Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit - 2,20 EUR - Hempels

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Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit - 2,20 EUR - Hempels
# 303                                                         2,20 EUR
August 2021
                                                           davon 1,10 EUR
                                                               für die Ver-
                                                             käufer/innen

               Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein

Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit
                     zu überwinden
Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit - 2,20 EUR - Hempels
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
          das Thema Wohnen ist eine der großen sozialen Fragen unserer Zeit. Überall fehlt
    bezahlbarer Wohnraum, in den Städten ebenso wie im ländlichen Raum. Da über-
    rascht es nicht, dass die Anzahl wohnungsloser Menschen kontinuierlich steigt, auch in
    Schleswig-Holstein. Bei der Frage, wie Obdach- und Wohnungslosigkeit überwunden
    werden können, rückt ein neuer Ansatz in den Vordergrund, mit dem Finnland bei-
    spielsweise bereits große Erfolge erzielt hat: Housing First – zuerst eine Wohnung. In
    dieser Ausgabe werden wir uns dem Thema mit verschiedenen Berichten widmen. Le-
    sen Sie unter anderem ein Interview mit EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit (ab Seite
    13) und werfen Sie mit uns einen Blick nach Schleswig. Die Stadt plant eine radikale
    Abkehr von der bisherigen Unterbringung von Wohnungslosen und will Betroffenen
    künftig Wohnraum mit festen Mietverträgen anbieten (ab Seite 22).
          Am 26. September ist Bundestagswahl. Zum Abschluss unserer großen Interview-
    reihe mit Berliner Politikspitzen kommt diesen Monat Linke-Co-Spitzenkandidatin
    Janine Wissler zu Wort (ab Seite 26). Ab Ende August können sämtliche Interviews mit
    Robert Habeck (Grüne), Olaf Scholz (SPD), Christian Lindner (FDP), Armin Laschet
    (CDU) und Janine Wissler (Linke) auch auf unserer Homepage nochmal nachgelesen
    werden: www.hempels-sh.de
          									IHRE HEMPELS -REDAKTION

                                                                    GEWINNSPIEL

                     SOFARÄTSEL                                                 GEWINNE
         Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt               3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im Juli war das kleine Sofa
         sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann           auf Seite 30 versteckt. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden im
         schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de            September veröffentlicht.
         oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende
         erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns         Im Juni haben gewonnen:
         ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird.                         Gerald Fuhrmann (Sierksdorf), Hans-Jürgen Grot (Kühsen) und Christa
                                                                          Langer-Axelsen (Wanderup) je ein Buch des Ullstein Verlags. Allen
         Einsendeschluss ist der 31.8.2021.                               Gewinnerinnen und Gewinnern herzlichen Glückwunsch!
         Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen.

2 | INH A LT                                                                                                                     HEMPEL S # 303 8/202 1
Wohnen zuerst Neue Wege, um Obdachlosigkeit - 2,20 EUR - Hempels
TITEL

                                                                              FörsterFörster (6 Jahre)
                                                                                                         WOHNEN ZUERST
                                                                                                         Immer mehr Menschen verlieren ihre Wohnung. Zuneh-
                                                                                                         mend klar wird, dass neue Wege gegangen werden müssen,

                                                                            Johanna
                                                                                                         um Obdachlosigkeit zu überwinden. Im Schwerpunkt die-

                                                            Titelfoto: Holger
                                                                                                         ses Heftes widmen wir uns mit verschiedenen Berichten

                                                            Titelzeichnung:
                                                                                                         dem Housing-First-Ansatz. Die Titelzeichnung stammt von
                                                                                                         der sechsjährigen Johanna Förster, Enkelin unseres Mitar-
                                                                                                         beiters Holger Förster.
                                                                                                         SE I T E 10

                           DAS LEBEN IN ZAHLEN                                                                                     SCHLESWIG-HOLSTEIN SOZIAL
                           4    Ein etwas anderer Blick                                                                            8  Meldungen
                                auf den Alltag                                                                                     9  Wie ich es sehe:
                                                                                                                                      Kolumne von Hans-Uwe Rehse
                                                                                                                                   16 Interview zu sozialen Fragen:
                                                                                                                                      Janine Wissler, Co-Spitzen-
                                                                                                                                      kandidatin der Linken

                           BILD DES MONATS
                                                                                                                                   AUF DEM SOFA
                           6    Narzissten
                                                                                                                                   34 Ulf verkauft unser
                                                                                                                                       Straßenmagazin in Kiel

                           HOUSING FIRST
                                                                                                              INHALT
                           10 Einfach nur wohnen
                           13 Interview mit EU-Sozial-                                                        2 EDITORIAL
                                kommissar Nicolas Schmit                                                      31 REZEPT
                           16 Modellprojekt Housing First                                                     32 MUSIKTIPP; BUCHTIPP; FILMTIPP
                                in Berlin                                                                     33 SERVICE: MIETRECHT; SOZIALRECHT
                           19   Land SH plant mit Housing First
                                                                                                              36 LESERBRIEFE; IMPRESSUM
                           20   Städteumfrage: Wie kann Obdach-
                                                                                                              37 VERK ÄUFER IN ANDEREN LÄNDERN
                                losigkeit überwunden werden?
                           22   Schleswig macht es vor:                                                       38 SUDOKU; K ARIK ATUR
                                Stadt setzt neues Konzept um                                                  39 SATIRE: SCHEIBNERS SPOT
                           24   Kommentar: Politik und
                                Obdachlosigkeit
                           25   Definition Obdachlosigkeit
                                                                                                                                              Bitte kaufen Sie
                                                                                                                                              HEMPELS nur bei
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DAS LEBEN IN ZAHLEN

                         Pandemie: So viele
                         Superreiche wie nie
       Im Corona-Krisenjahr 2020 hat sich rund um den Globus so viel Reichtum angehäuft wie noch nie,
   so die Analyse einer amerikanischen Unternehmensberatung. Das private Finanzvermögen stieg gegenüber
        dem Vorjahr um 8 Prozent auf den Rekordwert von 250 Billionen Dollar (rd. 205 Billionen Euro).
      Dabei stieg vor allem das Vermögen der Reichen und Superreichen. Weltweit besaßen 26,6 Millionen
        Menschen ein Finanzvermögen von 1 Mio. US-Dollar oder mehr (Anstieg um 1,8 Mio. Personen).
        In Deutschland stieg die Zahl der Millionäre (in US-Dollar berechnet) um 35.000 auf 542.000. PB

                            2019                                       2020
               507.000 Millionäre in Deutschland                 542.000 Millionäre in Deutschland

4 | DAS L E BE N IN Z A HL E N                                                            HEMPEL S # 303 8/202 1
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Pandemie: Finanzielle Lage
  oft deutlich verschärft
            Seit Ausbruch der Pandemie hat sich in Deutschland die finanzielle Situation vieler privater
          Haushalte deutlich verschärft, wie Verbraucherzentralen und Beratungseinrichtungen berichten.
        Überdurchschnittlich viele Singles und Alleinerziehende sind betroffen. Laut Statistischem Bundesamt
          waren 2020 von den bei Schuldnerberatungen Ratsuchenden 14 Prozent alleinerziehende Mütter,
         obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 5 Prozent beträgt. Insgesamt sind rd. 7 Millionen
                      Menschen in Deutschland überschuldet, also fast jeder und jede 10. PB

                                                                                                                        Foto: Pixabay

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BILD DES MONATS

Narzissten
   Mensch muss das Rampenlicht schon
sehr deutlich mögen, um sich so wie hier
öffentlich in Szene zu setzen. Eine nar-
zisstische Persönlichkeitsstruktur dürf-
te zusätzlich wahrscheinlich auch nicht
schaden. Ja, die lieben Narzissten unter
uns. Ihr Auftreten löst ja immer wieder
Erstaunen aus, dort, wo man ihnen auch
mal direkt begegnet.
   Nun sind Narzissmus und Eitelkeit
schon immer Produktionsbedingungen
einer jeden Kunst. Und wer auch im Pri-
vaten die große Bühne sucht, lässt sich
dann nur ungern von Kleinigkeiten wie
fehlender Substanz ablenken. Narziss-
ten sind Meister des ersten Eindrucks,
sie lieben sich, weil sie so toll sind und
suchen überall nur Fans, keine Freunde
oder Kollegen. Mit ihrem übersteiger-
ten Selbstbewusstsein brauchen sie Be-
stätigung durch Aufmerksamkeit, zei-
gen sich aber meist immun gegen Kritik.
Sie sind überzeugt von ihrem Können
und dass sich Erfolg vor allem in gro-
ßen Zahlen messen lässt; Zahlen, hinter
denen natürlich ein Währungszeichen
steht. Um es kurz zu sagen: Narziss-
ten können schwierige Menschen sein,
die einem manchmal so richtig auf den
Senkel gehen. Gerade hat man von einer
psychologischen Studie aus den Nieder-
landen gelesen, wonach sich bereits in
den Grundschulen narzisstische An-
führer herauskristallisieren – kleine
Kinder, die von ihren vermeintlichen
Qualitäten eingenommen sind und in
                                             Foto: REUTERS / Jean-Paul Pelissier

