Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien

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Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien
AKADE M I E FÜR
   POLIT I S C H E B I LDU N G
   TUTZING

     A K A D E M I E - K U R Z A N A LY S E
     2/2020
        April 2020

Die Twitter-Demokratie:
Der Strukturwandel politischer
Kommunikation durch digitale
Medien
                  Michael Schröder

                                 Akademie-Kurzanalysen
                                 ISSN (Print) 2699-3309
                                  ISSN (Online) 2509-9868
                                   www.apb-tutzing.de
Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien
T W I T T E R - D E M O K R AT I E

                                                                   Die Twitter-Demokratie:
                                                               Der Strukturwandel politischer
                                                            Kommunikation durch digitale Medien*
                                                                                                           Michael Schröder

                                                   Einleitung                                                                 Leaks und Fake News sind Phänomene der letz-
                                                                                                                           ten Jahre, die – durch digitale Medien getrieben – die
                                                   Die digitale Transformation läuft auf Hochtouren                        politische Kommunikation und damit die öffentli-
                                                   und erfasst alle Bereiche: Staat, Gesellschaft und                      che Meinungs- und Willensbildung qualitativ und
                                                   Wirtschaft. Sie macht auch vor den Medien und                           grundlegend verändern. Leak – der englische Begriff
                                                   dem politischen System nicht Halt: Social Bots und                      für Leck, Loch oder undichte Stelle – meint die
                                                   Big-Data-Analysen werden in Wahlkämpfen einge-                          erst durch anonyme Informanten (Whistleblower)
                                                   setzt. Sogenannte »soziale« Medien wie Twitter und                      ermöglichte Veröffentlichung von bislang geheim
                                                   Face­book sowie Social Bots sind grundsätzlich in                       gehaltenen Informationen. In den vergangenen Jah-
                                                   der Lage, die öffentliche Meinungsbildung zu beein-                     ren gab es mehrere, besonders spektakuläre Fälle.
                                                   flussen, laufende Diskussionen zu manipulieren und                         Berühmt geworden sind die durch die Online-
                                                   neue Themen anzustoßen. Das gilt selbstverständ-                        Plattform Wikileaks publizierten Ausschnitte der ge-
                                                   lich auch für Wahlkämpfe.1 So hatte sich die britische                  heimen Mautverträge mit Toll Collect4 und Teile der
                                                   Firma Cambridge Analytica unerlaubt Zugang zu                           Verhandlungsprotokolle zu ACTA.5 Die Offshore-
                                                   Daten von Millionen Facebook-Profilen verschafft                        Leaks vom April 2013 umfassen 2,5 Millionen Doku-
                                                   und damit Wähler im US-Präsidentschaftswahl-                            mente mit einem Datenvolumen von 260 Gigabyte.
                                                   kampf 2016 zugunsten von Donald Trump beein-                            Sie wurden über eine anonyme Person an Journalisten
                                                   flusst.2 Auch Social Media und Text-Roboter (Bots)                      des Internationalen Konsortiums für investigativen
                                                   wurden vielfach verwendet und deren mögliche aus-                       Journalisten (ICIJ) übermittelt. Millionen Daten-
                                                   ländische Herkunft und Einflussnahme diskutiert.3                       bankeinträge, Verträge, Urkunden und E-Mails aus
                                                                                                                           dem Innenleben etlicher Steueroasen identifizieren
                                                   * Dem vorliegenden Text liegt ein Beitrag zugrunde, der voraus-         mehr als 100 000 Kunden, unter ihnen Staatsober-
                                                     sichtlich 2020 unter dem Titel Medienkompetenz als Schlüssel          häupter und Waffen­schmuggler, Steuerflüchtlinge
                                                     für Demokratiekompetenz in dem Sammelband Monika Waldis /             und Mittelständler, Prominente und Betrüger. An
                                                     Manuel Hubacher (Hg.), Politische Bildung für die »neue« Öffent-
                                                                                                                           dem monatelangen Rechercheprojekt waren über 86
                                                     lichkeit? Veränderte Machtstrukturen einer digitalen Gesellschaft
                                                     bei Springer (Wiesbaden) erscheinen wird.                             Journalisten von 38 Zeitungen sowie Hörfunk- und
                                                                                                                           Fernsehstationen aus 46 Ländern beteiligt, darunter
                                                   1 Vgl. Thomas Jüngling, Die unheimliche Manipulation durch Robot-
                                                     Herden, in: Die Welt, 6. Dezember 2015 (online unter: www.welt.de/    die BBC, The Guardian, Washington Post, Le Monde,
    © Foto Titelseite: ID 8385 / Pixabay License

                                                     wirtschaft/webwelt/article149665357/Die-unheimliche-Manipula-         die Schweizer Sonntagszeitung sowie Norddeutscher
                                                     tion-durch-Robot-Herden.html – letzter Zugriff: 27.03.2020).          Rundfunk (NDR) und Süddeutsche Zeitung.6
                                                   2 Vgl. Patrick Beuth / Judith Horchert, Was treibt eigentlich Cam-
                                                     bridge Analytica?, in: Spiegel online, 20. März 2018 (online unter:
                                                     www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/cambridge-analytica-das-          4 Vgl. Detlef Borchers, LKW-Maut: Warum sind die Maut-Verträge
                                                     steckt-hinter-der-datenanalyse-firma-a-1198962.html – letzter           geheim?, in: C’t – Magazin für Computertechnik, 26. November 2009
                                                     Zugriff: 27.03.2020).                                                   (online unter: www.heise.de/ct/artikel/LKW-Maut-Warum-sind-die-
                                                                                                                             Maut-Vertraege-geheim-869372.html – letzter Zugriff: 27.03.2020).
                                                   3 David Fischer, Social Bots im US-Wahlkampf. Der Roboter als
                                                     Wahlkampfhelfer, in: Der Tagesspiegel, 30. Oktober 2016 (online       5 Siehe online unter: http://en.swpat.org/wiki/ACTA-6437-10.pdf_as_
                                                     unter: www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/social-bots-             text – letzter Zugriff: 26.03.2020.
                                                     im-us-wahlkampf-der-roboter-als-wahlkampfhelfer/14756570.             6 Mehr Hintergründe dazu online unter: https://offshoreleaks.icij.
                                                     html – letzter Zugriff: 27.03.2020).                                    org/ – letzter Zugriff: 27.03.2020.

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                           Abbildung 1: Das Fernsehen ist bei Jugendlichen nicht mehr das wichtigste Informationsmedium – hier das ARD-Hauptstadtstudio in Berlin.

