Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit - 2,20 EUR - Hempels
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# 303 2,20 EUR August 2021 davon 1,10 EUR für die Ver- käufer/innen Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit zu überwinden
Liebe Leserinnen, liebe Leser, das Thema Wohnen ist eine der großen sozialen Fragen unserer Zeit. Überall fehlt bezahlbarer Wohnraum, in den Städten ebenso wie im ländlichen Raum. Da über- rascht es nicht, dass die Anzahl wohnungsloser Menschen kontinuierlich steigt, auch in Schleswig-Holstein. Bei der Frage, wie Obdach- und Wohnungslosigkeit überwunden werden können, rückt ein neuer Ansatz in den Vordergrund, mit dem Finnland bei- spielsweise bereits große Erfolge erzielt hat: Housing First – zuerst eine Wohnung. In dieser Ausgabe werden wir uns dem Thema mit verschiedenen Berichten widmen. Le- sen Sie unter anderem ein Interview mit EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit (ab Seite 13) und werfen Sie mit uns einen Blick nach Schleswig. Die Stadt plant eine radikale Abkehr von der bisherigen Unterbringung von Wohnungslosen und will Betroffenen künftig Wohnraum mit festen Mietverträgen anbieten (ab Seite 22). Am 26. September ist Bundestagswahl. Zum Abschluss unserer großen Interview- reihe mit Berliner Politikspitzen kommt diesen Monat Linke-Co-Spitzenkandidatin Janine Wissler zu Wort (ab Seite 26). Ab Ende August können sämtliche Interviews mit Robert Habeck (Grüne), Olaf Scholz (SPD), Christian Lindner (FDP), Armin Laschet (CDU) und Janine Wissler (Linke) auch auf unserer Homepage nochmal nachgelesen werden: www.hempels-sh.de IHRE HEMPELS -REDAKTION GEWINNSPIEL SOFARÄTSEL GEWINNE Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt 3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im Juli war das kleine Sofa sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann auf Seite 30 versteckt. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden im schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de September veröffentlicht. oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns Im Juni haben gewonnen: ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird. Gerald Fuhrmann (Sierksdorf), Hans-Jürgen Grot (Kühsen) und Christa Langer-Axelsen (Wanderup) je ein Buch des Ullstein Verlags. Allen Einsendeschluss ist der 31.8.2021. Gewinnerinnen und Gewinnern herzlichen Glückwunsch! Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen. 2 | INH A LT HEMPEL S # 303 8/202 1
TITEL FörsterFörster (6 Jahre) WOHNEN ZUERST Immer mehr Menschen verlieren ihre Wohnung. Zuneh- mend klar wird, dass neue Wege gegangen werden müssen, Johanna um Obdachlosigkeit zu überwinden. Im Schwerpunkt die- Titelfoto: Holger ses Heftes widmen wir uns mit verschiedenen Berichten Titelzeichnung: dem Housing-First-Ansatz. Die Titelzeichnung stammt von der sechsjährigen Johanna Förster, Enkelin unseres Mitar- beiters Holger Förster. SE I T E 10 DAS LEBEN IN ZAHLEN SCHLESWIG-HOLSTEIN SOZIAL 4 Ein etwas anderer Blick 8 Meldungen auf den Alltag 9 Wie ich es sehe: Kolumne von Hans-Uwe Rehse 16 Interview zu sozialen Fragen: Janine Wissler, Co-Spitzen- kandidatin der Linken BILD DES MONATS AUF DEM SOFA 6 Narzissten 34 Ulf verkauft unser Straßenmagazin in Kiel HOUSING FIRST INHALT 10 Einfach nur wohnen 13 Interview mit EU-Sozial- 2 EDITORIAL kommissar Nicolas Schmit 31 REZEPT 16 Modellprojekt Housing First 32 MUSIKTIPP; BUCHTIPP; FILMTIPP in Berlin 33 SERVICE: MIETRECHT; SOZIALRECHT 19 Land SH plant mit Housing First 36 LESERBRIEFE; IMPRESSUM 20 Städteumfrage: Wie kann Obdach- 37 VERK ÄUFER IN ANDEREN LÄNDERN losigkeit überwunden werden? 22 Schleswig macht es vor: 38 SUDOKU; K ARIK ATUR Stadt setzt neues Konzept um 39 SATIRE: SCHEIBNERS SPOT 24 Kommentar: Politik und Obdachlosigkeit 25 Definition Obdachlosigkeit Bitte kaufen Sie HEMPELS nur bei Verkaufenden, die diesen Ausweis sichtbar tragen HE MPE L S # 303 8/202 1 INH A LT | 3
DAS LEBEN IN ZAHLEN Pandemie: So viele Superreiche wie nie Im Corona-Krisenjahr 2020 hat sich rund um den Globus so viel Reichtum angehäuft wie noch nie, so die Analyse einer amerikanischen Unternehmensberatung. Das private Finanzvermögen stieg gegenüber dem Vorjahr um 8 Prozent auf den Rekordwert von 250 Billionen Dollar (rd. 205 Billionen Euro). Dabei stieg vor allem das Vermögen der Reichen und Superreichen. Weltweit besaßen 26,6 Millionen Menschen ein Finanzvermögen von 1 Mio. US-Dollar oder mehr (Anstieg um 1,8 Mio. Personen). In Deutschland stieg die Zahl der Millionäre (in US-Dollar berechnet) um 35.000 auf 542.000. PB 2019 2020 507.000 Millionäre in Deutschland 542.000 Millionäre in Deutschland 4 | DAS L E BE N IN Z A HL E N HEMPEL S # 303 8/202 1
Pandemie: Finanzielle Lage oft deutlich verschärft Seit Ausbruch der Pandemie hat sich in Deutschland die finanzielle Situation vieler privater Haushalte deutlich verschärft, wie Verbraucherzentralen und Beratungseinrichtungen berichten. Überdurchschnittlich viele Singles und Alleinerziehende sind betroffen. Laut Statistischem Bundesamt waren 2020 von den bei Schuldnerberatungen Ratsuchenden 14 Prozent alleinerziehende Mütter, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 5 Prozent beträgt. Insgesamt sind rd. 7 Millionen Menschen in Deutschland überschuldet, also fast jeder und jede 10. PB Foto: Pixabay HE MPE L S # 303 8/202 1 DAS L E BE N IN Z A HL E N | 5
BILD DES MONATS Narzissten Mensch muss das Rampenlicht schon sehr deutlich mögen, um sich so wie hier öffentlich in Szene zu setzen. Eine nar- zisstische Persönlichkeitsstruktur dürf- te zusätzlich wahrscheinlich auch nicht schaden. Ja, die lieben Narzissten unter uns. Ihr Auftreten löst ja immer wieder Erstaunen aus, dort, wo man ihnen auch mal direkt begegnet. Nun sind Narzissmus und Eitelkeit schon immer Produktionsbedingungen einer jeden Kunst. Und wer auch im Pri- vaten die große Bühne sucht, lässt sich dann nur ungern von Kleinigkeiten wie fehlender Substanz ablenken. Narziss- ten sind Meister des ersten Eindrucks, sie lieben sich, weil sie so toll sind und suchen überall nur Fans, keine Freunde oder Kollegen. Mit ihrem übersteiger- ten Selbstbewusstsein brauchen sie Be- stätigung durch Aufmerksamkeit, zei- gen sich aber meist immun gegen Kritik. Sie sind überzeugt von ihrem Können und dass sich Erfolg vor allem in gro- ßen Zahlen messen lässt; Zahlen, hinter denen natürlich ein Währungszeichen steht. Um es kurz zu sagen: Narziss- ten können schwierige Menschen sein, die einem manchmal so richtig auf den Senkel gehen. Gerade hat man von einer psychologischen Studie aus den Nieder- landen gelesen, wonach sich bereits in den Grundschulen narzisstische An- führer herauskristallisieren – kleine Kinder, die von ihren vermeintlichen Qualitäten eingenommen sind und in Foto: REUTERS / Jean-Paul Pelissier Führungsrollen drängeln. Dass es sich schon hierbei oft bloß um die größten Luftpumpen handelt, die wie beim Topfschlagen den meis- ten Rabatz machen wollen, das mag den Kleinen selbst vielleicht noch nicht so bewusst sein. Später wird ihnen hof- fentlich aber mal jemand begegnen, um ihnen aufzuzeigen, was Narzissten eigentlich sind – selbstgefällige Wind- maschinen. PB 6 | BIL D DE S MON AT S HEMPEL S # 303 8/202 1
