erste Mal, beeindruckende Ergebnisse hervorgebracht, von denen jeder gehen und auf eine Zukun hinleben, die uns nicht aus der dass Meer vor Augen. Nachgedacht habe ich nicht. Ich habe persönlich enorm profi ert. Geborgenheit herausreisst, auch wenn wir jenseits der Gren- nicht gedacht „die Unendlichkeit!“. Aber seitdem ist mir das ze, die Gestalt des gewohnten Lebens verlassen müssen, um Meer sozusagen wie der selbstverständliche Hintergrund des Das bewusste denkende Ich ist aber nicht in der Lage mit in eine andere Wirklichkeit verwandelt zu werden. Lebens überhaupt, nämlich die Gegenwart des Unendlichen. bes mmten komplexen Dingen umzugehen. Für die Selbster- Text: Manfred Hillmann Unendlich die Wellen. Keine Welle ist gleich der anderen. kenntnis, für den Umgang mit anderen Menschen und für das Dipl. Soz. Päd., Logotherapeut 14 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 15
TITELTHEMA: MYTHOS TOD TITELTHEMA: MYTHOS TOD Mythos Sterben Das Sterben gehört zum Leben, nicht zum Tod (Ludwig Marcuse) In der letzten Zeit des Lebens… Zeit der S lle Desorien erung • In der letzten Lebensphase nimmt die körperliche • Der Sterbende scheint manchmal über Zeit, Ort und Energie ab die Iden tät der Menschen verwirrt zu sein „Sie stören mich. Sie sehen doch, ich bin beim Sterben“ (Konrad Lorenz). • Rückzug von der Umwelt, der Sterbende schlä viel • Sterbende können über Menschen sprechen, die Mit diesen Worten hat der bekannte Verhaltensforscher seine Pflegerin wenige Stunden vor seinem Tod auf • Hinwendung nach innen - innere Bilanz schon gestorben sind seine Art sterben zu wollen, hingewiesen. Sterben und Tod sind einzigar g - wie jeder Mensch einzigar g ist. • Verringertes soziales Interesse, Sprechen ist o lang- • Es bedeutet, dass der Mensch einen normalen Ab- Für jeden ist der Weg des Sterbens darum auch sehr unterschiedlich. sam oder schwierig schied vom Leben erlebt und sich auf den Übergang vorbereitet Wunsch nach Nähe und Berührung • O wünschen Sterbende san e Berührungen und Atemveränderungen körperliche Nähe • Das normale Atemmuster kann sich verändern Lebensphasen • Schnell kann es dann auch wieder als störend emp- • Der Atem wird flacher, unregelmäßig, schnell oder funden werden ungewöhnlich langsam bis hin zu Atempausen Nicht alle Zeichen und Symptome werden bei jedem • Zunehmender Bedarf an Betreuung und Pflege • Wich g ist zu spüren oder zu erfragen, was der an- • Der Sterbende kann auch Zeiten eines schnellen keu- au reten und sie werden auch nicht in immer gleicher • Eventuell neue Symptome wie Angst, Atemnot, dere wirklich möchte chenden Atems haben Reihenfolge geschehen. Die beschriebenen Phasen Übelkeit und Verstopfung • Manchmal gibt es beim Ausatmen einen stöhnen- sind vor allem bei Menschen zu beobachten, die nicht • Der jetzt immer deutlicher Sterbende kann sich nicht Eine andere Art der Energie den Laut - der Klang der Atemlu über den S mm- unmi elbar durch ein akutes Ereignis, sondern über mehr gut konzentrieren, interessiert sich kaum noch • Wenn der Körper zu sterben beginnt, ist es natürlich, bändern einen längeren Zeitraum hinweg sterben. für seine Umgebung, Essen und Trinken werden ne- dass der Sterbende nichts mehr essen möchte. Ess- • Veränderte Atemmuster sind ganz normal und füh- bensächlich, Appe tlosigkeit gilt in dieser Phase als gewohnheiten und Appe t ändern sich ren zu einem verringerten Kreislauf in den inneren Diese