                              Weitere prominente Beispiele für Leaks und                              Fake News haben sich in den letzten Jahren – spä-
                           weltumspannende Datenrecherchen sowie journa-                           testens seit der Präsidentschaft Trumps in den USA –
                           listische Kooperationen der letzten Jahre sind die                      zu einem häufig gebrauchten politischen Schlagwort
                           Luxemburg-Leaks7, die Panama8- und die Paradise-                        entwickelt. Für die wissenschaftliche Diskussion ist
                           Papers.9 Bei Letzteren handelt es sich um 13,4 Mil-                     dieser manipulierende Propagandabegriff jedoch
                           lionen Dokumente – etwa 1,4 Terabyte, die durch die                     völlig untauglich und sollte zukünftig nicht mehr
                           Zusammenarbeit von 97 Medien mit Investigativ-                          verwendet werden. Denn Trump meint damit alle
                           reportern aus 70 Ländern offengelegt wurden.                            journalistischen Erzeugnisse, die seiner offenkundig
                                                                                                   sehr eigenwilligen Weltsicht und Ideologie wider-
                           7 Siehe mehr dazu: Süddeutsche Zeitung, Luxemburg-Leaks:                sprechen. Er selbst nimmt es mit der Wahrheit nicht
                             Klicken Sie sich durch die Geheimdokumente, 5. November 2014          so genau. Die Washington Post hat bei seinem Amts-
                             (online unter: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/luxemburg-leaks-        antritt im Januar 2017 begonnen, seine Lügen und
                             klicken-sie-sich-durch-die-geheimdokumente-1.2207307 – letzter
                                                                                                   falschen oder irreführenden Aussagen zu zählen. Im
                             Zugriff: 26.03.2020).
                                                                                                   ersten Amtsjahr waren es 1999; 2018 kamen weitere
                           8 Boris Herrmann / Mauritius Much / Hannes Munzinger / Frederik
                                                                                                   5 689 dazu – zusammen also 7 688 in zwei Jahren.
                             Obermaier / Bastian Obermayer, Neues Datenleck offenbart
                             die letzten Geheimnisse der Skandal-Kanzlei, in: Süddeutsche          Bis zum 19. Januar 2020 hat sich diese Zahl mehr als
                             Zeitung, 22. Juni 2018 (online unter: www.sueddeutsche.de/            verdoppelt auf 16 241.10 Ein Ende ist nicht in Sicht.
                             politik/mossack-fonseca-neues-datenleck-offenbart-die-letzten-           In der wissenschaftlichen Fachliteratur hat sich
                             geheimnisse-der-skandal-kanzlei-1.4025000 – letzter Zugriff:          mittlerweile der bessere Begriff der gezielten Des-
© Foto: Michael Schröder

                             26.03.2020).
                                                                                                   information durchgesetzt. Bei »Fake News« handelt
                           9 Frederik Obermaier / Bastian Obermayer, So lief die SZ-Recherche:     es sich um Nachrichten, die entweder falsch oder
                             13,4 Millionen Dokumente, mehr als 380 Journalisten, ein Jahr
                             Recherche: Fragen und Antworten zu den Paradise Papers, in:
                             Süddeutsche Zeitung, 5. November 2017 (online unter: https://         10 Siehe den Faktencheck der Washington Post (online unter: www.
                             projekte.sueddeutsche.de/paradisepapers/politik/fragen-und-              washingtonpost.com/graphics/politics/trump-claims-database/ –
                             antworten-zur-sz-recherche-e588052/ – letzter Zugriff: 27.03.2020).      letzter Zugriff: 26.03.2020).

                                                                                                                2 - 2 0 2 0 | A K A D E M I E - K U R Z A N A LY S E   3
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    irreführend sind und deren Urheber eine manipu-                         kompetenz. Medienkompetente Bürgerinnen und
    lative Täuschungsabsicht verfolgen.11 Nicht gemeint                     Bürger brauchen neues medienkundliches Wissen,
    dagegen sind versehentliche journalistische Fehler.                     neue Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien,
    Die passieren zwar im von Zeitdruck geprägten Be-                       medienkritisches Denken und medienpolitische
    rufsalltag der Redaktionen immer mal wieder, aber                       Urteilsbildung. Das galt bereits schon in Zeiten der
    sie sollten es natürlich nicht. Und wenn sie doch                       analogen Medien. Aber diese Erkenntnisse bekom-
    vorkommen, müssen sie so schnell wie möglich                            men in der digitalen Mediendemokratie noch einmal
    von den Redaktionen öffentlich korrigiert werden.                       eine völlig neue Dimension und Qualität: Politische
    Aber wegen solcher Verfehlungen gleich generell                         Bildung muss unbedingt mit einem algorithmischen
    von »Lügenpresse« zu reden, verbietet sich. Auch                        Grundverständnis kombiniert werden.
    dieser Begriff ist ideologisch gefärbt und verfolgt                        Politische Bildung findet heute schulisch und
    seinerseits eine manipulative Absicht.                                  außerschulisch unter den Bedingungen der digitalen
                                                                            Mediengesellschaft statt. Es geht nicht mehr nur um
    Medienbildung und politische                                            Information über die mediale »Darstellung« von
                                                                            Politik, sondern auch um die vertiefende Auseinan-
    Bildung                                                                 dersetzung mit den medienabhängigen und -unab-
                                                                            hängigen Faktoren der »Herstellung« von Politik.
    Viele Mediennutzerinnen und -nutzer sind ange-                          Medien sind Agenturen der Politikvermittlung und
    sichts dieser sich rapide ändernden Medienland-                         müssen deshalb mehr denn je als eine Dimension des
    schaft und ihrer neuen Phänomene verunsichert. Um                       Politischen beziehungsweise auch des Unpolitischen
    die Wirkungsweise und Mechanismen dieser neuen                          in den Blick kommen. Nach Ulrich Sarcinelli ist Me-
    digitalen Medienwelt zu verstehen, ist kritisches                       dienkompetenz deshalb als Teil einer spezifisch poli-
    Denken – also Medienkompetenz – gefragt. Dafür                          tischen Handlungskompetenz, als Basisqualifikation
    müssen Medienbildung und politische Bildung mehr                        demokratischer Bürgerkompetenz zu begreifen.13
    denn je zusammenwachsen.
       Medien beeinflussen das Wissen. In unseren di-                       Veränderungen der
    gitalen Zeiten werden mit Hilfe von Social Media
    Nachrichten mehr und mehr personalisiert. Wer
                                                                            Medienlandschaft und -nutzung
    also nicht von politischer Information erreicht
    werden will, bekommt sie auch nicht mehr. Oder er                       Die Medienlandschaft und die -nutzung haben
    bekommt nur noch Informationen, die der eigenen                         sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Im
    Meinung und dem eigenen Weltbild entsprechen. Es                        Durchschnitt verbringen die Deutschen täglich
    besteht das Risiko der Echokammer und Filterblase:                      sieben Stunden mit medialen Video-, Audio- und
    »Das Schmoren im Saft der eigenen Ansichten, die                        Textinhalten. Bei den unter 30-Jährigen ist es eine
    Verknöcherung des Weltbilds und die Bildung vir-                        gute Stunde weniger. In dieser Altersgruppe wird
    tueller Sekten.«12                                                      der Trend zur non-linearen Nutzung deutlich. In der
       Das Internet kann wegen dieser zunehmenden                           Gesamtbevölkerung dominiert bei der Bewegtbild-
    digitalen Wissenskluft einer Fragmentierung der Öf-                     nutzung das lineare Fernsehen mit einem Anteil von
    fentlichkeit und einer medialen Klassengesellschaft                     76 Prozent, während das Radio mit 79 Prozent den
    Vorschub leisten. Es droht die Entstehung eines                         Löwenanteil der Audionutzung ausmacht.14
    medialen Prekariats. Politische Bildung im Sinne                           Betrachtet man die für Medien aufgewendete Zeit,
    von Medienkompetenzförderung kann und muss                              verbringt die Bevölkerung täglich sieben Stunden
    hier ansetzen und gegensteuern. Denn Medienkom-                         mit Medieninhalten (420 Minuten). Nur rund eine
    petenz bekommt in der digitalen Transformation                          Stunde entfällt auf das Lesen von Texten, wobei
    mehr denn je eine Schlüsselrolle als Demokratie-                        sich auch die Textnutzung zunehmend ins Netz

                                                                            13 Vgl. Ulrich Sarcinelli, Medienkompetenz in der politischen Bildung,
    11 Vgl. Romy Jaster / David Lanius, Was sind Fake News?, in: Forum         in: Aus Politik und Zeitgeschichte 50 (25/2000), S. 29 – 38.
       für Streitkultur (online unter: https://forum-streitkultur.de/was-   14 Diese und die folgenden Daten bei: Beate Frees / Thomas Kupfer­
       sind-fake-news/ – letzter Zugriff: 26.03.2020).                         schmitt / Thorsten Müller, ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends
    12 Markus Breuer, Personalisierung: Hilfreiches Werkzeug oder              2019, in: Media Perspektiven, Nr. 7 – 8/2019, S. 314 – 333 (online
       Manipulationstechnik? in: Digitaltrends LfM, Nr. 1/2012, hrsg. von      unter: www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/media-
       der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf            perspektiven/pdf/2019/070819_Frees_Kupferschmitt_Mueller.pdf
       2012, S. 7.                                                             – letzter Zugriff: 26.03.2020).