MELDUNGEN +++ +++ Caritas: Beratungstelefon für Menschen in Not SH: Weniger Komasäufer wegen Corona Es gibt viele Gründe, sich in einer Notsituation zu befinden: Die Anzahl der jugendlichen Komasäufer in Schleswig-Hol- familiäre Belastungen etwa oder Einsamkeit, Sorgen um die stein ist im vergangenen Jahr nach Angaben der AOK zurück- Gesundheit oder Existenzängste. Für Menschen in Schles- gegangen. 2020 wurden 97 junge Menschen im Alter von wig-Holstein hat die Caritas deshalb das Krisentelefon »Frag zwölf bis 20 Jahren mit einer akuten Alkoholvergiftung ins die Caritas – Hilfe und Beratung« eingerichtet. Unter der Krankenhaus eingeliefert. Das seien knapp 50 Prozent weniger Nummer (0431) 59 02 59 werden sie professionell und kosten- als im Vorjahr (189). 2012 landeten noch 271 junge Menschen los beraten. Das Beratungstelefon ist montags bis donnerstags in einer Klinik. Ein Grund für den Rückgang seien Kontakt- von 9 bis 12 sowie 13 bis 15 Uhr erreichbar, freitags von 10 bis beschränkungen und geschlossene Kneipen während der 14 Uhr. Zudem können sie jederzeit eine Nachricht auf dem Corona-Pandemie. Grund zur Entwarnung sei das allerdings Anrufbeantworter hinterlassen und um Rückruf bitten. Und nicht. Die Feierlaune werde mit Lockerungen wieder steigen. per E-Mail können sie ihre Anfragen an beratungstelefon@ Man dürfe nicht nachlassen, Kinder und Jugendliche über die caritas-im-norden.de schicken. MGG Gefahren des Alkoholkonsums aufzuklären. EPD +++ +++ Hass im Netz: Frauen und Minderheiten stark betroffen Sinti und Roma werden weiterhin diskriminiert Jede dritte Frau zwischen 18 und 34 Jahren in Deutschland Angehörige der Volksgruppe der Sinti und Roma erleben ist einer Studie zufolge bereits in den sozialen Medien sexuell weiterhin alltäglich und in vielfältiger Weise Rassismus – am belästigt worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsenta- Arbeitsplatz, auf Wohnungssuche, in Schulen, Behörden und in tive Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Pollytix Medien. Darauf hat vergangenen Monat die Unabhängige Kom- im Auftrag der Denkfabrik »Reset. Internet for Democracy«, mission Antiziganismus hingewiesen. Der 500 Seiten starke wie das »RedaktionsNetzwerk Deutschland« berichtet. Unter Bericht wurde von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) digitaler sexueller Belästigung werden etwa das ungefragte und Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Zuschicken von Penis-Bildern oder sexualisierte Ansprachen Sinti und Roma vorgestellt. Die Nachwirkungen des national- und Beleidigungen verstanden. Insgesamt gaben 38 Prozent der sozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma zögen sich befragten volljährigen Nutzerinnen und Nutzer des Internet »wie ein roter Faden« durch die Geschichte der Bundesrepublik. an, mindestens einmal Hass in den sozialen Medien erlebt zu Die Stigmatisierung der Minderheit durch Staat und Gesell- haben. Besonders betroffen von Beleidigungen, Bedrohungen, schaft dauere an. PB Falschbehauptungen, Belästigung, Stalking oder der Veröffent- lichung privater Daten sind Jüngere, Menschen mit Migrations- +++ hintergrund sowie Homosexuelle und Bisexuelle. EPD +++ WEITERE NACHRICHTEN FINDEN SIE AUF UNSERER HOMEPAGE: WWW.HEMPELS-SH.DE HEMPELS IM RADIO Jeden 1. Montag im Monat ist im Offenen Kanal Lübeck das HEMPELS-Radio zu hören. Nächster Sendetermin: 6. Juli von 17 - 18 Uhr. Wiederholung am folgenden Dienstag 10 Uhr. HEMPELS-Radio bietet Überblicke über wichtige Themen des Heftes und zugleich Einblicke in weitere soziale Themen. Zu empfangen ist der OK im Großraum Lübeck über UKW-Frequenz 98,8. Online auf www.okluebeck.de über den Link »Livestream«. Ebenfalls zu empfangen ist die Sendung im FSK/HH am 1. Freitag im Monat 15 Uhr, bei Radio Fratz/Flensburg jeden 1. und 3. Dienstag 14 Uhr, beim Freien Radio Neumünster am 1. Montag 19 Uhr, Wiederholung am folgenden Tag 10 Uhr. 8 | ME L DUNGE N HEMPEL S # 303 8/202 1
WIE ICH ES SEHE Wahrnehmen, was geschieht – und tun, was notwendig ist VON HANS-UWE REHSE Es gibt Wahrheiten, die sind uns unangenehm. Am liebsten sorgen. Um den allgemein spürbar gewordenen Klimawandel würden wir sie gar nicht hören. zu begrenzen, wäre jetzt ein gemeinsames Handeln aller Men- Man spürt: Wenn ich mich darauf einlasse, muss sich vie- schen erforderlich. Doch immer noch wird diese Tatsache von les ändern. Ich mache zwar vieles mit, solange mein Lebens- vielen nicht ernst genug genommen. stil nicht beeinträchtigt wird. Doch wenn ein grundlegender Insofern wird es Zeit, dass wir uns um einen ungeschönten Wandel notwendig ist, wird es kritisch. Lieb gewordene Ge- Blick bemühen auf das, was um uns herum geschieht. Damit wohnheiten gebe ich nur ungern auf. Und das, was meinen wir uns der Wirklichkeit stellen können, auch wenn das mit Wohlstand ausmacht, darf auf keinen Fall angetastet werden. einschneidenden Änderungen verbunden ist. Zu tun gibt es da Von daher liegt es nahe, radikale Veränderungen zu vermei- vieles. Was das im Einzelnen ist, wird sicherlich noch gründ- den – solange es irgend geht. Unangenehme Wahrheiten wer- lich beraten werden müssen. Doch entscheidend ist zunächst den deshalb infrage gestellt, Tatsachen geleugnet. Und wenn der Mut, sich einer unangenehmen Wahrheit zu stellen – und das nicht mehr ausreicht, verharmlost man die Konsequenzen. die Zuversicht, ihr auch angemessen begegnen zu können. Der Gedanke wirkt beruhigend, dass man da schon irgendwie durchkommen wird – auch wenn man noch gar nicht so genau weiß, wie. Hauptsache, man kann so weitermachen wie bisher. Doch auch wenn es unangenehm ist: Es gibt Wahrheiten, denen man sich stellen muss. Um Schlimmeres zu vermeiden ist ein konsequentes Handeln erforderlich – je eher, desto bes- ser. Wo es um Krankheiten geht, leuchtet uns das unmittel- bar ein. Auch wenn wir es nicht immer konsequent umsetzen, HANS -UWE REHSE IS T PAS TOR IM wissen wir: Vorbeugen ist besser als bohren – oder andere Be- RUHE S TAND UND WAR GE SCHÄF T S - handlungen. Verdrängungen und Verzögerungen fördern eher FÜHRER DER VORWERK ER DIAKONIE die krankhafte Entwicklung. In den letzten Monaten hat der IN LÜBECK . SEINE KOLUMNE Verlauf der Pandemie das wieder eindrücklich bestätigt. Da ER SCHEINT JEDEN MONAT haben besonders dort Menschen unter dem Infektionsgesche- hen leiden müssen, wo die Tatsachen geleugnet und Gefahren verharmlost wurden. Ein entschlossenes Handeln wäre auch in einem anderen Bereich notwendig. Wissenschaftler weisen schon seit langem auf die Gefahren der Erderwärmung hin. Durch die menschli- che Nutzung der fossilen Rohstoffe haben sich große Mengen an Kohlendioxid in der Atmosphäre angesammelt, die für ei- nen ständigen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur HE MPE L S # 303 8/202 1 S CHL E S WIG - HOL S T E IN S OZI A L | 9
