Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt - Grüne smart homes aus der Perspektive der pluralen Sphärologie
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supported by Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018 https://doi.org/10.5194/gh-73-79-2018 © Author(s) 2018. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes aus der Perspektive der pluralen Sphärologie Andreas Folkers1 and Nadine Marquardt2 1 Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt, Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60323 Frankfurt am Main, Germany 2 Geographisches Institut, Universität Bonn, Meckenheimer Allee 166, 53115 Bonn, Germany Correspondence: Andreas Folkers (folkers@em.uni-frankfurt.de) and Nadine Marquardt (marquardt@uni-bonn.de) Received: 12 June 2017 – Revised: 8 January 2018 – Accepted: 23 January 2018 – Published: 26 February 2018 Kurzfassung. This paper links two strands of Peter Sloterdijk’s sphere project – his theory of the environment and his theory of dwelling – and mobilizes them for an analysis of entanglements between spaces of the envi- ronment and the space of the home in contemporary sustainability policies and smart home experiments. First, we retrace how Sloterdijk’s topology of the environment combines a historical phenomenological methodology with ecological thinking. In the next step, we discuss Sloterdijk’s theory of dwelling, which is closely linked to his thinking of the environment and is central to his conception of a plural spherology, yet has so far largely been overlooked in the reception. Sloterdijk’s emphasis on the importance of dwelling in the „world’s inner space“ („Weltinnenraum“) under conditions of a no longer externalizable environment helps to theorize how humans dwell on this earth in the 21st century. In the third part of the paper, we bring together both themes – environ- ment and dwelling – to analyze contemporary ecological and digital home experiments from the perspective of a plural spherology. By showing how recent digital experiments in „smart homes“ entangle spaces of dwelling with environmental concerns we build on Sloterdijk’s analysis but also extend it with insights from STS and governmentality studies to better capture the power effects inherent to digitalized dwelling. 1 Einleitung ter [eintreten], in dem schwache Grenzen und durchlässige Außenhäute das prägende Merkmal von sozialen Systemen Peter Sloterdijk, der Denker von Raum und Räumlichkeit, werden“ (Sloterdijk, 2016b:90), kommt das Schwadronie- ist seinerseits nicht leicht zu verorten. Das liegt nicht nur ren des öffentlichen Intellektuellen Sloterdijk vom „territo- an seinem rhapsodischen Werk und der Vielzahl von The- rialen Imperativ“ (Sloterdijk, 2016a:23) geradezu einer se- men und Theorien, mit denen er sich schon beschäftigt hat. nilen Landflucht gleich. Mit derartigen politischen und in- Vielmehr sorgt auch die Grenzstellung Sloterdijks zwischen tellektuellen Widersprüchen sieht sich gleichwohl nicht nur Philosoph, „Denker auf der Bühne“ und Kommentator ta- Sloterdijk selbst konfrontiert, sondern auch, wer an Sloter- gesaktueller Themen immer wieder für Friktionen und Wi- dijks Denken, wie auch immer affirmativ oder kritisch, an- dersprüchlichkeiten. Mit seinen peinlichen Einlassungen zu schließen möchte. So berechtigt das öffentliche Sloterdijk- Flucht und Migration, die in einem „Lob der Grenze“ (Sloter- Bashing ist (Brumlik, 2016; Honneth, 2009; Menke, 2009; dijk, 2016a:21) gipfelten, hat der „öffentliche Intellektuelle“ Münkler, 2016), es droht doch stets die produktiven Impul- Sloterdijk den selbsternannten philosophischen „Theoretiker se zu übersehen, die von seinen Arbeiten ausgehen. So ist es der Globalisierung“ Sloterdijk (2005a) düpiert. Hatte letzte- kein Zufall, dass eine ernsthafte und produktive Auseinan- rer noch in seinem jüngst veröffentlichten Essayband Was ge- dersetzung mit Sloterdijk bisher vor allem im Ausland erfolgt schah im 20. Jahrhundert? bemerkt, dass wir „in ein Weltal- ist (Borch, 2008, 2010; Skrydstrup, 2016; Klauser, 2010; El- Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