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Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien
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                                        verlagert. Die meiste Zeit entfällt auf das Ansehen                 Fernsehen mit 67 Prozent trotz leichter Verluste nach
                                        von Videos (202 Minunten) und die Audionutzung                      wie vor die höchsten Tagesreichweiten. Ähnlich sieht
                                        (186 Minuten). Bei den 14- bis 29-Jährigen ist eine                 es bei Audio aus: An einem Tag haben durchschnitt-
                                        deutlich andere Nutzung zu beobachten. Ihre für                     lich 81 Prozent der Bevölkerung ein Audioangebot
                                        Medien aufgewendete Zeit ist mit 357 Minuten ge-                    gehört, wobei mit 71 Prozent die meisten Menschen
                                        ringer als die der Gesamtbevölkerung. Von der Zeit                  mit klassischem Radio erreicht werden.
                                        zur Videonutzung werden 33 Prozent mit Fernse-                         Analog zur Nutzungsdauer zeigt sich auch nach
                                        hen, live zum Ausstrahlungszeitpunkt, verbracht,                    Reichweiten bei den unter 30-Jährigen der Trend
                                        67 Prozent entfallen auf die zeitversetzte Nutzung                  zur zeitsouveränen Nutzung von Video und Audio:
                                        von Fernseh- und Videoinhalten. Bei Audio verhält                   Streamingdienste, Videoplattformen und Media­
                                        es sich ähnlich, allerdings abgeschwächt. Hier liegt                theken haben dabei die klassischen Verbreitungs-
                                        das Verhältnis bei 42 Prozent linearer Radionutzung,                wege eingeholt. Konkurrenz erwächst den Fernseh­
                                        gegenüber 58 Prozent zeitsouveräner Nutzung in                      sendern dabei zunehmend durch Streamingdienste
                                        Form von Musik-Streaming (41 Prozent), Musik                        wie Netflix und Amazon, die ähnliche Nutzungs-
                                        über CDs (14 Prozent) und Podcasts (3 Prozent).                     muster wie das Fernsehen aufweisen. Bei den Ra-
                                        Dies dokumentiert den Trend zur zeitsouveränen                      diosendern sind es vor allem Streamingdienste wie
                                        Nutzung, wobei der Erfolg nach wie vor vom Inhalt                   Spotify, die im Musikbereich konkurrieren.
                                        abhängt.                                                               Bei den jüngeren Hörern unter 30 Jahren liegen
                                           Betrachtet man wie groß die Anteile in der Be-                   das tägliche Radiohören und das Hören non-linearer
                                        völkerung sind, die verschiedene Medien nutzen,                     Musik auf gleichem Tagesniveau (Radio: 52 Prozent,
                                        ergibt sich folgendes Bild: An einem Tag werden                     Musik: 53 Prozent). Dabei werden bei jungen Hö-
                                        durchschnittlich 87 Prozent der Bevölkerung von                     rern Streamingdienste wie Spotify mit 30 Prozent
                                        Videoangeboten erreicht. Dabei erzielt das lineare                  Tagesreichweite immer populärer. Musik über CDs
© Foto: Free-Photos / Pixabay License

                                        Abbildung 2: Blick zurück in die Medienwelt des 20. Jahrhunderts.

                                                                                                                      2 - 2 0 2 0 | A K A D E M I E - K U R Z A N A LY S E   5
Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien
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    Abbildung 3: Der Propagandabegriff »Fake News« sollte besser durch »gezielte Desinformation« ersetzt werden.

    und andere Tonträger (20 Prozent) wurde inzwi-                     wahrgenommen zu werden, sind endgültig vorbei. In
    schen von diesen Angeboten überholt. Mit 6 Pro-                    der Twitter-Demokratie braucht ein Politiker keine
    zent ist auch die Tagesreichweite von Podcasts und                 Pressekonferenz mehr, um sich über den journali-
    zeitversetztem Radio bei den Jüngeren doppelt so                   stischen Umweg Gehör und Aufmerksamkeit beim
    hoch wie in der Gesamtbevölkerung.15                               Publikum zu verschaffen. Er kommt direkt und in
       Über Jahrzehnte hinweg war der professionel-                    Echtzeit mit seiner Weltsicht und seinen Meinun-
    le Journalismus der klassischen, meist analogen                    gen zu den Wählerinnen und Wählern. Journalisten
    Massenmedien der beherrschende Faktor der öf-                      haben in dieser digitalen Medienwelt auch keinen
    fentlichen Meinungsbildung. Dies hat sich seit dem                 Informationsvorsprung mehr vor ihrem Publikum.
    Aufkommen des Internets und insbesondere soge-                        Das soll nicht heißen, dass der professionelle
    nannter sozialer Netzwerke grundlegend gewandelt.                  Nachrichtenjournalismus seine Bedeutung völlig
    Professionelle Journalisten haben ihre fast monopol­               verloren hat. Für viele Menschen sind Nachrichten-
    artige Funktion und Bedeutung als Schleusenwär-                    medien – egal ob analog oder digital – immer noch
                                                                                                                                          © Foto: S. Hermann und F. Richter / Pixabay License

    ter (Gatekeeper) im täglichen Nachrichtenstrom                     und nach wie vor wichtige Informationsquellen,
    verloren. Sie sind heute nur noch ein Player unter                 aber eben nicht mehr die einzigen: 85 Prozent der
    vielen im globalen Angebot des Netzes. Die Zeiten,                 deutschen Haushalte werden noch täglich vom
    in denen Informationen ihren Weg durch die Filter                  Fernsehen erreicht. Die Hauptnachrichtensendung
    der Redaktionen ans Licht der Öffentlichkeit finden                der ARD, die Tagesschau um 20 Uhr, wird im
    mussten, um als Nachrichten von der Öffentlichkeit                 Durchschnitt täglich von 9,6 Millionen Menschen
                                                                       gesehen; die ZDF-Nachrichten um 19 Uhr sehen
    15 Vgl. Pressemitteilung von ARD und ZDF vom 5. September 2019:    etwas über vier Millionen. 53 Millionen hören täg-
       ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends 2019: Sieben Stunden         lich Radio. Und die deutschen Tageszeitungen lesen
       Mediennutzung täglich – Mediatheken und Streamingdienste
                                                                       täglich rund 40 Millionen Menschen.16
       werden immer wichtiger, Frankfurt / Mainz, 9. September 2019
       (online unter: www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/
       media-perspektiven/Mip_MK_MK-Trends/PM_Massenkommu-             16 Vgl. Media Perspektiven Basisdaten. Daten zur Mediensituation
       nikation_Trends_2019.pdf – letzter Zugriff: 26.03.2010).           in Deutschland 2018, Frankfurt/M. 2019, S. 70 – 80.