RUBRIK TITEL EINFACH NUR WOHNEN Immer mehr Menschen verlieren ihre eigene Wohnung. Wie kann Obdachlosigkeit künftig verhindert werden? Ein Blick nach Finnland hilft: Housing First. Inzwischen findet dieser Ansatz auch bei uns immer stärker Beachtung, wie wir in dieser Ausgabe mit mehreren Berichten beleuchten TEXT: PETER BRANDHORST Seit Jahren nimmt die Anzahl der hat Ende vergangenen Jahres die Mit- wohnungs- und obdachlosen Men- gliedsstaaten dazu aufgefordert, Ob- schen in Deutschland deutlich zu. Laut dachlosigkeit bis 2030 in der Union zu einer Schätzung der Bundesarbeitsge- überwinden. Bei der Suche nach neuen meinschaft Wohnungslosenhilfe sind Ansätzen rückt ein Konzept immer inzwischen mehr als 680.000 Frauen stärker in den Fokus, mit dem Finn- und Männer ohne eigene Wohnung; land bereits große Erfolge erzielt hat: sie müssen bei Bekannten oder in Not- Housing First – zuerst eine Wohnung. unterkünften übernachten. Mehr als Obdachlose bekommen als erstes 40.000 leben ohne jede Unterkunft auf ohne jede Vorbedingung eine Wohnung. der Straße. In Schleswig-Holstein geht Dort können sie zur Ruhe kommen, das Diakonische Werk von rund 10.000 während begleitend weitere Hilfeschrit- Wohnungslosen aus, mehrere Hundert te folgen: Suchttherapie, Schuldnerbera- machen im Norden »Platte«. Offizielle tung, Beschaffung von Ausweispapieren Statistiken zum Thema existieren bis- und eines eigenen Bankkontos – all jene lang nicht. Dinge, an denen sie vorher gescheitert Angesichts dieser Entwicklung for- sind und was es ihnen unmöglich ge- dern immer mehr Fachleute einen Pa- macht hat, eine eigene Wohnung zu fin- radigmenwechsel in der Wohnungs- den. Finnland hat mit diesem Konzept losenhilfe. Auch das EU-Parlament die Zahl der Obdachlosen inzwischen 10 | T I T E L HEMPEL S # 303 8/202 1
Foto: Pixabay Zuerst eine Wohnung: Dort können Obdachlose zur Ruhe kommen, während parallel weitere Hilfeschritte folgen. HE MPE L S # 303 8/202 1 T I T E L | 11
RUBRIK TITEL von 17.000 auf etwa 4000 verringert. First-Modellprojekte, mit denen gute Bund und Land bei der Lösung des Pro- Anfangs kostet der Ansatz viel Geld, Erfahrungen gemacht werden. Überall blems erforderlich ist (ab Seite 20). später rechnet er sich deutlich günsti- ist aber auch klar: Die größte Schwie- Wohnungslosenhilfe ist vor allem ger als die einzelnen Hilfen, die vorher rigkeit ist der Mangel an bezahlbarem kommunale Aufgabe; die Antworten notwendig waren. Wohnraum. der Städte machen deutlich, dass es da- Auch in Deutschland beginnen jetzt Der Schwerpunkt dieser HEMPELS- bei keine einheitliche Linie gibt. Die ei- einzelne Kommunen und Bundeslän- Ausgabe beschäftigt sich aus verschie- nen hoffen darauf, bis 2030 das EU-Ziel der, sich intensiver mit diesem Ansatz denen Perspektiven mit Housing First. zu erreichen, andere glauben nicht dar- auseinanderzusetzen. Auch das von Wir haben das Modellprojekt »Housing an, wieder andere äußern sich erst gar unserer HEMPELS-Stiftung vor knapp First Berlin« besucht (ab Seite 16), und nicht dazu. Und eine Umsetzung des drei Jahren in Kiel gekaufte Wohnhaus wir haben mit EU-Sozialkommissar neuen Housing-First-Ansatzes in den für zuvor Wohnungslose funktioniert Nicolas Schmit darüber gesprochen, einzelnen Städten? Siehe die Antwor- bereits nach diesem Konzept, eine von warum und wie bis 2030 Obdachlosig- ten zum EU-Ziel im Satz zuvor: ja, nein, HEMPELS erstellte Studie dient dem keit überwunden werden soll (Inter- vielleicht. Land Schleswig-Holstein inzwischen view ab Seite 13). Ab Seite 22 stellen als Grundlage für weitere Bauvorha- wir die Abkehr der Stadt Schleswig ben nach dem Housing-First-Prinzip. von der bisherigen Unterbringung von Die Stadt Schleswig beabsichtigt als Wohnungslosen dar. Außerdem haben erste Kommune in Schleswig-Holstein, wir bei verschiedenen schleswig-hol- ihre Wohnungslosenhilfe nach dem steinischen Städten nachgefragt, wie sie Housing-First-Prinzip neu auszurich- zum Beschluss der EU stehen, bis 2030 ten. In Berlin laufen mittlerweile zwei die Obdachlosigkeit überall zu über- von der Stadt geförderte Housing- winden und welche Unterstützung von Ollie's Getränke Service Getränke, Fassbier und Zapfanlage, Wein und Sekt, Lieferservice bis Kiel und weiter... und wir stellen Ihnen die Ware in den Kofferraum VOM 2. BIS 6. 8. 2021 IM ANGEBOT: Steinmeier Apfelsaft (klar und trüb) 9,99 € je 12 x 0,7 l (+ Pfand) Ollie’s Getränkeservice, Kieler Straße 10, Langwedel Anzeigen Öffnungszeiten: Mo. + Fr. 9-17 Uhr, Di. - Do. 14-17 Uhr Telefon: 0 43 29 / 88 16 Telefon: 16 12 | T I T E L HEMPEL S # 303 8/202 1
»Obdachlosigkeit ist kein lokales Phänomen mehr« Die EU-Kommission arbeitet an einer neuen Wohnungslosen-Strategie und will mehr Geld investieren. Ein Interview mit Sozialkommissar Nicolas Schmit, der auf das Konzept Housing First setzt INTERVIEW: JOHANNA ROTH UND SIMONE GAUL In der EU leben Hunderttausende nen in eine Politik, die Obdachlosigkeit Und wir müssen eine europäische Ant- Menschen obdachlos auf der Straße. bekämpft. wort darauf finden. Bisher haben Kom- Genaue Zahlen gibt es nicht, doch fest Schätzungen gehen von aktuell munen und Länder sich darauf kon- steht: Es werden mehr. Das EU-Parla- mindestens 700.000 Menschen aus, zentriert, Obdachlosen vor allem im ment hat die Kommission mehrfach die in der EU auf der Straße leben – Winter eine Notunterkunft bereitzu- aufgefordert, endlich wirksame Maß- Tendenz steigend. Wie erklären Sie stellen. Morgens müssen sie wieder ge- nahmen gegen diese Verelendung zu sich das? hen und der Zyklus beginnt von vorn. ergreifen. Denn grundsätzlich festge- Vor allem nach der letzten Wirt- Das dahinterliegende Problem wurde schrieben ist das Recht auf eine Woh- schafts- und Finanzkrise ist die Zahl dadurch nicht angegangen. Wir müssen nung schon in der Europäischen Sozi- der Obdachlosen gestiegen. Und jetzt es an der Wurzel anpacken. Das