80 A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes den und Mendieta, 2009), das nicht in der gleichen Weise Zum anderen hat Sloterdijks Betrachtung des Wohnens aber von den öffentlichen Einlassungen Sloterdijks behelligt wird, auch eine historische Dimension, insofern sie die Entwick- während es im deutschsprachigen Kontext umso schwieriger lung moderner Wohnverhältnisse und das Eintreten von Fra- ist, Widersprüche und Grenzen in Sloterdijks Denken oder gen der Wohnraumgestaltung in die Praktiken der modernen Friktionen zwischen öffentlicher und philosophischer Person Architektur diskutiert. Dieser historisch-phänomenologische etc. aufzuzeigen. Wir möchten in diesem Text deshalb einen Ansatz ist in zweierlei Hinsicht für sozialwissenschaftliche anderen Weg gehen. Wir möchten an zwei interessante Strän- Perspektiven auf Wohnen fruchtbar: Zum einen kann mit ge in Sloterdijks Sphärologie – seine Theorie des Wohnens Sloterdijk die existenzielle Bedeutung des Wohnens betont und sein Denken der Umwelt – anschließen und für eine Ana- und damit ein Lebensbereich erschlossen werden, der seiner lyse von Gegenwartsphänomenen – Experimente mit grünen Zentralität zum Trotz bislang noch zu wenig Aufmerksam- smart homes – mobilisieren. Eine Kritik an Sloterdijk wird keit in der Forschung erhält. Zum anderen liefert Sloterdijks dadurch das Ergebnis und nicht der Ausgangspunkt unserer Sphärologie eine Reihe interessanter Denkfiguren, die Ge- Untersuchung sein und erfolgt gleichermaßen negativ – als genwartsdiagnosen gesellschaftlicher Wohnverhältnisse in- Nachweis von Defiziten in Sloterdijks Theorie – wie auch formieren können. positiv als Versuch, mit Sloterdijk über Sloterdijk hinauszu- Wir greifen Sloterdijks Theorien der Umwelt und des gehen und seine Theorien mit anderen Ansätzen so zu ergän- Wohnens auf, weil wir der Überzeugung sind, dass sie mehr zen, dass sie für eine kritische Analyse von Gegenwartsphä- miteinander zu tun haben, als für gewöhnlich wahrgenom- nomenen nutzbar werden. men wird. Noch nicht einmal Sloterdijk selbst hat eine ex- Sloterdijk eröffnet ein attraktives Denken von Weltlichkeit plizite Verbindung zwischen diesen beiden Strängen seiner jenseits einer Reifizierung von Umwelt als Natur bzw. als Sphärentheorie hergestellt und – wie wir zeigen werden – fixes Set von stofflich-substanziellen Gegebenheiten in den daher auch die ökologische Dimension des Wohnens in der Naturwissenschaften, aber auch jenseits des kulturalistischen Gegenwart nicht ausreichend thematisiert. Gleichwohl gibt Weltdenkens der Sozial- und Kulturwissenschaften. Viel- es gute theoretische und zeitdiagnostische Gründe, die Frage mehr finden sich bei ihm Überlegungen für eine historisch- des Wohnens und die der Umwelt aufeinander zu beziehen. phänomenologische Theorie der Umwelt. Dabei interessiert So legt es Sloterdijks Denken der Weltlichkeit jenseits von ihn anders als die Umweltgeschichtsschreibung (Cronon, Naturalismus und Kulturalismus ohnehin nahe, auf Hybridi- 2009) nicht vornehmlich die menschliche Bearbeitung der sierungsphänomene von Wohn- und Umwelten zu fokussie- natürlichen Gegenbenheiten, die in der Produktion einer ren. Zudem sind Sloterdijks Theorie des Wohnens und seine zweiten Natur gipfelt. Vielmehr zielt seine Betrachtung auf Theorie der Umwelt analog gebaut: jeweils geht es darum, das historische Hervortreten der Umwelt aus dem kulturel- die Explikation der Umgebung – ob natürliche Umwelt oder len Hintergrund in den Vordergrund sozio-technischer Ver- Wohnung – historisch nachzuvollziehen. Insofern gibt Slo- fahren und politischer Auseinandersetzungen. Ihn interes- terdijks Betonung des Lebens im „Weltinnenraum“ (Sloter- siert, wie das zeitgenössische Umweltbewusstsein ebenso dijk, 2005a), also unter Bedingungen einer nicht mehr exter- wie die gegenwärtigen Praktiken zur Gestaltung von Um- nalisierbaren Umwelt, interessante Denkanstöße für eine Be- welten historisch entstanden sind. Sloterdijks Denken der schäftigung mit der Frage, auf welche Weise der Mensch im (Um)weltlichkeit konzentriert sich also auf die Frage, wie 21. Jahrhundert auf dieser Erde wohnt. Die ökologische Auf- die Umwelt der Ökolog_innen und Umweltschützer_innen klärung der letzten Jahrzehnte hat schließlich nicht nur ge- entstanden ist. zeigt, wie bedroht die Erde als Wohnstätte bzw. als „safe ope- Bemerkenswert an Sloterdijks Sphärologie ist neben sei- rating space for humanity“ (Rockström et al., 2009) ist, son- nem Denken der Umwelt auch seine Aufmerksamkeit für den dern auch das alltägliche Wohnen in Bezug auf diese planeta- Lebensbereich des Wohnens. Ganz ähnlich wie Sloterdijks rische Krise problematisiert. Dadurch ist die Wohnung zu ei- Theorie der Umwelt hat auch seine Theorie des Wohnens ei- nem zentralen Schauplatz ökologischer Modernisierungsex- ne historisch-phänomenologische Prägung. Zum einen folgt perimente geworden, die häufig mit digitalen Mitteln unter- sie der phänomenologischen Pramisse vom Menschen als stützt werden. In „intelligenten“ Ökohäusern soll