Die Straßburger Neustadt - Vom ungeliebten Nachlass der Reichslandzeit zum UNESCO-Weltkulturerbe
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Die Straßburger Neustadt Vom ungeliebten Nachlass der Reichslandzeit zum UNESCO-Weltkulturerbe Rudolf Michna Am 9. Juli 2017 verlieh die UNESCO dem Straßburger Viertel »Neustadt« den begehrten Sta- tus eines Weltkulturerbes. Nach ausführlichen lokalen Diskussionen hatte die Stadt eine Er- weiterung des zum schon seit 1988 als Weltkulturerbe ausgewiesenen Altstadtbereichs auf das nach 1871 im Nordosten Straßburgs gebaute Stadtgebiet beantragt. Das nunmehr vergrößerte Areal des Weltkulturerbes trägt den Namen »Von der grande Île zur Neustadt« (»De la grande Île à la Neustadt«). Worin liegt das Besondere und Schützenswerte dieser lange geschmähten Hinterlassenschaft der Reichslandzeit? Worauf gründet die neue Sichtweise auf dieses Viertel? Am 9. Juli 2017 verlieh das Komitee der gramm durchgeführt. Bis in die jüngste Zeit UNESCO dem Straßburger Viertel »Neustadt« bestanden aber im Elsass gegenüber diesem den begehrten Status eines Weltkulturerbes. urbanen Nachlass der Reichslandzeit (1871– Der Bewerbung waren ausführliche lokale Dis- 1918) erhebliche Vorbehalte. Im Kontext der kussionen vorausgegangen. Schließlich wurde deutsch-französischen Aussöhnung und eu- 2016 ein Antrag eingereicht, in dem zusätz- ropäischen Integration konnte sich letztlich lich zum schon seit 1988 als Weltkulturerbe eine emotionslosere Beurteilung und Wahr- ausgewiesenen, von der Ill umflossenen Alt- nehmung dieses Stadtteils entwickeln. Worin stadtbereich Teile des nach 1871 im Nordosten liegt das Besondere und Schützenswerte die- Straßburgs entworfenen und gebauten Stadt- ses Stadtviertels? gebiets in diese Klassifizierung aufgenommen werden sollten. Das nunmehr erweiterte Areal des Weltkulturerbes trägt den Namen »Von Eine auf dem Reißbrett der Grande-Île zur Neustadt«. entworfene »zweite Stadt« Der nach 1871 gebaute Stadtteil, mit dem die Fläche der Stadt sich fast um das Dreifa- Schon vor 1870 erstickte Straßburg im »Stein- che vergrößerte, prägt weithin auch den heu- panzer« seiner Befestigungen, in den überbe- tigen Charakter der elsässischen Hauptstadt, völkerten Altstadtvierteln herrschten teil- er hebt sich sowohl hinsichtlich seiner Mor- weise schlimme wohnhygienische Zustände, phologie als auch seiner Architektur deutlich die Sterblichkeitsrate lag überdurchschnitt- von anderen Stadtgebieten ab. Keine andere lich hoch. Die angespannte Wohnsituation elsässische Stadt hat ein auch nur annähernd verschlechterte sich zudem drastisch nach umfangreiches und aufwändiges Baupro- dem deutsch-französischen Krieg (1870). Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 1 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 1 18.07.2019 11:28:57
seine Durchführung, doch gab es auch Protest einfluss- reicher Notabeln. Back gelang es schließlich, die verschiede- nen Interessenten und Kritiker an der Stadterweiterung schon im Vorfeld der Planungen in das Projekt einzubinden (A. Maas 1997) und erreichte eine stillschweigende Koope- ration der Notabeln. Auf deut- scher Seite verband sich mit UNESCO-Welterbe: De la grande Ile à la Neustadt dem Wiederaufbau und der Erweiterung der Stadt wohl auch die Absicht, sich »vom Nach der Belagerung und dem Beschuss der Makel [des Zerstörers der Stadt] zu reinigen« Stadt waren drei der vier Vorstädte völlig zer- (K. Nohlen 1982). stört, auch das Zentrum wies schwere Schä- Um Platz für den Ausbau zu schaffen, ver- den auf, nicht weniger als rund 500–600 Ge- schob die Stadtverwaltung nach langwierigen bäude lagen in Trümmern. Verhandlungen mit der Militärverwaltung Mit dem Anschluss an das deutsche Kaiser- und einem Gutachten von General H. von reich erfuhr Straßburg eine erhebliche Auf- Moltke die Befestigungsanlagen weiter nach wertung seiner Funktionen: die bisherige De- außen und erwarb 1875 die mit dem Abriss partementshauptstadt wurde symbolträchtige der alten Vaubanschen Befestigungsanlagen Hauptstadt des neuen Reichslandes Elsass- frei gewordenen Flächen. Da im Süden schon Lothringen und damit Sitz einer Reihe be- Wohngebiete bestanden, im Osten die Zita- deutender Verwaltungseinrichtungen, zudem delle und im Westen der neue Bahnhof Hin- kam der Ausbau als militärischer Standort und wirtschaft liches Zentrum. Auch deshalb ließ sich die dringend notwendige Vergröße- rung des Stadtgebietes nicht mehr länger auf- schieben. Wegen ihres Widerstandes gegen die Erwei- terungspläne wurde Bürgermeister E. Lauth und der Stadtrat 1873 kurzerhand abgesetzt. Um weitere Konfrontationen zu vermeiden, entkrampfte der von Berlin eingesetzte Ver- walter und spätere Bürgermeister Otto Back die in der Stadt nach der erzwungenen Tren- nung von Frankreich politisch eskalierte Lage. Zwar stimmten selbst Alteinheimische Erwerb militärfiskalischen Geländes 1875 dem Erweiterungsplan zu und drängten auf (aus: Fisch in Hudemann/Wittenbrock 1991, 180) 2 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 2 18.07.2019 11:28:58