heißt, alcharta von 1996. schlägt die Corona-Krise stark auf den wir müssen diese Menschen wieder in Der luxemburgische Sozialdemo- Arbeitsmarkt durch. Dazu kommt das die Gesellschaft integrieren. krat Nicolas Schmit ist seit Ende 2019 Thema Migration: Viele Flüchtlinge EU-Kommissar für Beschäftigung, haben keinen Wohnsitz. Auf der Suche Soziales und Integration. Er sagt, Ob- nach Arbeit sind auch viele EU-Bürge- dachlosigkeit habe sich zu einem gro- rinnen und -Bürger in andere EU-Staa- »Wir haben das Ausmaß ßen europäischen Problem entwickelt. ten gezogen. Wenn ich durch Brüssel Darauf will die Kommission jetzt mit gehe, sehe ich immer mehr Familien auf des Problems lange neuen Maßnahmen und Investitionen der Straße, oft sind es Roma. Sie sitzen reagieren. Festgeschrieben sind einige da mit ihren Kindern, ohne jede Mög- unterschätzt« bereits im Mai beim europäischen So- lichkeit, irgendwo unterzukommen. zialgipfel in Porto beschlossene Maß- Sie sagen es selbst: Das alles ist eine nahmen. Aber wie konkret kann die Entwicklung, die sich bereits seit Jah- EU das Problem bekämpfen? ren beobachten lässt. Passiert ist aber Aber was kann die EU tun? Für die bislang wenig. Warum? Sozialpolitik sind die Mitgliedstaaten Herr Schmit, das EU-Parlament Wahrscheinlich, weil wir das Aus- zuständig. will Obdachlosigkeit in Europa bis maß des Problems lange unterschätzt Die Mitgliedstaaten haben breite 2030 abschaffen. Das klingt etwas haben. Viele kannten Obdachlosigkeit Zuständigkeit im sozialen Bereich, das utopisch. Wie soll das funktionie- vor allem aus den USA. Aber jetzt er- trifft auch auf Obdachlosigkeit zu. Die ren? kennen wir, dass sie sich auch in Euro- Kommission kann keine Maßnahmen Wenn wir das erreichen, wäre ich pa breitmacht. Obdachlosigkeit ist kein gegen Obdachlosigkeit verordnen, sie sehr froh. Aber ich bin Realist. Klar ist, lokales Phänomen mehr, sie ist zu ei- kann keinen Mitgliedstaat vor den Eu- wir brauchen deutlich mehr Investitio- nem europäischen Problem geworden. ropäischen Gerichtshof zerren und sa- HE MPE L S # 303 8/202 1 T I T E L | 13
TITEL gen: Du hast nicht genug in den Kampf den Städten und Regionen, die uns zei- te. Doch bisher gibt es wenig Plätze, gegen Obdachlosigkeit investiert. Aber gen können, was funktioniert und was die Wartelisten sind lang. Wie viel wir können koordinieren, vernetzen nicht. Immerhin ein EU-Land hat sich kann die EU auch finanziell zu sol- und Geld zur Verfügung stellen. Wir zum Ziel gesetzt, Obdachlosigkeit völ- chen Projekten beisteuern? müssen alle Verantwortlichen zusam- lig aus der Welt zu schaffen, und kann menbringen und überlegen, wie wir die auch bereits gute Ergebnisse vorweisen. Zahlen ernsthaft senken können. Das Sie meinen Finnland. Das Land ist nicht einfach. Denn wir haben zu setzt auf das Konzept Housing First, »Wir können nicht einfach wenig Daten über Obdachlosigkeit. bei dem es darum geht, den Menschen Sozialträger fordern seit vielen zuallererst eine eigene Wohnung zu an den Obdachlosen Jahren eine einheitliche Statistik zur besorgen. Wollen Sie sich EU-weit an Wohnungslosigkeit. Wie könnte die Finnland orientieren? vorbeigehen und sagen: aussehen? Was die Finnen machen, kann man Die Datenerfassung ist kompliziert, nicht eins zu eins auf andere Staa- Pech gehabt« weil es eben ein dezentrales Problem ten übertragen. Aber das Konzept von ist. Wir planen dazu eine europaweite Housing First plus soziale Dienste, die Plattform. Sie soll helfen, Klarheit zu die Menschen unterstützen, ist wahr- schaffen, wie Obdachlosigkeit definiert scheinlich ein richtiger Ansatz. In an- Ich möchte mich jetzt nicht auf eine wird und wie wir sie besser einheitlich deren Ländern gibt es ähnliche Projek- Zahl festlegen, und die EU kann das erfassen können. Außerdem wollen te, die Menschen so erfolgreich aus der auch nicht alleine finanzieren. Aber die wir dort sammeln und evaluieren, was Obdachlosigkeit holen. Kommission wird in jedem Fall Geld bisher getan wurde. Es gibt eine gan- In Berlin und anderen Städten gibt auf den Tisch legen. Und wir werden ze Reihe von NGOs und Projekten in es auch Housing-First-Modellprojek- eine Taskforce einsetzen, die Vorschläge Foto: Lukasz Kobus / European Union 2021 »Wir haben zu lange geglaubt, der Markt werde das Problem schon lösen«: EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit fordert mehr Investitionen, um Obdachlosigkeit zu überwinden. 14 | T I T E L HEMPEL S # 303 8/202 1
macht, wo wir Projekte realisieren kön- Europa nicht laufen. Das ist ein dickes zu nationalen Sozialsystemen. Könnte nen. Gemeinsam mit den Mitgliedstaa- Brett, dessen bin ich mir bewusst. Aber man einen europäischen Rahmen für ten, den Städten, den Regionen. es gibt viele Menschen in unseren Ge- Sozialleistungen schaffen? In den meisten Großstädten sellschaften, die mithelfen wollen. Das könnte eine Perspektive sein, ist herrscht Wohnungsnot. Können Ihre Staaten wie Italien oder Ungarn aber momentan kaum denkbar. Ideen überhaupt erfolgreich sein, verfolgen andere Strategien. In Un- Warum nicht? wenn es nicht genug Wohnraum gibt? garn werden Obdachlose kriminali- Nun, Freizügigkeit ist an Bedingun- Natürlich ist die Wohnungsnot ein Thema. Ohne kostengünstigen Wohn- raum können wir das Problem der Ob- dachlosigkeit nicht lösen. Wir haben zu lange geglaubt, der Markt werde das Problem schon lösen. Stattdessen hat er die Engpässe verschärft. Ich will nicht sagen, dass Obdachlosigkeit eine Konse- quenz des Neoliberalismus ist, aber sie ist Teil davon. Jetzt findet ein Umdenken statt: Wenn der Markt nicht ausreichend Wohnraum für Menschen mit wenig Geld Foto: Pixabay bereitstellt, muss man mit staatlichen Zu- schüssen wieder vermehrt Sozialwohnun- gen bauen. Das war in den vergangenen Jahrzehnten eher verpönt. Dabei ist das doch ein zentrales Element für den Zu- »Viele Roma werden in ihren Herkunftsländern diskriminiert«: EU-Sozialkommissar Schmit sammenhalt unserer Gesellschaft. fordert eine neue Roma-Strategie. Wie wäre es mit einer konkreten Zielvorgabe für die Mitgliedstaaten? siert, schlafen auf öffentlichen Plätzen gen geknüpft. Ein Beispiel: Ich gehe in Die gibt es ja auch in anderen Politik- ist dort eine Straftat. In Italien dienen ein anderes EU-Land und versuche dort bereichen. Zum Beispiel: In zehn Jah- obdachlose Flüchtlinge auch der Ab- eine Arbeit zu finden. Aber natürlich ren soll jedes Land soundso viele neue schreckung, nach dem Motto: Seht habe ich dadurch nicht automatisch und Sozialwohnungen bauen. Oder 50 Pro- her, hier landet ihr auf der Straße, also sofort Anspruch auf die dortigen Sozial- zent weniger Obdachlose haben. kommt gar nicht erst