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Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien
T W I T T E R - D E M O K R AT I E

   Neben diese klassischen Informationsmedien ist                      einen vielfältigen Medienkonsum haben, dazu neigen,
ein bunter Nachrichten-Cocktail getreten – analog                      Echokammern zu meiden. Wahrscheinlich würde
und digital – den sich die Bürgerinnen und Bürger                      sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in einer
täglich neu zusammenmixen. Dies gilt besonders für                     Echokammer befinden.21 Nichtsdestotrotz bleibt
die jüngere Generation: Die TV-Nutzung der Kin-                        festzuhalten, dass es Gruppen in der Gesellschaft
der bis 13 Jahre ging zwischen 2005 und 2018 von                       gibt, die ein verfestigtes, populistisches oder gar ex-
91 auf 64 Minuten täglich zurück. In der Gesamt­                       tremistisches Bild von Demokratie und Gesellschaft
bevölkerung dominiert zwar nach wie vor die lineare                    haben und die sich deshalb gerne in Filterblasen und
TV- und Radionutzung, nicht jedoch bei den 14- bis                     Echokammern aufhalten.
29-Jährigen. Fernseh- und Radiosendern erwächst in                         Google ist mittlerweile viel mehr als eine Suchma-
dieser Altersgruppe zunehmend Konkurrenz durch                         schine, die fast jeder fast täglich benutzt. Unter dem
Streamingdienste wie Netflix, Amazon und Spotify                       Konzerndach Alphabet – Ende Januar 2020 Wert pro
sowie durch Videoportale wie YouTube.17                                Aktie 1 327 Euro, Umsatz 137 Milliarden US-Dollar,
                                                                       Gewinn 30,7 Milliarden US-Dollar, Marktwert
Filterblasen und Echokammern                                           863,2 Milliarden US-Dollar, im November 2019 auf
                                                                       Platz 17 der weltgrößten Unternehmen22 – verber-
Der professionelle Journalismus steht im digitalen                     gen sich mittlerweile zahlreiche andere bedeutende
Zeitalter in Konkurrenz mit alternativen Angeboten                     Internet­firmen: YouTube, das meistbenutzte Video­
auf sozialen Netzwerken und Formen öffentlicher                        portal. DeepMind, ein führendes Unternehmen zur
Bürgerkommunikation. Auch dort entsteht ein                            Erforschung und Anwendung künstlicher Intelli-
Meinungsklima – aber unter ganz anderen Be-                            genz. Waymo ist die Firma, die Googles Aktivitäten
dingungen als in der analogen Welt. Eine nicht zu                      zum autonomen Fahren bündelt. Calico, das Biotech-
unterschätzende Rolle spielen dabei Suchmaschinen,                     Unternehmen, von dem außerhalb niemand genau
die mit ihrem Algorithmus personalisierte Nach-                        weiß, woran genau es forscht (außer dass es um die
richtenkanäle bereitstellen und die Nutzerinnen und                    Verlängerung des menschlichen Lebens geht). Wing
Nutzer zu Seiten führen, die ihren Neigungen und                       entwickelt und betreibt Lieferdrohnen. Die intrans-
Voreinstellungen entsprechen.18 Sie können damit                       parenten Algorithmen der Google-Suchmaschine
zur Verfestigung der erwähnten Echokammern und                         haben die frühere Funktion der journalistischen
Filterblasen beitragen.19                                              Schleusenwärter übernommen, sie wirken heute
   Mittlerweile haben einige Kommunikationswis-                        als die wahren Gatekeeper von Informationen. Sie
senschaftler Vorbehalte gegenüber diesem Modell                        filtern, gewichten und sortieren. So bewerten sie
geäußert. So argumentiert Axel Bruns, dass der Ein­                    zum Beispiel, welche Inhalte als terroristisch einge-
fluss von Echokammern und Filterblasen stark über-                     stuft werden und welche nicht. Sie legen fest, wo die
bewertet werde. Er ergebe sich aus einer moralisieren-                 Grenzen des Sexismus, der Pornografie und des po-
den und panischen Einstellung zur Rolle von Social                     litischen Extremismus liegen. So wird die öffentliche
Media. Es existiere eine weit verbreitete Tendenz,                     Meinungsbildung beeinflusst. Und das alles ist weder
Plattformen und ihre Algorithmen für politische                        legitimiert noch transparent.
Polarisierung verantwortlich zu machen. So würden                          Wolfgang Schweigers These ist zuzustimmen:
weitaus ernstere Probleme im Zusammenhang mit                          »Wir leben tatsächlich in einer Zeit des Aufstiegs
dem Aufkommen von Populismus verschleiert.20                           sozialer Medien und des Bedeutungsverlusts jour-
   Elizabeth Dubois und Grant Blank haben bei einer                    nalistischer Nachrichten.«23 Besonders anfällig für
Untersuchung in Großbritannien herausgefunden,                         diese neuen Formen alternativer, öffentlicher Bür-
dass diejenigen, die sich für Politik interessieren und                gerkommunikation ist die von Schweiger sogenannte

17 Vgl. Frees / Kupfer­schmitt / Müller, ARD/ZDF-Massenkommunika-      21 Elizabeth Dubois / Grant Blank, The Echo Chamber is Overstated:
   tion (wie Anm. 14), S. 314.                                            The Moderating Effect of Political Interest and Diverse Media, in:
18 Vgl. Wolfgang Schweiger / Patrick Weber / Fabian Prochazka / Lara      Information, Communication and Society 21 (5/2018), S. 729 – 745.
   Brückner, Algorithmisch personalisierte Nachrichtenkanäle.          22 Vgl. Alphabet on the Forbes Growth Champions List (online unter:
   Begriffe, Nutzung, Wirkung, Wiesbaden 2019.                            www.forbes.com/companies/alphabet/#cdc4cfe540ee – letzter
19 Der Begriff der Filterblase wurde erstmals von Eli Pariser in die      Zugriff: 26.03.2020).
   Debatte eingeführt. Vgl. Eli Pariser, The Filter Bubble. What the   23 Wolfgang Schweiger, Der (des)informierte Bürger im Netz. Wie
   Internet is Hiding from You, London 2012.                              soziale Medien die Meinungsbildung verändern, Wiesbaden 2017,
20 Axel Bruns, Are Filter Bubbles Real?, Cambridge 2019.                  S. 182.

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Die Twitter-Demokratie: Der Strukturwandel politischer Kommunikation durch digitale Medien
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    Abbildung 4: Google ist inzwischen sehr viel mehr als eine Suchmaschine.

    politisierte Bildungsmitte: »Das sind Menschen mit                   teilt seine abstrusen Ansichten im Netz über Social
    niedriger, häufiger noch durchschnittlicher formaler                 Media und findet in einschlägigen Foren schnell
    Bildung. Sie sind überwiegend mittleren Alters, in-                  Gleichgesinnte. Und es entsteht das Gefühl, nicht
    formieren sich intensiv im Internet und diskutieren                  mehr allein so zu denken, sondern vermeintlich einer
    dort auch teilweise mit.«24                                          Mehrheit anzugehören. Dabei ist das Klima auf die-
        In dieser Gruppe hat sich in den vergangenen                     sen Online-Plattformen deutlich rauer geworden.
    Jahren eine deutliche Politisierung bemerkbar ge-                       Die Veränderung des Informations- und Dis-
    macht. Die Debatte orientiert sich an Fixpunkten                     kussionsverhaltens durch das Internet führt auch
    wie der Griechenland-Hilfe der EU in der Folge                       dazu, dass viele Menschen sich für besser informiert
    der Eurokrise, islamistischer Terror und Flüchtlinge.                halten als sie es tatsächlich sind. Schweiger sieht
    Zu dieser Gruppe gehören viele Menschen, die sich                    eine »merkwürdige Mischung aus politischer Auf-
    von den etablierten »Systemmedien (Lügenpresse)«                     wallung, mangelnder Medienkompetenz, einem fast
    abgewandt haben. Deren Hauptinformationsquellen                      schon übernatürlichen politischen Selbstbewusstsein
    sind das unterhaltungsorientierte und boulevardeske                  bei gleichzeitiger Fehlinformiertheit.«25 Eine Ursa-
    kommerzielle Fernsehen sowie alternative Online-                     che dafür ist im Bedeutungsverlust des professionel-
    Medien. Sie tauschen sich mit Gleichgesinnten im                     len Journalismus zu suchen. Bei aller berechtigten
    Netz aus. Und das sind meist ebenso Eliten- und Po-                  Kritik an gelegentlichen Fehlleistungen auch des
    litikverdrossene wie sie selbst. Dieser Austausch för-               Qualitätsjournalismus (zum Beispiel die Relotius-
    dert und bestärkt das vorhandene Meinungsklima.                      Affäre beim Spiegel im Dezember 201826): Nur mit
    Wieder entstehen Filterblasen und Echokammern.                       Hilfe eines freien und unabhängigen Journalismus,
        An den analogen Stammtischen früherer Zeiten                     wie er insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen
    hat es schon immer einzelne, abweichende oder                        Rundfunkanstalten, Tageszeitungen, Magazinen und
                                                                                                                                                 © Foto: William Iven / Pixabay License