Führungsrollen drängeln.
   Dass es sich schon hierbei oft bloß
um die größten Luftpumpen handelt,
die wie beim Topfschlagen den meis-
ten Rabatz machen wollen, das mag den
Kleinen selbst vielleicht noch nicht so
bewusst sein. Später wird ihnen hof-
fentlich aber mal jemand begegnen,
um ihnen aufzuzeigen, was Narzissten
eigentlich sind – selbstgefällige Wind-
maschinen. PB

6 | BIL D DE S MON AT S                                                                              HEMPEL S # 303 8/202 1
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MELDUNGEN

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Caritas: Beratungstelefon für Menschen in Not                           SH: Weniger Komasäufer wegen Corona
Es gibt viele Gründe, sich in einer Notsituation zu befinden:           Die Anzahl der jugendlichen Komasäufer in Schleswig-Hol-
familiäre Belastungen etwa oder Einsamkeit, Sorgen um die               stein ist im vergangenen Jahr nach Angaben der AOK zurück-
Gesundheit oder Existenzängste. Für Menschen in Schles-                 gegangen. 2020 wurden 97 junge Menschen im Alter von
wig-Holstein hat die Caritas deshalb das Krisentelefon »Frag            zwölf bis 20 Jahren mit einer akuten Alkoholvergiftung ins
die Caritas – Hilfe und Beratung« eingerichtet. Unter der               Krankenhaus eingeliefert. Das seien knapp 50 Prozent weniger
Nummer (0431) 59 02 59 werden sie professionell und kosten-             als im Vorjahr (189). 2012 landeten noch 271 junge Menschen
los beraten. Das Beratungstelefon ist montags bis donnerstags           in einer Klinik. Ein Grund für den Rückgang seien Kontakt-
von 9 bis 12 sowie 13 bis 15 Uhr erreichbar, freitags von 10 bis        beschränkungen und geschlossene Kneipen während der
14 Uhr. Zudem können sie jederzeit eine Nachricht auf dem               Corona-Pandemie. Grund zur Entwarnung sei das allerdings
Anrufbeantworter hinterlassen und um Rückruf bitten. Und                nicht. Die Feierlaune werde mit Lockerungen wieder steigen.
per E-Mail können sie ihre Anfragen an beratungstelefon@                Man dürfe nicht nachlassen, Kinder und Jugendliche über die
caritas-im-norden.de schicken. MGG                                      Gefahren des Alkoholkonsums aufzuklären. EPD

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Hass im Netz: Frauen und Minderheiten stark betroffen                   Sinti und Roma werden weiterhin diskriminiert
Jede dritte Frau zwischen 18 und 34 Jahren in Deutschland               Angehörige der Volksgruppe der Sinti und Roma erleben
ist einer Studie zufolge bereits in den sozialen Medien sexuell         weiterhin alltäglich und in vielfältiger Weise Rassismus – am
belästigt worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsenta-             Arbeitsplatz, auf Wohnungssuche, in Schulen, Behörden und in
tive Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Pollytix                Medien. Darauf hat vergangenen Monat die Unabhängige Kom-
im Auftrag der Denkfabrik »Reset. Internet for Democracy«,              mission Antiziganismus hingewiesen. Der 500 Seiten starke
wie das »RedaktionsNetzwerk Deutschland« berichtet. Unter               Bericht wurde von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU)
digitaler sexueller Belästigung werden etwa das ungefragte              und Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher
Zuschicken von Penis-Bildern oder sexualisierte Ansprachen              Sinti und Roma vorgestellt. Die Nachwirkungen des national-
und Beleidigungen verstanden. Insgesamt gaben 38 Prozent der            sozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma zögen sich
befragten volljährigen Nutzerinnen und Nutzer des Internet              »wie ein roter Faden« durch die Geschichte der Bundesrepublik.
an, mindestens einmal Hass in den sozialen Medien erlebt zu             Die Stigmatisierung der Minderheit durch Staat und Gesell-
haben. Besonders betroffen von Beleidigungen, Bedrohungen,              schaft dauere an. PB
Falschbehauptungen, Belästigung, Stalking oder der Veröffent-
lichung privater Daten sind Jüngere, Menschen mit Migrations-           +++
hintergrund sowie Homosexuelle und Bisexuelle. EPD

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                                       Sendetermin: 6. Juli von 17 - 18 Uhr. Wiederholung am folgenden Dienstag 10 Uhr. HEMPELS-Radio bietet
                                       Überblicke über wichtige Themen des Heftes und zugleich Einblicke in weitere soziale Themen. Zu
                                       empfangen ist der OK im Großraum Lübeck über UKW-Frequenz 98,8. Online auf www.okluebeck.de über
                                       den Link »Livestream«. Ebenfalls zu empfangen ist die Sendung im FSK/HH am 1. Freitag im Monat 15 Uhr,
                                       bei Radio Fratz/Flensburg jeden 1. und 3. Dienstag 14 Uhr, beim Freien Radio Neumünster am
                                       1. Montag 19 Uhr, Wiederholung am folgenden Tag 10 Uhr.

8 | ME L DUNGE N                                                                                                            HEMPEL S # 303 8/202 1
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WIE ICH ES SEHE

           Wahrnehmen, was geschieht
           – und tun, was notwendig ist

                                                     VON HANS-UWE REHSE

    Es gibt Wahrheiten, die sind uns unangenehm. Am liebsten      sorgen. Um den allgemein spürbar gewordenen Klimawandel
würden wir sie gar nicht hören.                                   zu begrenzen, wäre jetzt ein gemeinsames Handeln aller Men-
    Man spürt: Wenn ich mich darauf einlasse, muss sich vie-      schen erforderlich. Doch immer noch wird diese Tatsache von
les ändern. Ich mache zwar vieles mit, solange mein Lebens-       vielen nicht ernst genug genommen.
stil nicht beeinträchtigt wird. Doch wenn ein grundlegender          Insofern wird es Zeit, dass wir uns um einen ungeschönten
Wandel notwendig ist, wird es kritisch. Lieb gewordene Ge-        Blick bemühen auf das, was um uns herum geschieht. Damit
wohnheiten gebe ich nur ungern auf. Und das, was meinen           wir uns der Wirklichkeit stellen können, auch wenn das mit
Wohlstand ausmacht, darf auf keinen Fall angetastet werden.       einschneidenden Änderungen verbunden ist. Zu tun gibt es da
Von daher liegt es nahe, radikale Veränderungen zu vermei-        vieles. Was das im Einzelnen ist, wird sicherlich noch gründ-
den – solange es irgend geht. Unangenehme Wahrheiten wer-         lich beraten werden müssen. Doch entscheidend ist zunächst
den deshalb infrage gestellt, Tatsachen geleugnet. Und wenn       der Mut, sich einer unangenehmen Wahrheit zu stellen – und
das nicht mehr ausreicht, verharmlost man die Konsequenzen.       die Zuversicht, ihr auch angemessen begegnen zu können.
Der Gedanke wirkt beruhigend, dass man da schon irgendwie
durchkommen wird – auch wenn man noch gar nicht so genau
weiß, wie. Hauptsache, man kann so weitermachen wie bisher.
    Doch auch wenn es unangenehm ist: Es gibt Wahrheiten,
denen man sich stellen muss. Um Schlimmeres zu vermeiden
ist ein konsequentes Handeln erforderlich – je eher, desto bes-
ser. Wo es um Krankheiten geht, leuchtet uns das unmittel-
bar ein. Auch wenn wir es nicht immer konsequent umsetzen,                               HANS -UWE REHSE IS T PAS TOR IM
wissen wir: Vorbeugen ist besser als bohren – oder andere Be-                            RUHE S TAND UND WAR GE SCHÄF T S -
handlungen. Verdrängungen und Verzögerungen fördern eher                                 FÜHRER DER VORWERK ER DIAKONIE
die krankhafte Entwicklung. In den letzten Monaten hat der                               IN LÜBECK . SEINE KOLUMNE
Verlauf der Pandemie das wieder eindrücklich bestätigt. Da                               ER SCHEINT JEDEN MONAT
haben besonders dort Menschen unter dem Infektionsgesche-
hen leiden müssen, wo die Tatsachen geleugnet und Gefahren
verharmlost wurden.
    Ein entschlossenes Handeln wäre auch in einem anderen
Bereich notwendig. Wissenschaftler weisen schon seit langem
auf die Gefahren der Erderwärmung hin. Durch die menschli-
che Nutzung der fossilen Rohstoffe haben sich große Mengen
an Kohlendioxid in der Atmosphäre angesammelt, die für ei-
nen ständigen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur

HE MPE L S # 303 8/202 1                                                                            S CHL E S WIG - HOL S T E IN S OZI A L | 9
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RUBRIK
                                                         TITEL

                 EINFACH NUR
                   WOHNEN
     Immer mehr Menschen verlieren
      ihre eigene Wohnung. Wie kann
    Obdachlosigkeit künftig verhindert
   werden? Ein Blick nach Finnland hilft:
   Housing First. Inzwischen findet dieser
    Ansatz auch bei uns immer stärker
   Beachtung, wie wir in dieser Ausgabe
    mit mehreren Berichten beleuchten

                           TEXT: PETER BRANDHORST

   Seit Jahren nimmt die Anzahl der      hat Ende vergangenen Jahres die Mit-
wohnungs- und obdachlosen Men-           gliedsstaaten dazu aufgefordert, Ob-
schen in Deutschland deutlich zu. Laut   dachlosigkeit bis 2030 in der Union zu
einer Schätzung der Bundesarbeitsge-     überwinden. Bei der Suche nach neuen
meinschaft Wohnungslosenhilfe sind       Ansätzen rückt ein Konzept immer
inzwischen mehr als 680.000 Frauen       stärker in den Fokus, mit dem Finn-
und Männer ohne eigene Wohnung;          land bereits große Erfolge erzielt hat:
sie müssen bei Bekannten oder in Not-    Housing First – zuerst eine Wohnung.
unterkünften übernachten. Mehr als           Obdachlose bekommen als erstes
40.000 leben ohne jede Unterkunft auf    ohne jede Vorbedingung eine Wohnung.
der Straße. In Schleswig-Holstein geht   Dort können sie zur Ruhe kommen,
das Diakonische Werk von rund 10.000     während begleitend weitere Hilfeschrit-
Wohnungslosen aus, mehrere Hundert       te folgen: Suchttherapie, Schuldnerbera-
machen im Norden »Platte«. Offizielle    tung, Beschaffung von Ausweispapieren
Statistiken zum Thema existieren bis-    und eines eigenen Bankkontos – all jene
lang nicht.                              Dinge, an denen sie vorher gescheitert
   Angesichts dieser Entwicklung for-    sind und was es ihnen unmöglich ge-
dern immer mehr Fachleute einen Pa-      macht hat, eine eigene Wohnung zu fin-
radigmenwechsel in der Wohnungs-         den. Finnland hat mit diesem Konzept
losenhilfe. Auch das EU-Parlament        die Zahl der Obdachlosen inzwischen

10 | T I T E L                                                                      HEMPEL S # 303 8/202 1
Foto: Pixabay

                           Zuerst eine Wohnung: Dort können Obdachlose zur Ruhe kommen, während parallel weitere Hilfeschritte folgen.

HE MPE L S # 303 8/202 1                                                                                                     T I T E L | 11
RUBRIK
                                                                                           TITEL

           von 17.000 auf etwa 4000 verringert.                       First-Modellprojekte, mit denen gute       Bund und Land bei der Lösung des Pro-
           Anfangs kostet der Ansatz viel Geld,                       Erfahrungen gemacht werden. Überall        blems erforderlich ist (ab Seite 20).
           später rechnet er sich deutlich günsti-                    ist aber auch klar: Die größte Schwie-        Wohnungslosenhilfe ist vor allem
           ger als die einzelnen Hilfen, die vorher                   rigkeit ist der Mangel an bezahlbarem      kommunale Aufgabe; die Antworten
           notwendig waren.                                           Wohnraum.                                  der Städte machen deutlich, dass es da-
              Auch in Deutschland beginnen jetzt                         Der Schwerpunkt dieser HEMPELS-         bei keine einheitliche Linie gibt. Die ei-
           einzelne Kommunen und Bundeslän-                           Ausgabe beschäftigt sich aus verschie-     nen hoffen darauf, bis 2030 das EU-Ziel
           der, sich intensiver mit diesem Ansatz                     denen Perspektiven mit Housing First.      zu erreichen, andere glauben nicht dar-
           auseinanderzusetzen. Auch das von                          Wir haben das Modellprojekt »Housing       an, wieder andere äußern sich erst gar
           unserer HEMPELS-Stiftung vor knapp                         First Berlin« besucht (ab Seite 16), und   nicht dazu. Und eine Umsetzung des
           drei Jahren in Kiel gekaufte Wohnhaus                      wir haben mit EU-Sozialkommissar           neuen Housing-First-Ansatzes in den
           für zuvor Wohnungslose funktioniert                        Nicolas Schmit darüber gesprochen,         einzelnen Städten? Siehe die Antwor-
           bereits nach diesem Konzept, eine von                      warum und wie bis 2030 Obdachlosig-        ten zum EU-Ziel im Satz zuvor: ja, nein,
           HEMPELS erstellte Studie dient dem                         keit überwunden werden soll (Inter-        vielleicht.
           Land Schleswig-Holstein inzwischen                         view ab Seite 13). Ab Seite 22 stellen
           als Grundlage für weitere Bauvorha-                        wir die Abkehr der Stadt Schleswig
           ben nach dem Housing-First-Prinzip.                        von der bisherigen Unterbringung von
           Die Stadt Schleswig beabsichtigt als                       Wohnungslosen dar. Außerdem haben
           erste Kommune in Schleswig-Holstein,                       wir bei verschiedenen schleswig-hol-
           ihre Wohnungslosenhilfe nach dem                           steinischen Städten nachgefragt, wie sie
           Housing-First-Prinzip neu auszurich-                       zum Beschluss der EU stehen, bis 2030
           ten. In Berlin laufen mittlerweile zwei                    die Obdachlosigkeit überall zu über-
           von der Stadt geförderte Housing-                          winden und welche Unterstützung von

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           12 | T I T E L                                                                                                             HEMPEL S # 303 8/202 1
»Obdachlosigkeit ist kein
    lokales Phänomen mehr«
      Die EU-Kommission arbeitet an einer neuen Wohnungslosen-Strategie
       und will mehr Geld investieren. Ein Interview mit Sozialkommissar
            Nicolas Schmit, der auf das Konzept Housing First setzt