dernisse darstellten, wurde im Norden des Bei der Bebauung verfügten die kommu- Stadtzentrums ein Areal von 386 ha ausge- nalen Behörden über neue juristische Inst- wiesen, davon stammten 153 ha von entwid- rumente zu Bau- und Bodenrecht (Bauord- meten militärischen Anlagen, die Stadtfläche nungen von 1879, 1892, Gesetz zum Schutz stieg damit von 232 auf 618 ha. des Ortsbildes 1910), die z. B. baupolizeiliche Die überschwemmungsgefährdeten randli- Vorschriften oder die Beteiligung der Immo- chen Feuchtgebiete konnten jedoch erst nach bilienkäufer an den Erschließungskosten be- der Aufschüttung um 2 bis 3 m – außer der He- trafen. Diese blieben auch nach 1918 in Kraft. leneninsel (Île Ste-Hélène) zwischen Ill und Aar – bebaut werden; verschiedentlich ist der Ni- veauunterschied noch heute zu erkennen (quai Morphologie des neuen Viertels Zorn, bd. Paul Déroulède, rue de la Schiffmatt). Da es sich meist um städtischen Besitz oder Im Jahr 1880 genehmigte der Bezirkspräsident Allmende handelte, waren in der ersten Bau- den von J.-G. Conrath vorgelegten Gesamt- phase kaum Enteignungen notwendig. Mehr- entwicklungsplan. Seine Kernelemente bil- fach standen schon vor 1870 Erweiterungspro- den geradlinige Hauptstraßen in einem geo- jekte zur Diskussion, wurden aber aus unter- metrischen Gitternetz, das durch diagonale schiedlichen Gründen nicht umgesetzt. Verbindungssachsen geschnitten wird, die Die Stadtverwaltung beauftragte zwei Ar- wiederum zu Plätzen (Bahnhofsplatz, Hage- chitekten mit der Ausarbeitung von Vorschlä- nauer Platz, Schiltigheimer Platz (heute Place gen für die Bebauung des neuen Viertels, den de Bordeaux) führen, die als Verkehrsknoten Straßburger Stadtarchitekten Jean-Geoffroy dienen. Die wichtigste, 3 km lange und 30 m Conrath und den Berliner Baurat August breite Achse verbindet die beiden Einfallstore Orth. Fixpunkte waren darin neuer Bahn- im N und E der Stadt, d. h. sie zieht vom Ha- hof, Universität und die großen Einfallstore genauer zum Kehler Platz (Vogesen-, Elsässer- (M. Pottecher 2017). Schon vor der offi ziellen und Schwarzwaldstraße, heute Av. des Vosges, Offenlegung wurde der Plan von Conradt fa- Av. d’Alsace, Av. de la Forêt Noire) und schafft vorisiert und hevorgehoben, dass man bei der eine seinerzeit auch strategisch wichtige Ver- Anlage der neuen Straßen die Aussicht auf das bindung zwischen dem neu gebauten Straß- Münster berücksichtigt habe (Maas 1997, 220). burger Bahnhof (1878–1883) und dem Rhein- Der deutschen Seite bot sich damit gleichzei- übergang bei Kehl – und darüber hinaus mit tig die Gelegenheit, die nationalpolitische dem Reich. Konnotation des Stadtplanungsprojekts ab- Senkrecht dazu verläuft ein Straßenzug zuschwächen (A. Maas 1997). (Deutsche Straße, nach 1886 Kaiser Fried- Eine Ausstellung präsentierte der Öffent- rich-Str., heute Av. de la Paix) zwischen Schil- lichkeit die städtebaulichen Entwürfe, und tigheimer Platz (Place de Bordeaux) und Kai- nach Prüfung durch ein Gremium von Ex- serplatz (Place de la République). Vom Kai- perten aus ganz Deutschland fiel 1878 der serplatz führt eine parallel zur Vogesenstraße Zuschlag an den Elsässer J.-G. Conrath, in verlaufende 1,5 km lange und 30 m breite dessen endgültigen Bebauungsplan aller- Prachtstraße (Kaiser-Wilhelm-Str., nach 1918 dings auch einige Elemente des Entwurfs von Av. V. Schoelcher und Av. de la Liberté) zum A. Orth einflossen. Universitätsplatz. Randliche Ringstraßen (z. B. Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 3 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 3 18.07.2019 11:28:58
Plan für die Erweiterung der Stdt Straßburg von E.-G. Conrath Zaberner Ring, Kronenburger Ring, Stein- aber mit seinen strukturbildenden Elementen Ring) stellen Verbindungen zu den wichtigs- noch bis in die 1950er Jahre für den weiteren ten Einfallsstoren im W, N und E, zum Bahn- Ausbau bestimmend. Vorbildlich waren da- hof (1878–1883) und den Kasernen am neuen rin die Abstufung zwischen Haupt- und Ne- Festungsgürtel her. Der von Conrath geplante benachsen (einfache Straßen, Straßen mit Be- Tauler-Ring (heute mit Abschnitten bd. Ohn- gleitgrün, zweispurige Straßen mit begrün- macht, bd. Jacques Preiss, bd. de la Dordogne) tem Mittelstreifen), die Verknüpfung mit wurde wegen Problemen beim Grundstücks- dem historischen Stadtkern, die Versorgung erwerb erst 1930 fertiggestellt. mit Licht und mit Frischluft durch Grünanla- Unter dem Einfluss der neuen Ideen des gen und Vorgärten, der hygienische Standard künstlerischen Städtebaus von Camillo Sitte durch Kanalisation sowie öffentliche Bäder. und der »Heimatschutzbewegung«, die einen Auch heute noch besticht die Neustadt we- Rückgriff auf traditionelle, regionaltypische niger durch einzelne herausragende Gebäude Bauformen propagierte, sowie aus Rücksicht als durch ihre städtebauliche Geschlossenheit. auf Interessen von Grundstücksbesitzern er- Die Wohnhauszeilen in historisierendem Stil fuhr der Bebauungsplan von Conrath Ende oder auch mit Jugendstilelementen besitzen des 19. Jhs. einige Änderungen (geschwun- den Charme und Reiz einer durchdachten, in- gener Verlauf der Straßenzüge in den Au- takten urbanen Morphologie: keine Spekula- ßenbezirken und auf der Heleneninsel), blieb tionslücken, relativ wenige als Fremdkörper 4 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 4 18.07.2019 11:28:58