    abseitige Meinungen bis hin zum Extremismus                          Wochenzeitungen praktiziert und gepflegt wird, ist
    gegeben. Damals ging man vom Stammtisch nach                         ein qualifizierter Dialog zwischen den Mitgliedern
    Hause und der Neonazi blieb dort allein mit seinen                   einer demokratischen Gesellschaft zu organisieren.
    extremistischen und demokratiefeindlichen Ansich-                    Ferner braucht es eine regelmäßige, vielfältige und
    ten. Er erzielte über sein Wirtshaus hinaus keine
    Wirkung. Jetzt, im digitalen Zeitalter vernetzter                    25 Schweiger, Der (des)informierte Bürger (wie Anm. 23), S. 183.
    Online-Kommunikation, geht er nach Hause und
                                                                         26 Vgl. Brigitte Fehrle / Clemens Höges / Stefan Weigel, In eigener
                                                                            Sache: Der Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum
    24 Schweiger, Der (des)informierte Bürger (wie Anm. 23), S. 182.        Fall Relotius, in: Der Spiegel Nr. 22, 25. Mai 2019, S. 130 – 146.

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                           kompetente Mediennutzung. Nur so kann sich der                        Konflikt werden so zum Teil außer Kraft gesetzt und
                           mündige Bürger ein solides politisches Grundwissen                    allein durch Populäres und Gefälliges ersetzt.
                           aneignen. Dies ist Voraussetzung für eine umfassen-                      In den entstehenden Filterblasen und Echokam-
                           de pluralistische Informiertheit. Und nur auf dieser                  mern bleiben die unterschiedlichen Meinungslager
                           Basis kann er zu einer realistischen Einschätzung des                 unter sich. In diesen homogenen Netzwerken
                           tatsächlichen Meinungsklimas kommen und sich an                       kommen Andersdenkende nicht vor. Die Wahr-
                           einem von Rationalität geprägtem politischem Dis-                     scheinlichkeit, auf entgegengesetzte Meinungen und
                           kurs beteiligen.                                                      kontroverse Ansichten zu stoßen, ist eher gering.
                              Nachrichten-Aggregatoren wie Google+, Twitter                      Irritierende oder gar störende Einflüsse werden von
                           oder Facebook liefern personalisierte Nachrichten. Je                 vorne herein ausgeblendet. Die kritische Prüfung
                           mehr sich User auf diese Ergebnisse verlassen, umso                   der eigenen Positionen und das Lernen von anderen
                           größer ist die Gefahr der Desinformation. Das Risi-                   Denkweisen und Überzeugungen bleiben damit auf
                           ko, sich nur noch in Filterblasen und Echokammern                     der Strecke. Genau diese sind aber für einen offenen
                           zu bewegen, steigt damit an. Denn es fehlt die profes-                Diskurs in einem demokratisch-pluralistischen Ge-
                           sionelle Instanz, die einordnet, gewichtet, erklärt und               meinwesen unentbehrlich.
                           hinterfragt. Die genannten Aggregatoren nutzen zwar                      Menschen in diesen Filterblasen, die von algorith-
                           auch journalistische Inhalte – für deren Nutzung sie                  mengesteuerten Suchmaschinen und Social Media in
                           im Übrigen nicht bezahlen. Aber die ursprünglichen                    ihrem Meinungsbild geprägt werden, haben kaum
                           Quellen sind nicht mehr unbedingt und zweifelsfrei                    eine Chance, zum mündigen, demokratiekompeten-
                           nachvollziehbar. Außerdem werden die von Nach-                        ten Bürger im oben beschriebenen Sinn zu werden.
                           richtenmedien in sozialen Netzwerken geposteten                       Die Wahlergebnisse der letzten Jahre in Deutsch-
                           Beiträge nicht in erster Linie nach gesellschaftlicher                land haben die rechtspopulistische »Alternative für
                           Relevanz ausgesucht, sondern nach zu erwartenden                      Deutschland« in alle Landesparlamente und in den
                           möglichst hohen Klickzahlen, Likes und Retweets.                      Bundestag gebracht. Dies ist ein Indiz dafür, dass
                           Die klassischen Nachrichtenwertfaktoren wie zum                       die Polarisierung der Gesellschaft zugenommen hat.
                           Beispiel Aktualität, Neuigkeit, Nähe, Relevanz und                    Die ehemaligen großen Volksparteien CDU/CSU
© Foto: Michael Schröder

                           Abbildung 5: Affären wie der Fall des Spiegel-Reporters Claas Relotius erschüttern die Glaubwürdigkeit des professionellen Journalismus.

