DIE SCHULUNG DES ZAHLENBLICKS BEI DER ABLÖSUNG VOM ZÄHLEN - EINE QUALITATIVE EIN-ZELFALLSTUDIE ZU BEZIEHUNGEN, STRUKTUREN UND RECHNENLERNEN (BESTER)
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Die Schulung des Zahlenblicks bei der Ablösung vom Zählen – eine qualitative Ein- zelfallstudie zu Beziehungen, Strukturen und Rechnenlernen (BeSteR) CHARLOTTE RECHTSTEINER, LUDWIGSBURG & MICHAELA SCHEFFKNECHT, ST. GALLEN Zusammenfassung: Im Mittelpunkt der Einzelfallstu- Einigkeit besteht auch darüber, dass bei Kindern mit die stehen die Deutungen und Begriffsentwicklungen besonderen Schwierigkeiten beim Mathematikler- eines zählend lösenden Kindes mit teilweise abge- nen die gleichen Lernprozesse angeregt werden speichertem Basiswissen im Rahmen einer auf der müssen wie bei allen Kindern einer Klasse (u. a. Gai- Konzeption der Zahlenblickschulung basierenden doschik et al., 2021; Lorenz, 2003; Meyerhöfer, Förderung. In der interpretativen Analyse des För- 2011). Ungeklärter ist indes, wie genau sich die Ab- derverlaufs von 13 Fördereinheiten wird der Blick so- lösung vom zählenden Rechnen vollzieht und wie wohl auf die Entwicklung strategischer Werkzeuge diese bei Kindern, die bereits im zählenden Rechnen als auch auf das Erkennen und Nutzen von Aufgaben- verfestigt sind, systematisch angeregt werden kann. merkmalen sowie Zahl- und Aufgabenbeziehungen 2. Theoretische Hintergründe gerichtet. Herausgearbeitet werden konnten zwei Gestaltungsmerkmale, die für die Nutzung von Bezie- 2.1 Ebenen bei der Analyse von Lösungswegen hungen sowohl während als auch nach der Ablösung vom Zählen zentral zu sein scheinen. Um die Kinder bei der Entwicklung ihrer Lösungs- wege unterstützen zu können, sollten genutzte Abstract: The individual case study focuses on the in- Denk- und Lösungswege detailliert analysiert wer- terpretations and conceptual development of a child den. Dabei kann zwischen drei Ebenen unterschie- who is counting while solving a number problem, den werden: der Ebene der Formen, des Referenz- partially drawing on her stored basic knowledge. The kontextes und der Lösungswerkzeuge (Rathgeb- child’s number concepts, notions on operations and Schnierer, 2011) (Abb. 1). strategic means were developed based on a concept designed to foster “Zahlenblick”. We analyzed the child’s developmental process throughout 13 learn- ing units with an interpretative approach. We aimed understand the child's development of strategic means and her ability to recognize and use the task’s characteristics, number patterns and numerical rela- tionships. Two main characteristics seem to be cen- tral for the child’s ability to use relationships when solving problems. 1. Einleitung Abb. 1: Ebenen bei der Analyse des Lösungsprozesses (modi- fiziert nach Rathgeb-Schnierer, 2011, S. 16; Rechtstei- Die Ablösung vom zählenden Rechnen gilt als das ner & Wessolowski, 2021, S. 32) zentrale Ziel des Arithmetikunterrichts der ersten Klasse (u. a. Gaidoschik, 2014). Das zählende Lösen Auf der Ebene der Formen werden die sichtbaren Lö- ist nicht nur zeitaufwendig und fehleranfällig, son- sungswege unterschieden: das schriftliche Rechnen, dern provoziert ein einseitiges Verständnis von Zah- das gestützte Kopfrechnen und das Kopfrechnen. len als Ordinalzahlen (Gerster, 2005; Schipper, Die Ebene der Lösungswerkzeuge beschreibt hinge- 2002). Dadurch werden operative Zusammenhänge gen die Werkzeuge, die auch kombiniert bei Lösen weder gesehen noch genutzt (Gaidoschik, 2014; Hä- genutzt werden können: das Zählen, den Faktenab- sel-Weide, 2016). Gelingt die Ablösung vom zählen- ruf sowie die strategischen Werkzeuge. Die Ebene den Rechnen im Laufe der ersten Klasse nicht, wer- der Referenzen fokussiert, worauf sich der/die Lö- den sowohl im Rahmen des regulären Unterrichts als sende stützt – auf Zahl-, Term- und Aufgabenbezie- auch ergänzend Förderangebote notwendig (Gai- hungen oder auf ein Verfahren. Von einem Verfah- doschik et al., 2021), die diagnosegeleitet am Kind ren spricht man dann, wenn der genutzte Lösungs- ausgerichtet sind (u. a. Gerster, 2009; Lorenz, 2005). weg unabhängig von den jeweiligen Aufgabeneigen- schaften eingesetzt wird. Werden hingegen Zahl-, mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 1
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht Term- oder Aufgabenbeziehungen (Rechtsteiner- können mit Hilfe von Schüttelkästen, Punktebildern Merz, 2013) erkannt und die damit verbundenen in- o. ä. erzeugt werden. Dabei können Kinder verfah- härenten Strukturen für die Entwicklung des Lö- rensorientiert vorgehen und die handelnd generier- sungswegs genutzt, wird von einer Orientierung an ten Zerlegungen notieren ohne sie im Kontext der Beziehungen ausgegangen (Rathgeb-Schnierer, zerlegten (An-)zahl oder der anderen Terme zu be- 2011). trachten (Link & Kuratli Geeler, 2021). Ebenso kön- nen sie Zahlenhäuser durch ordinales Vor- oder Bei Kindern mit besonderen Schwierigkeiten beim Rückwärtszählen der Summanden erstellen (Häsel- Mathematiklernen lässt sich der Lösungsprozess in Weide, 2016). Werden jedoch Beziehungen zwi- der Regel folgendermaßen beschreiben: Auf der schen den Termen (z. B. durch gegensinniges Verän- Ebene der Lösungswerkzeuge nutzen sie überwie- dern) sowie zum Standardterm erkannt, wird der In- gend das Zählen, können aber vereinzelt auch Fak- halt Zerlegen mit den beziehungsorientierten Her- ten abrufen (u. a. Gaidoschik, 2010). Strategische ausforderungen verknüpft. Ebenso lassen sich ver- Werkzeuge spielen bei ihnen in der Regel keine fahrensorientierte Lösungswege beim Nutzen stra- Rolle. Im Lösungsprozess stützen sie sich folglich auf tegischer Werkzeuge beobachten (Rechtsteiner- ein Verfahren und nutzen keine Zahl-, Term- oder Merz, 2013), wenn unabhängig von den Zahl- und Aufgabenbeziehungen (Rechtsteiner-Merz, 2013; Aufgabenmerkmalen bei der Addition stets der vgl. Kap. 2.2). zweite Summand zerlegt wird. 2.2 Die Ablösung vom zählenden Rechnen In einer Studie von Rechtsteiner-Merz (2013) mit Das zählende Rechnen (zählende Lösen) wird als ein 20 Kindern, die Schwierigkeiten beim Rechnenler- Hauptmerkmal bei Rechenschwierigkeiten angese- nen zeigten, wurden die Rechenwegsentwicklungen hen (u. a. Gaidoschik, 2010; Schipper, 2002). Auf zwischen Mitte Klasse 1 und Anfang Klasse 2 unter- dem Weg zum Rechnen müssen sowohl inhaltliche sucht. Dabei konnten verschiedene Rechnertypen als auch beziehungsorientierte Herausforderungen identifiziert werden (Abb. 2). Während die grau hin- überwunden werden. terlegten Typen eher Anfangs- und Zielstadien re- präsentieren, die so auch aus der Literatur bekannt Zu den inhaltlichen Herausforderungen zählen die sind, beschreiben die Typen in den weißen Kästchen Entwicklung eines umfassenden Zahlbegriffs sowie Zwischentypen, die sich im Laufe des Lernprozesses eines grundlegenden Verständnisses für die Rechen- zeigen (siehe Rechtsteiner-Merz, 2013). Es konnte