wirkende moderne Bausünden, keine monoto- nen schachbrettartigen Baublöcke oder sche- matisches konzentrisches Ringstraßensystem. Dieser ganze Komplex, von dem auch neue kulturelle und soziale Impulse ausgingen, ist zweifellos eines der besten Beispiele des wil- helminischen Städtebaus, das nach den Zer- störungen des 2. Weltkrieges fast vollständig erhalten blieb. Für die in Straßburg gebo- rene Journalistin und Schriftstellerin Pascale Hugues ist »nur noch Straßburg ein Wider- schein Berlins vor der Katastrophe.« Psycho- logische Hemnisse und politische Hinterge- danken verhinderten lange eine vorurteilslose Bewertung dieses urbanen Modells, heute »entdeckt man wieder seinen baulichen Reich- tum und seinen Charme« (F. Uberfill 2010). Zweigeteiltes Neustadt: Nahtstelle zwischen Alt- und Neustadt: Repräsentationsviertel der Kaiserplatz und Wohngebiete Das tangential an die Altstadt angeschlossene rung, nämlich Kaiserpalast (Palais du Rhin, wilhelminische Viertel gliedert sich baulich erb. 1883–86, seit 1920 Sitz der Rheinschiff- und funktional in zwei verschiedene Teil- fahrtskommission und des regionalen Kul- bereiche: den in einer ersten Periode (1880– turamtes), westliches und östliches Ministe- 1895) gebauten Bereich mit repräsentativen rialgebäude (1909–1811, heute Finanzbehörde öffentlichen Gebäuden sowie die nach 1895 und Präfekturdienststelle), Universitäts- und entstandenen Wohngebiete mit Mehr- und Landesbibliothek (1895) sowie Landessau- Einfamilienhäusern sowie Sozialwohnungen schussgebäude (1888–1899, Musikkonserva- (darunter die Cité Spach, 1903). torium und Théâtre National de Strasbourg). An einer Nahtstelle zur Altstadt liegt der Ein kreisförmiger Park mit einem die elsäs- Kaiserplatz (heute Place de la République), sische Kriegstragik einfühlsam symbolisie- hier beginnt das wilhelminische Repräsen- renden Denkmal (1936) nimmt das Zentrum tationsviertel, in dem sich politische, admi- des viereckigen Platzes ein. Der Park bildet nistrative und kulturelle Funktionen kon- den Schnittpunkt eines symbolischen Koor- zentrieren (Kaiserpalast, Ministerien, Bib- dinatensystems, denn von hier führt – vor- liothek, Universität, Post, Zolldirektion). Um bei an der Hauptpost (1896–99) und der St. den monumental gestalteten Platz reihen sich Paulus-Kirche (1889–92, ehemalige evange- die Bauten mit offi ziellen Funktionen und lische Garnisonskirche) – die breite Kaiser- Symbolen der neuen politischen Veranke- Wilhelm-Straße (heute Avenue de la Liberté) Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 5 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 5 18.07.2019 11:28:59
Die Anlage und Sichtachsen der Straßburger Neustadt (aus: F.-G. Mittelstädt 1989) geradewegs auf die Stirnseite der Universi- mit dem emblematischen Wahrzeichen der tät (1879–1884) und schafft so – keineswegs »deutschen« Vergangenheit und Mittelpunkt ein Zufall – eine suggestive Verbindung zwi- der Stadt. Weitere Sichtachsen bestehen zwi- schen der Macht des Geistes und staatlich-po- schen Vogesen-/Schwarzwaldstraße und der litischer Herrschaft, dazwischen ein Symbol Kirche St. Mauritius (St-Maurice, 1899), zwi- der religiösen Macht. Ebenso stellen Avenue schen Manteuffel-, Möller- und Goethestraße de la Paix und Rue Schweighaeuser ganz be- (rue Maréchal Foch, Joff re, Goethe) und der wusst eine optische Beziehung zum Müns- Fassade des Querschiffs der St. Paulus-Kirche ter her – und verknüpfen damit die Neustadt (1897), zwischen Odilien- und St. Fridolin- 6 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 6 18.07.2019 11:29:01
straße (rue Ste-Odile, rue Paul Muller-Simo- cale Hugues ihre Wahlheimat Berlin keines- nis) und der Kuppel der (neuen) Jung-St. Pe- wegs fremd vor: »Berlin war wie die Place de ter-Kirche (St-Pierre-le-Jeune, 1889). la République in Straßburg, nur größer und An das Repräsentationsviertel schlie- kaputter. Um endlich das Deutschland mei- ßen sich im Norden die etwas später gebau- ner Geburtsstadt zu entdecken, musste ich ei- ten wilhelminischen Wohngebiete mit einer nen Umweg über Berlin machen. Die Berli- Blockrandbebauung an. Sie weisen eine groß- ner Wohungen mit dem Stuck an den Decken zügige Struktur auf, denn bewusst werden nur und den Terrazzoböden ihrer Küchen waren 40–50 % der Fläche für die Gebäude, dagegen die genauen Abbilder der Wohnungen im Ge- 30 % der Fläche für Straßen und 20–30 % für bäude der Rue Joffre, das unter dem ›Reichs- die Innenplätze in den Vierteln genutzt. Die land‹ erbaut worden war.