der ökolo- Wohnwesen, dessen Weltbildungsbedürfnis sich wesentlich gische Fußabdruck des Wohnens, also der Einfluss des Woh- im und durch das Wohnen realisiert (Heidegger, 1954:141).1 nens auf die Umwelt, sichtbar gemacht und dadurch reduziert 1 Eine phänomenologisch inspirierte Auseinandersetzung mit werden. Das hat Folgen für die Frage nach den Maßstab- sebenen alltäglichen Handelns und globaler Umweltpolitik. Wohnen findet in der deutschsprachigen Humangeographie bis- Das Wohnen kann nicht mehr einfach als vernachlässigba- lang nur vereinzelt statt (für Ausnahmen siehe Hasse, 2015; Mar- quardt, 2015; Stock, 2009). In der französischsprachigen Human- rer Mikrokontext betrachtet werden, der in eine globale Um- geographie wird dem Wohnen hingegen weitaus mehr Beachtung welt eingebettet ist. Schließlich wird der Großhorizont der geschenkt (für einen aktuellen Überblick vgl. die Beiträge in Frelat- Umwelt zunehmend mit technischen Mitteln in die Sphäre Kahn und Lazarotti, 2012). Auch in der anglophonen geographi- schen Wohnforschung finden sich in den letzten Jahren vermehrt Wohnens (siehe u.a. Blunt und Dowling, 2006; McFarlane, 2011; Bezüge auf die Phänomenologie und auf Heideggers Begriff des Rose, 2012). Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018 www.geogr-helv.net/73/79/2018/
A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes 81 alltäglicher Wohnenroutinen eingebracht. Umgekehrt hängt ken charakterisieren: Explizierung, Immunisierung, Interna- die Integrität der planetarischen Wohnsphären und Lebenser- lisierung, Technisierung und Pluralisierung. haltungssysteme auch von einer Veränderung der Stoffflüsse, Technologien und Alltagspraktiken des Wohnens ab. Sloter- 2.1 Explizierung dijks Konzeption einer „pluralen Sphärologie“ kann wichtige Impulse liefern, um diese neue Multiskalarität des Wohnens Ein Lebewesen erschafft sich selbst und seine Umwelt durch und der Umweltpolitik zu denken. Einfaltung bzw. Implikation, durch die es sich von seiner Gleichwohl zeichnen sich mit Blick auf Experimente in Umwelt abgrenzt. „Das erste Merkmal des Selbst ist die Fä- grünen smart homes, die zum Energiesparen und zu nachhal- higkeit, durch Opposition gegen Äußeres eine Position ein- tiger Lebensführung anregen sollen und dafür einen plane- zunehmen. Position entsteht, soweit wir sehen, durch Einfal- tarischen Umwelthorizont in die Wohnung einbringen, auch tung in sich“ (Sloterdijk, 2004:54). Durch diese Einfaltung deutlich die Grenzen von Sloterdijks Ansatz auf. So lassen wird die Umwelt zunächst zum Hintergrundschauplatz für sich mit Sloterdijk nur schwer die Machteffekte, die ökono- die Entfaltung des Selbst. Sloterdijks Analytik der Umwelt mischen Implikationen und die konkreten sozio-technischen lässt sich als ein reverse engineering der ursprünglichen um- Verfahren verstehen, die in grünen smart homes zum Zuge weltschaffenden Faltoperation verstehen. Seine Phänomeno- kommen. Daher plädieren wir dafür, die produktiven Impul- logie der Umwelt ist nämlich eine Analytik der Explizierung se von Sloterdijks Theorie aufzunehmen und sie zugleich mit – der Entfaltung des Eingefalteten: „Die Phänomenologie ist anderen durchaus anschlussfähigen Ansätzen aus der Akteur- die erzählende Theorie vom Explizitwerden dessen, was an- Netzwerk-Theorie (ANT) und den governmentality studies fangs nur implizit vorhanden sein kann. Implizit sein will sowie mit Blick auf jüngere Debatten um eine neue Kos- hier sagen: im unentfalteten Zustand vorausgesetzt [. . . ]. Ex- mopolitik zu erweitern. Es geht uns dabei weniger um einen plizit werden hingegen bedeutet: mitgerissen sein von dem allgemeinen Theorievergleich, eine einfache „Übersetzung“ Strom, der vom Hintergrund zum Vordergrund [. . . ], von der von Sloterdijks Theorie in sozialwissenschaftliche Begriff- Einfaltung in die Entfaltung fließt“ (Sloterdijk, 2004:74–76). lichkeiten oder andere Formen des Theoretisierens um der Dieser „Strom“ des Explizitwerdens ist für Sloterdijk die Theorie willen. Vielmehr wollen wir durch unseren Bezug Moderne als „Zeitalter der Hintergrundexplikation“ (Sloter- auf einen konkreten Fall zeigen, welche Perspektiven ein dijk, 2004:69). Die Moderne zeichnet sich durch eine fort- Bezug auf Sloterdijk eröffnen kann und welche Herausfor- schreitende Auflösung von unhinterfragten Selbstverständ- derungen sich für ein Weiterdenken von Sloterdijks Theorie lichkeiten, also durch die Explikation des Impliziten aus. stellen. Aber was ist die Existenzweise des Impliziten vor des- Im Folgenden werden wir zunächst auf Sloterdijks Um- sen