                                             INTERVIEW: JOHANNA ROTH UND SIMONE GAUL

   In der EU leben Hunderttausende             nen in eine Politik, die Obdachlosigkeit     Und wir müssen eine europäische Ant-
Menschen obdachlos auf der Straße.             bekämpft.                                    wort darauf finden. Bisher haben Kom-
Genaue Zahlen gibt es nicht, doch fest            Schätzungen gehen von aktuell             munen und Länder sich darauf kon-
steht: Es werden mehr. Das EU-Parla-           mindestens 700.000 Menschen aus,             zentriert, Obdachlosen vor allem im
ment hat die Kommission mehrfach               die in der EU auf der Straße leben –         Winter eine Notunterkunft bereitzu-
aufgefordert, endlich wirksame Maß-            Tendenz steigend. Wie erklären Sie           stellen. Morgens müssen sie wieder ge-
nahmen gegen diese Verelendung zu              sich das?                                    hen und der Zyklus beginnt von vorn.
ergreifen. Denn grundsätzlich festge-             Vor allem nach der letzten Wirt-          Das dahinterliegende Problem wurde
schrieben ist das Recht auf eine Woh-          schafts- und Finanzkrise ist die Zahl        dadurch nicht angegangen. Wir müssen
nung schon in der Europäischen Sozi-           der Obdachlosen gestiegen. Und jetzt         es an der Wurzel anpacken. Das heißt,
alcharta von 1996.                             schlägt die Corona-Krise stark auf den       wir müssen diese Menschen wieder in
   Der luxemburgische Sozialdemo-              Arbeitsmarkt durch. Dazu kommt das           die Gesellschaft integrieren.
krat Nicolas Schmit ist seit Ende 2019         Thema Migration: Viele Flüchtlinge
EU-Kommissar für Beschäftigung,                haben keinen Wohnsitz. Auf der Suche
Soziales und Integration. Er sagt, Ob-         nach Arbeit sind auch viele EU-Bürge-
dachlosigkeit habe sich zu einem gro-          rinnen und -Bürger in andere EU-Staa-          »Wir haben das Ausmaß
ßen europäischen Problem entwickelt.           ten gezogen. Wenn ich durch Brüssel
Darauf will die Kommission jetzt mit           gehe, sehe ich immer mehr Familien auf             des Problems lange
neuen Maßnahmen und Investitionen              der Straße, oft sind es Roma. Sie sitzen
reagieren. Festgeschrieben sind einige         da mit ihren Kindern, ohne jede Mög-                   unterschätzt«
bereits im Mai beim europäischen So-           lichkeit, irgendwo unterzukommen.
zialgipfel in Porto beschlossene Maß-             Sie sagen es selbst: Das alles ist eine
nahmen. Aber wie konkret kann die              Entwicklung, die sich bereits seit Jah-
EU das Problem bekämpfen?                      ren beobachten lässt. Passiert ist aber         Aber was kann die EU tun? Für die
                                               bislang wenig. Warum?                        Sozialpolitik sind die Mitgliedstaaten
   Herr Schmit, das EU-Parlament                  Wahrscheinlich, weil wir das Aus-         zuständig.
will Obdachlosigkeit in Europa bis             maß des Problems lange unterschätzt             Die Mitgliedstaaten haben breite
2030 abschaffen. Das klingt etwas              haben. Viele kannten Obdachlosigkeit         Zuständigkeit im sozialen Bereich, das
utopisch. Wie soll das funktionie-             vor allem aus den USA. Aber jetzt er-        trifft auch auf Obdachlosigkeit zu. Die
ren?                                           kennen wir, dass sie sich auch in Euro-      Kommission kann keine Maßnahmen
   Wenn wir das erreichen, wäre ich            pa breitmacht. Obdachlosigkeit ist kein      gegen Obdachlosigkeit verordnen, sie
sehr froh. Aber ich bin Realist. Klar ist,     lokales Phänomen mehr, sie ist zu ei-        kann keinen Mitgliedstaat vor den Eu-
wir brauchen deutlich mehr Investitio-         nem europäischen Problem geworden.           ropäischen Gerichtshof zerren und sa-

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gen: Du hast nicht genug in den Kampf        den Städten und Regionen, die uns zei-        te. Doch bisher gibt es wenig Plätze,
gegen Obdachlosigkeit investiert. Aber       gen können, was funktioniert und was          die Wartelisten sind lang. Wie viel
wir können koordinieren, vernetzen           nicht. Immerhin ein EU-Land hat sich          kann die EU auch finanziell zu sol-
und Geld zur Verfügung stellen. Wir          zum Ziel gesetzt, Obdachlosigkeit völ-        chen Projekten beisteuern?
müssen alle Verantwortlichen zusam-          lig aus der Welt zu schaffen, und kann
menbringen und überlegen, wie wir die        auch bereits gute Ergebnisse vorweisen.
Zahlen ernsthaft senken können. Das             Sie meinen Finnland. Das Land
ist nicht einfach. Denn wir haben zu         setzt auf das Konzept Housing First,           »Wir können nicht einfach
wenig Daten über Obdachlosigkeit.            bei dem es darum geht, den Menschen
   Sozialträger fordern seit vielen          zuallererst eine eigene Wohnung zu                    an den Obdachlosen
Jahren eine einheitliche Statistik zur       besorgen. Wollen Sie sich EU-weit an
Wohnungslosigkeit. Wie könnte die            Finnland orientieren?                                vorbeigehen und sagen:
aussehen?                                       Was die Finnen machen, kann man
   Die Datenerfassung ist kompliziert,       nicht eins zu eins auf andere Staa-                      Pech gehabt«
weil es eben ein dezentrales Problem         ten übertragen. Aber das Konzept von
ist. Wir planen dazu eine europaweite        Housing First plus soziale Dienste, die
Plattform. Sie soll helfen, Klarheit zu      die Menschen unterstützen, ist wahr-
schaffen, wie Obdachlosigkeit definiert      scheinlich ein richtiger Ansatz. In an-          Ich möchte mich jetzt nicht auf eine
wird und wie wir sie besser einheitlich      deren Ländern gibt es ähnliche Projek-        Zahl festlegen, und die EU kann das
erfassen können. Außerdem wollen             te, die Menschen so erfolgreich aus der       auch nicht alleine finanzieren. Aber die
wir dort sammeln und evaluieren, was         Obdachlosigkeit holen.                        Kommission wird in jedem Fall Geld
bisher getan wurde. Es gibt eine gan-           In Berlin und anderen Städten gibt         auf den Tisch legen. Und wir werden
ze Reihe von NGOs und Projekten in           es auch Housing-First-Modellprojek-           eine Taskforce einsetzen, die Vorschläge

                                                                                                                               Foto: Lukasz Kobus / European Union 2021

»Wir haben zu lange geglaubt, der Markt werde das Problem schon lösen«:
EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit fordert mehr Investitionen, um Obdachlosigkeit zu überwinden.

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macht, wo wir Projekte realisieren kön-      Europa nicht laufen. Das ist ein dickes      zu nationalen Sozialsystemen. Könnte
nen. Gemeinsam mit den Mitgliedstaa-         Brett, dessen bin ich mir bewusst. Aber      man einen europäischen Rahmen für
ten, den Städten, den Regionen.              es gibt viele Menschen in unseren Ge-        Sozialleistungen schaffen?
    In    den    meisten      Großstädten    sellschaften, die mithelfen wollen.            Das könnte eine Perspektive sein, ist
herrscht Wohnungsnot. Können Ihre               Staaten wie Italien oder Ungarn           aber momentan kaum denkbar.
Ideen überhaupt erfolgreich sein,            verfolgen andere Strategien. In Un-            Warum nicht?
wenn es nicht genug Wohnraum gibt?           garn werden Obdachlose kriminali-              Nun, Freizügigkeit ist an Bedingun-
    Natürlich ist die Wohnungsnot ein
Thema. Ohne kostengünstigen Wohn-
raum können wir das Problem der Ob-
dachlosigkeit nicht lösen. Wir haben
zu lange geglaubt, der Markt werde das
Problem schon lösen. Stattdessen hat er
die Engpässe verschärft. Ich will nicht
sagen, dass Obdachlosigkeit eine Konse-
quenz des Neoliberalismus ist, aber sie
ist Teil davon. Jetzt findet ein Umdenken
statt: Wenn der Markt nicht ausreichend
Wohnraum für Menschen mit wenig Geld