zu uns. Wie wol- leistungen. Wenn ich den Mitgliedstaa- Das wäre eine Idee, ja. Aber ich möch- len Sie damit umgehen? ten sagen würde, da kommt jemand, der te eigentlich, dass jedes Land sich selbst Erst mal: Es gibt keine guten und ist vom ersten Tag an in eurem Sozial- eine Quote gibt. Kein Mitgliedstaat hat schlechten Obdachlosen, wir dürfen system, würden das die Staaten niemals ein Interesse daran zuzusehen, wie Ob- nicht unterscheiden zwischen EU-Bür- akzeptieren. Dafür habe ich auch Ver- dachlosigkeit sich verbreitet. gerinnen und -Bürgern und obdach- ständnis. Wir müssen auch dieses Prob- Europäische Koordination hat in losen Flüchtlingen aus Drittstaaten. lem dort angehen, wo es entsteht. den vergangenen Monaten oft nur Ungarn wiederum ist insgesamt ein Fall Wie meinen Sie das? schlecht funktioniert, beispielsweise für sich, was rechtsstaatliche Prinzipien Viele Roma beispielsweise werden in bei den Grenzkontrollen in der Coro- anbelangt. Das macht die Sache nicht ihren Herkunftsländern ausgeschlos- na-Pandemie. Warum sollte das ausge- einfach. Wir können die Staaten nicht sen und diskriminiert. Sie finden keine rechnet beim Thema Obdachlosigkeit zwingen, wir müssen auf ihren Willen Arbeit, die Kinder gehen nicht zur Schu- klappen? zur Zusammenarbeit zählen. Jemanden le. Wir haben eine neue Roma-Strategie Die Corona-Krise hat es uns allen zu kriminalisieren ist kurzfristig ge- vorgeschlagen, um diesen Menschen nicht leichter gemacht. Nationale Allein- dacht. Wenn jemand nicht arbeiten darf, Perspektiven zu bieten. Denn das hängt gänge waren und sind da wenig hilfreich. wird er kriminell, denn er muss ja über- ja alles zusammen. Aber wenn sie sich Wir brauchen gemeinsame, europäische leben. Das ist nicht unbedingt positiv für dann in ein anderes Land bewegt haben, Ziele und den Willen, sie auch umzuset- eine Gesellschaft, und das muss man den müssen wir ihnen eben auch dort Pers- zen. Die Staaten können sich nicht aus Staaten im Zweifelsfall klarmachen. pektiven bieten. der Verantwortung stehlen. Wir kön- Viele Arbeitsmigranten aus Osteu- nen nicht einfach an den Obdachlosen ropa werden in anderen Ländern aus- Dieses Interview wurde uns freundli- vorbeigehen und sagen, Pech gehabt, ihr gebeutet und landen in der Obdach- cherweise zur Verfügung gestellt von seid eben auf der Straße. So darf das in losigkeit. Sie haben oft keinen Zugang ZEIT ONLINE HE MPE L S # 303 8/202 1 T I T E L | 15
TITEL Zuerst eine Wohnung Die EU will bis 2030 Obdachlosigkeit beseitigen. Wie das gehen könnte, zeigen Länder wie Finnland mit modernen Housing-First- Konzepten. Auch die Stadt Berlin macht dazu mit einem Modellprojekt gerade positive Erfahrungen TEXT: BENJAMIN LAUFER Der Altbau mit der in frischem Hell- hat«, berlinert sie stolz und fährt mit blau getünchten Fassade und den Bal- dem Finger über die Karte: Hier ein konen zur Straße sieht ganz und gar 1960er-Jahre-Bau am Stadtrand, dort nicht aus wie eine Obdachlosenunter- ein Neubau in Neukölln, darüber ein kunft. Neben dem Holztor zum typi- Plattenbau in Marzahn-Hellersdorf. schen Berliner Hinterhof hat sich ein Dort überall wohnen ehemalige Ob- Fotoatelier angesiedelt, erste Blumen dachlose. blühen davor im Beet. Der Volkspark Friedrichshain ist in Gehnähe, die Ver- kehrsanbindung lässt kaum Wünsche offen. Hier eine Wohnung zu bekom- »Viele werden im men, ist angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht alten Hilfesystem leicht. Trotzdem ist einer jungen Frau, ohne viele Vorbedingungen. Schon 70 die bis vor Kurzem noch auf der Straße nicht erreicht« Menschen haben Münchos Team und gelebt hat, genau das jetzt gelungen. Ein ein Partnerprojekt in den vergangenen Hauptgewinn im Lebenslotto. drei Jahren von der Straße geholt. Vie- Im Büro von Corinna Müncho ist le von ihnen waren psychisch krank, das hellblaue Haus im gentrifizierten Die 42-jährige Müncho leitet das langjährig obdachlos und für das kon- Bezirk Prenzlauer Berg ein Steckna- Projekt »Housing First Berlin«. Sie ventionelle Hilfesystem kaum erreich- delfähnchen neben vielen anderen auf wurde von der Stadt damit beauftragt, bar. Die meisten wären von den bisher einer Berlin-Karte an der Wand. »Mit Obdachlose unterzubringen – nicht geltenden hohen Anforderungen vor unseren Wohnungen decken wa quer- in Sammelunterkünften, sondern in einem Wohnungsbezug überfordert ge- beet allet ab, was die Stadt zu bieten ganz normalen Wohnungen. Und zwar wesen, sagt Müncho. 16 | T I T E L HEMPEL S # 303 8/202 1
Foto: Martin Kath Das Berliner Housing-First-Team: Leiterin Corinna Müncho (Mitte) mit Wohnungsakquisiteur Sebastian Böwe und Praktikantin Anne Naundorf. Es ist ein Paradigmenwechsel in Mensch in der Lage ist, zu wohnen«, er- »Aus jetziger Sicht wird eine Übernah- der Wohnungslosenhilfe: Um über klärt Münchow. me in die Regelfinanzierung nach Ab- Housing First eine Wohnung zu Der Ansatz Housing First gilt vielen lauf der Modellprojektphase dringend bekommen, muss kein Obdachloser Experten als vielversprechender, mo- empfohlen.« vorher beweisen, dass er alleine in den derner Weg aus der Krise der Obdach- Housing First in Berlin politisch eigenen vier Wänden zurechtkäme. losigkeit. Das auf drei Jahre angelegte auf den Weg gebracht hat 2018 die So- Stattdessen gilt der eigene Mietvertrag Berliner Modellprojekt steht bereits zialsenatorin Elke Breitenbach. Die als Basis dafür, eigenverantwortlich zu kurz vor dem Abschluss. Das Zwischen- 60-Jährige Politikerin der Linkspar- handeln – mit der Unterstützung von fazit der Alice-Salomon-Hochschule, tei lebt schon seit Jahrzehnten in der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei- die das Projekt wissenschaftlich beglei- Hauptstadt. »Überall trifft man hier tern. »Wir gehen davon aus, dass jeder tet, könnte kaum positiver ausfallen: obdachlose Menschen. Menschen, die HE MPE L S # 303 8/202 1 T I T E L | 17