« Häuser besitzen Zwischenetagen und um- Die einheitliche Architektur läßt kaum fassen in der Regel 4 bis 6 Geschosse. Mit vermuten, dass innerhalb der Gebäude un- durchschnittlich 4 bis 5 Zimmern (in Luxus- terschiedliche soziale Gruppen zusammen- wohnungen bis zu 10) zeigen die Wohnun- wohnen. Gerade in den komfortablen Miets- gen einen großzügigen Zuschnitt, ihr seiner- häusern der ersten Bauphase in der Nähe zeit hoher Komfort (worauf z. B. die Schil- des Kaiserplatzes gibt es häufig eine räumli- der »Gas in allen Etagen« hinweisen, auch che Sortierung der sozialen Gruppen: wäh- Waschküchen gehören zu den Gebäuden) rend die bel étage (1. OG) begüterten Mietern entspricht weitgehend noch heutigen An- vorbehalten ist, lebt das Dienstpersonal in sprüchen. Manche hochwertige Wohnungen den Mansardenwohnungen oder im Unter- verfügen über Badezimmer, Zentralheizung geschoss. Ärzte, Rechtsanwälte und andere und Telefonanschluss. In einem der luxuriö- Freiberufl iche sind in der nordwestlichen sen Gebäude wird 1903 der erste Aufzug ein- Neustadt von Anfang an stark vertreten, der gebaut, was dann selbst in einfacheren Miets- größte Anteil der Bewohner der Neustadt ent- häusern Nachahmung fi ndet, nicht zuletzt fällt jedoch auf Angehörige der Mittelschicht. weil die leichtere Erreichbarkeit der höheren Im seit dem Bau des »Centre des Halles« Stockwerke auch höhere Mieten ermöglicht (1979) in Umstrukturierung begriffene Bahn- (H. Doucet/O. Haegel 2017). hofsgebiet wohnten ursprünglich niederere Während die Innenaufteilung der Gebäude soziale Schichten. Vom Berliner Modell der einem ziemlich einheitlichen Muster folgt, Mietskasernen war der von der »Armenver- sind die Fassaden mit Balkonen mit schmie- waltung« gebaute Sozialwohnungskomplex deeisernen Gittern, Erkern, Atlanten und »Mutziger Hof« (Cour de Mutzig, 1882–1892) anderen Schmuckelementen recht abwechs- inspiriert. Die Wohnungen der 12 dreistöcki- lungsreich gestaltet. Im Unterschied zu den gen Gebäude umfassen jeweils 2 bis 3 Zim- Dienstgebäuden des Repräsentationsvier- mer sowie Küche und Toilette. Zwischen 1894 tels aus behauenem Naturstein – oft Voge- und 1914 schuf die »Gemeinnützige G.m.b.H. sensandstein – folgt bei den mehrstöckigen Volkswohnungen« in der Neustadt weitere Wohnhäusern auf ein Erdgeschoß aus Na- fünf Wohnanlagen mit insgesamt 202 Sozial- tursteinmauern in der Regel eine gemauerte wohnungen. und verputzte Fassade aus Backsteinen. Nicht An der Ill und längs der Avenue de la ohne Grund kam der Straßburgerin Pas- Robertsau (früher Rupprechtsauer Allee) Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 7 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 7 18.07.2019 11:29:01
1912 mit Hilfe günstiger Bau- kredite eine Eigenheimsied- lung in ruhiger Stadtrandlage entstand. Die Stadt hatte hier »aus wohnungs- und baupo- litischen Gründen« ein 15 ha grosses Gelände in der Ab- sicht erworben, in direkter Nähe der Orangerie eine Ver- dichtung mit hohen Immo- bilien zu unterbinden. Dieses Viertel mit zwei- bis höchstens dreistöckigen Eigenheimen ist heute bevorzugtes Wohnge- biet von Mitarbeitern der in der Stadt ansässigen europäi- schen Institutionen. Zur Infrastruktur der Neu- stadt gehören verschiedene Dienstleistungs- und Hand- werksbetriebe, kulturelle Ein- richtungen, Schulen, Kran- kenhäuser und Kirchen. Von insgesamt 66 Versicherungs- agenturen in der Neustadt – Avenue de la Robertsau: einst die »Professorenallee« Filialen deutscher sowie auch Schweizer, belgischer und bri- tischer Gesellschaften – lassen erstreckt sich Straßburgs »Neuilly«: ein ele- sich mehr als 20 an den großen Verkehrsach- gantes Wohngebiet gehobener Schichten sen (vor allem Vogesenstraße) nieder. Dazu (Industrielle, Geschäftsleute, Architekten, kommen einige Banken und andere Dienst- Ingenieure, hohe Militärdienstgrade und leistungen – später auch Konsulate. Hier zeigt höhere Beamte und leitende Angestellte) – die sich heute eine zunehmende Tertiärisierung. Straßburger verliehen dieser Straße bezeich- Ladengeschäfte, vor allem Lebensmittellä- nenderweise den Übernamen »Professoren- den (rund 30 Bäckereien) und Handwerks- allee«. Nach 1891 führte eine Straßenbahn betriebe, nehmen das Erdgeschoss mancher von hier zum Kleberplatz in der Altstadt. Wohngebäude ein, Gastronomiebetriebe fi n- In den nordöstlichen Außenbereichen den sich in der Regel in den Eckgebäuden der Neustadt folgen kleinere einzel stehende an den Straßenkreuzungen. Die Neustadt Ein- und Mehrfamilienhäuser. Als begehrte ist Sitz mehrerer Verlage. Unter den Schulen Wohnadresse gilt das Villenviertel Fünfzeh- und verwandten Einrichtungen sind Israeli- nerwörth (Quartier des Quinze), wo nach tische Gewerbeschule (Ecole israélite du Tra- 8 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 8 18.07.2019 11:29:01