                                                                                                              2 - 2 0 2 0 | A K A D E M I E - K U R Z A N A LY S E    9
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     und SPD, die noch in den 1970er-Jahren bei Wahlen                      Medien und Politik steckten unter einer Decke. Mit
     zusammen rund 90 Prozent der Stimmen auf sich ver-                     Blick auf die politischen Orientierungen der Befrag-
     einigen konnten, schafften bei Umfragen vor der Co-                    ten bestätigt sich ein Trend: Wie in den Vorjahren
     ronakrise gerade noch rund 40 Prozent. Inzwischen                      neigen potenzielle Wählerinnen und Wähler der AfD
     liegen die Zahlen höher und die regierende »Große                      auffallend häufig zu menschenfeindlichen, rechts-
     Koalition« könnte eventuell wieder mit einer knap-                     populistischen und rechtsextremen Einstellungen.«29
     pen parlamentarischen Mehrheit rechnen.27 Aber bei                        Die Studie kommt zu folgendem Schluss: »Vor-
     sieben Parteien und sechs Fraktionen im Deutschen                      dergründig findet sich eine hohe Zustimmung zur
     Bundestag bleibt eine Regierungsbildung schwierig.                     Demokratie, die aber zugleich von antidemokra-
     Auch diese Zerrissenheit und Polarisierung des poli-                   tischen und antipluralistischen Überzeugungen
     tischen Spektrums ist eine Folge der oben beschrie-                    begleitet wird. Die Mitte verliert ihren festen Boden
     benen veränderten Mediennutzung und des damit                          und ihre demokratische Orientierung.«30
     zusammenhängenden Informations- und Diskussi-                             Die neueste Shell-Jugendstudie vom Oktober 2019
     onsverhaltens eines großen Teils der Bevölkerung.                      kommt auch für die jüngere Generation (12 bis 25
        Die neueste »Mitte-Studie« der Friedrich-Ebert-                     Jahre) zu keinen beruhigenden Befunden. Sie rechnet
     Stiftung und einem Forschungsteam des Instituts für                    24 Prozent zu den »Populismus-Geneigten«. Fast alle
     Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung                        Befragten dieser Gruppe stimmen den Aussagen zu
     der Universität Bielefeld (IKG) vom April 2019                         »In Deutschland darf man nichts Schlechtes über
     stützt diesen Befund.28 Es ergebe sich das Bild einer                  Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft
     Verfestigung und Normalisierung rechter Einstel-                       zu werden« und »Der Staat kümmert sich mehr
     lungen in der Mitte der Gesellschaft, so die Autoren                   um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche«.
     der Studie. Die Studienreihe gibt seit 2006 Auskunft                   Vergleichbares gilt für die Aussage »Die Regierung
     über die Stabilität und Instabilität der Demokratie.                   verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit«. Als
     Die aktuellen Ergebnisse machen deutlich:                              Nationalpopulisten können laut der Studie 9 Prozent
        »Der Großteil der Deutschen befürwortet die                         der Jugendlichen bezeichnet werden. Sie stimmen
     Demokratie, begrüßt die Vielfalt der Gesellschaft                      allen populistisch aufgeladenen Statements durch-
     und fordert eine Stärkung der EU. Doch zugleich                        gängig zu, distanzieren sich von der Aufnahme von
     äußert ein Drittel auch nicht-liberale Einstellungen                   Flüchtlingen und betonen darüber hinaus auch ihre
     zur Demokratie, stellt gleiche Rechte für alle infrage.                generell ablehnende Haltung gegenüber Vielfalt.31
     Dabei ist die Zustimmung zu menschenfeindlichen                           Bereits die Forschungsgruppe Wahlen hatte bei
     Vorurteilen in den letzten fünf Jahren nahezu unver-                   den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen hohe
     ändert. Das gilt vor allem für Abwertungen gegen-                      Sympathiewerte für die AfD bei den Jüngeren (18 bis
     über Zugewanderten, Musliminnen und Muslimen                           29 Jahre) ermittelt: Mit 25 Prozent in Thüringen und
     und für Antisemitismus, die seit 2014 hoch sind.                       21 Prozent in Sachsen schnitt sie in dieser Alters-
     Negative Einstellungen gegenüber Asylsuchenden                         gruppe am besten ab. Lediglich in Brandenburg lag
     haben sogar zugenommen: Jede zweite befragte Per-                      die AfD in der Gruppe der 16- bis 19-Jährigen mit
     son stimmt negativen Meinungen gegenüber Asyl-                         20 Prozent knapp hinter den Grünen (24 Prozent).32
     suchenden zu. Dies ist noch einmal im Vergleich zu
     2016 angestiegen, obwohl die Zahl der Asylsuchen-
                                                                            29 Zusammenfassung der Studie »Verlorene Mitte – Feindselige
     den im Befragungszeitraum rückläufig ist. Hingegen                        Zustände« (online unter: https://ekvv.uni-bielefeld.de/blog/uniak-
     sind Sexismus, die Abwertung homosexueller und                            tuell/entry/neue_mitte_studie_zur_verbreitung – letzter Zugriff:
     wohnungsloser Menschen eher rückläufig. Auch                              26.03.2020).
     Verschwörungsmythen finden generell in der Be-                         30 Zusammenfassung der Studie »Verlorene Mitte – Feindselige
     völkerung großen Zuspruch. 46 Prozent meinen,                             Zustände« (wie Anm. 29).
     geheime Organisationen würden politische Ent-                          31 Mathias Alber et al., Jugend 2019 – 18. Shell Jugendstudie. Eine
     scheidungen beeinflussen, und jeder zweite Befragte                       Generation meldet sich zu Wort, Weinheim 2019 (Zusammenfas-
     traut eher den eigenen Gefühlen als Expertinnen und                       sung online unter: www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_
                                                                               jcr_content/par/toptasks.stream/1570708341213/4a002dff58a7a954
     Experten, nahezu ein Viertel der Befragten mutmaßt,
                                                                               0cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.
                                                                               pdf – letzter Zugriff: 26.03.2020).
     27 Vgl. den Überblick zur sogenannten »Sonntagsfrage« (online unter:   32 Forschungsgruppe Wahlen, Wahlanalysen Thüringen, Sachsen
        www.wahlrecht.de/umfragen/ – letzter Zugriff: 30.03.2020).             und Brandenburg, 16. Januar 2020 (online unter: www.forschungs-
     28 Vgl. Andreas Zick / Beate Küpper / Wilhelm Berghan, Verlorene          gruppe.de/Aktuelles/Wahlanalyse_Thueringen/ – letzter Zugriff:
        Mitte. Feindselige Zustände, Berlin 2019.                              26.03.2020).

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                                    Abbildung 6: Twitter gilt laut der jüngsten Shell Jugendstudie nur bei einer Minderheit der Jugendlichen als vertrauenswürdig.

                                       »Die Mehrheit der Jugendlichen informiert sich                        Die Mediengewichtungsstudie 2019 der Landes-
                                    zu politischen Themen inzwischen online. Am häu-                      medienanstalten, die für die Aufsicht des kommer-
                                    figsten werden hierbei Nachrichten-Websites oder                      ziellen Rundfunks zuständig sind, kommt zu einem
                                    News-Portale genutzt (20 %), viele verweisen zudem                    ähnlichen Ergebnis: Beim Meinungsbildungsge-
                                    auf Social-Media-Angebote, also auf entsprechende                     wicht gewinnt das Internet weiter an Bedeutung,
                                    Informationsquellen in den sozialen Netzwerken,                       von 13 Prozent in 2009 auf jetzt knapp 29 Prozent
                                    auf Messenger Apps (14 %) oder auf YouTube (9 %).                     in 2019. Die Tageszeitung verliert kontinuierlich und
                                    Das Fernsehen als Informationsquelle nennen zwar                      liegt jetzt nur noch bei 18 Prozent. 2009 lag sie noch
                                    23 % der Jugendlichen, 15 % nutzen das Radio und                      bei 26 Prozent. Das Fernsehen kann seinen Spit-
                                    ebenfalls 15 % klassische Printmedien, aber Internet                  zenplatz mit 32 Prozent zwar noch halten, verlor in
                                    und Social Media haben den klassischen Medien im                      den vergangenen zehn Jahren aber 7 Prozentpunkte.
                                    Bereich der gezielten politischen Informationssuche                   Radio (knapp 19 Prozent) und Zeitschriften (2 Pro-
                                    mittlerweile den Rang abgelaufen.                                     zent) zeigen über die Jahre hinweg ein nahezu ähnli-
                                       Das größte Vertrauen wird jedoch nach wie                          ches, fast unverändertes Meinungsbildungsgewicht.
                                    vor den klassischen Medien entgegengebracht.                             Beim Meinungsbildungsgewicht der 14- bis
                                    Die große Mehrheit hält die Informationen in den                      29-Jäh­rigen bleibt das Internet mit erneutem Gewinn
                                    ARD- und ZDF-Fernsehnachrichten für vertrau-                          deutlich vorne (58 Prozent). Das Fernsehen verliert
                                    enswürdig. Vergleichbares gilt auch für die großen                    weiter stark an Bedeutung (nur noch knapp 14 Pro-
                                    überregionalen Tageszeitungen, wobei Jugendliche                      zent) und liegt nun hinter dem Radio (16 Prozent).
                                    in Ostdeutschland (68 %) auch diesen Zeitungen                        Die Tageszeitung ist ebenfalls weiter rückläufig und
                                    deutlich weniger trauen als ihre Altersgenossen                       liegt nun erstmals unter 10 Prozent.
© Foto: FirmBee / Pixabay License