TITEL komplett auf der Straße leben, mit allen Dieter Puhl über die Senatorin. »Das öffentliche Kritik anhören, weil sie es Fürchterlichkeiten und Grausamkei- muss ich aber gar nicht, denn ich wer- nicht anderen überlässt, die Arbeit der ten, die dazukommen«, sagt sie beim de gehört.« Der Netzwerker schildert Verwaltung zu bemängeln. Im Winter Telefoninterview. »Das ist in Berlin ein Elke Breitenbach als Politikerin, die reichen die Notschlafstätten nicht aus? wirklich großes Thema, von dem sehr mit Herzblut für die Sache der Obdach- »Die Kältehilfe läuft zurzeit extrem un- viele Menschen betroffen sind.« 2019 losen arbeitet – und auch schon mal um befriedigend«, sagte sie freimütig in ei- wurden 2000 Obdachlose auf den Stra- 23 Uhr auf seinem Handy anruft, wenn nem Interview. Vergangenen Januar zog ßen der Hauptstadt offiziell gezählt; es eine akute Notlage zu beseitigen gilt. Breitenbach im »Tagesspiegel« regel- Breitenbach geht davon aus, dass es in Auch Corinna Müncho von Housing recht blank: »Was die Pandemie bereits Wirklichkeit noch mehr sind. »Eine First ist nicht unkritisch: »Der Status wie unter einem Brennglas deutlich ge- Gesellschaft muss sich daran messen Quo ist überhaupt nicht zufrieden- macht hat, sind die Funktionsdefizite lassen, wie sie mit ihren schwächsten stellend.« Die Standards in manchen eines Hilfesystems, das Fürsorge zu oft Mitgliedern umgeht«, sagt sie. Seit ih- Notunterkünften etwa sind miserabel, mit Entmündigung verwechselt und zu rem Amtsantritt vor fünf Jahren hat sie morgens müssen die Gäste dort raus. viele Kreislaufbewegungen innerhalb das Thema ganz oben auf ihrer Agenda Auch in Berlin lassen die Bezirke Plat- des Systems, aber zu wenig Auswege angesiedelt. ten räumen; und als Breitenbach die in ein selbstbestimmtes Leben weist.« In Berlin sind viele in der Wohnungs- Obdachlosen von Freiwilligen zäh- Klang zwar nach Opposition, kam aber losenhilfe Engagierte gut auf ihre Sozi- len ließ, fanden manche das »würde- von der Regierung. alsenatorin zu sprechen – auch wenn es los«. Trotzdem beschreibt Müncho die Statt die Mängel aber nur öffentlich intern Bemängelungen gibt. »Ich könn- Stimmung zwischen Helfern und der zu geißeln, nennt Breitenbach konkrete te meine Kritik an ihrer Politik auch Senatsverwaltung für Soziales grund- Vorschläge, wie die Stadt bis 2030 Ob- über die Medien verbreiten«, sagt der sätzlich als gut. Vielleicht muss Elke dachlosigkeit überwinden könnte. Zu langjährige Leiter der Bahnhofsmission Breitenbach sich auch deshalb so wenig diesem Ziel haben sich auch schon Bun- Foto: Reto Klar Funke Foto Service Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach. 18 | T I T E L HEMPEL S # 303 8/202 1
sich bis dahin halbieren. Uns gegen- über erklärt die Sozialsenatorin: »Wir brauchen ein Hilfesystem, das sich an den Menschen ausrichtet, die die Hilfe benötigen.« Nun wird auch in Berlin im Septem- ber gewählt. Man könnte ins Feld füh- ren, dass die Linke mit ihrem Vorstoß Wahlkampf betreibe. Corinna Müncho von »Housing First Berlin« schüttelt Foto: Benjamin Laufer den Kopf. »Elke Breitenbach ist seit lan- ger Zeit die Erste, die Obdachlosigkeit wirklich auf dem Plan hat und die das auch angehen möchte«, sagt die Pro- jektleiterin. »Und ich glaube ihr das auch.« Dieter Puhl, Leiter der Berliner Bahnhofsmission. Mit Dank an Hinz&Kunzt / INSP.org destag und EU-Parlament bekannt. Die First. Bis 2030 soll das Prinzip zum Re- Praktikerin von der Linken will dazu gelansatz der Berliner Wohnungslosen- einen Masterplan auflegen – und zü- hilfe werden. Die Zahl der Menschen gig umsetzen. Das Leitmotiv: Housing in Gemeinschaftsunterkünften soll Auch Schleswig-Holstein plant Housing-First-Ansatz Seit dem Dezember 2020 gibt es Housing-First-Ansatz verknüpft werden. zu beziehen. Bei der Bereitstellung von ein 20-Mio.-Euro-Sonderprogramm Die Inhalte des Programms basieren auch Wohnraum handelt es sich immer nur um »Wohnraum für besondere Bedarfs- auf den Ergebnissen einer Konzeptstudie, ein Angebot. gruppen«, das den Wohnungsbau im die HEMPELS im Zusammenwirken mit Diese Stellungnahme ist ein Auszug aus der preisgünstigen Segment stärken soll. Auf dem Diakonischen Werk Schleswig-Hol- Antwort des Landes auf HEMPELS-Fragen Balkone, Keller und Fahrstühle kann stein erstellt hat und die vom Innenminis- zur Schaffung von Wohnraum für Wohnungs- verzichtet werden. Der sonst übliche terium gefördert wurde. lose und dem Housing-First-Ansatz. Hinter- Standard der geförderten Wohnungen, Das Land engagiert sich langjährig grund: Das Land Schleswig-Holstein will in denen Wohnen, Schlafen und Kochen in der Wohnungslosenhilfe. Im Wissen mit einem neu aufgelegten Sonderprogramm nicht in einem Raum stattfinden darf, ist um die Bedeutung präventiv wirkender »Wohnraum für besondere Bedarfsgruppen« hier aufgehoben. Mit besonders günsti- Angebote haben die Regierungsfraktio- die Schaffung von Wohnraum für Menschen gen Förderkonditionen sollen vor allem nen die Mittel dafür im Jahr 2019 um 40 mit besonderen Problemlagen ermöglichen Kommunen und soziale Trägerinnen und Prozent auf eine Million Euro jährlich und befördern und hat damit eine Vorreiter- Träger angesprochen werden, um Wohn- hochgesetzt. In 2019 haben rund 7900 rolle eingenommen. Kommunen erhalten mit raum für Menschen herzustellen, die Menschen die Angebote in Anspruch ge- dem Programm die Möglichkeit, gezielte Woh- einen besonders schweren Zugang zum nommen. Menschen können allerdings nungsbaumaßnahmen für Wohnungsnotfälle Wohnungsmarkt haben. Die Bauvorha- nicht gezwungen werden, die ihnen zu- zu initiieren. ben können ganz oder teilweise mit einem gewiesenen Wohnungen auch tatsächlich HE MPE L S # 303 8/202 1 T I T E L | 19
TITEL »Wie wollen Sie Obdach- losigkeit überwinden?« HEMPELS-Umfrage bei verschiedenen Städten in Schleswig-Holstein, wie Wohnungslosen geholfen werden soll RECHERCHE: HOLGER FÖRSTER ELMSHORN FLENSBURG HUSUM KIEL ** Verschiedene Es existieren keine Schwerpunkt Verstärkte Prävention. Welche Maßnahmen Maßnahmen zur Umsetzungsbe- Prävention. Koopera- Individuellere planen Sie zur Prävention und schlüsse. 30 Pro- tion mit einer vom Problemlösungen. Umsetzung des Vermittlung. zent des Wohnungs- Kreis getragenen EU-Beschlusses, neubaus soll mit GmbH, die Wohnraum Obdachlosigkeit bis Sozialbindung erstellt zur Verfügung stellt. 2030 zu überwinden? werden. Notunterkünfte. Nein, zu wenig Das Ziel besteht Ja, wobei das generelle Keine Angaben. Werden Sie das Ziel Wohnraum. unabhängig vom Problem aber bestehen erreichen, bis 2030 Termin. Diverse exogene bleibt. die Obdachlosigkeit Faktoren machen eine zu überwinden? Prognose unmöglich. Nein, zu wenig Die Stadt fördert ein Diese Frage stellt sich Nein. Orientieren Sie Wohnraum. vergleichbares Modell, in Husum z. Zt. nicht sich am Konzept Wohnfähigkeit wird in dass von einem Träger (s.o.). Housing First? Einzelfällen kritisch angeboten wird (z. Zt. 9 Warum (nicht)? gesehen. Derzeitiges Wohnungen). Konzept wird als Kaum Mietverhält- erfolgreich bewertet. nisse auf dem normalen Wohnungsmarkt erreichbar. Förderprogramme Verstärkte Förderung des Mehr personelle und Keine Angaben. Welche Unter- für sozialen sozialen Wohnungsbaus. sachliche Ressourcen. ** Anmerkung: Die Stadt stützung von Wohnungsbau. Verstärkte Förderung Anhebung/Anpassung Kiel hat trotz mehrfacher Bund und Land ist Mehr Geld für div. Kooperationsmodelle. staatlicher Leistung, Nachfragen nicht auf erforderlich, Hilfsprogramme zur Regionalförderung von u.a. Berücksichtigung unseren Fragebogen ge- um das EU-Ziel zu Wiederherstellung der Obdachlosenstellen in der Warmmiete antwortet. Sie teilte mit, erreichen? Wohnfähigkeit und der ländlichen Räumen. bei sozialer »Antworten auf Ihre Fra- Vermittlung. Schaffung landeseigener Wohnraumförderung. gen finden Sie im Wesent- Einrichtungen zur lichen in unserem Sozial- Zwangsunterbringung bericht«. Die Angaben in nach richterlicher der Tabelle entstammen Anordnung. Div. der red. Auswertung des rechtliche Anpassungen. Sozialberichtes. 20 | TITEL HEMPEL S # 303 8/202 1