Straßenflucht in der Neustadt mit Vorgärten vail), Kaiserliche Technische Schule (heute die Auflockerung des Viertels durch Integ- Lycée René Cassin), Neue Realschule (heute rierung von Parks (Contades und Orangerie), Collège Foch) und Höhere Mädchenschule Grün- und Freiflächen (z. B. botanischer Gar- (Lycée des Pontonniers) sowie Elsass-Loth- ten der Universität, in einigen Straßen obli- ringisches Lehrerinnen-Heim zu nennen. So- gatorische Vorgärten, Begleitgrün an Straßen wohl die jüdische als auch die protestantische und Uferböschungen) sowie Spazierwegen. Gemeinde baut ein Krankenhaus (Israeliti- Durch Einbeziehung von Gewässern entstan- sches Krankenhaus, Kranken- und Schwes- den an manchen Stellen sogar einige maleri- ternhaus Bethesda). sche landschaft liche Szenerien (Universitäts- Mit der geschlossenen, homogenen Bebau- brücke/Pont d’Auvergne mit der St. Paulus- ung und den breiten Verkehrsachsen brachte Kirche auf der Südspitze der Heleneninsel). die Neustadt eine großstädtische Note in das Die damalige Modernität der Neustadt Straßburger Stadtgebiet. Gegenüber dem drückte sich außerdem in ihrer Infrastruktur nicht nur in Paris verwirklichten urbanisti- aus, Überlegungen zur Perfektionierung von schen Konzept von G.-E. Haussmann wies Entsorgungseinrichtungen und Wohnhygi- der Plan von Conrath einige neue Elemente ene, Berücksichtigung von Licht und Luft für vor, z. B. Ringstraßen, breite, oft rechtwink- die Anlage der Wohngebäude etc. fanden hier lig sich schneidende Straßen sowie besonders früher Eingang als in französischen Städten. Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 9 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 9 18.07.2019 11:29:03
Die großzügig geplanten Hauptstraßen genü- Drittel der gesamten städtischen Bevölkerung gen auch noch den Anforderungen des mo- um 1905 auf diese Gruppe. dernen Verkehrs. Nach wie vor gilt die Neu- Lange wurde behauptet, die Alteinheimi- stadt als ein gehobenes Wohngebiet, in dem schen hätten die Neustadt gemieden. Dass sich die einkommensstärksten Haushalte der sich aber selbst ein frankophiler Notabler und Stadt konzentrieren. notorischer »Schwowehasser« wie Fritz Kief- H. Doucet und M. Pottecher (2017) be- fer, Direktor der Elsässischen Druckerei und trachten die Neustadt geradezu als Modell Zeitungsverleger, in der Rupprechtsauer Allee eines nachhaltigen Städtebaus, das dank der niederließ, spricht jedenfalls nicht unbedingt Anpasssungsfähigkeit seines Bauplans und für die These einer scharfen Abkapselung von seiner Architektur den Bedürfnissen der Be- Altdeutschen und Alteinheimischen. wohner kontinuierlich entsprechen konnte Zumindest was den Liegenschaft serweb und das auch als Modell für aktuelle Projekte anbelangt ist die Annahme, Alteinheimische dienen kann. hätten sich dort nicht engagiert, nach neue- ren Forschungen (Pottecher 2017, 147 ff ) zu korrigieren. Unter den Bauherren finden sich Soziale Distanz zwischen Alt- zugewanderte altdeutsche Beamte, lokale und deutschen und Alteingessenen andere Immobiliengesellschaften (Crédit fon- cier d’Alsace et de Lorraine, Süddeutsche Im- Nach der lange aus Legitimations- und Iden- mobiliengesellschaft, Straßburger Terrainge- tifi kationsgründen in französischen Medien sellschaft, Straßburger Bauverein) und alt- verbreiteten Interpretation gab es durchweg einheimische private Investoren. Privatleute eine grundsätzlich feindliche und unver- machen den weitaus größten Teil der Im- söhnliche Haltung der annektierten Elsäs- mobilienkäufer aus. Industrielle, Fabrikan- ser zu den Altdeutschen, dazu gehörte das ten, Geschäftsleute wie der Brauerereibesitzer Bild eines immerwährenden Widerstandes O. Schützenberger errichteten in der Neustadt und durchgängig getrennter Lebenswelten. luxuriöse Gebäude, ihnen folgten Architekten Eine Zusammenarbeit zwischen Einheimi- und Bauunternehmer; bescheidenere Häuser schen und Altdeutschen durfte es nach die- gaben Kaufleute und Handwerker in Auft rag ser Lesart nicht geben, da sie das Konstrukt (O. Haegel 2017). Noch heute befinden sich einer ungebrochenen Loyalität und Identifi- manche Immobilien in den Händen der da- zierung mit Frankreich widerlegt hätte (vgl. maligen Investorenfamilien. A. Maas 1997). Gerade die von manchen El- Unter den zugewanderten »Altdeutschen« sässern abfällig als »ville coloniale« bezeich- dominieren Ende des 19. Jhs. die »Nahwan- nete Neustadt wird häufig als Beispiel für die derer« (darunter wenig Militärs), d. h. Perso- gegenseitige Abwendung von Altdeutschen nen aus dem Großherzogtum Baden, vor al- und Alteingessenen herangezogen. Tatsäch- lem aus Mittelbaden, für die Straßburg schon lich beherbergte sie anfänglich vor allem aus immer als Magnet wirkte. Sie standen bereits anderen Reichsgebieten Zugewanderte, dar- vor 1871 in wirtschaft lichen, kulturellen und unter überdurchschnittlich viele Beamte, Pro- sozialen Beziehungen zum Elsass und teilen fessoren, Lehrer, Eisenbahnangestellte sowie die gegenüber den Preußen ablehnende Hal- Militärangehörige. Insgesamt entfiel rund ein tung der Alteinheimischen (F. Uberfill 2001). 10 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 10 18.07.2019 11:29:05