Explizierung? Hier bezieht sich Sloterdijk auf La- weltkonzept eingehen. Umwelt ist für Sloterdijk nicht ein- tours (2001:297) Konzept der Proposition. Propositionen fach „da draußen“, sondern existiert immer erst in Bezug sind nicht wie in der klassischen Logik Aussagen, sondern auf ein „Drinnen“, in das sie gleichsam hineinragt (Kap. 2). Vorschläge, durch die sich das stumme Sein dem berede- Im nächsten Schritt diskutieren wir Sloterdijks Theorie des ten Denken anbietet. „Der Stoff des Seins wird von die- Wohnens, die für seine Konzeption der pluralen Sphärologie sem selbst her gewissermaßen vorschlagsförmig präsentiert zentral ist, in der bisherigen Rezeption aber zumeist über- – man könnte sogar vorwurfsförmig sagen, sofern man den sehen wurde (Kap. 3). Im dritten Teil des Textes werden wir Ausdruck vom griechischen Verbum probállein: hinwerfen, über Sloterdijks Theorie hinausgehend beide Bereiche – Um- vorwerfen, her versteht, aus dem das Nomen problema abge- welt und Wohnen – zusammenführen. Wir analysieren ökolo- leitet ist. In Problemen reden die Dinge zur Intelligenz“ (Slo- gische und digitale Wohnexperimente, in denen sich Wohn- terdijk, 2004:219f.). Weil das Gedachte einen aktiven Bei- und Umwelt verschränken aus der Perspektive der pluralen trag zum Prozess des Denkens leistet, lässt sich die Explika- Sphärologie (Kap. 4). tion auch nicht einfach als diskursive oder repräsentationa- le Konstruktion verstehen. Entsprechend stellt für Sloterdijk die Analyse der Explikation einen „dritte[n] Pfad“ (Sloterdi- 2 Topologie der Umwelt jk, 2004:217) jenseits von Konstruktivismus und Realismus dar. Das Explizite ist gegenüber dem Impliziten weder Re- Während der Begriff der Natur vor allem den Fehlschluss präsentation noch Konstruktion, sondern eine Modifikation nährt, die Natur als etwas „da draußen“ zu betrachten, das bzw. eine alternative „Artikulation“ (Latour, 2001:285f.). unabhängig von den Apparaturen des Wahrnehmens und den Die explizierte „Umwelt“ tritt so aus dem Hintergrund in Infrastrukturen sozialer Existenzweisen besteht, nährt der den Vordergrund. Der exemplarische Fall für ein solches Her- Begriff der Umwelt bisweilen den Fehlschluss, dass diese nur vortreten ist für Sloterdijk das Auftauchen des Problems der relativ zu menschlichen Vorstellungen existiere. Im Folgen- Atmosphäre aus den Schrecken des Kriegs im Verlauf des den möchten wir zeigen, dass Sloterdijks Konzept der Um- 20. Jahrhunderts, als die Kriegsführung nicht mehr nur „auf welt diesen beiden Fehlschlüssen entgeht. Dabei werden wir den Körper eines Feindes, sondern auf dessen Umwelt“ (Slo- fünf Operationen identifizieren, die Sloterdijks Umweltden- terdijk, 2004:95) zielte und ihn dadurch mit dem „Entzug www.geogr-helv.net/73/79/2018/ Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018
82 A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes seiner Lebensvoraussetzungen“ (ebd.) bedrohte. Der erstma- zeichnet. Er versteht Immunisierung als den Vorgang, durch lige Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg durch die deut- den sich selbstorganisierende Einheiten sich „unter ständi- sche Wehrmacht stellt in dieser Hinsicht ein Urereignis dar, gem Bezug auf eine potentiell wie aktuell invasive und irrita- durch das „eine neue Explikationsebene für klimatische und tionsträchtige Umwelt erhalten und reproduzieren“ (Sloter- atmosphärische Prämissen menschlicher Existenz“ (Sloter- dijk, 2009a:19f.). Immunisierung ist ein immer wieder von dijk, 2004:103) erreicht wurde. In dem Maße, in dem die Sloterdijk herangezogenes Konzept, dessen Bedeutung sei- Atemluft ihre normale, lebenserhaltende Funktion verlor und ner Meinung nach gar nicht hoch genug geschätzt werden zum Übertragungsraum für tötende Giftgase wurde, konn- kann. „Erst zögernd hat man begonnen zu verstehen, daß te die Atmosphäre als lebensnotwendige Umwelt manifest es die Immundispositive sind, durch welche die sogenann- werden. Ausgehend von den kriegerischen Atmosphärenma- ten Systeme erst eigentlich zu Systemen werden“ (Sloterdijk, nipulationen entwickelte sich ein neues Wissen um die atmo- 2009a:19). sphärische Umwelt, das zur Grundlage der in der Gegenwart In seiner Sphärentrilogie ist Immunisierung ein Grundbe- immer wichtiger werdenden „atmospheric politics“ (Sloter- griff, der sich durch alle drei Bände zieht, denn „Sphären dijk, 2005b) geworden ist. Dieses Muster des Explizitwer- [sind] immer auch morpho-immunologische Gebilde“ (Slo- dens lässt sich im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts immer terdijk, 1998:46). Schon die das Selbst erzeugende