LÜBECK NEUMÜNSTER NORDERSTEDT PINNEBERG Operative Betreuung durch Ein Ansatz nach Housing Diverse Einzelprojekte: Keine. Der Umgang des Vorwerker Diakonie nach First (»Ambulante Beratungsangebote, Bundes mit der EU- einem Konzept, das Housing Wohnbetreuung«) Prävention, Wohnprojekte, Entschließung wird First ähnelt. wird angewendet und Sozialer Wohnungsbau. abgewartet. weiterentwickelt. Keine Antwort. Probleme werden in Nur, wenn sich der Woh- Nicht bekannt. der Erreichbarkeit der nungsmarkt grundlegend betroffenen Personen gesehen entspannt und Unterkunfts- und in der Wohnfähigkeit. konzepte für Menschen mit multiplen Problemlagen gefunden werden. Zurzeit wird ein ähnliches Die Ambulante Nein, nicht genügend Nein. Konzept der Vorwerker Wohnbetreuung orientiert Wohnraum, hoher Diakonie verwandt; sich am Ansatz von Housing Nachfragedruck. Änderungen sind nicht First und wird ständig geplant. weiterentwickelt. Größere finanzielle Verbesserte Förderung des sozialen Keine Angaben. Unterstützung vom Bund und Rahmenbedingungen für Wohnungsbaus, Bau von Land zur Weiterentwicklung sozialen Wohnungsbau. Wohnraum unterhalb des der Wohnungslosenhilfe. Standards der aktuellen Förderprogramme. HE MPE L S # 303 8/202 1 TITEL | 21
TITEL Schleswig macht es vor Stadt plant mit Housing-First-Ansatz Abkehr von bisheriger Unterbringung von Wohnungslosen TEXT: PETER BRANDHORST Es geht um Menschenwürde, und Warmwasserversorgung und Gemein- lang für wohnungslos gewordene Frau- es geht um die Frage, auf welchem Weg schaftstoiletten vorzuhalten, sollen Be- en und Männer im Ansgarweg bereit. für Obdachlose Wohnraum geschaf- troffene künftig in mit Mietverträgen Gedacht waren die dort in den 1960er fen werden kann, der mehr ist als nur ausgestattete Wohneinheiten einziehen, Jahren errichteten Schlichtbauten als ein vorübergehendes Behelfsdach über in denen sie unter menschenwürdigen kurzfristige Übergangslösungen – nach dem Kopf: Die Stadt Schleswig hat sich Bedingungen dauerhaft wieder Fuß fas- spätestens sechs Monaten, so das fachli- vorgenommen, die Unterbringung von sen können. Der Ansatz dafür: Ein Kon- che Ziel, sollten Betroffene anderweitig Wohnungslosen auf radikal neue Füße zept nach dem Vorbild Housing First neuen Wohnraum gefunden haben. zu stellen. Statt wie bislang Notunter- – zuerst eine Wohnung. Insgesamt 22 Die Realität sieht jedoch anders aus: künfte ohne zentrale Heizungs- und Notunterkunftsplätze hält die Stadt bis- Nicht nur die Belegungsquote ist in der Foto: Peter Werner Eine Doppelkochplatte, ein Waschbecken ohne Warmwasser und ein nur mit Holz zu beheizender Ofen: Auch die Ausstattung der bisherigen Notunterkunftsplätze wird in Schleswig als nicht mehr zeitgemäß angesehen. 22 | TITEL HEMPEL S # 303 8/202 1
Notunterkunft über die Jahre gestiegen von Ausweispapieren und Bankkonten auf zuletzt gut 66 Prozent, auch die Ver- kümmern. Schleswig will dieses Prinzip weildauer steigt. Ende 2020 lebten im umkehren: Am Anfang steht die Woh- Ansgarweg bereits rund 70 Prozent län- nung, dort können sie dann nach und ger als sechs Monate, 64 Prozent sogar nach zur Ruhe kommen. Parallel werden länger als ein Jahr. mit sozialpädagogischer Unterstützung »Wir stellen uns unserer gesamtge- vorhandene Problemfelder angegangen. sellschaftlichen Verantwortung«, sagt »Viele haben den alten Stufenprozess Stephan Dose, Bürgermeister der Stadt nicht geschafft und sind unterwegs in der zum neuen »Schleswiger Model«, »der Wohnungslosigkeit hängen geblieben«, Housing-First-Ansatz soll Menschen so Dr. Julia Pfannkuch, Fachbereichslei- helfen, die sich in schwierigen Lebens- terin für Bildung, Kultur und Ordnung Foto: Stadt Schleswig lagen befinden.« Neben den bisherigen in der Stadtverwaltung, »dieses Problem Schlichtbauten wird ein Neubau mit wollen wir lösen, indem wir die Hilfen in Normalwohnraum errichtet werden mit die Wohnungen bringen.« insgesamt 15 Wohneinheiten, jeweils mit Erfahrungen aus anderen Städten und abgetrenntem Sanitärbereich. Maximal Ländern zeigen, dass dieser Ansatz zu ei- 30 Prozent der Unterkünfte können ner deutlichen Kostenreduzierung führt. auch vorübergehend für ordnungsrecht- »Was das für Schleswig perspektivisch liche Unterbringungen genutzt werden. bedeuten wird, lässt sich heute noch »Nehmen gesamtgesellschaftliche Es wird dann auch Räume für den nicht sagen«, so Fachbereichsleiterin Verantwortung wahr«: Schleswigs Betrieb von Waschmaschinen geben, Pfannkuch, »die auch künftig entstehen- Bürgermeister Stephan Dose. die Erdgeschosswohnungen sind bar- den Kosten sind jedoch gut investiertes rierefrei, die Nutzer erhalten normale Geld in eine menschliche Gesellschaft.« men. Das Land Schleswig-Holstein för- Mietverträge. Noch sind Baubeginn und Mit der Entwicklung und Umsetzung dert das Projekt mit Mitteln aus dem neu Fertigstellung unklar, derzeit läuft die des Projektes hat die Stadt Schleswig aufgelegten Sonderprogramm »Wohn- Planungsphase. Die bisherigen Notun- uns von HEMPELS beauftragt. Reiner raum für besondere Bedarfsgruppen«. terkünfte sollen auch später als Reser- Braungard, freier Mitarbeiter bei HEM- Die Stadt Schleswig selbst tritt nicht als ve erhalten bleiben, werden jedoch mit PELS und langjähriger Experte zu Fra- Bauherr auf, sondern stellt die Baufläche Warmwasser ertüchtigt; bereits 2019 gen der Wohnungsversorgung von Woh- der Diakonie-Stiftung zur Verfügung. wurden auf Kosten der Stadt Duschcon- nungsnotfällen, hat ein entsprechendes In Schleswig ist man überzeugt, mit tainer aufgestellt. In das Neubauprojekt Konzept erarbeitet, nach dem in Schles- dem neuen Konzept die Rahmenbedin- wird neben der Stadt auch der Kreis wig der Housing-First-Ansatz umgesetzt gungen für Wohnungslose deutlich ver- Schleswig-Flensburg eingebunden sein, werden wird. Braungard: »Indem die bessern zu können. »Wir machen den beide wollen sich die Kosten der wohn- Stadt sich der Herausforderung einer Veränderungswillen der Stadt deutlich«, begleitenden Hilfen teilen. echten Wohnraumversorgung für Woh- sagt Fachbereichsleiterin Pfannkuch, Bislang müssen Wohnungslose nicht nungslose mit Mietvertrag stellt, nimmt »überhaupt muss das Thema Obdach- nur in Schleswig erst ihre Wohnfähig- sie eine Vorreiterrolle ein.« losigkeit gesellschaftlich überall nach keit nachweisen, bevor sie Aussicht auf Die Bauträgerschaft für das Wohnpro- vorne geschoben werden. Es muss künf- eine eigene Wohnung haben. Sie müssen jekt soll die Diakonie-Stiftung Schles- tig das A-Thema sein, nicht mehr ein B- zunächst beispielsweise Suchttherapien wig-Holstein in enger Zusammenarbeit oder C-Thema.« beginnen oder sich um die Ausstellung mit der HEMPELS-Stiftung überneh- HE MPE L S # 303 8/202 1 TITEL | 23