Phasen sind grobe Einteilung, insbesondere die normal • Körperliche Energie wird nicht mehr benö gt Organen und die Ansammlung von Körperabfallpro- zeitlichen Angaben unterliegen erheblichen Schwan- • Neurologische Veränderungen können Unruhe und • Notwendige Schluckreflexe sind vielleicht träge und dukten kungen, die der Erkrankung und den individuellen Ge- Verwirrtheit auslösen entwickeln sich zurück gebenheiten geschuldet sind. • Die Zeit des ak ven Sterbens beginnt, wenn die Or- Verschleimung gane ihre Funk on nicht länger aufrechterhalten Halb in einer anderen Welt • Orale Absonderungen können zunehmen und sich Präterminalphase können und das Bewusstsein sich vom physischen • Der Sterbende verbringt vielleicht mehr und mehr hinten im Rachen sammeln Wochen bis Monate vor dem Tod Körper in seiner Auflösung trennt Zeit schlafend und wird unkommunika v, verbal un- • Der Sterbende macht vielleicht gurgelnde Laute, die • Deutliche Symptome, die das ak ve Leben einschrän- erreichbar, ist manchmal schwer aufzuwecken aus der Brust aufsteigen ken, zum Beispiel eine erhebliche Abmagerung Finalphase • Diese normale Veränderung geschieht aufgrund der • Diese normalen Veränderungen entstehen durch • Zunehmende Schwäche und Müdigkeit wird unter Tage und Stunden vor dem Tod Veränderungen im Stoffwechsel des Körpers ein Flüssigkeitsungleichgewicht und der Unfähigkeit, anderem am gesteigerten Ruhebedürfnis deutlich • Gekennzeichnet vom Versagen einzelner Organe • Sinneswahrnehmungen verändern sich, der Gehör- normale Verschleimung abzuhusten • Alltägliche Verrichtungen fallen schwerer und dau- wie Leber, Niere und Lunge, Herz und Gehirn sinn geht zuletzt verloren ern länger, für manche Tä gkeiten wird Unterstüt- • Zunehmende Müdigkeit, Teilnahmslosigkeit, Schläf- zung benö gt rigkeit, Appe tlosigkeit und fehlendem Hungerge- Ruhelosigkeit fühl • Ruhelose oder sich wiederholende Bewegungen, Terminalphase • Sterbende verringern nach und nach die Nahrungs- wie am Laken oder an der Kleidung ziehen Wenige Tage bis mehrere Wochen aufnahme und stellen sie häufig ganz ein • Vorstellungen von Menschen oder Dingen, die in un- • Fortschreitender körperlicher Verfall, eingeschränk- • Durstgefühl bleibt länger bestehen, ist aber o serer Wahrnehmung nicht da sind te Mobilität bis hin zur Be lägerigkeit schon mit geringen Flüssigkeitsmengen zu s llen, • Diese Symptome könnten ein Ergebnis der verringer- • Häufig geht die Kontrolle über Urin- und Stuhlaus- bis auch das Verlangen nach Trinken vollständig ten Sauerstoffzufuhr im Gehirn und einer Verände- scheidung verloren erlischt rung im Metabolismus des Körpers sein 16 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 17
TITELTHEMA: MYTHOS TOD Vegeta ve Veränderungen Mögliche Zeichen des nahenden Todes • Durch Veränderungen im Kreislauf werden die Arme • Offene oder halboffene Augen, ohne zu sehen und Beine kalt, heiß oder blass • Offener Mund • Dies kann besonders in den Extremitäten auffällig • „Mund-Nasen-Dreieck“ sein, wo die Farbe sich in einen dunkleren bläulichen • Körperunterseite, Füße, Hände und Knie verfärben Ton verwandelt sich dunkler • Wechselnde Körpertemperaturen können das Ergeb- • Der Puls wird noch schwächer und flacher nis davon sein, dass das Gehirn unklare Botscha en • Fehlende Pupillenreak on auf Licht sendet • Der Tod tri ein, wenn Herzschlag und Atem • Herzschlag und Puls werden langsamer, schwächer au ören und