                                                                                                                                    Foto: Pixabay
bereitstellt, muss man mit staatlichen Zu-
schüssen wieder vermehrt Sozialwohnun-
gen bauen. Das war in den vergangenen
Jahrzehnten eher verpönt. Dabei ist das
doch ein zentrales Element für den Zu-       »Viele Roma werden in ihren Herkunftsländern diskriminiert«: EU-Sozialkommissar Schmit
sammenhalt unserer Gesellschaft.                                                                    fordert eine neue Roma-Strategie.
    Wie wäre es mit einer konkreten
Zielvorgabe für die Mitgliedstaaten?         siert, schlafen auf öffentlichen Plätzen     gen geknüpft. Ein Beispiel: Ich gehe in
Die gibt es ja auch in anderen Politik-      ist dort eine Straftat. In Italien dienen    ein anderes EU-Land und versuche dort
bereichen. Zum Beispiel: In zehn Jah-        obdachlose Flüchtlinge auch der Ab-          eine Arbeit zu finden. Aber natürlich
ren soll jedes Land soundso viele neue       schreckung, nach dem Motto: Seht             habe ich dadurch nicht automatisch und
Sozialwohnungen bauen. Oder 50 Pro-          her, hier landet ihr auf der Straße, also    sofort Anspruch auf die dortigen Sozial-
zent weniger Obdachlose haben.               kommt gar nicht erst zu uns. Wie wol-        leistungen. Wenn ich den Mitgliedstaa-
    Das wäre eine Idee, ja. Aber ich möch-   len Sie damit umgehen?                       ten sagen würde, da kommt jemand, der
te eigentlich, dass jedes Land sich selbst      Erst mal: Es gibt keine guten und         ist vom ersten Tag an in eurem Sozial-
eine Quote gibt. Kein Mitgliedstaat hat      schlechten Obdachlosen, wir dürfen           system, würden das die Staaten niemals
ein Interesse daran zuzusehen, wie Ob-       nicht unterscheiden zwischen EU-Bür-         akzeptieren. Dafür habe ich auch Ver-
dachlosigkeit sich verbreitet.               gerinnen und -Bürgern und obdach-            ständnis. Wir müssen auch dieses Prob-
    Europäische Koordination hat in          losen Flüchtlingen aus Drittstaaten.         lem dort angehen, wo es entsteht.
den vergangenen Monaten oft nur              Ungarn wiederum ist insgesamt ein Fall           Wie meinen Sie das?
schlecht funktioniert, beispielsweise        für sich, was rechtsstaatliche Prinzipien        Viele Roma beispielsweise werden in
bei den Grenzkontrollen in der Coro-         anbelangt. Das macht die Sache nicht         ihren Herkunftsländern ausgeschlos-
na-Pandemie. Warum sollte das ausge-         einfach. Wir können die Staaten nicht        sen und diskriminiert. Sie finden keine
rechnet beim Thema Obdachlosigkeit           zwingen, wir müssen auf ihren Willen         Arbeit, die Kinder gehen nicht zur Schu-
klappen?                                     zur Zusammenarbeit zählen. Jemanden          le. Wir haben eine neue Roma-Strategie
    Die Corona-Krise hat es uns allen        zu kriminalisieren ist kurzfristig ge-       vorgeschlagen, um diesen Menschen
nicht leichter gemacht. Nationale Allein-    dacht. Wenn jemand nicht arbeiten darf,      Perspektiven zu bieten. Denn das hängt
gänge waren und sind da wenig hilfreich.     wird er kriminell, denn er muss ja über-     ja alles zusammen. Aber wenn sie sich
Wir brauchen gemeinsame, europäische         leben. Das ist nicht unbedingt positiv für   dann in ein anderes Land bewegt haben,
Ziele und den Willen, sie auch umzuset-      eine Gesellschaft, und das muss man den      müssen wir ihnen eben auch dort Pers-
zen. Die Staaten können sich nicht aus       Staaten im Zweifelsfall klarmachen.          pektiven bieten.
der Verantwortung stehlen. Wir kön-             Viele Arbeitsmigranten aus Osteu-
nen nicht einfach an den Obdachlosen         ropa werden in anderen Ländern aus-          Dieses Interview wurde uns freundli-
vorbeigehen und sagen, Pech gehabt, ihr      gebeutet und landen in der Obdach-           cherweise zur Verfügung gestellt von
seid eben auf der Straße. So darf das in     losigkeit. Sie haben oft keinen Zugang       ZEIT ONLINE

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TITEL

                 Zuerst eine
                  Wohnung
  Die EU will bis 2030 Obdachlosigkeit beseitigen.
     Wie das gehen könnte, zeigen Länder wie
      Finnland mit modernen Housing-First-
   Konzepten. Auch die Stadt Berlin macht dazu
      mit einem Modellprojekt gerade positive
                   Erfahrungen

                              TEXT: BENJAMIN LAUFER

   Der Altbau mit der in frischem Hell-     hat«, berlinert sie stolz und fährt mit
blau getünchten Fassade und den Bal-        dem Finger über die Karte: Hier ein
konen zur Straße sieht ganz und gar         1960er-Jahre-Bau am Stadtrand, dort
nicht aus wie eine Obdachlosenunter-        ein Neubau in Neukölln, darüber ein
kunft. Neben dem Holztor zum typi-          Plattenbau in Marzahn-Hellersdorf.
schen Berliner Hinterhof hat sich ein       Dort überall wohnen ehemalige Ob-
Fotoatelier angesiedelt, erste Blumen       dachlose.
blühen davor im Beet. Der Volkspark
Friedrichshain ist in Gehnähe, die Ver-
kehrsanbindung lässt kaum Wünsche
offen. Hier eine Wohnung zu bekom-                 »Viele werden im
men, ist angesichts der angespannten
Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht                   alten Hilfesystem
leicht. Trotzdem ist einer jungen Frau,                                               ohne viele Vorbedingungen. Schon 70
die bis vor Kurzem noch auf der Straße               nicht erreicht«                  Menschen haben Münchos Team und
gelebt hat, genau das jetzt gelungen. Ein                                             ein Partnerprojekt in den vergangenen
Hauptgewinn im Lebenslotto.                                                           drei Jahren von der Straße geholt. Vie-
   Im Büro von Corinna Müncho ist                                                     le von ihnen waren psychisch krank,
das hellblaue Haus im gentrifizierten         Die 42-jährige Müncho leitet das        langjährig obdachlos und für das kon-
Bezirk Prenzlauer Berg ein Steckna-         Projekt »Housing First Berlin«. Sie       ventionelle Hilfesystem kaum erreich-
delfähnchen neben vielen anderen auf        wurde von der Stadt damit beauftragt,     bar. Die meisten wären von den bisher
einer Berlin-Karte an der Wand. »Mit        Obdachlose unterzubringen – nicht         geltenden hohen Anforderungen vor
unseren Wohnungen decken wa quer-           in Sammelunterkünften, sondern in         einem Wohnungsbezug überfordert ge-
beet allet ab, was die Stadt zu bieten      ganz normalen Wohnungen. Und zwar         wesen, sagt Müncho.

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Foto: Martin Kath

                                          Das Berliner Housing-First-Team: Leiterin Corinna Müncho (Mitte) mit Wohnungsakquisiteur
                                                                                    Sebastian Böwe und Praktikantin Anne Naundorf.

   Es ist ein Paradigmenwechsel in         Mensch in der Lage ist, zu wohnen«, er-      »Aus jetziger Sicht wird eine Übernah-
der Wohnungslosenhilfe: Um über            klärt Münchow.                               me in die Regelfinanzierung nach Ab-
Housing First eine Wohnung zu                 Der Ansatz Housing First gilt vielen      lauf der Modellprojektphase dringend
bekommen, muss kein Obdachloser            Experten als vielversprechender, mo-         empfohlen.«
vorher beweisen, dass er alleine in den    derner Weg aus der Krise der Obdach-            Housing First in Berlin politisch
eigenen vier Wänden zurechtkäme.           losigkeit. Das auf drei Jahre angelegte      auf den Weg gebracht hat 2018 die So-
Stattdessen gilt der eigene Mietvertrag    Berliner Modellprojekt steht bereits         zialsenatorin Elke Breitenbach. Die
als Basis dafür, eigenverantwortlich zu    kurz vor dem Abschluss. Das Zwischen-        60-Jährige Politikerin der Linkspar-
handeln – mit der Unterstützung von        fazit der Alice-Salomon-Hochschule,          tei lebt schon seit Jahrzehnten in der
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei-       die das Projekt wissenschaftlich beglei-     Hauptstadt. Ȇberall trifft man hier
tern. »Wir gehen davon aus, dass jeder     tet, könnte kaum positiver ausfallen:        obdachlose Menschen. Menschen, die

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komplett auf der Straße leben, mit allen    Dieter Puhl über die Senatorin. »Das        öffentliche Kritik anhören, weil sie es
Fürchterlichkeiten und Grausamkei-          muss ich aber gar nicht, denn ich wer-      nicht anderen überlässt, die Arbeit der
ten, die dazukommen«, sagt sie beim         de gehört.« Der Netzwerker schildert        Verwaltung zu bemängeln. Im Winter
Telefoninterview. »Das ist in Berlin ein    Elke Breitenbach als Politikerin, die       reichen die Notschlafstätten nicht aus?
wirklich großes Thema, von dem sehr         mit Herzblut für die Sache der Obdach-      »Die Kältehilfe läuft zurzeit extrem un-
viele Menschen betroffen sind.« 2019        losen arbeitet – und auch schon mal um      befriedigend«, sagte sie freimütig in ei-
wurden 2000 Obdachlose auf den Stra-        23 Uhr auf seinem Handy anruft, wenn        nem Interview. Vergangenen Januar zog
ßen der Hauptstadt offiziell gezählt;       es eine akute Notlage zu beseitigen gilt.   Breitenbach im »Tagesspiegel« regel-
Breitenbach geht davon aus, dass es in         Auch Corinna Müncho von Housing          recht blank: »Was die Pandemie bereits
Wirklichkeit noch mehr sind. »Eine          First ist nicht unkritisch: »Der Status     wie unter einem Brennglas deutlich ge-
Gesellschaft muss sich daran messen         Quo ist überhaupt nicht zufrieden-          macht hat, sind die Funktionsdefizite
lassen, wie sie mit ihren schwächsten       stellend.« Die Standards in manchen         eines Hilfesystems, das Fürsorge zu oft
Mitgliedern umgeht«, sagt sie. Seit ih-     Notunterkünften etwa sind miserabel,        mit Entmündigung verwechselt und zu
rem Amtsantritt vor fünf Jahren hat sie     morgens müssen die Gäste dort raus.         viele Kreislaufbewegungen innerhalb
das Thema ganz oben auf ihrer Agenda        Auch in Berlin lassen die Bezirke Plat-     des Systems, aber zu wenig Auswege
angesiedelt.                                ten räumen; und als Breitenbach die         in ein selbstbestimmtes Leben weist.«
   In Berlin sind viele in der Wohnungs-    Obdachlosen von Freiwilligen zäh-           Klang zwar nach Opposition, kam aber
losenhilfe Engagierte gut auf ihre Sozi-    len ließ, fanden manche das »würde-         von der Regierung.
alsenatorin zu sprechen – auch wenn es      los«. Trotzdem beschreibt Müncho die           Statt die Mängel aber nur öffentlich
intern Bemängelungen gibt. »Ich könn-       Stimmung zwischen Helfern und der           zu geißeln, nennt Breitenbach konkrete
te meine Kritik an ihrer Politik auch       Senatsverwaltung für Soziales grund-        Vorschläge, wie die Stadt bis 2030 Ob-
über die Medien verbreiten«, sagt der       sätzlich als gut. Vielleicht muss Elke      dachlosigkeit überwinden könnte. Zu
langjährige Leiter der Bahnhofsmission      Breitenbach sich auch deshalb so wenig      diesem Ziel haben sich auch schon Bun-