operationen (u. a. Gaidoschik et al., 2021; Gerster, herausgearbeitet werden, dass die Kinder, die sich 2009; Lorenz, 2005). Umgekehrt bedeutet dies, dass vom zählenden Rechnen ablösen (im Schaubild zu- Kinder mit einseitigem Zahl- und Operationsver- nehmend rechts), während des Lernprozesses min- ständnis und ohne strategische Werkzeuge Schwie- destens in einer Phase teilweise (im Schaubild im rigkeiten im Lernprozess zeigen und die genannten Oval) oder überwiegend (im Schaubild zunehmend Herausforderungen für sie zu Stolpersteinen wer- oben) Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen wahr- den, weshalb sie schließlich zählende Lösungswege nehmen und (teilweise auch) nutzen. Außerdem nutzen müssen, die sich verfestigen (Kaufmann & zeigte sich, dass Kindern, die während des gesamten Wessolowski, 2015; Schipper, 2002). Lernprozesses ausschließlich über substanzielle Ga- Mit den beziehungsorientierten Herausforderungen ranten und ohne Rückgriff auf Beziehungen argu- wird die Entwicklung eines Blicks für Zahl-, Term- mentieren und also kaum bis keine Beziehungen und Aufgabenbeziehungen verbunden (Rechtstei- wahrnehmen, die Ablösung vom zählenden Lösen ner-Merz, 2013). Bereits Ellemor-Collins und Wright nicht gelingt (ebd.). Wie bei Rathgeb-Schnierer (2009) kommen zum Schluss, dass die Strukturie- (2006) wurde darüber hinaus auch in dieser Studie rung der Zahlen (u. a. Zahleigenschaften erkennen, deutlich, dass das Erkennen von Zahl- und Aufgaben- Zahlen in Beziehung zu anderen Zahlen setzen) eine merkmalen allerdings nicht unmittelbar zu deren Brücke zwischen zählenden und nicht zählenden Lö- Nutzen beim Lösen führt (Rechtsteiner-Merz, 2013). sungsstrategien darstellt und damit die Ablösung Mit anderen Worten, Kinder nehmen bspw. die vom Zählen unterstützt. Nähe zu einer Hilfsaufgabe wahr und beschreiben diese, lösen dann die Aufgabe aber dennoch zählend Das Zusammenspiel zwischen den inhaltlichen und oder über das Ergänzen zur Zehn, sie greifen dabei beziehungsorientierten Herausforderungen lässt also nicht auf das zuvor wahrgenommene und be- sich am Beispiel des Zerlegens im Rahmen der Zahl- schriebene Aufgabenmerkmal zurück. begriffsentwicklung verdeutlichen: Zerlegungen mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 2
Abb. 2: Typen bei der Ablösung vom zählenden Rechnen (Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 243) Gray und Tall (1994) beschreiben, dass auf dem Weg Muster erkannten und sich eher an äußeren Gestal- zum Rechnen sogenannte „procepts“ entwickelt tungsmerkmalen orientierten, verknüpften „starke“ werden müssen. Dieses Wort setzt sich aus den Be- (ebd., S. 212) Kinder numerische und räumliche griffen Prozess und Konzept zusammen. Mit Prozess Strukturen. Winjs et al. (2021) untersuchten in einer fassen die Autoren den arithmetischen Blick auf Auf- Langzeitstudie über drei Jahre hinweg die numeri- gaben, der zum Rechnen auffordert. Mit Konzept be- schen und Musterfähigkeiten von Kindergartenkin- zeichnen sie den algebraischen Blick auf Aufgaben, dern. Dabei wiesen die Entwicklung des Zahlbegriffs der numerische Beziehungen und Strukturen in den und der Strukturierungsfähigkeit im Alter zwischen Mittelpunkt rückt. Nach Gray (2008) zeigt sich in der vier und fünf Jahren eine wechselseitige Abhängig- Verbindung der Betrachtung eines Terms als Auffor- keit auf. Zwischen fünf und sechs Jahren hingegen derung zum Rechnen und der Wahrnehmung der zeigte sich die Fähigkeit im Umgang mit Mustern als Struktur der Schritt zum Rechnenlernen. Auch Häsel- Prädiktor für die numerischen Fähigkeiten, jedoch Weide (2016) betont die Wichtigkeit der Strukturo- nicht umgekehrt. Björklund et al. (2021) beobachte- rientierung beim Rechenlernen. Bei der Ablösung ten über 2000 Kinder im Alter von vier bis sieben Jah- vom zählenden Rechnen erwies sich bei ihr als ent- ren beim Lösen von Additions- und Subtraktionsauf- scheidend, dass die Alternativen zum Zählen nicht gaben. Sie betonen, dass Kinder sowohl inhaltliche mechanisch, sondern beziehungsorientiert sind Herausforderungen (Zahlaspekte, Teil-Ganze-Zerle- (ebd.). Kinder nehmen „struktur-fokussierende Deu- gungen) als auch die beziehungsorientierten Heraus- tungen von Aufgaben“ (ebd., S. 209) vor, indem sie forderungen meistern müssen, indem sie erlernen die Wirkung der Veränderungen der Zahlen einer Aufgaben in Beziehungen zu sehen, um diese lösen Aufgabe in den Blick nehmen. Auch Purpura et al. zu können (ebd.). (2016) bezeichnen die Entdeckung der mathemati- Der aktuelle Forschungsstand macht deutlich, dass schen Beziehungen als einen der wichtigsten Fakto- für die Ablösung vom zählenden Rechnen beide Her- ren, um unbekannte Aufgaben flexibel lösen zu kön- ausforderungen gefördert werden müssen: die in- nen. Diese Erkenntnisse zum Rechnenlernen von haltliche (mit der Zahlbegriffsentwicklung und dem Kindern im schulischen Kontext gehen mit der For- Verständnis für die Rechenoperationen,) und die be- schung zum frühen mathematischen Lernen einher. ziehungsorientierte. Verschiedene Studien weisen Zusammenhänge zwi- schen der Entwicklung numerischer Fähigkeiten und 2.3 Zahlenblick und Zahlenblickschulung dem Musterverständnis von Kindern auf (u. a. Lü- In der Konzeption zur Schulung des Zahlenblicks ken, 2012; Mulligan et al., 2006; Wijns et al., 2021). werden beide Aspekte – die inhaltlichen und bezie- In einer Studie von Lüken (2012) wurde deutlich, hungsorientierten Herausforderungen – integriert dass am Ende des Kindergartens in Bezug auf Muster gefördert (Abb. 3), verbunden mit dem Ziel der Ab- deutliche Unterschiede sichtbar werden. Während lösung vom zählenden Rechnen und der Entwicklung „schwache“ (ebd., S. 211) Kinder nur einfache mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 3
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht flexibler Rechenkompetenzen (Rechtsteiner-Merz, Beziehungen, zum Erkennen von Zusammenhängen 2013; Schütte, 2004). sowie zum operativen Verändern von Aufgaben und Termen an (Rechtsteiner, 2020). Bei Aktivitäten, die 2.3.1 Konzeption der Zahlenblickschulung das Sortieren anregen, werden die Kinder aufgefor- Zahlenblick kann als Blick für Beziehungen und dert, Punktebilder oder Aufgaben nach subjektiven Strukturen verstanden werden, wobei Zahl- und Auf- (z. B. „einfach“ und „schwierig“ bzw. nach Schütte gabenmerkmale wahrgenommen und für das aufga- (2004) „leicht“ und „schwer“) oder objektiven (z. B. benadäquate Lösen genutzt werden (Rathgeb- mit und ohne Zehnerübergang) Kriterien zu sortie- Schnierer, 2006; Schütte, 2002, 2008). Dabei kann es ren (Rathgeb-Schnierer, 2006). Verbunden mit der sich um Zahl-, Term- oder Aufgabenbeziehungen Tätigkeit des Sortierens rückt das Erkennen von Auf- handeln, womit auch die Deutung der inhärenten gabenmerkmalen und Beziehungen in den Mittel- Strukturen verbunden ist (Akinwumni & Lüken, punkt. Bei Aktivitäten des Strukturierens werden 2021). Die