Einfal- wieder erkennen. So haben gerade die Atombombenabwür- tung ist eine Form der Immunisierung, die Sloterdijk vor al- fe und Atomtests zu einer Erweiterung der Kenntnisse um lem im ersten Teil der Sphärentrilogie Blasen (1998) aus- klimatische und radiologische Umwelten beigetragen (Mas- führlich beschreibt. Die Blase ist der Ort einer unmittelbaren co, 2010; Edwards, 2003). Wir wissen mittlerweile über eine Geborgenheit und Sicherheit in der Intimsphäre. Das Plat- beachtliche Zahl lebensermöglichender Umweltfaktoren Be- zen dieser Geborgenheitsblasen wurde in der metaphysisch- scheid – von der Ozonschicht bis zum komplexen regulativen imperialen Tradition, die wiederum in Band II der Sphären- Wechselspiel von Atmosphäre und Biosphäre (Lovelock und trilogie Globen (1999) beschrieben wird, mit einer Immuni- Margulis, 1974) – und das nicht obwohl, sondern gerade weil sierung durch Integration in Größeres kompensiert: Teil der die Selbstverständlichkeit, mit der die Umwelt unser Überle- Stadt, des Volkes, des Kosmos, der Weltseele sein. „Das Pos- ben sichert, so tiefgreifend kompromittiert wurde. tulat, im Größeren sei die letzte Sicherheit zu finden, und Indem Sloterdijk ein Modell anbietet, diese „Entdeckung“ nur in ihm, stiftete die Affaire der Seele mit der Geometrie. der Umwelt als Explikation zuvor unhinterfragter Hinter- Nichts anderes war das Ereignis, das Metaphysik hieß: daß grundvoraussetzungen zu deuten, schließt er an die Phä- die lokale Existenz sich in die absolute Kugel integriert – nomenologie an, erweitert sie aber zugleich. Traditioneller- und der beseelte Punkt zur All-Sphäre anschwillt“ (Sloterdi- weise ging es der Phänomenologie vor allem darum, die jk, 2004:16). symbolisch-kulturelle Lebenswelt im Ausgang einer durch Aber wie kann Immunisierung unter „post- Wissenschaft und Technik hervorgerufenen Krisis bewusst metaphysischen“ und ökologischen Bedingungen gedacht zu machen; eine Lebenswelt, in der letztlich auch Wissen- werden? Die Explikationsbewegung der Moderne versperrt schaft und Technik fundiert sind (Husserl, 1982). Sloterdijk offensichtlich den Weg der Einfaltung und Abkopplung betont zwar auch, dass Wissenschaft und Technik zur Ent- von der Umwelt. Nicht nur ist jeder Einzelne von seiner stehung von Krisenphänomenen beitragen. Er zeigt aber vor Umwelt abhängig. Auch die Gesellschaft muss erkennen, allem, wie sie zudem nicht nur die symbolische, sondern dass sie erstens von der Umwelt abhängt und diese zweitens auch die biologische Lebenswelt explizit machen und so ein durch eigenes Handeln nicht nur ko-produziert, sondern vor ganz neues Verständnis davon etablieren, was es heißt, die allem auch ko-destruiert hat. Auch den meisten Ökologen „Erde zu bewohnen“. Zugleich zeigt er, dass die Explizit- ist bewusst, dass Umweltschutz weder als Schutz vor der werdung von bisher Selbstverständlichem im Ausgang von Umwelt, noch als Schutz der Umwelt vor uns, sondern nur ökologischen Krisen- und Katastrophenphänomenen weni- als „immunisierende Hereinnahme“ (Lorey, 2011) gelingen ger die Grundbedingungen der menschlichen Existenz offen- kann. Ebenso wie andere Theorien der Immunisierung bart, sondern jeweils eher eine „historische Ontologie unse- (Esposito, 2004; Haraway, 2014) betont auch Sloterdijk die rer selbst“ (Foucault, 2005:702) in Bezug auf unsere Um- Ambivalenz der Immunisierung zwischen Abschließung und welt hervortreten lässt. In der Genealogie der Umwelt geht Öffnung. Sein Bild des Schaumes als „paradoxes Interieur“ es weniger darum, was „immer schon“ unser Leben ermög- erlaubt es ihm eine Immunisierung zu denken, die „eben- licht hat, sondern vielmehr um das, was „nicht mehr“ selbst- sogut als Abschließung wie als Weltoffenheit beschrieben verständlich ist. werden kann“ (Sloterdijk, 2004:57). 2.2 Immunisierung 2.3 Interieurisierung Das Problematisch-Werden der Umwelt im Verlauf des Aber wenn Immunisierung nicht länger entweder Abschot- 20. und 21. Jahrhunderts hat neue Sicherungsmaßnahmen tung oder Flucht ins Allumfassende bedeuten kann, son- notwendig gemacht, die Sloterdijk als Immunisierung be- dern in einer Doppelbewegung aus Öffnung und Schließung Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018 www.geogr-helv.net/73/79/2018/