                                                                                                                               Foto: Reto Klar Funke Foto Service

Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach.

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sich bis dahin halbieren. Uns gegen-
                                                                                                            über erklärt die Sozialsenatorin: »Wir
                                                                                                            brauchen ein Hilfesystem, das sich an
                                                                                                            den Menschen ausrichtet, die die Hilfe
                                                                                                            benötigen.«
                                                                                                               Nun wird auch in Berlin im Septem-
                                                                                                            ber gewählt. Man könnte ins Feld füh-
                                                                                                            ren, dass die Linke mit ihrem Vorstoß
                                                                                                            Wahlkampf betreibe. Corinna Müncho
                                                                                                            von »Housing First Berlin« schüttelt

                                                                                    Foto: Benjamin Laufer
                                                                                                            den Kopf. »Elke Breitenbach ist seit lan-
                                                                                                            ger Zeit die Erste, die Obdachlosigkeit
                                                                                                            wirklich auf dem Plan hat und die das
                                                                                                            auch angehen möchte«, sagt die Pro-
                                                                                                            jektleiterin. »Und ich glaube ihr das
                                                                                                            auch.«

                                        Dieter Puhl, Leiter der Berliner Bahnhofsmission.                   Mit Dank an Hinz&Kunzt / INSP.org

destag und EU-Parlament bekannt. Die        First. Bis 2030 soll das Prinzip zum Re-
Praktikerin von der Linken will dazu        gelansatz der Berliner Wohnungslosen-
einen Masterplan auflegen – und zü-         hilfe werden. Die Zahl der Menschen
gig umsetzen. Das Leitmotiv: Housing        in Gemeinschaftsunterkünften soll

 Auch Schleswig-Holstein
plant Housing-First-Ansatz
   Seit dem Dezember 2020 gibt es           Housing-First-Ansatz verknüpft werden.                          zu beziehen. Bei der Bereitstellung von
ein 20-Mio.-Euro-Sonderprogramm             Die Inhalte des Programms basieren auch                         Wohnraum handelt es sich immer nur um
»Wohnraum für besondere Bedarfs-            auf den Ergebnissen einer Konzeptstudie,                        ein Angebot.
gruppen«, das den Wohnungsbau im            die HEMPELS im Zusammenwirken mit                                   Diese Stellungnahme ist ein Auszug aus der
preisgünstigen Segment stärken soll. Auf    dem Diakonischen Werk Schleswig-Hol-                            Antwort des Landes auf HEMPELS-Fragen
Balkone, Keller und Fahrstühle kann         stein erstellt hat und die vom Innenminis-                      zur Schaffung von Wohnraum für Wohnungs-
verzichtet werden. Der sonst übliche        terium gefördert wurde.                                         lose und dem Housing-First-Ansatz. Hinter-
Standard der geförderten Wohnungen,            Das Land engagiert sich langjährig                           grund: Das Land Schleswig-Holstein will
in denen Wohnen, Schlafen und Kochen        in der Wohnungslosenhilfe. Im Wissen                            mit einem neu aufgelegten Sonderprogramm
nicht in einem Raum stattfinden darf, ist   um die Bedeutung präventiv wirkender                            »Wohnraum für besondere Bedarfsgruppen«
hier aufgehoben. Mit besonders günsti-      Angebote haben die Regierungsfraktio-                           die Schaffung von Wohnraum für Menschen
gen Förderkonditionen sollen vor allem      nen die Mittel dafür im Jahr 2019 um 40                         mit besonderen Problemlagen ermöglichen
Kommunen und soziale Trägerinnen und        Prozent auf eine Million Euro jährlich                          und befördern und hat damit eine Vorreiter-
Träger angesprochen werden, um Wohn-        hochgesetzt. In 2019 haben rund 7900                            rolle eingenommen. Kommunen erhalten mit
raum für Menschen herzustellen, die         Menschen die Angebote in Anspruch ge-                           dem Programm die Möglichkeit, gezielte Woh-
einen besonders schweren Zugang zum         nommen. Menschen können allerdings                              nungsbaumaßnahmen für Wohnungsnotfälle
Wohnungsmarkt haben. Die Bauvorha-          nicht gezwungen werden, die ihnen zu-                           zu initiieren.
ben können ganz oder teilweise mit einem    gewiesenen Wohnungen auch tatsächlich

HE MPE L S # 303 8/202 1                                                                                                                        T I T E L | 19
TITEL

    »Wie wollen Sie Obdach-
     losigkeit überwinden?«
      HEMPELS-Umfrage bei verschiedenen Städten in Schleswig-Holstein,
               wie Wohnungslosen geholfen werden soll
                                                RECHERCHE: HOLGER FÖRSTER

                            ELMSHORN                   FLENSBURG                   HUSUM                       KIEL **
                          Verschiedene             Es existieren keine           Schwerpunkt           Verstärkte Prävention.
Welche Maßnahmen         Maßnahmen zur               Umsetzungsbe-          Prävention. Koopera-           Individuellere
   planen Sie zur        Prävention und             schlüsse. 30 Pro­-        tion mit einer vom         Problemlösungen.
   Umsetzung des          Vermittlung.            zent des Wohnungs-           Kreis getragenen
  EU-Beschlusses,                                   neubaus soll mit        GmbH, die Wohnraum
 Obdachlosigkeit bis                             Sozialbindung erstellt      zur Verfügung stellt.
2030 zu überwinden?                                     werden.                Notunterkünfte.

                          Nein, zu wenig           Das Ziel besteht         Ja, wobei das generelle        Keine Angaben.
Werden Sie das Ziel        Wohnraum.               unabhängig vom           Problem aber bestehen
erreichen, bis 2030                             Termin. Diverse exogene             bleibt.
die Obdachlosigkeit                              Faktoren machen eine
  zu überwinden?                                 Prognose unmöglich.

                          Nein, zu wenig           Die Stadt fördert ein    Diese Frage stellt sich             Nein.
   Orientieren Sie          Wohnraum.            vergleichbares Modell,     in Husum z. Zt. nicht
  sich am Konzept      Wohnfähigkeit wird in      dass von einem Träger             (s.o.).
   Housing First?       Einzelfällen kritisch    angeboten wird (z. Zt. 9
   Warum (nicht)?       gesehen. Derzeitiges          Wohnungen).
                         Konzept wird als          Kaum Mietverhält-
                       erfolgreich bewertet.     nisse auf dem normalen
                                                    Wohnungsmarkt
                                                        erreichbar.

                         Förderprogramme     Verstärkte Förderung des Mehr personelle und                  Keine Angaben.
  Welche Unter-             für sozialen      sozialen Wohnungsbaus. sachliche Ressourcen.
                                                                                                      ** Anmerkung: Die Stadt
   stützung von           Wohnungsbau.          Verstärkte Förderung   Anhebung/Anpassung
                                                                                                      Kiel hat trotz mehrfacher
 Bund und Land ist         Mehr Geld für     div. Kooperationsmodelle. staatlicher Leistung,
                                                                                                         Nachfragen nicht auf
   erforderlich,        Hilfsprogramme zur     Regionalförderung von   u.a. Berücksichtigung
                                                                                                       unseren Fragebogen ge-
 um das EU-Ziel zu     Wiederherstellung der   Obdachlosenstellen in      der Warmmiete
                                                                                                       antwortet. Sie teilte mit,
    erreichen?         Wohnfähigkeit und der     ländlichen Räumen.          bei sozialer
                                                                                                      »Antworten auf Ihre Fra-
                            Vermittlung.      Schaffung landeseigener Wohnraumförderung.
                                                                                                      gen finden Sie im Wesent-
                                                  Einrichtungen zur
                                                                                                      lichen in unserem Sozial-
                                               Zwangsunterbringung
                                                                                                      bericht«. Die Angaben in
                                                  nach richterlicher
                                                                                                       der Tabelle entstammen
                                                   Anordnung. Div.
                                                                                                       der red. Auswertung des
                                              rechtliche Anpassungen.
                                                                                                           Sozialberichtes.