Notwendigkeit zur Schulung des Zahlen- Mengen (Anzahlen), Terme, Aufgaben oder Glei- blicks findet sich bereits bei Menninger (1940). Mit chungen entsprechend ihrer Beziehungen zueinan- ihr einher geht die Forderung, den Rechendrang der der angeordnet. Aktivitäten des Strukturierens fo- Kinder aufzuhalten und so den Blick auf die Zahl- und kussieren damit das Erkennen, Entwickeln und Dar- Aufgabenmerkmale zu lenken (Höhtker & Selter, stellen von Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehungen 1999; Menninger, 1940). Schütte (2002, 2008) be- (Rechtsteiner, 2020). tont dabei die Wichtigkeit, die Aktivitäten von vorn- herein so zu gestalten, dass diese nicht primär das Lösen, sondern das Erkennen von Zahl- und Aufga- benmerkmalen sowie die damit verbundenen Bezie- hungen fokussieren. Dies kann als Grundkonzeption für das arithmetische Lernen in der Grundschule (und darüber hinaus) be- trachtet werden (Rechtsteiner-Merz, 2013; Schütte, 2008). Alle Aktivitäten zur Zahlbegriffsentwicklung und zum Rechnenlernen (Entwicklung von Operati- onsverständnis und von strategischen Werkzeugen) in den verschiedenen Operationen sind demnach so aufgebaut, dass sie den Rechendrang aufhalten und damit verbunden Zahl- (z. B. die Nähe zur Zehn), Term- (z. B. 4 + 3 = 5 + 2) und Aufgabenbeziehungen (betrifft den Vergleich der gesamten Gleichung, z. B. 3 + 3 = 6, dann ist 3 + 4 eins mehr) in den Mittelpunkt rücken. Wie in Abbildung 3 dargestellt, wird der Rechen- Abb. 3: Modell zur Zahlenblickschulung (modifiziert nach drang in einem Wechselspiel aus der Gestaltung der Rechtsteiner-Merz, 2013, S. 103) Aktivitäten und der Anregungen zur Reflexion durch Je nachdem, an welcher Stelle im Lernprozess wel- andere Kinder oder durch die Lehrkraft aufgehalten. che Aktivität eingesetzt wird, spielen Anschauungs- Die Aktivitäten sind so konzipiert, dass in Verbin- mittel eine zentrale Rolle bei der Entwicklung, beim dung mit dem jeweiligen arithmetischen Inhalt Tä- Beschreiben und Beweisen von Vorstellungen (u. a. tigkeiten zum (strukturierenden) Sehen, Sortieren o- Rathgeb-Schnierer & Rechtsteiner, 2018). Während der Strukturieren einhergehen (Rechtsteiner-Merz, durch die Tätigkeiten zunächst der Rechendrang auf- 2013). Unter (strukturierendem) Sehen werden Tä- geschoben wird, regen die Impulse und Fragestel- tigkeiten verstanden, die das schnelle Wahrnehmen lungen durch die Lehrkraft oder die Mitschüler:in- von Anzahlen, Zahl-, Term- und Aufgabenbeziehun- nen zum weiteren Nachdenken – auch auf einer al- gen fokussieren. Dabei spielt stets auch das Struktu- gebraischen Metaebene – an. rieren eine Rolle, die Aktivitäten gehen über das reine Hinschauen hinaus. Damit regen solche Aktivi- Neben der Gestaltung der Aktivitäten spielen die An- täten zum geschickten, mehrperspektivischen Sehen regungen zur Reflexion durch andere Kinder oder die von Anzahlen, Zahlen, Termen und deren Lehrkraft eine zentrale Rolle. Durch Impulse und mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 4
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht Fragestellungen wird der Blick auf Zahl-, Term- und lernförderlicher Situationen: im Lernprozess in Form Aufgabenbeziehungen und damit die inhärenten von „strukturfokussierenden adressatengerechten Strukturen gelenkt. Während mit Impulsen Auffor- Impulsen“ (S. 349) sowie bei der inhaltlichen Fokus- derungen, Aussagen, Irritationen etc. verbunden sierung übergreifender mathematischer Strukturen. sind, werden unter Fragestellungen konkrete Nach- fragen oder Aufforderung zur Begründung verstan- 2.4 Gestaltungsmerkmale für die Förderung den. Die Schulung des Zahlenblicks ist also so konzi- Gelingt im Laufe der ersten Klasse die Ablösung vom piert, dass der Zähl- und Rechendrang durch die zählenden Rechnen nicht, wird eine diagnosegelei- Kombination aus der Gestaltung der Aktivitäten und tete Förderung notwendig (Gaidoschik, 2010; Gai- der gezielten Anregung zur Reflexion aufgehalten doschik et al., 2021; Häsel-Weide & Prediger, 2017). wird und die Beziehungen in den Blick rücken. Hierfür lassen sich verschiedene Gestaltungsmerk- Bezogen auf die Ablösung vom zählenden Rechnen male herausarbeiten. bedeutet dies, dass die Aktivitäten zur Schulung des Wie in Kapitel 2.2 beschrieben, sind beim Rechnen- Zahlenblicks die inhaltlichen Herausforderungen lernen sowohl arithmetische Inhalte, als auch Zahl-, („Arithmetische Inhalte“, Abb. 3) aufgreifen und Term- und Aufgabenbeziehungen (u. a. Häsel- durch ihre Gestaltung (Tätigkeiten und Anregungen Weide, 2016; Rechtsteiner-Merz, 2013) zu adressie- zur Reflexion) gleichzeitig die beziehungsorientier- ren. ten Herausforderungen adressieren. Durch Anschauungsmittel wird dabei zunächst die 2.3.2 Zahlenblick und (flexibles) Rechnen lernen enaktive Auseinandersetzung als Grundlage für die In verschiedenen Studien zeigte sich, dass die Schu- anschließende Entwicklung mentaler Vorstellungen, lung des Zahlenblicks die Entwicklung flexibler Re- deren Beschreibungen und Reflexion angeregt, chenkompetenzen bei allen Kindern unterstützt wodurch Strukturen verinnerlicht werden können (Heinze et al., 2015; Rathgeb-Schnierer, 2006). In ei- (u. a. Lorenz, 2011). Dafür sind Lehr- und Lernsitua- ner Untersuchung zur Rechenwegsentwicklung von tionen notwendig, in denen Deutungen und Ideen Erstklässler:innen mit Schwierigkeiten beim Rech- von entdeckten Zusammenhängen argumentativ nenlernen (Rechtsteiner-Merz, 2013) erwies sich die entwickelt werden können (Häsel-Weide, 2016; Kor- Zahlenblickschulung als zentrales Element auf dem ten, 2020). Die Aktivitäten sind so zu gestalten, dass Weg zum (flexiblen) Rechnen. Zum einen wurde sie zum aktiv-entdeckenden Lernen sowie zur Ent- deutlich, dass dadurch die Ablösung vom zählenden wicklung eigener Lösungswege anregen (u. a. Lo- Rechnen unterstützt wird (ebd.), und zum anderen renz, 2003; Scherer, 1999). konnten die Kinder, die sich auf Beziehungen stütz- Wie oben beschrieben erweisen sich neben der Ak- ten, überwiegend flexible Rechenkompetenzen ent- tivität auch „‘strukturfokussierende adressatenge- wickeln (ebd.). In einer Studie von Häsel-Weide rechte Impulse‘“ (Korten, 2020, S. 351) als zentrales (2016) hingegen deuten die Analysen darauf hin, Gestaltungsmerkmal für lernförderliche Situationen, dass Kinder, die zählend lösen, z. B. bei Zahlzerle- was das Zusammenspiel der beiden Aspekte – Akti- gungen in Zahlenhäusern zwar eine „struktur-fokus- vität und Impulse – hervorhebt. In der Studie von sierende Sicht auf Zahlen einnehmen“ (ebd., S. 209), Purpura et al. (2016) wird auch die Bedeutung von jedoch nicht auf Aufgabenbeziehungen. Die Kinder Impulsen für das flexible Rechnen hervorgehoben. nahmen zwar das Muster der Veränderung einzelner Nur die Gruppe der Kinder in der ersten Klasse, bei Zahlen wahr (z. B. Veränderung eines Summanden) denen beim Rechnenlernen der Blick durch explizite und konnten dieses auch folgerichtig