unregelmäßig • Kurz davor gibt es o einen Zeitpunkt, in dem der • Schwitzen oder Geruchsveränderungen Sterbende Frieden findet • Diese s lle Zufriedenheit ist in den letzten Minuten spürbar oder findet sich sehr häufig auf dem Gesicht des Verstorbenen Lass mich in den letzten Stunden meines Lebens nicht alleine! Ratschläge eines Sterbenden für seine Begleiter Dr. med. Petra Küpper-Weyland Halte meine Hand. Oberärz n Pallia vsta on, Ich will es mit der Hand sagen. Lukas-Krankenhaus Bünde Wische mir den Schweiß von der Stirn. Streiche mir die Decke glatt. Wenn nur noch Zeichen sprechen können, so lass sie sprechen. Dann wird auch das Wort zum Zeichen. Und ich wünsche mir, dass du beten kannst. LITERATURANGABEN Bleibe bei mir, wenn mich Zorn, Angst, Traurigkeit und Gian Domenico Borasio: Über das Sterben. Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen. Verzwei lung heimsuchen. München 2011. Hilf mir, zum Frieden hindurch zu gelangen. Ingeborg Jonen-Thielemann: Die Terminalphase. In: Aulbert E., Zech D. (Hrsg.): Lehrbuch der Pallia vmedizin. Denke nicht, wenn du ratlos an meinem Bett sitzt, dass ich tot sei. Stu gart, New York 2006. Ich höre alles, was du sagst, auch wenn meine Augen gebrochen scheinen. Darum sage jetzt nicht irgendetwas, sondern das Richtige. Elisabeth Kübler-Ross: On Death and Dying (1970). In: Dieselbe: Interviews mit Sterbenden. München 2001. Das Richtige wäre, mir etwas zu sagen, was es mir nicht schwerer, Daniela Tausch-Flammer: Die letzten Tage und Wochen. Stu gart 1999. sondern leichter macht, mich zu trennen. So vieles, fast alles, ist jetzt nicht mehr wichtig. William M. Plonk Jr., Robert M. Arnold: Terminal Care: The Last Weeks of Life. h ps://doi.org/10.1089/ Ich höre, obwohl ich schweigen muss jpm.2005.8.1042 Published Online, Oct. 2005. und nun auch schweigen will. Tatsuya Morita, Takahiro Ichiki, Junichi Tsunoda: A prospec ve study on the dying process in terminally ill cancer pa ents. In: Journal of Pallia ve Medicine. Vol. 3, No. 1. Klage nicht an, es gibt keinen Grund. Sage Dank. Kathy Johnson Neely, David M. Roxe: Pallia ve Care/ Hospice and the Withdrawal of Dialysis. Du sollst von mir wissen, dass ich der Auferstehung näher bin als du selbst h ps://doi.org/10.1089/jpm.2000.3.57 Published Online, Apr. 2005. Lass mein Sterben dein Gewinn sein. Robert M. McCann, William J. Hall, Annmarie Groth-Juncker: Comfort Care for Terminally III Pa ents. The Appropriate Lebe dein Leben fortan etwas bewusster. Use of Nutri on and Hydra on. In: JAMA The Journal o he American Medical Associa on. Oct. 1994. Es wird schöner, reifer, inniger und freudiger sein, als es zuvor war, vor meiner letzten Stunde. Die meine erste ist. 18 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 19
TITELTHEMA: MYTHOS TOD TITELTHEMA: MYTHOS TOD Auslöser und Facetten der Todesangst Als Menschen sind wir nicht die einzigen Wesen, die groß wird ihr Kummer sein…“ Der Tod reißt Bindungen sterblich sind, aber die einzigen, die um ihre Sterblich- entzwei und kann so auch die Angst vor Isola on und keit wissen. Dieses Wissen begleitet unser Leben - mal Einsamkeit wecken. Er offenbart den unüberbrückba- drängen wir es in den Hintergrund und mal drängt es ren Abgrund zwischen uns Menschen, denn jeder ist sich uns auf. allein in seine Existenz geworfen und jeder muss sie allein wieder verlassen. Gefürchtet wird mitunter auch Es sind verschiedenste Anlässe, die das