                                    im Westen (83 %). YouTube bezeichnet hingegen                            Die informierende Online-Nutzung stieg bei den
                                    etwa jeder zweite Jugendliche als weniger bis nicht                   14- bis 29-Jährigen weiter an und liegt mittlerweile
                                    vertrauenswürdig. Bei Facebook sind es sogar etwas                    bei über 73 Prozent. Nur in der Generation der über
                                    mehr als zwei von drei Jugendlichen, die den dort                     50-Jährigen bleibt Fernsehen trotz weiterem Rück-
                                    angebotenen Informationen misstrauen. Auch Twit-                      gang das meistgenutzte Informationsmedium. Auch
                                    ter vertraut nur eine Minderheit.«33                                  in der Gesamtbevölkerung liegt das Internet als das
                                                                                                          wichtigste Informationsmedium (33,8 Prozent) jetzt
                                    33 Zusammenfassung der Shell-Jugendstudie 2019 (wie Anm. 31).         vor dem Fernsehen (32,8 Prozent). Die Tageszeitung

                                                                                                                        2 - 2 0 2 0 | A K A D E M I E - K U R Z A N A LY S E   11
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     (18 Prozent), das Radio (10 Prozent) und Zeitschrif-                      den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen
     ten (1,5 Prozent) sind deutlich weniger relevant.34                       zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn
                                                                               auch in Beziehung zu setzen.«36
     Die Janusköpfigkeit der digitalen                                            Kommentare zu Beiträgen in professionellen
                                                                               Online-Medien bieten die Möglichkeit eines
     Online-Welten                                                             Rückkanals zu den Autoren. Über Foren kann
                                                                               Bürgerbeteiligung bei Entscheidungsprozessen auf
     Die bisherigen Analysen und Schlussfolgerungen                            der kommunalen und regionalen Ebene viel leichter
     dürfen nun aber nicht dazu verleiten, die neuen                           möglich gemacht werden. Bisher schwer organisier-
     Möglichkeiten des Internets und der digitalen Kom-                        bare Interessen können sich leichter vernetzen und
     munikation allesamt abzulehnen und nur die Gefah-                         an die Öffentlichkeit treten. Protestaktionen wie
     ren und Risiken zu sehen. Die Medaille der neuen                          die »Gelbwesten« in Frankreich, die inzwischen
     digitalen Medienwelt hat zwei Seiten. Denn ohne                           globale Schülerstreikbewegung »Fridays for Future«
     Zweifel bietet das Netz völlig neue Informations-                         oder die Demonstrationen deutscher Landwirte im
     möglichkeiten, die in der analogen Welt schwierig,                        Herbst 2019 und zu Jahresbeginn 2020 gegen die
     teuer oder ganz unbekannt waren:                                          Agrar- und Umweltpolitik wären ohne die Koordi-
        Fast überall auf der Welt sind – meist in Echtzeit                     nation in sozialen Medien so nicht möglich gewesen.
     oder mindestens sehr schnell – Informationen aus                             Während der Coronakrise im März 2020 konn-
     unzähligen Quellen verfügbar. Die Kosten sind                             ten die sogenannten sozialen Medien zeigen,
     meist überschaubar oder liegen bei Null – wenn                            wozu sie auch fähig sind und dass sie nicht nur als
     man von den Energiekosten und der Überlassung                             Propaganda­schleuder für Hass und Hetze taugen.
     persönlicher Daten einmal absieht, mit denen die                          Es wurden wirklich soziale Medien kreiert. Ausge-
     Internetkonzerne Geld und Macht anhäufen. Die                             rechnet in der Coronakrise – wie maßgeschneidert
     Vision von Bill Gates aus dem Jahr 1994 (»Informa-                        für virale Kampagnen und Fake News – punkten die
     tion at your Fingertips«) wurde Realität.35                               sozialen Netzwerke. Sie arbeiten offenbar wieder für
        Einerseits bietet das Netz zahllose Möglichkeiten                      die Nutzer, nicht mehr gegen sie.
     für öffentliche, auch alternative Bürgerkommuni-                             Unter den Hashtags #staythefuckhome, #wir-
     kation, für das Entstehen von Gegenöffentlichkeit,                        bleibenzuhause und zahlreichen ähnlichen, die
     also eine potenzielle Demokratisierung der digitalen                      sich etablierten, nutzten Meinungsmacher, Stars
     Mediengesellschaft. Jeder und jede kann heute seine                       und Medien ihre Reichweite und appellieren an
     Meinung mit wenig technischem und finanziellem                            die Gesellschaft, ihre Bürgerpflicht wahrzunehmen
     Aufwand in Blogs und Foren online stellen und                             und an die Gesundheit aller zu denken. Da gab es
     wird damit theoretisch weltweit empfangbar. Die                           Ideen gegen Einsamkeit und Langeweile während
     Brecht’sche Radiotheorie aus den 1920er-Jahren                            der Ausgangsverbote und Tipps für Sport daheim.
     wird digitale Wirklichkeit: »Der Rundfunk ist aus                         Es entstand eine digital-virtuelle Gemeinschaft in
     einem Distributionsapparat in einen Kommunikati-                          der sozialen Isolation – einschließlich Singen und
     onsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der                           Musizieren auf dem Balkon. Nachbarschafts- und
     denkbar großartigste Kommunikationsapparat des                            Einkaufshilfen wurden über Social Media orga-
     öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem,                          nisiert, Freunde und Familienmitglieder blieben
     das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht                        wenigstens digital vernetzt. Gottesdienste wurden
     nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also                          im Netz gestreamt, weil sie vor leeren Kirchenbän-
                                                                               ken stattfinden mussten. Einzelhändler konnten
                                                                               mit Onlineangeboten wenigstens einen Teil ihrer
     34 Vgl. Kantar, Gewichtungsstudie zur Relevanz der Medien für die
        Meinungsbildung in Deutschland. Medien Gewichtungs Studie              Umsatzverluste wettmachen. Die sozialen Netz-
        2019-1, Berlin 2019 (online unter: www.die-medienanstalten.de/         werke konnten beweisen, dass sie Öffentlichkeit
        fileadmin/user_upload/die_medienanstalten/Themen/Forschung/            demokratisieren können: entschieden subjektiv,
        Medienvielfaltsmonitor/Medienanstalten_MedienGewichtungs-              aber relevant und authentisch. Die Coronakrise
        Studie.pdf (letzter Zugriff: 26.03.2020).
                                                                               könnte zur Erfolgsgeschichte von Social Media und
     35 Dokumentiert auf dem Weblog von Christoph Dernbach (MrGad-             deren gesellschaftlichem Einfluss werden – auch
        get): Bill Gates, Transcript of Bill Gates’ Keynote Speech Fall/COM-
                                                                               dauerhaft.
        DEX (November 14, 1994) – Information At Your Fingertips (online
        unter: www.mr-gadget.de/microsoft/2008-05-21/transcript-of-bill-
        gates-keynote-speech-fallcomdex-nov-14-1994-information-at-            36 Bertolt Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in:
        your-fingertips-2005 – letzter Zugriff: 26.03.2020).                      ders., Gesammelte Werke, Bd. 18, Frankfurt/M. 1992, S. 127 – 134.