fortsetzen, er- Fragen und Hinweise gezielt auf Regelmäßigkeiten kannten jedoch nicht die Auswirkung dieser Verän- gelenkt wurde, konnte ihr Wissen auf neue, noch un- derung, bspw. auf die Summe. Dieses Phänomen bekannte Aufgaben mit dem gleichen Aufgaben- zeigte sich auch bei nicht zählend rechnenden Kin- merkmal übertragen. Dieses Ergebnis wird bestätigt dern, weshalb Häsel-Weide die Frage stellt, ob zu Be- durch Studien zur Zahlenblickschulung (u. a. Recht- ginn der zweiten Klasse eine operative Sicht auf Zu- steiner-Merz, 2013). sammenhänge noch nicht zu erwarten sei und eher von einer „‘proto-struktur-fokussierenden Deu- Wie verschiedene Untersuchungen zeigen, kann För- tung‘“ (ebd., S. 210) gesprochen werden müsse. Kor- derung auf der Grundlage der o. g. Gestaltungs- ten (2020) bezeichnet Strukturorientierung auf zwei merkmale sowohl im Rahmen des Regelunterrichts Ebenen als zielführendes Gestaltungsmerkmal als auch ergänzend dazu erfolgen. Häsel-Weide (2016) beobachtete die Rechenentwicklung bei mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 5
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht kooperierenden heterogenen Tandems von jeweils 2.5 Forschungsinteresse einem Kind, das zählend löste und einem mit deut- Die aktuelle Forschung verdeutlicht, dass beim Rech- lich besseren Leistungen in Mathematik innerhalb nenlernen sowohl inhaltliche als auch beziehungs- des regulären Unterrichts. Dabei zeigte sich, dass in orientierte Herausforderungen eine zentrale Rolle diesem Setting mit Hilfe gezielt struktur-fokussieren- spielen. Konsens besteht auch darüber, dass Im- der Lernangebote das Erkennen und Nutzen von pulse, die den Blick auf Beziehungen lenken, als lern- Strukturen angebahnt werden kann. Auch Götze förderlich angesehen werden. Die Schulung des Zah- (2019) untersuchte in einer Fallstudie zwei hetero- lenblicks stellt eine Konzeption für die Ablösung vom gene Tandems (bestehend aus jeweils einem Kind zählenden Rechnen und für die Entwicklung flexibler mit besonderen Schwierigkeiten beim Mathematik- Rechenkompetenzen dar. Die Merkmale „guter“ lernen und einem mit durchschnittlichen mathema- Förderung entsprechen jenen eines guten Mathe- tischen Kompetenzen) bzgl. der Entwicklung multi- matikunterrichts. Wie im Rahmen einer ergänzen- plikativer Vorstellungen. Sie kam zu dem Ergebnis, den Förderung die Ablösung vom Zählen (vor dem dass auch Kinder mit Schwierigkeiten beim Mathe- Hintergrund der oben genannten Grundsätze) und matiklernen in interaktiven Settings grundlegende damit verbunden die Entwicklung der Lösungswerk- Vorstellungen entwickeln können. Auch in der Un- zeuge verläuft, welche Rolle das Erkennen und Nut- tersuchung von Korten (2020) konnten im Kontext zen von Zahl- und Aufgabenmerkmalen und -bezie- beziehungsorientierter Aktivitäten lernförderliche hungen dabei spielt und welche Gestaltungsmerk- kooperative Momente beschrieben werden, in de- male sich daraus ableiten lassen, soll in dieser Studie nen sowohl Kinder mit als auch ohne sonderpädago- betrachtet und weiter ausdifferenziert werden. Dar- gischem Unterstützungsbedarf in der gemeinsamen aus ergeben sich folgende Forschungsfragen: Auseinandersetzung beim Mathematiklernen ihrem Niveau entsprechend voranschreiten konnten. Welches situative Potenzial zeigen Anregungen zum Stöckli (2019) untersuchte die Wirksamkeit einer Erkennen und Nutzen von Zahl- und Aufgabenmerk- verstehensorientierten unterrichtsintegrierten Ma- malen und -beziehungen (Referenzebene – struktur- thematikförderung in der dritten Klasse mit dem orientierte Herausforderungen) und zum Lösen von Schwerpunkt auf zentralen arithmetischen Inhalten. Aufgaben mit strategischen Werkzeugen (Ebene der Dabei konnten für Kinder mit unterdurchschnittli- Lösungswerkzeuge – inhaltliche Herausforderungen) chen Mathematikleistungen keine signifikanten Vor- bei einem Kind mit besonderen Schwierigkeiten beim teile festgestellt werden. Dies führte sie zu der An- Mathematiklernen während einer kontinuierlichen nahme, dass Kinder mit besonderen Schwierigkeiten diagnosegeleiteten Förderung mit Hilfe der Zahlen- beim Mathematiklernen eine stärkere Differenzie- blickschulung? Welche Hürden lassen sich rekonstru- rung und Passung zwischen dem Lernangebot und ieren? den individuellen Voraussetzungen benötigen als Lassen sich Gestaltungsmerkmale für die Förderung dies in der beschriebenen Studie gegeben war, so- ableiten, wenn ja, welche? wie eventuell eine zusätzliche Förderung in Klein- gruppen (ebd.). Parallelen zu diesen Vermutungen 3. Methodisches Vorgehen zeigen sich auch in der Studie von Moser Opitz et al. (2018), in der ersichtlich wurde, dass Kinder, bei de- 3.1. Datenerhebung nen das Zählen verfestigt ist, in der zweiten Klasse Im Verlauf von fünf Monaten wurden 13 Förderein- weniger von einer unterrichtsintegrierten Förderung heiten durchgeführt. Davon wurden zehn videogra- profitieren, als leistungsstärkere Mitschüler:innen. phiert (inklusive Diagnostik) und analysiert. Einerseits lässt sich also ableiten, dass eine koopera- tive Förderung innerhalb des regulären Unterrichts 3.1.1 Vorstellung Emi Potenzial für die Entwicklung von Beziehungsorien- Emi war Drittklässlerin und zeigte zu Beginn der För- tierung und zentralen arithmetischen Inhalten bie- derung massive Probleme im Mathematikunterricht, tet. Gleichzeitig deuten Studien auch darauf hin, weshalb sie zunehmend unter Angst sowie an psy- dass für Kinder, die verfestigt zählend lösen, auch zu- chosomatischen Symptomen litt. Die Situation war sätzliche Angebote förderlich sein können (Gai- für die Familie sehr belastend. In der Fördereinheit 1 doschik et al., 2021). (FÖ 1) wurde eine prozessbezogene Diagnostik im Zahlenraum 100 (ZR 100) in Anlehnung an Kaufmann & Wessolowski (2015) durchgeführt. Dabei zeigte Emi ein einseitiges Zahl- und Operationsverständnis, mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 6