Sport-, Kultur- und Studentenvereine sind dantur der Gauverwaltung untergebracht in der Neustadt aktiv (O. Haegel 2017). In war. der Burschenschaft Palaio-Alsatia, die 1906 Architekturhistorische Forschungen trugen ein Corpshaus in der Rue Geiler (heute Sitz ab den 1980er-Jahren zur Neubewertung der der polnischen Vertretung beim Europarat) Neustadt bei, dazu verhalf vor allem der Nach- bezog, stammen die meisten Mitglieder aus weis einer Reihe von internationalen urbanisti- dem Elsass, der Straßburger Männergesang- schen und baulichen Einflüssen und damit die verein, aus dem die Fédération des chanteurs Korrektur einer rein »preußischen« Stadtan- d‘Alsace-Lorraine hervorgeht, die 1898 das lage. Wenn das lange mit dem Beigeschmack »Sängerhaus« (heute Palais des Fêtes) mit von Okkupationsarchitektur behaftete Viertel Konzertsaal und Restaurant eröffnet, zählt heute als Weltkulturerbe und als Teil der Stadt- sowohl Altdeutsche als auch Elsässer in sei- geschichte anerkannt ist, so ist dies hauptsäch- nen Reihen. lich dem Paradigmenwechsel in seiner bauge- Nachdem die »Altdeutschen« nach 1918 schichtlichen Interpretation zu verdanken (vgl. aus dem Elsass vertrieben waren, wurde die H. Frank 2013). Mit der Interpretation als Fort- Neustadt zum rein französischen Wohngebiet. schreibung des urbanistischen Modells von Um die Synagogue de la Paix, welche anstelle Haussmann sowie als Ergebnis internationa- der 1940 von den Nationalsozialisten am ler städtebaulicher Einflüsse (nicht nur Paris, Quai Kléber zerstörten Synagoge 1958 einge- sondern auch Lille, Genf oder Wien) wurde der weiht wurde, lebt inzwischen die nach Paris Weg für eine positive Neubewertung der Neu- zweitgrößte jüdische Gemeinde Frankreichs stadt im Elsass geebnet. – sowohl nach 1945 zurückgekehrte Aschke- Das Konstrukt eines Interferenzraumes nasen, als auch nach 1962 aus Nordafrika zu- greift auch die UNESCO in ihrer Stellung- gewanderte Sepharden. Sie verfügt in diesem nahme auf: »Die französischen und deutschen Viertel über eine eigene Infrastruktur mit Ge- Einflüsse haben einen besonderen städtischen schäften, Schulen etc. Raum geschaffen, in dem sich typische Epo- chen der europäischen Geschichte widerspie- geln … Französische und deutsche Einflüsse Veränderte Sicht auf die Neu- haben es ermöglicht, dass aus beiden Kulturen stadt nach Paradigmenwechsel eine einzigartige Ausdrucksweise entstand, die vor allem in den Bereichen Architektur Lange war die bauliche Hinterlassenschaft und Städtebau zum Ausdruck kommt … Die- der Reichslandzeit in Straßburg verpönt, ver- ser doppelte Einfluss hat es ermöglicht, einen stärkt wurde die Ablehnung durch die trau- für Straßburg spezifischen städtischen Raum matischen Erfahrungen der De-facto-Anne- zu schaffen«. xion des Elsass im Dritten Reich. Eine emo- Streng genommen besteht in Bezug auf die tionslose Diskussion über Pflege, Erhalt oder Umsetzung des Haussmann’schen Konzepts Rekonstruktion der Bauten war kaum mög- aber keine unmittelbare Kontinuität, sondern lich. Nur die Intervention von R. Heitz und sie geht auf Vermittlung durch Berlin zurück. einiger anderer Mitbürger konnte z. B. 1957 Straßburg orientierte sich bei den Planungen den Abriss des Kaiserpalasts verhindern, in der Stadterweiterungen zunächst am Berliner dem obendrein 1940 bis 1945 die Komman- Stadtplanungsschema von J. L. Hobrecht, der Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 11 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 11 18.07.2019 11:29:05
schon bei der dortigen Friedrichstadt verwen- verfestigte sich der Eindruck einer national dete schachbrettartige Strukturen mit den eindeutig zuzuordnenden Opposition von Haussmann’schen Ideen verknüpfte. fortschrittlicher Modernität und rückstän- digem Verharren in Altvertrautem […] Die Straßburger Altstadt war für die Einheimi- Dualität der Wahrnehmung schen Garant französischer Identität, obwohl die reale Lebenswelt nicht mit dem nationa- Die Neustadt erschien in den Augen vieler Alt- len Zugehörigkeitsgefühl übereinstimmte, für einheimischer vor allem in ihrer städtebauli- die altdeutsche Seite hingegen Prototyp einer chen Geschlossenheit als sichtbares Symbol idyllischen, deutschen mittelalterlichen Stadt. deutscher Herrschaft, auch wenn bestimmte So verwischte der Interpretationsspielraum Vorzüge (hygienischer Standard, Verkehrs- und die doppelte Lesbarkeit des ›Elsässischen‹ führung) nicht bestritten wurden. im Ergebnis der realen Umsetzung nationale In der Wahrnehmung von Alt- und Neu- Grenzen und enthob die Fragen der moder- stadt zeigte sich eine deutliche Dualität: »Die nen Stadtplanung einer nationalpolitisch repräsentative Neustadt wurde von einheimi- motivierten Konfrontation. Es handelt sich scher Seite als disharmonischer, beziehungs- sozusagen um ein bewusst oder unbewusst loser Fremdkörper empfunden …, der jedoch nicht aufgedecktes