ängstliche Be- das Ereignis des Sterbens: Wie wird das sein? Fried- wusstsein des Todes wecken können: Krankheiten, leid- lich oder schlimm? Und was kommt danach? … kommt volle oder bedrohliche Situa onen mögen einem die da noch was? … und was das wohl ist? Angst vor dem Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen führen, genauso Tod ist Angst vor dem absolut Unbekannten, Angst wie der Tod eines Mitmenschen. Wann immer etwas zu vor der Unausweichlichkeit und vor dem Nicht-mehr- Ende geht – ein Lebensabschni , eine Beziehung, eine sein – Angst vor der Auslöschung allen Bewusstseins, Aufgabe, eine gute Zeit – kann Vergänglichkeit (auch die Angst sich selbst zu verlieren und zu nichts zu werden: eigene) spürbar werden. Jegliche Zeichen vom Wandel „Ende. Alles endet. Das Ende meines Hauses, all mei- der Zeit und nicht zuletzt Zeichen des Alterns können ner Dinge, meiner Erinnerungen, meiner Bindungen an die Furcht vor dem Tod en achen. die Vergangenheit. Das Ende von allem. Das Ende von mir – das ist der Kern davon. Sie wollen wissen, wovor Doch was fürchten Menschen, wenn sie an ihren Tod ich mich fürchte. Es ist ganz einfach: Es gibt mein Ich denken? Augenscheinlich wird eine Bandbreite unter- nicht mehr!“ (Aussage einer Pa en n von Irvin Yalom). schiedlichster Ängste und Sorgen auf den Plan gerufen. Todesangst kann als konkrete Befürchtung und traurige Viele bedrückt weniger das eigene Schicksal als die Sorge erlebt werden, oder als Anfechtung des gesam- Trauer der anderen: „Was wird aus meinen Lieben? Wie ten Seins und nackte Angst. Umgang mit der Todesangst: Abwehrmanöver und Kontrollstrategien Wie aber gehen wir Menschen mit dieser Angst um, Und so fahren Menschen vieles auf, um sich gegen ihre wenn sie sich regt? Wie besän igen wir sie? Wie behü- Todesangst zu wappnen: Von ra onaler Selbstüberzeu- ten wir uns? gung, über die Hoffnung Spuren zu hinterlassen oder den Glauben an die unsterbliche Seele bis hin zu unbe- VON EINEM DER AUSZOG, Der griechische Philosoph Epikur betrachtete das Ende des Lebens gänzlich ungerührt: „Im Tod ist kein Schre- wussten Mechanismen der Abwehr, Verdrängung und Verleugnung. DAS FÜRCHTEN ZU LERNEN: cken, denn wo ich bin, ist der Tod nicht; und wo der Tod ist, bin ich nicht. Daher bedeutet der Tod mir nichts.“ Wenn der Tod und Ich nicht gleichzei g sein können – Eine sehr prominente Strategie der Verleugnung be- steht in dem irra onalen Glauben an die eigene Be- TODESANGST ALS LEBENSKRAFT ich ihn also niemals wahrnehmen kann -, warum ihn dann fürchten? Epikurs leidenscha sloses Argument sonderheit. Krankheiten, Gefahren, Leiden, Sterben: All das mag für andere gelten, nicht aber für mich. Auf ist bestechend, doch kann es die Furcht vor dem Tod einer bewussten Ebene würde natürlich niemand ab- dämpfen? Kann nüchterne Logik eine menschliche Ur- streiten, dass er sterben muss. Tief, ef im Inneren hin- Die Angst vor dem Tod ist eine menschliche Urangst – womöglich die menschliche Urangst schlechthin. angst bannen? „Die Angst vor dem Tod ist archaisch“ gegen ist jeder davon überzeugt, dass das Gesetz der Wir Menschen sind endliche Kreaturen und als solche können wir der Angst vor dem Tod nicht entkom- schreibt Irvin Yalom, „(es ist) eine Angst, die Teil des Sterblichkeit zwar für die anderen gilt, nicht aber für ihn men. Sie steckt im Inneren unserer Existenz. Doch vielleicht ist sie nicht nur der schmerzvolle Stachel, Gewebes des Seins ist – eine Angst, die kalt, unheim- selbst. Dieser Glaube an die eigene Besonderheit wur- der die Freude am Dasein trübt. Vielleicht liegt in ihr nicht nur Schrecken, sondern auch eine konstruk- lich und roh ist - eine Angst, die vor und jenseits aller zelt in den frühkindlichen Lebensjahren, wenn sich alle ve Kra , die das Leben bereichern kann. Irvin D. Yalom, Professor für Psychiatrie und existen eller Sprache und allen Vorstellungsvermögens exis ert.