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht löste Aufgaben in der Regel zählend, im ZR 10 teil- werden konnte, wird geprüft, ob sich weitere Aufga- weise auch durch Basisfaktenabruf. ben mit dem gleichen Aufgabenmerkmal in der Ka- tegorie „zähle ich“ befinden, die mit Hilfe des glei- 3.1.2 Aktivitäten zur Zahlenblickschulung im Rah- chen strategischen Werkzeugs gelöst werden kön- men der Förderung nen. Ziel dieser Phase ist es, ausgehend von einzel- Die durch eine der Autorinnen durchgeführte Förde- nen Aufgabenbeziehungen allgemeine Merkmale rung orientierte sich an den inhaltlichen und struk- herauszuarbeiten und die Aufgaben entsprechend turorientierten Herausforderungen (vgl. Kap. 2.2) auf algebraischer Ebene zu gruppieren. und wurde mit Hilfe von Aktivitäten zur Zahlenblick- (4) Aufgaben erfinden: Die Kinder werden angeregt, schulung durchgeführt. Zunächst wurde an der Zahl- Aufgaben mit dem gleichen Merkmal zu erfinden begriffsentwicklung und anschließend am Verständ- und zu notieren. Damit wird von der eher rezeptiven nis für die Rechenoperationen gearbeitet, jeweils Gruppierungsphase in die aktive Findungsphase mit dem Fokus auf Beziehungen. In dem hier vorge- übergegangen. stellten Teil ging es um die Entwicklung strategischer Werkzeuge in Verbindung mit dem Erkennen und Diese Aktivität mit ihren vier Phasen ist dem Sortie- Nutzen der Merkmale und Beziehungen (vgl. Kap. 2). ren zuzuordnen. Durch die Gruppierungsprozesse in- Im Rahmen der rekonstruierten Fördereinheiten fo- nerhalb einer Spalte bzw. zwischen den Spalten wer- kussieren wir im Zuge der besseren Vergleichbarkeit den ebenso wie beim Erfinden von weiteren Aufga- auf Aktivitäten zum Sortieren von Additions- oder ben auch strukturierende Tätigkeiten vorgenom- Subtraktionstermen, die im Folgenden in die Theorie men. Diagnostisch kann im Rahmen dieser Aktivität zur Zahlenblickschulung eingeordnet (vgl. Kap. 2.3.1) festgestellt werden, über welches Zahlverständnis und in Kapitel 4 detailliert analysiert. das Kind verfügt, welche strategischen Werkzeuge es kennt und welches Operationsverständnis es hat. Aufgaben sortieren: Aktivitäten zum Sortieren lassen Ebenso werden Begründungen zu Zahl- und Aufga- sich in vier Phasen gliedern (Rechtsteiner & Rathgeb- benmerkmalen und den Beziehungen sichtbar Schnierer, 2020): (1) Sortierung begründen, (2) Lö- (Termbeziehungen spielen beim Sortieren von Auf- sungsweg entwickeln, (3) Finden weiterer Aufgaben gaben keine Rolle). Dabei lässt sich erkennen, ob ein sowie Entwickeln einer allgemeinen Beschreibung Transfer bereits bekannter strategischer Werkzeuge und Begründung, (4) weitere Aufgaben erfinden. auf weitere Aufgaben oder einen erweiterten Zah- (1) Sortierung begründen: In der ersten Phase wer- lenraum möglich ist. Ausgehend davon werden die den die Kinder angeregt, die Aufgabenkarten – ohne weiteren Förderschritte angebahnt. In allen Phasen sie zu lösen – bspw. den Kategorien „zähle ich“, kann das Anschauungsmittel (z. B. der Abaco) zur „habe ich einen Trick“, „weiß ich auswendig“ zuzu- Klärung und zum Beweisen der angesprochenen Be- ordnen. Daran schließt sich ein Gespräch zur Begrün- ziehungen eingesetzt werden. Vernetzungen zwi- dung der Sortierung an. Das Kind wird gefragt, wa- schen den Repräsentationsebenen werden so er- rum die jeweiligen Aufgaben auswendig gekonnt, möglicht und sichtbar. mit Hilfe eines „Tricks“ (strategischen Werkzeugs) In den analysierten Fördereinheiten wurde nach der gerechnet werden können oder noch gezählt wer- Zahlbegriffsentwicklung im ZR 20 zunächst das Sor- den müssen. Dabei lassen sich innerhalb der Spalten tieren in „zähle ich“, „hab‘ ich einen Trick“, „weiß ich in der Regel weitere Gruppierungen vornehmen. Ziel auswendig“ (Kap. 4) angeregt; im höheren ZR 100 dieser Phase ist es, den Blick auf die Zahl- und Auf- nach objektiven („bleibt im Zehner“, „trifft den Zeh- gabenmerkmale zu lenken und dabei auch Aufga- ner“ und „geht über den Zehner“) und subjektiven benschwierigkeiten zu diskutieren. (nach Schütte (2004) in „leicht“ und „schwer“ ) Kri- (2) Lösungsweg entwickeln: Zunächst werden zu den terien. bereits auswendig gekonnten Aufgaben die Lösun- gen genannt und ggf. bereits gekonnte „Tricks“ dis- 3.2 Methodologie kutiert. Ausgehend davon wird nun ein neuer Lö- Um Deutungen von Kindern rekonstruieren zu kön- sungsweg entwickelt und untersucht, ob eine bereits nen, eignen sich die Methoden der interpretativen auswendig gewusste Aufgabe beim Lösen einer noch Forschung (Jungwirth, 2014). Im Mathematikunter- zu zählenden helfen kann. richt handelt es sich dabei um eine „forschungsme- (3) Finden weiterer Aufgaben: Nachdem auf diesem thodisch kontrollierte und theoretisch ausgewie- Weg ein neues strategisches Werkzeug entwickelt sene Rekonstruktion eines sich entwickelnden mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 7
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht Unterrichtsprozesses“ (Krummheuer, 2004). Laut kommt, wird eine neue Sequenz eröffnet. Jede Se- Jungwirth (2003) befasst sich die interpretative Ma- quenz wird allgemein (bzgl. Aktivität, Phase etc.) und thematik „etwa mit Vorstellungen von mathemati- konkret (bzgl. Aufgaben, Rollen etc.) beschrieben. schen Begriffen oder Aufgabenlösungen, ... sowie insbesondere mit den Lehr- und Lernprozessen 3.4 Datenauswertung selbst, also mit fachbezogenen unterrichtlichen In- Im Sinne der interpretativen Unterrichtsforschung teraktionen [...]“ (ebd., S 190). wird eine zweischrittige Analyse als Kombination ei- 3.2.1 Interaktionistische Perspektive nes interaktionistischen und epistemologischen Zu- gangs (Häsel-Weide, 2016; Korten, 2020) durchge- Die Interaktionstheorie sieht in der Interaktion mit führt. In der Datenanalyse ergänzen sich die beiden anderen die Grundlage für das Lernen (Schütte, Jung Perspektiven, wodurch Schlüsse und Zusammen- & Krummheuer, 2021). Mathematiklernen wird ver- hänge möglich werden (Korten, 2020). standen als „ein wechselseitig bezugnehmender Prozess von Außen […] und Innen.“ (ebd., S. 527). 3.4.1 Datenauswertung aus interaktionistischer Durch mathematische Interaktionsprozesse ergibt Perspektive sich die Möglichkeit, an der Aushandlung und Be- Die ersten zwei Schritte der Interaktionsanalyse deutungskonstruktion teilzunehmen und dabei Gliederung und allgemeine Beschreibung sind in Ka- durch einen gemeinsamen Entwicklungsprozess pitel 3.3 beschrieben. Die anschließende Erzeugung über die eigenen Fähigkeiten hinauszugehen. Die alternativer Interpretationen zu den einzelnen Äuße- Auswertung der Daten unter interaktionistischer rungen und die Turn-by-Turn Analyse wurden in ei- Perspektive erfolgt mithilfe der Interaktionsanalyse nem interpretativen Tandem mit weiteren externen (u. a. Brandt & Krummheuer, 2000; Krummheuer & Gesprächen zur Rückversicherung durchgeführt. Da- Naujok, 1999). bei wurden die sich daraus abgeleiteten Annahmen 3.2.2 Epistemologische Perspektive festgehalten. Diese beiden Analyseschritte wurden analog zu Korten (2020) mit der epistemologischen Wie Steinbring (u. a. 2000) betont, benötigt mathe- Analyse kombiniert (vgl. Kap. 3.4.2). Die sich an- matisches Wissen Zeichen- oder Symbolsysteme, schließende zusammenfassende Interpretation er- mit denen das Wissen erfasst und kodiert werden folgte mit Fokus auf die Forschungsfragen. Diese kann. Die Bedeutungen von solchen Zeichen oder Analyse wurde um komparative Elemente ergänzt, Symbolen müssen von den Kindern in passenden Re- wobei Interpretationen aus verschiedenen För- ferenzkontexten hergestellt werden. Indem Wissen dereinheiten verglichen wurden, um eine theoreti- weiterentwickelt wird, werden auch die Interpreta- sche Sättigung zu erreichen (Kap. 4.5) (Brandt & tionen der Zeichensysteme und dazugehörenden Krummheuer, 2000). Referenzkontexten angepasst und verallgemeinert, was die Konstruktion neuer Bedeutungen ermög- 3.4.2 Datenauswertung aus epistemologischer