A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes 83 besteht, darf die Umwelt nicht mehr als Außen betrachtet tionsprozess der Umwelt ihre ursprünglich lebenserhaltende werden. Vielmehr muss die Umwelt internalisiert werden. Selbstverständlichkeit genommen hat. Die Technik wird da- Es ist diese Internalisierungsbewegung, die den kontempo- durch zum sekundären, artifiziellen Immunsystem, zur „Le- rären Umweltbezug kennzeichnet. Seit Beginn der Moder- bensweltprothese“ (Sloterdijk, 2004:332), die ab jetzt die ne war die Umwelt vor allem eine Externalität bzw. „ei- Kontrolle über die Lebensbedingungen besorgt. Die kontem- ne Umgebung aus vernachlässigten Größen“ (Sloterdijk, poräre menschliche Existenz auf der Erde wird dadurch zum 2016b:67). Im 20. Jahrhundert haben sich diese anfangs un- „In-der-Welt-Sein 2“ (Sloterdijk, 2004:332). Die Technik ist beachteten Umgebungen immer wieder durch das Auftau- damit für Sloterdijk nicht mehr das, was sie für die phäno- chen sogenannter nicht-intendierter Nebeneffekte bemerkbar menologische Tradition war: etwas, das die Lebenswelt ver- gemacht. „Was wir die Umwelt nennen, ist zunächst nichts siegelt und uns vom Sein entfremdet (Heidegger, 2007), son- anderes als die vernachlässigte Größe in einem Experiment, dern das, was Leben in Umwelten überhaupt noch ermög- die nachträglich zur Kenntnis genommen wird“ (Sloterdijk, licht. 2016b:67). Die internalisierende Immunisierung ist insofern Aber die Technik ist nicht nur ein prothetisches Substitut auch eine Reaktion auf die externalisierende Immunisierung, der Umwelt, sondern in mindestens dreierlei Hinsicht das, die noch glaubte, gerade durch Abschottung von der Umwelt was die Explikation der Umwelt überhaupt erst ermöglicht. Sicherheit erlangen zu können. Erstens, weil die nicht-intendierten Nebenfolgen der Technik Der gegenwärtige ökologische Imperativ „Wo Externa- häufig überhaupt erst zur Problematisierung der Umwelt ge- lisierung war, muss Internalisierung werden“ (Sloterdijk, nötigt haben. Zweitens, weil die unsichtbaren Umweltsphä- 2016b:68) hat sowohl eine ethische als auch eine ontologi- ren in ihrer Komplexität nur durch den Einsatz von „Phäno- sche Bedeutung. In ethischer Hinsicht verweist er auf den menotechniken“ (Bachelard, 1974) bzw. erdumspannenden Bedeutungsgewinn von Verantwortungsethik. Im „Zeitalter wissenschaftlichen Infrastrukturen (Edwards, 2010) sichtbar der Nebenfolgen“ (Beck, 1996) wird nämlich die modernis- gemacht werden konnten. Drittens aber auch – und das ist tische Ethik der Tat zugunsten einer Ethik der Rückkopp- Sloterdijks Einsatz – weil technische Umwelten historisch lung und Resonanz verabschiedet (Sloterdijk, 2005a:292– gesehen immer wieder als Laboratorien für die Erkenntnis 300). Indem das Handeln zunehmend für seine Nebenfol- der „natürlichen“ Umwelten gedient haben. So stellen laut gen sensibilisiert wird, erweitert sich der moralische Bezugs- Sloterdijk die ersten Gewächshäuser des 19. Jahrhunderts das raum. Jede_r ist jetzt auch für Handlungsfolgen responsibel, architekturelle Apriori der Ausarbeitung des modernen Um- die traditionell als Externalitäten betrachtet wurden und des- weltbegriffs dar (Sloterdijk, 2005b). halb nicht ins moralische Kalkül aufgenommen wurden. So Vor allem betont Sloterdijk, inspiriert von Buckminster entsteht eine „integrale Bilanz“ (Sloterdijk, 2016b:68) des Fullers Manifest zum Raumschiff Erde, die Bedeutung der Handelns. Ontologisch fundiert ist diese Ethik im Kollabs Raumfahrt für die Explikation der planetarischen Umwelt der strikten Trennung von Umwelt und Menschenwelt, von (siehe auch Van Tuinen, 2009). Dadurch, dass Raumschiffe Natur und Kultur, von Innen und Außen. Naturbearbeitung die lebenserhaltenden Funktionen der Umwelt erst herstellen kann nicht mehr einfach als moralneutralisiertes instrumen- mussten, stellen sie laut Sloterdijk „absolute Inseln“ dar, die telles Handeln verstanden werden (Habermas, 1981). Viel- sich nicht nur geographisch, sondern auch atmosphärisch von leicht drückt das nichts so deutlich aus, wie die gegenwärtig ihrer Umgebung abgrenzen und autark werden. Sie vollzie- so wichtig gewordene Rede vom Anthropozän als Erdzeital- hen dadurch eine „Umwelt-Umkehrung“: „Während in der ter des Menschen. „Mit einem Mal sehen wir uns genötigt die natürlichen Situation die Umwelt das Umgebende und die widernatürlich scheinende Vorstellung zuzulassen, daß die Menschen die Umgebenen sind, tritt beim Bau der absolu- terrestrische Sphäre im ganzen durch die menschliche Pra- ten Inseln die Lage ein, daß die Menschen die Umgebung, xis in ein einziges großes Interieur verwandelt worden ist“ in der sie sich später aufhalten werden, selber entwerfen und (Sloterdijk, 2016b:29). einrichten“ (Sloterdijk, 2004:331). Die Raumfahrt ermöglicht es so erstmals, die Erde und ih- 2.4 Technisierung re verschränkten Sphären als umweltliche Lebensbedingun- gen des Menschen