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                             Aber andererseits quillt das Netz weiterhin über                   zunehmende Schwierigkeiten bei der Regierungsbil-
                           vor Desinformation, Lügen, Propaganda, Hasskom-                      dung durch Koalitionen und damit der Regierbarkeit
                           mentaren, Extremismus, Islamismus, Antisemitis-                      insgesamt, ein Erstarken von Populismus und Extre-
                           mus, Neonazismus, Kinderpornografie und anderen                      mismus und der Verlust eines von einer Mehrheit in
                           zweifelhaften oder gar strafbaren Inhalten.                          der Gesellschaft getragenen Wertekonsenses.
                                                                                                   Demokratie braucht eine funktionierende Öffent-
                           Herausforderungen für Demokratie                                     lichkeit. Dazu gehören professionell-journalistische
                                                                                                Medien als Navigatoren im zunehmend unüber-
                           und politische Bildung                                               sichtlicher werdenden Informationsdschungel mit
                                                                                                entsprechend großen Reichweiten – egal auf welchen
                           Die Herausforderungen für die freiheitliche Demo-                    Ausspielwegen. Mehr Wissen über Politik durch
                           kratie westlicher Prägung liegen auf der Hand: Die                   professionelle Medien kann, muss aber nicht auto-
                           beschriebene Fragmentierung und der qualitativ                       matisch zu höherem politischem Engagement führen.
                           neue Strukturwandel der Öffentlichkeit fördern die                   Deshalb brauchen wir mehr gleichzeitige Förderung
                           Verbreitung von Populismus, antidemokratischen                       von Medienkompetenz und Demokratiekompetenz.
                           Ideologien bis hin zu Diktatur, Führerstaat und                      Am Ende muss eine digitale Souveränität stehen, das
                           extremistischen Einstellungen. Damit verbunden                       heißt die Befähigung zur Kultivierung der digitalen
                           ist eine Enttabuisierung bisher geltender zivilisa-                  Welten. Im Idealfall fließen Medienbildung, politische
                           torischer Standards im gesellschaftlichen Umgang                     Bildung, soziales Lernen und Werteerziehung zusam-
                           miteinander (Hate Speech) und die Vernetzung                         men zu einer »digitalen Demokratiekompetenz«.
                           antisozialer, gewaltaffiner Milieus, die bislang keine                  Die Forderung nach digitaler Demokratiekompe-
                           Öffentlichkeit fanden. Die Grenzen des Sagbaren                      tenz wird als Fortsetzung der Diskussion über »Me-
                           wurden deutlich verschoben.                                          dienkompetenz« im analogen Zeitalter gesehen. Sie
                              Da in der digitalen Medienwelt große Bevölke-                     betont insbesondere die politische Partizipation und
                           rungsgruppen direkt und unter Umgehung pro-                          bringt neue, bislang unbearbeitete und unbekannte
                           fessioneller Filter und Navigatoren angesprochen                     Herausforderungen durch die digitale Transforma-
                           werden können, wird der viralen Verbreitung von                      tion hervor. Die »alte« Medienkompetenz für die
                           Desinformation Vorschub geleistet. Die Folgen                        analoge Mediengesellschaft unterscheidet sich von
                           sind: eine leichtere Mobilisierung von Gruppen, eine                 der neuen digitalen Demokratiekompetenz durch
                           höhere Volatilität bei Wahlen, eine größere Unbere-                  deren Technologien wie das Internet, Künstliche
                           chenbarkeit und Aufsplitterung des Parteien­systems,                 Intelligenz, Algorithmen und Big Data.
© Foto: Michael Schröder

                           Abbildung 7: Beim Meinungsbildungsgewicht der 14- bis 29-Jährigen liegt das Radio mit 16 Prozent auf den hinteren Plätzen.

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     Abbildung 8: Rund 40 Millionen Menschen lesen täglich die deutschen Tageszeitungen. Aber während das Internet beim Meinungsbildungs-
     gewicht in der Gesamtbevölkerung weiter an Bedeutung gewinnt, verliert die Tageszeitung kontinuierlich und liegt nur noch bei 18 Prozent.

        Um den drohenden Kontrollverlust durch die                          lebenslangen Lernens.37 Dazu gehört selbstverständ-
     umfassende Datafizierung des gesellschaftlichen                        lich auch die systematische Professionalisierung des
     Lebens einzudämmen, müssen rechtliche, technische                      pädagogischen Personals. Insbesondere die Förde-
     und politische Rahmenbedingungen und Regulie-                          rung neuer Querschnittskompetenzen zwischen
     rungen erfolgen und politisch gestaltet werden. Ziel                   medienpädagogischer, informationstechnologischer
     von digitaler Demokratiebildung muss es daher sein,                    und politischer Bildung sollte für Pädagoginnen und
     ein Bewusstsein für die Bedeutung dieser Rahmen-                       Pädagogen aller Ebenen zu einem verbindlichen
     bedingungen und die ihnen zugrundeliegende Werte                       Aus- und Fortbildungsziel werden. Der »Runde
     und Ethiken zu schaffen.                                               Tisch zur digitalen Bildung« in der Akademie für
        Im Vordergrund aller dieser Bemühungen zur poli-                    Politische Bildung hat dazu im Februar 2019 kon-
     tischen Bildung sollten die Demokratiekompetenzen                      krete Forderungen verabschiedet.38
     des Individuums stehen, nicht die digitalen Werkzeu-                       Bei der Betonung von Digitalisierung und Media-
     ge und Techniken. Digitale Demokratiekompetenz                         tisierung darf nicht vergessen und übersehen werden,
     beinhaltet somit insbesondere ethisch-kulturelles                      dass für jede politische Teilhabe und damit auch für
     und politisches Wissen, Reflexionsvermögen sowie                       die digitale Demokratiekompetenz die kommuni-
     Motivation und Wille zum sozialen Handeln in der                       kative Kompetenz und insbesondere die klassische
     digitalisierten Welt. Digitale Demokratiekompe-                        Sprachkompetenz von größter Bedeutung bleibt. Sie
     tenzbildung erfordert daher auch neue Konzepte                         ist und bleibt grundlegend für kritisch-diskursives
     und Methoden in der Schnittmenge von politischer,                      Denken. Projekte zur Förderung digitaler Bildung
     medienpädagogischer, ökonomischer, ethischer und                       und Demokratiekompetenz müssen den häufig an
     informatischer Bildung. Eine bislang eher getrennte                    Risiken orientierten und dystopischen Diskursen
                                                                                                                                                      © Foto: Congerdesign / Pixabay License

     Behandlung der Phänomene gilt es durch inter- und                      zur Digitalisierung entgegengestellt werden. Nur
     transdisziplinäre Zusammenarbeit zu überwinden.                        so lassen sich die Herausforderungen für Staat, Ge-
     Von besonderer Bedeutung ist hier auch die politi-                     sellschaft und Wirtschaft durch die Digitalisierung
     sche Wertereflexion im Sinne einer »digitalen Ethik«.                  meistern und vor allem politisch gestalten.
        Die Förderung von Medienkompetenzen für die
     digitale Welt sollte kontinuierlich und entlang der                    37 Zu konkreten Handlungsempfehlungen siehe auch: Harald Gapski /
     Bildungskette – vom Kindergarten über die schu-                           Monika Oberle / Walter Staufer, Einleitung, in: dies. (Hg.), Medien-
     lische und außerschulische Jugendbildung bis zur                          kompetenz. Herausforderung für Politik, politische Bildung und
     Erwachsenenbildung – erfolgen. Digitale Medien-                           Medienbildung, Bonn 2017, S. 17 – 30, hier S. 26 f.
     kompetenzförderung ist ein zentraler Bestandteil des                   38 Siehe Akademie-Report Nr. 2/2019, S. 24.

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Michael Schröder

Die Twitter-Demokratie:
Der Strukturwandel politischer
Kommunikation durch digitale
Medien
Akademie-Kurzanalyse 2/2020
Akademie für Politische Bildung
Tutzing 2020

ISBN: 978-3-9821033-1-0

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