“ elterliche Aufmerksamkeit und Sorge um die Bedürfnis- Psychotherapeut, ist fest davon überzeugt… Um eine archaische Angst in Schach zu halten bedarf es se des Kleinkindes drehen. Ein Gefühl der Besonderheit zumeist mehr als nüchterner Logik. erwacht, es überdauert in den archaischen Tiefen des 20 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 21
TITELTHEMA: MYTHOS TOD EINDRÜCKE AUS DER ARBEIT Egos und wird als Schutzschild gegen den Tod gewandt: Sie ist immer da und lauert in irgendeiner versteckten Teilweise zügeln Menschen ihre Angst mit derart rigi- WER IST IRVIN YALOM? ich bin einzigar g, mich tri es nicht. Man s rbt – aber Ecke des Verstandes; (…) sie rumort ständig unter der den Kontrollstrategien, dass diese (so wirksam sie auch ich nicht. Oberfläche; sie ist eine dunkle, unstete Präsenz am sein mögen) den Stress erhöhen, das Zurechtkommen Irvin Yalom – 1931 in Washington D.C. als Sohn rus- Rande des Bewusstseins.“ (Irvin Yalom). Das aber heißt, erschweren, persönliches Wachstum verhindern und sisch-jüdischer Einwanderer geboren – ist Psychothe- Wenn unheilbare Krankheit, unabwendbares Leid oder dass unsere psychischen Schutzschilde permanent ak- zu einem eingeschränkten, unbefriedigenden Leben rapeut, emeri erter Professor für Psychiatrie, Autor Not dennoch eintreten, zerplatzt die angstlindernde viert sein müssen und das kostet Lebensenergie und führen – einem Leben, dass mehr dem Überleben, der wissenscha licher und literarischer Bücher. Er gilt als Illusion. Dann muss ich einsehen, dass ich denselben Lebensqualität - mitunter beträchtlich. Vorsicht und Vermeidung gewidmet ist, als der Selbst- der bedeutendste lebende Vertreter der existen ellen Gesetzen der Natur unterliege wie alle anderen verwirklichung und der Erfüllung. Manche Menschen Psychotherapie. Menschen auch - dass ich weder eine Ausnah- gehen keine Beziehung ein, aus Angst vor der Trennung. me noch unverletzlich bin… und das ist nicht nur Sie lassen sich auf nichts ein, aus Angst vor dem Verlust. furchterregend, sondern obendrein eine nar- Sie finden keinen Geschmack am Leben, aus Angst, zu zis sche Kränkung: „Seinen persönlichen Tod viel zu verlieren. Kurzum: ‚Sie verweigern sich dem Le- zu akzep eren bedeutet, sich mit einer Anzahl ben, um dem Tod zu entgehen‘. anderer unangenehmer Wahrheiten auseinan- WAS IST EXISTENTIELLE PSYCHOTHERAPIE? derzusetzen, unter anderem der, dass man einer Sich von der Todesangst freikaufen auf Kosten des Le- unter vielen ist – nicht mehr und nicht weniger; bens, das ist ein hoher Preis… Und ein vergeblicher Die existen elle Psychotherapie ist stark inspiriert dass das Universum unsere eigene Besonderheit obendrein, denn gerade das nicht gelebte Leben macht durch die europäische Existenzphilosophie. Ihr zufolge nicht anerkennt.