wahrzunehmen. Nicht zufällig ist der Be- Die Verwandlung der Umwelt in ein Interieur ist gleichbe- griff der „life support systems“, der ursprünglich aus der deutend mit ihrer Technisierung, der Notwendigkeit der tech- Raumfahrt kommt, von der Erdsystemforschung übernom- nischen Gestaltung einer nicht mehr ins Außen abschiebba- men worden (Young und Steffen, 2009). „Von hier aus fällt ren Umwelt. Sloterdijk interpretiert den Zusammenhang von Licht auf die im alten Stil anthropozentrisch aufgefasste Na- Umweltbewusstsein und Technisierung durch einen hetero- tur: Sie läßt sich – von der Prothese her rückblickend – als doxen Bezug auf die phänomenologische Tradition, wenn er ein vorgefundenes, spontan bevölkertes Lebenserhaltungs- bemerkt: „Wo ,Lebenswelt‘ war, muß Klimatechnik werden“ system interpretieren, von dessen Funktionsweise seine Ein- (Sloterdijk, 2004:69). Die technische Gestaltung der um- wohner keine physikalisch angemessene Vorstellung entwi- weltlichen Überlebensbedingungen wird genau in dem Mo- ckeln können, solange sie es ,existentiell‘ bewohnen“ (Slo- ment notwendig, in dem der krisenhafte, moderne Explika- terdijk, 2004:322). www.geogr-helv.net/73/79/2018/ Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018
84 A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes 2.5 Pluralisierung 3 Topologie des Wohnens Das vielleicht wichtigste Merkmal des Sloterdijk’schen Um- Im gleichen Maße, in dem die Umwelt explizit geworden ist, weltkonzepts ist dessen durch und durch „pluralistische On- ist auch das Wohnen explizit geworden und deshalb nicht tologie“ (Sloterdijk, 2004:63). Umwelt ist gerade nicht die länger der selbstverständliche, tragende Hintergrund von Le- gemeinsame Glocke, die alle Menschen, Tiere und Pflan- bensprozessen (Sloterdijk, 2004:504). Das „explizit gemach- zen umgibt. Umwelt gibt es immer nur im Plural, als Um- te“ Wohnen deutet für Sloterdijk auf eine veränderte Form welten. Ja, laut Sloterdijk steht gerade das Aufkommen des der Erzeugung von Raum hin, die den menschlichen Auf- Umweltbegriffs in der theoretischen Biologie am Beginn des enthalt in den Wohnmilieus der Gegenwart, mit ihren durch 20. Jahrhunderts insbesondere bei Uexküll für ein Ende des Klimaanlagen künstlich geschaffenen Atmosphären und um- Denkens in Ganzheiten. „Mit der Feststellung, daß Leben im- fassenden Infrastrukturanbindungen, sicherstellen soll.6 Slo- mer schon Leben in einer Umwelt ist – und somit auch gegen terdijk identifiziert mehrere „Stufen“ der historischen Pro- eine Umwelt und in Oppositionen zu vielen fremden Umwel- blematisierung von Wohnbehausungen, die in der Moder- ten –, beginnt die fortwährende Krise des Holismus“ (Sloter- ne schließlich in einer vollständigen „Umkehrung der Be- dijk, 2004:193). Die Umwelt löst damit das vereinheitlichen- ziehung zwischen Vordergrund und Hintergrund hinsicht- de Konzept der Erde als ganzheitliche, allumfassende holisti- lich der menschlichen Beherbergungsverhältnisse“ (Sloterdi- sche Kugel ab, die im Zeitalter der „terrestrischen Globalisie- jk, 2004:503) münden.7 rung“ (Sloterdijk, 1999:801–1004)2 ihre Blütezeit erlebte.3 An die Stelle des „Monogeismus, [der] Überzeugung von der Einzigkeit des Planeten“ (Sloterdijk, 2005a:16)4 tritt bei 3.1 Vom Warteraum zur Umzugsmaschine Sloterdijk das Denkbild des Schaumes. Der Schaum ist ein Das Zeitfenster, das Sloterdijk mit seiner kursorischen Ge- Geflecht von „ineinander verschachtelten simultanen Büh- schichte des Wohnens öffnet, reicht vom Beginn des „se- nen“ (Sloterdijk, 2004:24) des Lebendigen, dessen kleinste Einheit die Blase ist. Dabei ist die Blase aber keineswegs in 6 Eine Auseinandersetzung mit Sloterdijks Theorie des Wohnens sich abgeschlossen, sondern stabilisiert sich erst durch an- hat in der bisherigen Rezeption der Sphärentrilogie kaum stattge- dere Blasen, mit denen zusammen sie den Schaum bildet. funden, obwohl Sloterdijk selbst demThema eine Schlüsselstellung Die einzelnen Schaumeinheiten sind einerseits in sich abge- einräumt. So sind zwar für das von Stuart Elden und Eduardo Men- schlossen, weshalb Sloterdijk sie auch als „Monaden“ (Slo- dieta (2009) herausgegebene Themenheft „The Worlds of Peter Slo- terdijk, 2004:24) bezeichnet. Zugleich sind sie mit den ande- terdijk“ in der Zeitschrift Society and Space eigens die Ausführun- ren Monaden verbunden.5 Erst der Bezug auf anderes – im gen Sloterdijks zur Bedeutung kartographischer Repräsentationen Sinne des öffnend-schließenden Paradigmas der Immunisie- der Erde für die Idee der Globalisierung (Sloterdijk und Butler, 2009) oder zur Besonderheit