licht. Den Zusammenhang zwischen den Zeichen, Perspektive dem Referenzkontext und dem Begriff und den Die Analyse in Anlehnung an das epistemologische wechselseitigen Beziehungen zwischen den Berei- Dreieck ermöglicht es im Hinblick auf die For- chen lässt sich im epistemologischen Dreieck fest- schungsfragen, die Deutungsentwicklung und Be- halten (ebd.). griffsbildung auf beiden Ebenen – der Referenzen (strukturorientierte Herausforderungen) und der Lö- 3.3. Datenaufbereitung und -auswahl sungswerkzeuge (inhaltliche Herausforderungen) – Die zehn videographierten Fördereinheiten wurden zu rekonstruieren. Die Ebene des Zeichens wird zu- transkribiert und sequenziert. sätzlich zu visualisierten und/oder artikulierten Sym- bolen in Aufgabenstellungen ähnlich wie bei Korten Im ersten Lesedurchgang wurden die Transkripte in (2020) um Impulse erweitert, die die Fokussierung Sequenzen eingeteilt (Jungwirth, 2003). In diesem eines Zeichens auslösen. Der Referenzkontext wird Schritt sind die „Sinnabschnitte“ (ebd., S. 193) noch analog zu Häsel-Weide (2016) interpretiert, die auf grob und orientieren sich an der Abgeschlossenheit der Lösungsebene zwischen ordinaler und kardinaler der jeweiligen Aktivität mit den begleitenden Impul- Sichtweise und dadurch zwischen einem eher zäh- sen. In der Regel entsprechen die Sequenzen einer lenden und einem eher struktur-fokussierenden Aktivität. Falls es innerhalb einer Aktivität zu einer Kontext unterscheidet. mathematikdidaktisch relevanten Veränderung mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 8
Abb. 4: Adaptiertes epistemologisches Dreieck für Aktivitäten zum „Sortieren“ Diese Gliederung des Referenzkontextes wird in vor- (Kap. 2.2) in zwei Teile: die inhaltliche Ebene und die liegender Studie aufgegriffen und vor dem Hinter- Referenzebene, was auch den inhaltlichen und be- grund der Theorie zur Beschreibung der Ebenen im ziehungsorientierten Herausforderungen ent- Lösungsprozess (vgl. Kap. 2.1) weiter ausdifferen- spricht. Während auf der inhaltlichen Ebene bei die- ziert (s. u.). Die Konstruktionen neuer Bedeutungen ser Aktivität die Lösungswerkzeuge (Zählstrategien, werden durch Aussagen von Emi gestützt und die In- Abruf von Basisfakten und/ oder strategische Werk- terpretationen von diesen aus mathematikdidakti- zeuge) im Mittelpunkt stehen, greift die Referenz- scher Perspektive im Dreieck benannt. Dabei geht es ebene analog zu Abb. 1 die Frage nach der Verfah- im Wesentlichen um die „Konkretisierung und Präzi- rens- bzw. Beziehungsorientierung auf (Abb. 4). sierung der begrifflichen Beziehung [...] als Regulativ Während das Zählen stets als verfahrensorientiert der Beziehung zwischen Referenzkontext und Zei- angesehen wird, kann das Nutzen eines strategi- chen“ (Schülke, 2013, S. 107, Hervorhebung im Ori- schen Werkzeugs auf der Referenzebene sowohl ginal), wodurch Um-, Neudeutungen und das Ein- dem verfahrens- als auch beziehungsorientierten nehmen von neuen Sichtweisen erkennbar werden. Vorgehen zugeordnet werden, je nachdem ob sich Von besonderem Interesse sind dabei u. a. Mo- die/der Lösende auf Zahl-, Aufgabenmerkmale und - mente, die auf Veränderungen des Referenzkontex- beziehungen stützt, oder verfahrensorientiert und tes hindeuten, sowie Momente, in denen der Refe- unabhängig von ggf. erkannten Merkmalen vorgeht. renzkontext von Emi zum Zeichen wird, was auf eine Da das Abrufen von Basisfakten isoliert, in Kombina- vertiefende Auseinandersetzung mit dem mathema- tion mit zählendem Vorgehen oder mit dem Nutzen tischen Inhalt, dessen Durchdringung sowie auf ei- strategischer Werkzeuge vorkommen kann, ist die- nen Wechsel von der Verfahrens- zur Beziehungsori- ser Begriff seitlich mittig positioniert und wird je entierung hinweist (Korten, 2020). Laut Korten nach Auftauchen allein betrachtet oder in Kombina- (ebd.) ist auch dann von einer Weiterentwicklung in- tion mit dem jeweilig anderen Lösungswerkzeug dividueller Zugänge und Lösungsprozesse auszuge- gruppiert. Ist in der Auswertung eine eindeutige Zu- hen, wenn das Zeichen konstant bleibt, sich aber der ordnung möglich, wird diese mit Emis Aussage be- Referenzkontext und der Begriff ändern. gründet (kursive Darstellung) und der entspre- chende Rahmen fett markiert. Die Begriffsentwick- Konkret ist diese Vorgehensweise und die damit ein- lung leitet sich aus dem Zusammenspiel des Zei- hergehende Darstellung exemplarisch in Abbil- chens und des Referenzkontextes ab. Der Oberbe- dung 4 am Beispiel der Aktivität „Sortieren“ (vgl. griff wird im entsprechenden Feld festgehalten. Die Kap. 3.1.2), veranschaulicht: Als Zeichen werden hier Konkretisierung und Präzisierung der begrifflichen mathematische Symbole verstanden oder Impulse Beziehung in Bezug auf die Referenzebene und die und Fragestellungen, die Hinweise auf mathemati- inhaltliche Ebene wird unterhalb des Oberbegriffs sche Symbole beinhalten. Der Referenzkontext glie- kursiv dargestellt und im Text detaillierter ausge- dert sich analog zum Analysemodell der Lösungspro- führt. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen zesse (Kap. 2.1) und der Theorie zum Rechnenlernen mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 9
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht dem Zeichen, dem Referenzkontext und dem Begriff Anhang I dargestellte Aufteilung in die Sequenzen 1 sind durch Doppelpfeile verdeutlicht. bis 7. Ersichtlich ist, dass es sich um eine Schnittstelle von der Entwicklung des Zahlbegriffs zur Entwick- 4. Rekonstruktion und Interpretation lung der Rechenoperationen in Bezug auf strategi- In Kapitel 4 wird die Datenauswertung exemplarisch sche Werkzeuge handelt, auf die sich der Schwer- an einer Sequenz dargestellt. Eine erste Orientie- punkt ab Sequenz 4 verlagert. In Sequenz 6 steht nun rung bietet die Einbettung dieser sowohl in den För- also die Aktivität zum Sortieren im Mittelpunkt. Sie derverlauf als auch in die konkrete Fördereinheit. beginnt mit dem Wechsel von Phase (2) Lösungsweg Die interpretative Rekonstruktion der Sequenz er- entwickeln, mündet in Phase (3) Finden weiterer Auf- möglicht detaillierte Einblicke in die Beziehungsori- gaben (Anhang II) und endet mit dem Abschließen entierung von Emi sowie in die von ihr eingesetzten von Phase (4) Aufgaben erfinden (vgl. Kap. 3.1.2). Lösungswerkzeuge und lässt sich mit weiteren Se- Einordnung der Sequenz in die Förderung: In der quenzen vergleichen und kontrastieren. hier beschriebenen Sequenz aus FÖ 6 werden zum ersten Mal Aufgaben im ZR 20 sortiert. 