20 | TITEL                                                                                                 HEMPEL S # 303 8/202 1
LÜBECK                  NEUMÜNSTER                    NORDERSTEDT                 PINNEBERG
 Operative Betreuung durch      Ein Ansatz nach Housing       Diverse Einzelprojekte:     Keine. Der Umgang des
 Vorwerker Diakonie nach           First (»Ambulante            Beratungsangebote,         Bundes mit der EU-
einem Konzept, das Housing         Wohnbetreuung«)           Prävention, Wohnprojekte,     Entschließung wird
        First ähnelt.            wird angewendet und          Sozialer Wohnungsbau.            abgewartet.
                                    weiterentwickelt.

        Keine Antwort.             Probleme werden in         Nur, wenn sich der Woh-        Nicht bekannt.
                                  der Erreichbarkeit der      nungsmarkt grundlegend
                              betroffenen Personen gesehen   entspannt und Unterkunfts-
                               und in der Wohnfähigkeit.     konzepte für Menschen mit
                                                               multiplen Problemlagen
                                                                  gefunden werden.
 Zurzeit wird ein ähnliches          Die Ambulante              Nein, nicht genügend              Nein.
  Konzept der Vorwerker        Wohnbetreuung orientiert          Wohnraum, hoher
   Diakonie verwandt;         sich am Ansatz von Housing         Nachfragedruck.
  Änderungen sind nicht          First und wird ständig
          geplant.                  weiterentwickelt.

    Größere finanzielle                Verbesserte             Förderung des sozialen        Keine Angaben.
Unterstützung vom Bund und      Rahmenbedingungen für         Wohnungsbaus, Bau von
Land zur Weiterentwicklung       sozialen Wohnungsbau.        Wohnraum unterhalb des
  der Wohnungslosenhilfe.                                     Standards der aktuellen
                                                                 Förderprogramme.

 HE MPE L S # 303 8/202 1                                                                                     TITEL | 21
TITEL

         Schleswig macht es vor
               Stadt plant mit Housing-First-Ansatz Abkehr von bisheriger
                           Unterbringung von Wohnungslosen

                                                       TEXT: PETER BRANDHORST

   Es geht um Menschenwürde, und               Warmwasserversorgung und Gemein-               lang für wohnungslos gewordene Frau-
es geht um die Frage, auf welchem Weg          schaftstoiletten vorzuhalten, sollen Be-       en und Männer im Ansgarweg bereit.
für Obdachlose Wohnraum geschaf-               troffene künftig in mit Mietverträgen          Gedacht waren die dort in den 1960er
fen werden kann, der mehr ist als nur          ausgestattete Wohneinheiten einziehen,         Jahren errichteten Schlichtbauten als
ein vorübergehendes Behelfsdach über           in denen sie unter menschenwürdigen            kurzfristige Übergangslösungen – nach
dem Kopf: Die Stadt Schleswig hat sich         Bedingungen dauerhaft wieder Fuß fas-          spätestens sechs Monaten, so das fachli-
vorgenommen, die Unterbringung von             sen können. Der Ansatz dafür: Ein Kon-         che Ziel, sollten Betroffene anderweitig
Wohnungslosen auf radikal neue Füße            zept nach dem Vorbild Housing First            neuen Wohnraum gefunden haben.
zu stellen. Statt wie bislang Notunter-        – zuerst eine Wohnung. Insgesamt 22               Die Realität sieht jedoch anders aus:
künfte ohne zentrale Heizungs- und             Notunterkunftsplätze hält die Stadt bis-       Nicht nur die Belegungsquote ist in der

                                                                                                                                   Foto: Peter Werner

Eine Doppelkochplatte, ein Waschbecken ohne Warmwasser und ein nur mit Holz zu beheizender Ofen:
Auch die Ausstattung der bisherigen Notunterkunftsplätze wird in Schleswig als nicht mehr zeitgemäß angesehen.

22 | TITEL                                                                                                        HEMPEL S # 303 8/202 1
Notunterkunft über die Jahre gestiegen      von Ausweispapieren und Bankkonten
auf zuletzt gut 66 Prozent, auch die Ver-   kümmern. Schleswig will dieses Prinzip
weildauer steigt. Ende 2020 lebten im       umkehren: Am Anfang steht die Woh-
Ansgarweg bereits rund 70 Prozent län-      nung, dort können sie dann nach und
ger als sechs Monate, 64 Prozent sogar      nach zur Ruhe kommen. Parallel werden
länger als ein Jahr.                        mit sozialpädagogischer Unterstützung
   »Wir stellen uns unserer gesamtge-       vorhandene Problemfelder angegangen.
sellschaftlichen Verantwortung«, sagt       »Viele haben den alten Stufenprozess
Stephan Dose, Bürgermeister der Stadt       nicht geschafft und sind unterwegs in der
zum neuen »Schleswiger Model«, »der         Wohnungslosigkeit hängen geblieben«,
Housing-First-Ansatz soll Menschen          so Dr. Julia Pfannkuch, Fachbereichslei-
helfen, die sich in schwierigen Lebens-     terin für Bildung, Kultur und Ordnung

                                                                                                                               Foto: Stadt Schleswig
lagen befinden.« Neben den bisherigen       in der Stadtverwaltung, »dieses Problem
Schlichtbauten wird ein Neubau mit          wollen wir lösen, indem wir die Hilfen in
Normalwohnraum errichtet werden mit         die Wohnungen bringen.«
insgesamt 15 Wohneinheiten, jeweils mit        Erfahrungen aus anderen Städten und
abgetrenntem Sanitärbereich. Maximal        Ländern zeigen, dass dieser Ansatz zu ei-
30 Prozent der Unterkünfte können           ner deutlichen Kostenreduzierung führt.
auch vorübergehend für ordnungsrecht-       »Was das für Schleswig perspektivisch
liche Unterbringungen genutzt werden.       bedeuten wird, lässt sich heute noch                   »Nehmen gesamtgesellschaftliche
   Es wird dann auch Räume für den          nicht sagen«, so Fachbereichsleiterin                 Verantwortung wahr«: Schleswigs
Betrieb von Waschmaschinen geben,           Pfannkuch, »die auch künftig entstehen-                   Bürgermeister Stephan Dose.
die Erdgeschosswohnungen sind bar-          den Kosten sind jedoch gut investiertes
rierefrei, die Nutzer erhalten normale      Geld in eine menschliche Gesellschaft.«     men. Das Land Schleswig-Holstein för-
Mietverträge. Noch sind Baubeginn und          Mit der Entwicklung und Umsetzung        dert das Projekt mit Mitteln aus dem neu
Fertigstellung unklar, derzeit läuft die    des Projektes hat die Stadt Schleswig       aufgelegten Sonderprogramm »Wohn-
Planungsphase. Die bisherigen Notun-        uns von HEMPELS beauftragt. Reiner          raum für besondere Bedarfsgruppen«.
terkünfte sollen auch später als Reser-     Braungard, freier Mitarbeiter bei HEM-      Die Stadt Schleswig selbst tritt nicht als
ve erhalten bleiben, werden jedoch mit      PELS und langjähriger Experte zu Fra-       Bauherr auf, sondern stellt die Baufläche
Warmwasser ertüchtigt; bereits 2019         gen der Wohnungsversorgung von Woh-         der Diakonie-Stiftung zur Verfügung.
wurden auf Kosten der Stadt Duschcon-       nungsnotfällen, hat ein entsprechendes         In Schleswig ist man überzeugt, mit
tainer aufgestellt. In das Neubauprojekt    Konzept erarbeitet, nach dem in Schles-     dem neuen Konzept die Rahmenbedin-
wird neben der Stadt auch der Kreis         wig der Housing-First-Ansatz umgesetzt      gungen für Wohnungslose deutlich ver-
Schleswig-Flensburg eingebunden sein,       werden wird. Braungard: »Indem die          bessern zu können. »Wir machen den
beide wollen sich die Kosten der wohn-      Stadt sich der Herausforderung einer        Veränderungswillen der Stadt deutlich«,
begleitenden Hilfen teilen.                 echten Wohnraumversorgung für Woh-          sagt Fachbereichsleiterin Pfannkuch,
   Bislang müssen Wohnungslose nicht        nungslose mit Mietvertrag stellt, nimmt     »überhaupt muss das Thema Obdach-
nur in Schleswig erst ihre Wohnfähig-       sie eine Vorreiterrolle ein.«               losigkeit gesellschaftlich überall nach
keit nachweisen, bevor sie Aussicht auf        Die Bauträgerschaft für das Wohnpro-     vorne geschoben werden. Es muss künf-
eine eigene Wohnung haben. Sie müssen       jekt soll die Diakonie-Stiftung Schles-     tig das A-Thema sein, nicht mehr ein B-
zunächst beispielsweise Suchttherapien      wig-Holstein in enger Zusammenarbeit        oder C-Thema.«
beginnen oder sich um die Ausstellung       mit der HEMPELS-Stiftung überneh-