kulturelles Missverständ- die vertraute Kernstadt nicht berührt hatte. nis einer symbolischen Ausdeutung zwischen Die Prachtbauten der Straßburger Neustadt zwei national verschieden ausgerichteten Be- sind beim Altstraßburger nicht sehr populär. völkerungsgruppen. Letztendlich bedienten Er zeigt sie wohl dem Fremden, der zu ihm sich beide Seiten des ›elsässischen Konzeptes‹ kommt, aber etwa so, wie man einem Besu- als Instrument, eigene Interessen durchzuset- cher das Haus bezeichnet, das der Nachbar zen, und bewegten sich trotzdem aufeinander mit Unrecht erworbenem Gelde sich neben zu« (A. Maas 1997). der eigenen bescheidenen Wohnung errich- tet«, schrieb der nach England abgewanderte Elsässer Fritz Hoffet 1895 nach dem Besuch Nationalpolitische seiner alten Heimat. Instrumentalisierungen: Altstraßburg und Neustadt lagen sich »Politik durch Bauen« »scheinbar berührungslos gegenüber, trotz des städteplanerischen Bemühens um verbin- Mit Städtebau und Architektur versuchte die dende Sichtachsen. Die äußere Abgrenzung neue politische Herrschaft nach 1871 ihre entsprach auch einer inneren Dualität. Die Macht und Überlegenheit zur Schau zu stellen Einheimischen hatten sich in die enge Altstadt und die Angliederung des Elsass zu legitimie- rund um das Münster zurückgezogen […] ren. Wenn man sich auch mit tatsächlicher Das vertraute Stadtbild rief die Erinnerung Okkupationsarchitektur bewusst zurückhielt, und auch die Welt der Zeit vor der Annexion wohl »um die politisch schwierigen Rahmen- wach. So gab zumindest der städtebauliche bedingungen der Grenzregion nicht perma- Rahmen Halt und Geborgenheit. […] Die Alt- nent in Erinnerung zu rufen« (N. Wilcken deutschen hingegen bewohnten überwiegend 2000), so ist die politische Instrumentalisie- die moderne, komfortablere Neustadt […] So rung von Architektur bei den meisten monu- 12 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 12 18.07.2019 11:29:05
mentalen Gebäuden im Umfeld des Kaiser- zu konstruieren, verkörpern die Wandreliefs platzes nicht zu verkennen; hinter ihnen ver- an der Landesbibliothek, der Bildschmuck birgt sich eine ideologisch-programmatische am Kaiserpalast, die Wandgemälde in der Botschaft, nämlich ein »deutsch-imperialer Vorhalle und Skulpturen des Straßburger Herrschaftsanspruch« (Wilcken 2000). Nicht Bahnhofs mit der Gegenüberstellung Barba- nur die Monumentalgebäude und ihr Baustil rossas und Wilhelms I., die Kaiserstandbil- standen im Dienste nationaler Legitimation der an der Hauptpost sowie das Skulpturen- und Demonstration der Macht. Nationalpo- programm am Universitätsgebäude. Wie der litische Absichten verbergen sich in subtilerer in ihrem Giebelfeld angebrachte Leitspruch Weise auch in architektonischen Kleinformen »LITTERIS ET PATRIAE« zeigt, wurde ihr wie dem Figurenschmuck oder der Ausstat- nicht nur eine bildungs- sondern auch eine tung mit Gemälden; durch die bildliche und nationalpolitische Funktion zugewiesen. heraldische Ausstattung sollten nicht zuletzt An die Vergangenheit des Elsass und Loth- die historischen Beziehungen des Elsass zum ringens vor der Eingliederung in das französi- deutschen Raum wieder in das Bewusstsein sche Königreich knüpft der Bildschmuck auf der Elsässer gerückt werden. Diese Absicht, der Landesbibliothek an (O. von Straßburg, eine dynastische und territoriale Kontinuität Geiler von Kaysersberg, J. Sturm, J. Bucer; Her- Germania-Statue auf der Hauptfassade der Universität oder Giebelfeld des Universitätsgebäudes Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 13 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 13 18.07.2019 11:29:05
rad von Landsberg, Martin Schongauer sowie nennung des Gebäudes der Lebensversiche- Dom Calmet), die Statuetten auf dem Kolle- rung Germania in Gallia oder auch die An- giengebäude der Universität zeigen D. Schöp- bringung einer Statue von Jeanne d’Arc (1922), fin und J. Sturm. Als französische Persön- einer der französischen Nationalheiligen, vor lichkeiten sind an der Bibliothek Molière und der St. Mauritius-Kirche. Descartes und am Universitätsgebäude Calvin Eine Umbenennung der Toponyme erlebte wiedergegeben. Sie überlebten ebenso wie der das Elsass wiederum während der deutschen Bildschmuck mit deutschen Gelehrten oder Li- Besetzung 1940–45, in der Neustadt wird die teraten die Bilderstürme nach 1918 und 1940. Place de la République zu Bismarck-Platz, Av. Im angespannten politischen Klima und de la Paix zu Hermann-Göring-Str., Av. de la der Rückkehr nach Frankreich erlebte die Ar- Marseillaise zu Hindenburg-Str. chitektur nach 1918 eine Re-Politisierung un- 1989 wurde ein Bleiglasfenster mit dem ter anderem nationalen Vorzeichen (St. Fisch Wappen von Wilhelm II., dem Emblem der 1997). Germania, aufgefunden und in der dortigen Es kann nicht überraschen, wenn gerade Mensa an seinem ursprünglichen Platz wieder Monumente mit nationalpolitischer Konno- angebracht (E. Paillard 2013), seit 2014 stehen tation nach 1918 