4.1 Einordnung der ausgewerteten Sequenz in den Förderverlauf Einordnung der Sequenz in die Fördereinheit: In der FÖ 6 werden zunächst zwei Aktivitäten zur Zahlbe- Über den gesamten Förderzeitraum hinweg wurden griffsentwicklung mit Würfelbildern und zur menta- die in Kapitel 2.2 aufgeführten inhaltlichen Heraus- len Vorstellung von Punktebildern in der Blockdar- forderungen mit Hilfe unterschiedlicher reichhalti- stellung durchgeführt. Daran schließt sich die Aktivi- ger Aktivitäten thematisiert und in der Analyse re- tät zum Sortieren an. Die Sequenz 6 beginnt nach konstruiert. Vor dem Hintergrund der Diagnostik dem Sortieren der Kärtchen in die Kategorien „weiß wurde zunächst eine umfassende Zahlbegriffsent- ich auswendig“ „muss ich zählen“, „kenne ich einen wicklung angeregt. Dabei spielte die Entwicklung Trick“ und dem Gruppieren innerhalb der Kategorie kardinaler Vorstellungen mithilfe zahlreicher mate- „weiß ich auswendig“ nach den von Emi benannten rialgestützter Aktivitäten eine zentrale Rolle zum Aufgabenmerkmalen „Verdopplungsaufgaben“ und Aufbau mentaler Vorstellungen von (An-)Zahlen „Verliebte Zahlen“ (Zerlegungen der Zehn) (Phase durch Erfassen, Darstellen, Strukturieren und Zerle- (1)). Zu Beginn der Sequenz 6 liegen die von Emi sor- gen. Ausgehend von Würfel- und Fingerbildern wur- tierten Termkärtchen auf dem Tisch (Anhang II, den strukturierte Punktebilder in Block- und Reihen- links). Alle Kärtchen wurden in Sequenz 4 von Emi darstellung im Zehner- und Zwanzigerfeld eingesetzt ursprünglich den Kategorien „weiß ich auswendig“ und genutzt. oder „muss ich zählen“ zugeordnet. Beim schnellen In allen für diesen Artikel analysierten Sequenzen Nennen der Ergebnisse ihrer automatisierten Aufga- steht die Aktivität „Sortieren“ (Phasen (1) bis (4)) im ben fiel ihr auf, dass sie die Aufgaben 12 + 6 und Mittelpunkt. Die Aktivität Sortieren in „zähle ich“, 13 + 3 nicht abrief, sondern mit Hilfe einer Analogie „habe ich einen Trick“ und „weiß ich auswendig“ löste. Daher wurden diese in Sequenz 5 der Katego- wurde in der FÖ 5 eingeführt, in der Aufgaben im rie „kenne ich einen Trick“ zugeordnet. ZR 10 sortiert und teilweise gruppiert wurden. Es Allgemeine Beschreibung der Sequenz: Die Se- zeigte sich, dass Emi die meisten Aufgaben bis Zehn quenz 6 fokussiert die Aktivität zum Sortieren automatisiert hatte. In der im Folgenden beschrie- (ZR 20), mit den Phasen (3) Finden weiterer Aufga- benen Sequenz aus FÖ 6 werden zum ersten Mal ben und (4) Aufgaben erfinden. Ziel dieser Sequenz Aufgaben im ZR 20 sortiert (Anhang II). Da sich die ist es, auf der Basis der individuellen Lernvorausset- Aktivität „Sortieren“ (nach unterschiedlichen Krite- zungen strategische Werkzeuge zu entwickeln. Kon- rien) wie ein roter Faden durch alle folgenden För- kret wird Emi aufgefordert in der Kategorie „muss derbausteine zieht (auch im erweiterten ZR 100 ge- ich zählen“ nach Termen zu schauen, die sich von gen Ende des Erhebungszeitraums), lässt sich ent- den bereits automatisierten Aufgaben ableiten las- lang dieser eine systematische Analyse der Rechen- sen. entwicklung vornehmen . Konkrete Beschreibung der Sequenz: Nach dem Sor- 4.2 Sequenzierung und Einordnung der Sequenz in tieren der Termkarten und der vorgenommenen die Fördereinheit Gruppierung in die Kategorie „weiß ich auswendig“ (Sequenz 5) werden in Sequenz 6 nun die Aufgaben Die Sequenzierung der FÖ 6 erfolgt unter den in Ka- der Kategorie „muss ich zählen“ in den Blick pitel 3.3 aufgeführten Kriterien und mündet in die im mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 10
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht genommen. Die Positionen der Kärtchen am Beginn die Auswirkung dieser Veränderung auf die Summe der Sequenz illustriert die linke Abbildung in An- (Turn 6). Emi erkennt die Aufgabenbeziehung und hang II. Emi stellt fest, dass sie die hier zugeordnete nutzt diese. Mit dem nächsten Impuls in Turn 7 Aufgabe 3 + 2 „eigentlich wusste“. Die Förderin macht die Förderin den Referenzkontext von Emi schlägt vor, nach einer Aufgabe zu suchen, die sie zum Zeichen, indem sie eine Präzisierung der mög- auswendig weiß und die ihr bei 3 + 2 helfen kann. licherweise allgemeinen Beschreibung von Aufga- Emi nennt die Aufgabe 3 + 3. Nach weiterem Nach- benbeziehungen aus Turn 6 gezielt auf die Aufgabe fragen der Förderin, wie ihr diese helfen könne, be- 3 + 2 bezieht (Anhang IV, Szene I, Dreieck rechts). schreibt Emi die Beziehung zwischen den Aufgaben Emi stützt sich wiederum auf die Struktur, und nennt 3 + 2 und 3 + 3 und nutzt diese nach weiteren Impul- nicht das Ergebnis, sondern thematisiert die Bezie- sen als (3 + 3) – 1 beim Lösen. Das Kärtchen mit der hung der Ergebnisse der Aufgaben 3 + 3 und 3 + 2 Aufgabe 3 + 2 wird zur Kategorie „kenne ich einen (Turn 8). Auf der inhaltlichen Ebene kann ihr Vorge- Trick“ verschoben, sodass es sich auf der gleichen hen als Beschreibung eines strategischen Werkzeugs Höhe befindet, wie das Kärtchen 3 + 3 in der Katego- angesehen werden, da sie die Aufgaben 3 + 3 und rie „weiß ich auswendig“. Der von Emi entwickelte 3 + 2 als „gleich, nur eins weniger“ bezeichnet (Turn Lösungsweg wird von der Förderin aufgegriffen und 10), wodurch sie die Nachbarschaftsbeziehung die- weiterverfolgt. Nach verschiedenen Impulsen iden- ser Aufgaben beschreibt. tifiziert Emi die Aufgaben 7 + 8 und 9 + 8 als mögli- Szene II: In Turn 11 wird Emi nach dem Ergebnis der che Nachbarn einer Verdopplungsaufgabe und leitet Aufgabe 3 + 2 gefragt, was ein neues Zeichen dar- die Ergebnisse von diesen ab. Anschließend wird Emi stellt (Anhang IV, Szene II, Dreieck links). Daraufhin aufgefordert, nach den gemeinsamen Eigenschaften wendet sich ihr Blick ab, fixiert einen Punkt und zö- der Aufgaben zu suchen, die mithilfe der Verdopp- gert, was den Eindruck vermittelt, dass sie verbun- lungen gelöst werden können. den mit dieser Frage die beziehungsorientierte Per- spektive verlässt und versucht, das Ergebnis verfah- 4.3 Interpretative Rekonstruktion rensorientiert zählend zu ermitteln (Turn 12). Ein Im Folgenden werden die einzelnen Szenen (Sz.) der Grund für das zählende Vorgehen könnte die stere- Sequenz 6 aus interaktionistischer und epistemolo- otype Verknüpfung von Lösungsfindung mit dem gischer Perspektive rekonstruiert und interpretiert. Zählen sein, sofern das Ergebnis nicht abgerufen Die Transkripte zu den Sz. I-VI und die entsprechen- werden kann. Bevor Emi dieses zählend ermittelt den epistemologische Dreiecke befinden sich in An- hat, erhält sie von der Förderin den Impuls zu über- hang III. legen, wie viel 3 + 3 ist (Turn 13, Anhang IV, Szene II, Szene I: Der Ausschnitt beginnt damit, dass Emi nach Dreieck rechts), was einem neuen Zeichen ent- dem Impuls der Förderin die Aufgabe 3 + 3 als eine spricht und den zuvor von Emi entwickelten Zusam- Aufgabe identifiziert, die ihr bei der Aufgabe 3 + 2 menhang (Turn 6) aufgreift. Dieser Impuls wird von helfen kann (Turn 2). Nach der Warum-Frage der ihr aufgegriffen, sie nennt das richtige Ergebnis und Förderin begründet Emi, indem sie die Differenz zwi- nutzt dieses ohne weiteren Impuls selbständig, um schen den zweiten Summanden bei den Aufgaben Aufgabe 3 + 2 abzuleiten (Turn 14). An dieser Stelle 3 + 2 und 3 + 3 mit ihrer Auswirkung auf die Summe zeigt sich – nachdem die bereits