TITEL Politik und Obdachlosigkeit: Es wird Zeit KOMMENTAR: HOLGER FÖRSTER Das Statistische Bundesamt weiß Arbeit und Soziales hat bisher niemand gesundheitliche Zustand von Obdach- fast alles über Land und Bürger, so die Zeit gefunden, die Anzahl der Woh- losen häufig schlecht ist und das Risiko zum Beispiel, dass jeder zweite Haus- nungslosen ermitteln zu lassen. Eine einer vorzeitlichen Sterblichkeit um halt eine Immobilie besitzt oder dass es Statistik über die Zahl der Wohnungs- das drei- bis vierfache erhöht ist. Das genau 22.865 Menschen gibt, die schon losen gibt es nicht – die Schätzungen erreichte Durchschnittsalter liegt bei 2016 mehr als eine Million Euro jähr- liegen zwischen 337.000 und 680.000 42 bis 52 Jahren. Es ist ein Elend! lich versteuert haben. Deutschland ist Menschen Personen. Keiner weiß et- Für die konkrete (Über-)Lebenshilfe ein reiches Land. Und ein gut verwalte- was Genaues. Es ist wohl unwichtig. Es sind die Kommunen zuständig. Deren tes Land. Alles Wichtige wird gewogen ist ein Elend! Leistungsfähigkeit und Leistungswille und gezählt, in Statistiken gefasst und Immerhin sind dem Ministerium sind regional sehr unterschiedlich aus- ausgewertet. Aber von den 1200 Mit- die Auswirkungen der Wohnungslo- geprägt. Ohne ehrenamtliches Enga- arbeiterinnen und Mitarbeitern des sigkeit durchaus bekannt, so teilt eine gement würde die Grundversorgung zuständigen Bundesministeriums für Sprecherin auf Befragen mit, dass der Wohnungsloser in fast allen Kommunen Foto: Pixabay Ein Matratzenlager, so wie es bislang häufig für Obdachlose deren Rückzugsort ist. 24 | T I T E L HEMPEL S # 303 8/202 1
vollständig zusammenbrechen. Suppen- ber gefordert. Er tut nichts. Egal ob es die stärkeren Argumente. In Deutschland küchen, Tagesaufenthalte, Übernach- Desinteresse ist oder Staatsversagen: Es werden Obdachlose überwiegend dabei tungsmöglichkeiten, Wärmebusse und ist ein Elend! unterstützt, das Leben auf der Straße zu vieles mehr werden oft durch einzelne Aber es gibt Hoffnung: Das EU- überleben. Finnland hat mit dem Projekt Bürger, Vereine und kirchliche Einrich- Parlament hat die Mitgliedstaaten am »Housing First« einen anderen Ansatz tungen getragen. Das Steueraufkom- 24.11.2020 aufgefordert, ihrer Haupt- gefunden: Erst wird den Betroffenen eine men in Ländern und Kommunen wird verantwortung für die Bekämpfung der Wohnung angeboten, und von diesem für vieles eingesetzt – die Ärmsten der Obdachlosigkeit nachzukommen, Maß- sicheren Ort aus können sie dann Kraft Armen sind auf ehrenamtliches Engage- nahmen zur Prävention und für früh- sammeln und die weiteren Schritte ange- ment angewiesen. Es ist ein Elend! zeitiges Eingreifen zu erarbeiten und hen, um wieder in ein normales Leben zu Die Würde des Menschen ist unan- Obdachlosen bei ihrer Wiedereinglie- finden. Natürlich kosten die Wohnungen tastbar! Bereits 1976 trat in der Bun- derung in die Gesellschaft zu helfen. Bis zunächst einmal Geld, aber dafür gibt desrepublik der »Internationale Pakt 2030 soll es in der EU keine Obdachlo- es weniger Notfälle, Übergriffe, Verlet- über wirtschaftliche, soziale und kul- sen mehr geben. HEMPELS hat im Bun- zungen, Zusammenbrüche. Polizei, Ge- turelle Rechte« in Kraft. In Artikel 11 desministerium für Arbeit und Soziales sundheits- und Justizsystem sind seltener wird ausdrücklich das Recht eines je- nachgefragt, ob und wie die Bundesre- gefordert, und das spart. Insgesamt gibt den auf einen angemessenen Lebens- gierung dieser Entschließung nachkom- der finnische Staat für einen obdachlosen standard, ausreichende Ernährung, men will. Eine Sprecherin antwortete: Menschen dadurch 15.000 Euro weniger Bekleidung und Unterbringung aner- »Die Bundesregierung ist sich bewusst, pro Jahr aus. Auch in Wien ist das Prinzip kannt. Trotzdem haben Wohnungslose dass dies eine große Herausforderung »Housing First« seit 2012 außerordent- häufig keinen Zugang zur klassischen darstellt. Den Kommunen kommt bei lich erfolgreich und gehört seit 2016 zum Gesundheitsvorsorge, sie haben nur sel- der Verwirklichung dieses Ziels eine Standardangebot der Obdachlosenhilfe. ten einen Krankenversicherungsschutz, große Rolle zu«. Wer die Sprache von Wenn es uns gelingt, dieses Hilfskon- sie werden häufiger Opfer von Gewalt- Pressesprecherinnen- und -sprechern zept auch in Deutschland flächendeckend taten, sie können ihre Habseligkeiten zu deuten weiß, kann nur feststellen: Es umzusetzen, dann nimmt, im Zusam- nicht sichern und finden häufig genug ist und bleibt ein Elend! menwirken mit ergänzenden Hilfsmaß- keinen Schlafplatz. Hier sind nicht nur Aber wo Empathie und Sozialpolitik nahmen, das Elend vielleicht doch noch die Kommunen, hier ist der Gesetzge- versagen, hat die Finanzpolitik vielleicht mal ein Ende. Es wird Zeit! Was meint obdach-, was wohnungslos? Obdachlosigkeit und Wohnungs- Verfügung steht. Auch Selbstzahler offizielle Berichterstattung gibt, ist losigkeit werden oft verwechselt oder in Billigpensionen zählen zu diesem die Bundesarbeitsgemeinschaft Woh- gleichgesetzt. Im allgemeinen Sprach- Kreis. nungslosenhilfe (BAGW) auf Schät- gebrauch ist eine Person dann woh- Obdachlosigkeit hingegen ist ein zungen angewiesen: Etwa 680.000 nungslos, wenn sie über keinen eigenen Teilbereich der Wohnungslosigkeit und Wohnungslose und 40.000 Obdachlose Wohnraum verfügt und beispielsweise betrifft Menschen, die keinerlei Unter- leben demnach in Deutschland. PB bei Freunden oder Bekannten lebt. Als kunft haben und im öffentlichen Raum wohnungslos gilt auch, wer in einer wie Parks, Gärten oder unter Brücken Notunterkunft untergebracht ist oder übernachten. Etwa seit Ende der Nul- in einer kommunalen Einrichtung le- lerjahre ist in Deutschland ein deutli- ben muss, zum Beispiel einem Frauen- cher Anstieg der Fallzahlen festzustel- haus, weil kein eigener Wohnraum zur len. Da es keine amtliche Statistik oder HE MPE L S # 303 8/202 1 T I T E L | 25
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