entfernt oder zerstört wur- die ebenfalls 1918 entfernten Standbilder von den: Das Reichswappen wurde aus den Mau- Argentina (Symbol für Straßburg) und Ger- ern des Kaiserpalastes gemeißelt, das Reiter- mania wieder auf dem Universitätsgebäude standbild von Wilhelm I. auf dem Kaiserplatz – noch in den 1970er-Jahren unvollstellbare geschleift, den Kaiserstatuen an der Haupt- Beispiele für einen tiefgreifenden Wandel der post die Köpfe abgeschlagen, die Wappen des politischen Großlage. Ganz bewusst ersetzte Reichslandes auf dem westlichen Ministerial- die Stadt Straßburg bei der Vorbereitung ihrer und am Landesausschussgebäude getilgt. UNESCO-Bewerbung die bislang üblichen, Wie bei politischen Wechselfällen der negativ besetzten Begriffe »quartier impé- Vergangenheit folgte nach 1918 zwangsläu- rial, quartier allemand, quartier wilhelmien« fig auch eine »sprachliche Säuberung«, d. h. durch die neutrale Bezeichnung »Neustadt«. eine Änderung der Straßennamen – zumal Auf dem Namensschild der Place de la Répub- Bezeichnungen mit Bezug auf die preußi- lique erscheint als Ergänzung nunmehr sogar sche Monarchie oder deutsche Militärs nun- das einst verfemte Wort »Kaiserplatz«. mehr obsolet waren. Auch die neuen Namen für Straßen (Place de la République, Av. de la Liberté, Av. de la Marseillaise, rue du Maré- Ein Topos wandelt sich chal Foch, rue du Maréchal Joffre, rue du Gé- néral Gouraud, rue du Général de Castelnau, Während ihre städtebauliche Konzeption we- bd. Clemenceau, bd. Wilson, bd. Poincaré, niger beanstandet wurde – vereinzelte Kritik bd. Gambetta, rue Turenne, rue P. Bucher …) daran erhob sich selbst auf deutscher Seite (vgl. oder Gebäude (Neue Realschule wird zu Col- H. Frank 2013, M. Pottecher 2017) – unterlag – lège Foch, Höhere Töchterschule zu Ecole des nicht zuletzt unter dem Eindruck politischer Pontonniers) stehen bewusst für nationalpo- Ressentiments – die als ortsuntypisch wahr- litische Botschaften, geradezu symbolisch für genommene heterogene Architektur der Neu- die neue politische Ordnung war die Umbe- stadt vor allem bei den vom Ideal der stilis- 14 Rudolf Michna Badische Heimat 3 / 2019 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 14 18.07.2019 11:29:07
tischen Einheitlichkeit gelei- teten französischen Autoren bis in die jüngere Zeit hinein einer fast ausschließlich nega- tiven und oft vernichtenden Kritik. Ein Beispiel dafür, wie sehr politische und kulturelle Prägungen und das jeweilige Lebensumfeld auf ästhetische Urteile einwirken können. Was in der Neustadt an öf- fentlichen oder privaten Ge- bäuden gebaut und von ein- heimischer Seite als Fremd- körper empfunden wurde, trägt zweifellos vielfach den Stempel des im ausgehenden Kaiserpalast: nach 1945 vom Abriss bedroht, 19. Jh. auch in anderen eu- heute unter Denkmalschutz ropäischen Ländern zu be- obachtenden Stilverfalls und Eklektizismus. Les Amis du Vieux Strasbourg schlug vor, den Neben einigen originellen Art Nouveau- bzw. Denkmalschutz sogar auf die gesamte Neu- Jugendstil-Häusern (Ägyptisches Haus, Sän- stadt auszuweiten (Les Amis du Vieux Stras- gerhaus – Palais des Fêtes, Hôtel Brion) sind bourg 2004). Es besteht ansonsten die Gefahr, manche mehr wuchtig als harmonisch ge- dass Modernisierung und intensivere Flä- staltete Bauten in Neo-Romanik (Jung St. chennutzung zu einem Verlust typischer Ge- Peter-Kirche), Neo-Gotik (Hauptpostamt, bäude führen. St. Paulus-Kirche, St. Mauritius-Kirche), ita- Seit 2010 wird das städtebauliche Erbe der lienischer und deutscher Neo-Renaissance Neustadt jedenfalls in allen Einzelheiten sys- (Universitätskollegiengebäude), Neubarock tematisch erfasst. Eine von 2012 bis 2016 orga- (Ministerialgebäude), in antikisierendem nisierte Reihe von Führungen, Vorträgen und (Justizpalast) oder historisierendem Stil (Hö- Ausstellungen unter dem Titel »Les Rendez- here Mädchenschule) vertreten. Selbst fran- vous de la Neustadt« trug zu seiner besseren zösische Architektur fand Verwendung (Villa Kenntnis und Akzeptanz bei. Vielleicht öff- Greiner, Villa Mathis). Vor allem der Kaiser- nete auch die Banalität vieler moderner Bau- palast, das markanteste Symbol einer aufge- ten die Augen für seinen besonderen Stil. zwungenen politischen Ordnung, geriet ins Im Plaidoyer von M. Pottecher (2017) spie- Kreuzfeuer der Kritik, noch in den 1990er- gelt sich die veränderte Sichtweise der Neu- Jahren spaltete sich an ihm die öffentliche stadt wider: Sie soll künft ig nicht mehr als Er- Meinung (vgl. B. Gautiez 2013). Inzwischen gebnis einer erzwungenen politischen Einver- deuten sich weniger ressentimentgeleitete und leibung, sondern als Teil einer gemeinsamen sachlichere Bewertungen an: Er steht inzwi- Geschichte und eines gemeinsamen Erbes be- schen unter Denkmalschutz. Die Vereinigung trachtet werden. Badische Heimat 3 / 2019 Die Straßburger Neustadt 15 #13_Michna_Die Straßburger Neustadt.indd 15 18.07.2019 11:29:07
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