bekannte Aufgabe beschreibt (Turn 6). Es könnte sein, dass Emi pro- 3 + 3 von der Förderin als Zeichen aufgegriffen biert, mit der Äußerung „deswegen muss das Ergeb- wurde – ein Wechsel von der Verfahrensorientie- nis auch eins mehr ähm sein oder eins weniger“ rung, in Kombination mit Zählen, zur Beziehungsori- (Turn 6), das strategische Werkzeug der Nach- entierung, verbunden mit dem Nutzen der Hilfsauf- baraufgabe bereits allgemein zu beschreiben. Nach gabe. Dieses Zeichen fokussiert eine bereits abge- weiteren Impulsen der Förderin (Turn 7, 9) wird speicherte Basisaufgabe und damit den zuvor von deutlich, dass Emi die Beziehung jedoch aufgaben- Emi formulierten Zusammenhang zu dieser. An die- spezifisch betrachtet (Turn 10). ser Stelle gelingt es ihr, diesen Zusammenhang wie- der eigenständig aufzugreifen und das vorherige Zei- In der epistemologischen Analyse des Ausschnitts chen 3 + 2 in Beziehung zu dem von der Förderin ge- (Anhang III, Sz. I, Dreieck links) wird zuerst der Im- nannten Zeichen 3 + 3 zu setzen. Der Gesprächsver- puls der Förderin in Turn 5 fokussiert, der Emis Blick lauf macht die Begriffsentwicklung von Emi beim Lö- auf die Beziehungen lenkt. Sie stützt sich daraufhin sen dieser Aufgabe deutlich: Während bisher mit der auf die Beziehung zwischen den zweiten Summan- Ergebnisbestimmung das Zählen verbunden war, den der Aufgaben 3 + 2 und 3 + 3 und nutzt diese für mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 11
Ch. Rechtsteiner & M. Scheffknecht nutzt sie nun vor dem Hintergrund der erkannten aus Turn 28 zum neuen Zeichen. Emi verbalisiert die Aufgabenbeziehung das strategische Werkzeug der entdeckte Beziehung und bezieht sich dabei auf die Nachbaraufgabe. Die Förderin bezeichnet Emis Vor- Sieben und die Acht, indem sie sieben als „eins we- gehen als einen „perfekten Trick“, mit dem man niger“ als acht beschreibt (Turn 30, Anhang IV, Szene viele Aufgaben rechnen könne. Sie fordert Emi nun III, Dreieck rechts). Unklar bleibt, ob sich Emi bei ih- auf, nach weiteren Termkarten in der Kategorie rer Begründung auf die Beziehung zwischen 7 + 8 „muss ich zählen“ zu suchen, die sie mithilfe einer und 7 + 7, auf die Beziehung zwischen 7 + 8 und bereits automatisierten Aufgabe lösen könnte (Turn 8 + 8, oder auf die Beziehung der Summanden inner- 15). Ohne weitere Impulse gelingt es Emi zunächst halb der Aufgabe 7 + 8 bezieht. Möglich ist auch, nicht, analoge Nachbaraufgaben zu finden (Turn 16, dass sie lediglich die ordinale Beziehung der Zahlen 18). Der Grund dafür könnte sein, dass sie aus- 7 und 8 thematisiert, ohne dass sie die Aufgabenbe- schließlich die Aufgaben der Spalte „muss ich zäh- ziehung wahrnimmt. Daher lässt sich an dieser Stelle len“ betrachtet und dadurch die Beziehungen zwi- auch nicht sagen, ob sie verfahrensorientiert argu- schen diesen und den von ihr bereits abgespeicher- mentiert oder sich auf die erkannte Struktur bezieht. ten Aufgaben nicht erkennt. Eine andere Deutung Ähnlich wie in Sz. 2, fokussiert die Förderin mit dem ist, dass sie die Aufforderung, „Aufgaben in der Nähe nächsten Impuls die abgespeicherte Aufgabe 7 + 7 zu suchen“ (Turn 15, 17) als lokale Nähe bei den ge- (Turn 31). Emi nennt das korrekte Ergebnis, nutzt legten Kärtchen versteht. Nicht zuletzt könnte es dieses aber nicht eigenständig um das Ergebnis der sein, dass Emi zu diesem Zeitpunkt nur ein einseiti- Aufgabe 7 + 8 abzuleiten. Das geschieht erst nach ges Verständnis für Nachbaraufgaben hat und sie der Frage bzgl. der Aufgabe 7 + 8 in Turn 33. Es zeigt z. B. davon ausgeht, dass immer der zweite Sum- sich erneut, dass das Erkennen der Beziehung zwi- mand um eins geändert werden muss und deswegen schen zwei Termen nicht automatisch zu deren Nut- keinen entsprechenden Term identifizieren kann. zen beim Rechnen führt. In Turn 34 leitet Emi Der für die singuläre Aufgabe 3 + 2 entwickelte Be- schließlich das Ergebnis ab, jedoch in der falschen griff der Nachbarschaftsbeziehung zu einer bereits Adaptionsrichtung. Dies könnte mit einem einseiti- automatisierten Aufgabe kann zu diesem Zeitpunkt gen Verständnis des strategischen Werkzeugs und nicht auf weitere Aufgabenpaare übertragen wer- einem verfahrensorientierten Vorgehen zusammen- den. An dieser Stelle lässt sich im epistemologischen hängen, analog zum zuvor genutzten Lösungsweg Dreieck ohne weitere Äußerungen von Emi keine Zu- bei 3 + 3 und 3 + 2. Ein anderer Grund für den Adap- ordnung bzgl. der Verfahrens- oder Beziehungsori- tionsfehler könnte sein, dass Emi die Beziehung zwi- entierung und der Lösungswerkzeuge machen. schen den Aufgaben 7 + 8 und 8 + 8 entdeckt hat, die Frage der Förderin aber auf die Beziehung zwischen Szene III: Die Frage der Förderin, ob Emi die Aufga- 7 + 8 und 7 + 7 fokussiert. Den Fehler in der Adapti- ben 6 + 6 und 7 + 7 abrufen kann (Turn 23, 25), führt onsrichtung korrigiert Emi nach der Warum-Frage trotz eingelegter Denkpause von 12 Sekunden nach der Förderin direkt eigenständig (Turn 35, 36). Die Turn 24 zu keiner Aktivierung der beziehungsorien- vielen von Emi schnell hintereinander gesprochenen tierten Referenzebene. Das abgespeicherte Basis- „Nein“ (Turn 36) lassen vermuten, dass sie nicht zäh- wissen von Emi wird an dieser Stelle nicht in Verbin- lend gelöst oder einen anderen Lösungsweg genutzt dung zu den Aufgaben der Kategorie „muss ich zäh- hat, sondern das zuvor genannte Ergebnis 13 schnell len“ gebracht. Erst der Impuls der Förderin „Dann als falsch erkennt. Damit lässt sich festhalten, dass würde ich jetzt noch einmal genau hinschauen.“ Emi das Abrufen von Faktenwissen in Kombination (Turn 27, Anhang IV, Szene III, Dreieck links), ermög- mit dem strategischen Werkzeug der Nachbarauf- licht Emi das Identifizieren der Aufgabe 7 + 8 als gabe nutzte und das Ergebnis 15 mit der Beziehung Nachbar einer bereits abgespeicherten Verdopp- „eins mehr“ zwischen den Aufgaben 7 + 7 und 7 + 8 lungsaufgabe (Turn 28). Das vorausgehende AAH erklärt (Turn 38). von Emi im gleichen Turn deutet auf ein produktives Moment im Lernprozess hin, in dem etwas Neues Aus epistemologischer Sicht bestätigt sich an dieser entdeckt oder verstanden wurde. Es scheint, dass Stelle die Annahme einer Erweiterung in der Be- Emi nun die Beziehungen zwischen zwei Termen griffsbildung der Nachbaraufgabe bei Verdopplun- wahrnimmt. Inwieweit sie diese zum Rechnen nut- gen. Die Beziehung zwischen einer automatisierten zen kann, ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu erkennen. Verdopplung und einer Aufgabe in der Nähe wird Mit ihrem nächsten Impuls „Wie meinst du das?“ in hier bei einem weiteren Aufgabenpaar wahrgenom- Turn 29 macht die Förderin Emis Referenzkontext men. Dieses neue Aufgabenpaar (7 + 7 und 7 + 8) mathematica didactica 46 (2023) – Themenschwerpunkt Interventionsprogramme und Förderkonzepte für Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens 12
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