HE MPE L S # 303 8/202 1                                                                                                 TITEL | 23
TITEL

                                            Politik und Obdachlosigkeit:

                                        Es wird Zeit
                                                     KOMMENTAR: HOLGER FÖRSTER

   Das Statistische Bundesamt weiß              Arbeit und Soziales hat bisher niemand    gesundheitliche Zustand von Obdach-
fast alles über Land und Bürger, so             die Zeit gefunden, die Anzahl der Woh-    losen häufig schlecht ist und das Risiko
zum Beispiel, dass jeder zweite Haus-           nungslosen ermitteln zu lassen. Eine      einer vorzeitlichen Sterblichkeit um
halt eine Immobilie besitzt oder dass es        Statistik über die Zahl der Wohnungs-     das drei- bis vierfache erhöht ist. Das
genau 22.865 Menschen gibt, die schon           losen gibt es nicht – die Schätzungen     erreichte Durchschnittsalter liegt bei
2016 mehr als eine Million Euro jähr-           liegen zwischen 337.000 und 680.000       42 bis 52 Jahren. Es ist ein Elend!
lich versteuert haben. Deutschland ist          Menschen Personen. Keiner weiß et-           Für die konkrete (Über-)Lebenshilfe
ein reiches Land. Und ein gut verwalte-         was Genaues. Es ist wohl unwichtig. Es    sind die Kommunen zuständig. Deren
tes Land. Alles Wichtige wird gewogen           ist ein Elend!                            Leistungsfähigkeit und Leistungswille
und gezählt, in Statistiken gefasst und             Immerhin sind dem Ministerium         sind regional sehr unterschiedlich aus-
ausgewertet. Aber von den 1200 Mit-             die Auswirkungen der Wohnungslo-          geprägt. Ohne ehrenamtliches Enga-
arbeiterinnen und Mitarbeitern des              sigkeit durchaus bekannt, so teilt eine   gement würde die Grundversorgung
zuständigen Bundesministeriums für              Sprecherin auf Befragen mit, dass der     Wohnungsloser in fast allen Kommunen

                                                                                                                                Foto: Pixabay

Ein Matratzenlager, so wie es bislang häufig für Obdachlose deren Rückzugsort ist.

24 | T I T E L                                                                                                HEMPEL S # 303 8/202 1
vollständig zusammenbrechen. Suppen-      ber gefordert. Er tut nichts. Egal ob es     die stärkeren Argumente. In Deutschland
küchen, Tagesaufenthalte, Übernach-       Desinteresse ist oder Staatsversagen: Es     werden Obdachlose überwiegend dabei
tungsmöglichkeiten, Wärmebusse und        ist ein Elend!                               unterstützt, das Leben auf der Straße zu
vieles mehr werden oft durch einzelne         Aber es gibt Hoffnung: Das EU-           überleben. Finnland hat mit dem Projekt
Bürger, Vereine und kirchliche Einrich-   Parlament hat die Mitgliedstaaten am         »Housing First« einen anderen Ansatz
tungen getragen. Das Steueraufkom-        24.11.2020 aufgefordert, ihrer Haupt-        gefunden: Erst wird den Betroffenen eine
men in Ländern und Kommunen wird          verantwortung für die Bekämpfung der         Wohnung angeboten, und von diesem
für vieles eingesetzt – die Ärmsten der   Obdachlosigkeit nachzukommen, Maß-           sicheren Ort aus können sie dann Kraft
Armen sind auf ehrenamtliches Engage-     nahmen zur Prävention und für früh-          sammeln und die weiteren Schritte ange-
ment angewiesen. Es ist ein Elend!        zeitiges Eingreifen zu erarbeiten und        hen, um wieder in ein normales Leben zu
   Die Würde des Menschen ist unan-       Obdachlosen bei ihrer Wiedereinglie-         finden. Natürlich kosten die Wohnungen
tastbar! Bereits 1976 trat in der Bun-    derung in die Gesellschaft zu helfen. Bis    zunächst einmal Geld, aber dafür gibt
desrepublik der »Internationale Pakt      2030 soll es in der EU keine Obdachlo-       es weniger Notfälle, Übergriffe, Verlet-
über wirtschaftliche, soziale und kul-    sen mehr geben. HEMPELS hat im Bun-          zungen, Zusammenbrüche. Polizei, Ge-
turelle Rechte« in Kraft. In Artikel 11   desministerium für Arbeit und Soziales       sundheits- und Justizsystem sind seltener
wird ausdrücklich das Recht eines je-     nachgefragt, ob und wie die Bundesre-        gefordert, und das spart. Insgesamt gibt
den auf einen angemessenen Lebens-        gierung dieser Entschließung nachkom-        der finnische Staat für einen obdachlosen
standard, ausreichende Ernährung,         men will. Eine Sprecherin antwortete:        Menschen dadurch 15.000 Euro weniger
Bekleidung und Unterbringung aner-        »Die Bundesregierung ist sich bewusst,       pro Jahr aus. Auch in Wien ist das Prinzip
kannt. Trotzdem haben Wohnungslose        dass dies eine große Herausforderung         »Housing First« seit 2012 außerordent-
häufig keinen Zugang zur klassischen      darstellt. Den Kommunen kommt bei            lich erfolgreich und gehört seit 2016 zum
Gesundheitsvorsorge, sie haben nur sel-   der Verwirklichung dieses Ziels eine         Standardangebot der Obdachlosenhilfe.
ten einen Krankenversicherungsschutz,     große Rolle zu«. Wer die Sprache von            Wenn es uns gelingt, dieses Hilfskon-
sie werden häufiger Opfer von Gewalt-     Pressesprecherinnen- und -sprechern          zept auch in Deutschland flächendeckend
taten, sie können ihre Habseligkeiten     zu deuten weiß, kann nur feststellen: Es     umzusetzen, dann nimmt, im Zusam-
nicht sichern und finden häufig genug     ist und bleibt ein Elend!                    menwirken mit ergänzenden Hilfsmaß-
keinen Schlafplatz. Hier sind nicht nur       Aber wo Empathie und Sozialpolitik       nahmen, das Elend vielleicht doch noch
die Kommunen, hier ist der Gesetzge-      versagen, hat die Finanzpolitik vielleicht   mal ein Ende. Es wird Zeit!

                    Was meint obdach-,
                    was wohnungslos?
   Obdachlosigkeit und Wohnungs-          Verfügung steht. Auch Selbstzahler           offizielle Berichterstattung gibt, ist
losigkeit werden oft verwechselt oder     in Billigpensionen zählen zu diesem          die Bundesarbeitsgemeinschaft Woh-
gleichgesetzt. Im allgemeinen Sprach-     Kreis.                                       nungslosenhilfe (BAGW) auf Schät-
gebrauch ist eine Person dann woh-           Obdachlosigkeit hingegen ist ein          zungen angewiesen: Etwa 680.000
nungslos, wenn sie über keinen eigenen    Teilbereich der Wohnungslosigkeit und        Wohnungslose und 40.000 Obdachlose
Wohnraum verfügt und beispielsweise       betrifft Menschen, die keinerlei Unter-      leben demnach in Deutschland. PB
bei Freunden oder Bekannten lebt. Als     kunft haben und im öffentlichen Raum
wohnungslos gilt auch, wer in einer       wie Parks, Gärten oder unter Brücken
Notunterkunft untergebracht ist oder      übernachten. Etwa seit Ende der Nul-
in einer kommunalen Einrichtung le-       lerjahre ist in Deutschland ein deutli-
ben muss, zum Beispiel einem Frauen-      cher Anstieg der Fallzahlen festzustel-
haus, weil kein eigener Wohnraum zur      len. Da es keine amtliche Statistik oder

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