“ (Irvin Yalom). die Aussicht auf den Tod so unerträglich. Am Lebens- ist der Mensch allein in sein endliches Dasein geworfen ende bereuen Menschen nicht nur Dinge, die sie getan und auf sich selbst zurückgeworfen, um es zu gestalten: Psychisch sind wir so angelegt, Todesangst au- haben, sondern insbesondere die Dinge, die sie nicht Jeder von uns muss für sich entscheiden, wie er so gut, toma sch abzuwehren und kleinzuhalten. Ob getan haben - das Versäumte, Unerfüllte, nicht Aus- glücklich, ethisch und sinnvoll wie möglich leben kann Ra onalisierungen, Glaubensvorstellungen, Ver- geschöp e. Die ungenutzten Gelegenheiten machen – diese Freiheit haben wir und diese Verantwortung drängung oder Verleugnung: All diese Mecha- es heillos schwer, aus dem Leben scheiden zu müs- tragen wir. nismen – bewusste wie unbewusste - vermi eln sen. Je geringer die Lebensbefriedigung desto größer das Empfinden von Sicherheit und Zuversicht. Sie die Todesangst. Diesen Zusammenhang belegen auch Aus diesem philosophischen Verständnis heraus, erge- halten die Angst in Schach und s en Vertrau- verschiedene Untersuchungen. Z.B. wurden Pa enten ben sich die existen ellen Themen des Menschseins, en in das Leben. „Doch trotz der standha esten, mit einer unheilbaren Krebserkrankung zu ihrem Leben denen Yalom sich widmet: Tod, Freiheit, Isola on und ehrenwertesten Abwehrmaßnahmen können wir und ihrer aktuellen Situa on befragt. Dabei zeigte sich, die Frage nach dem Sinn. die Furcht vor dem Tod niemals völlig bändigen: dass diejenigen unter ihnen, die ihr Leben befriedigend wahrnahmen, ihre Krankheit und auch ihr Sterbenmüs- Dies sind die vier fundamentalen Gegebenheiten der sen eher aushalten konnten. Diejenigen, die mit ihrem menschlichen Existenz – und zugleich die Quellen unse- Leben sehr unzufrieden waren, fühlten sich deutlich rer größten Befürchtungen. depressiver, aggressiver, wütender und angstvoller. To- desfurcht wird o mals von der En äuschung gespeist, Wich ges im Leben versäumt und sein persönliches Potenzial nicht ausgeschöp zu haben – seine Träume nicht gelebt und noch mehr, es gar nicht erst versucht zu haben. BUCHTIPP „Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Gesicht blicken (Francois de la Rochefoucauld) - Ich würde niemandem empfehlen in die Sonne zu starren, doch dem Tod ins Gesicht zu sehen Todesangst unnachgiebig abzublocken zieht also nicht Yalom, Irvin: Existen elle Psychotherapie. Köln, 1989. ist eine völlig andere Sache. (…) Ich glaube, dass wir uns mit dem Tod konfron eren sollten, nur Kra , sondern birgt obendrein ein Risiko: Zu strikte wie wir es mit anderen Ängsten auch tun. Wir sollten unserem ul ma ven Ende entgegense- Angstkontrolle kann das Leben beschneiden. Das be- Yalom, Irvin: In die Sonne schauen: Wie man die Angst hen, uns damit vertraut machen (…). Meine Hoffnung (ist), dass wir durch Begreifen, echtes schni ene, nicht gelebte Leben jedoch erhöht die Angst vor dem Tod überwindet. München, 2008. Begreifen, unseres menschlichen Daseinszustands – unserer Endlichkeit, unserer kurzen Zeit vorm Tod, die dann umso massiver abgewehrt werden im Licht – nicht nur dahin kommen werden, die Kostbarkeit jedes Augenblicks und die Freude muss. Ein deprimierender Teufelskreis. Vielleicht wäre des reinen Seins auszukosten, sondern auch unser Mitgefühl für uns selbst und unsere Mit- er zu durchbrechen, ließe man sich auf die Angst vor menschen zu ver efen.“ (Irvin Yalom, In die Sonne schauen) dem Tod ein, sta vor ihr zu fliehen… 22 Mi elpunkt Mensch 7. AUSGABE 23
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