des modernen Gaskriegs (Sloterdijk, rung – ermöglicht die Stabilisierung und Abgrenzung einer 2009b) ins Englische übersetzt worden, nach dem Thema Wohnen Monade. Die Blasen sind nicht durch Grenzen voneinander aber sucht man im Themenheft vergeblich. Zudem gibt es zwar abgeschottet, sondern bleiben durch Membranen in Verbin- eine ausführliche Beschäftigung mit Sloterdijks Architekturtheorie dung bzw. sind „als Benutzer gemeinsamer Trennungsinstal- (Borch, 2008; Skrydstrup, 2016), aber auch hier geht es eher ums lationen (Wände, Türen, Korridore, Straßen, Zäune, Grenz- Bauen, Entwerfen und Planen als um die Existenzweisen des Woh- anlagen, Durchreichen, Medien)“ (Sloterdijk, 2004:255) ver- nens. koppelt. 7 Sloterdijk folgt der phänomenologischen Tradition, insofern er Wohnen als existenzielle Seinsweise des Menschen begreift. Woh- nen verweist dieser Deutung folgend nicht nur auf den Aufenthalt an einem Standort oder auf eine Tätigkeit unter vielen (schwimmen, lesen, wohnen etc.), sondern benennt die grundlegende Weise, wie wir als Menschen „auf der Erde sind“ (Heidegger, 1954:141). Diese 2 Sloterdijk unterscheidet zwischen drei Phasen der Globa- philosophische Bestimmung sensibilisiert für die existenzielle Be- lisierung: der kosmischen (in der Antike), der terrestrischen deutung des Wohnens und zeigt auf, dass Wohnen sich nicht nur (von 1492–1945) und der telekommunikativen (Gegenwart) (Slo- an einem Ort, sondern auch im Raum vollzieht und sich nicht auf terdijk, 2005a:11–29). den Raum der Wohnung beschränkt. Sloterdijks historische Analy- 3 Ähnlich wie Sloterdijk haben auch Latour (2013) sowie Deleu- se hingegen bezieht sich vor allem auf den Wohnraum, dessen ar- ze und Guattari (1997:423–479; siehe dazu auch Folkers, 2017a) die chitektonische Gestaltung und Rolle für gesellschaftliche Wohnver- Notwendigkeit zur Pluralisierung des Umweltdenkens in Anschluss hältnisse. Damit fokussiert Sloterdijk auf einen Aspekt des umfas- an und Erweiterung von Uexküll betont. senderen Themas Wohnen, der für unsere Auseinandersetzung mit 4 Zur Kritik an der Vorstellung von „einer Welt“ siehe auch grünen smart homes äußerst anschlussfähig ist, denn der Rekurs auf Law (2015). den Wohnraum unterstreicht das Interesse an der materiellen Ge- 5 Simon Runkel (2017) hat überzeugend argumentiert, dass Slo- staltung des Wohnens sowie an den sozio-technischen Interaktio- terdijk hier besonders von Tardes Neo-Monadologie beeinflusst ist, nen und Infrastrukturen, die den Wohnraum prägen und gleichzeitig die es im Gegensatz zur Monadologie bei Leibniz zulässt, dass sich über ihn hinausweisen, indem sie ihn mit der Umwelt in Beziehung Monaden verschränken bzw. „verschäumen“ können. setzen. Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018 www.geogr-helv.net/73/79/2018/
A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes 85 dentären Weltalters“ (Sloterdijk, 2004:515) mit seinen agra- tigen Schauplatz technologischen Wandels und als Ort zahl- rischen Wohnformen über die industrielle Revolution bis reicher alltäglicher – und nur auf den ersten Blick banaler – hin zu den technologisch hochgerüsteten „Wohnmaschinen“ sozio-technischer Interaktionen sichtbar. Der Wohnraum ist (Le Corbusier) der Moderne. Dabei hieß Wohnen im agra- für ihn immer schon „ein Artifizium und keine Naturumge- rischen Kontext zunächst für lange Zeit vor allem: warten, bung“ (Sloterdijk, 2004:530).9 „Nichtweggehenkönnen“ (Sloterdijk, 2004:509). Erst der In- dustriekapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts brachte 3.3 Die Wohnung als einbettendes Milieu Phänomene der Mobilität und Deterritorialisierung hervor, die das Wohnen in die Aufmerksamkeit rückten. Der weit- Sloterdijk plädiert für eine „Analytik der einbettenden Situa- reichende Prozess der „Entbettung“ (Polanyi, 1978), den die tion“ (Sloterdijk, 2004:523), die den modernen Wohnraum Industrialisierung auslöste, bewirkte auch eine Normalisie- nicht nur als Knotenpunkt in soziotechnischen Netzwerken rung der Erfahrung von Umzügen und Ortswechseln. Erst wahrnimmt – denn Punkte kann man schließlich nicht be- die Erfahrung des „Hier-und-anderswo-Seinkönnen[s]“ (Slo- wohnen –, sondern diesen Knoten auch analytisch entfal- terdijk, 2004:509) macht das Wohnen explizit. Die moder- tet, um das „In-Sein als Eingetaucht-Sein in ein Wohnmi- ne Architektur treibt diese Erfahrung auf die Spitze, indem lieu“ (Sloterdijk, 2004:527) ans Licht zu bringen. Prozes- sie „Wohnmaschinen“ entwickelt, die die Existenz des „mo- se der Immersion „im selbstgewählten Mikromilieu“ (Slo- bilisierten Raumselbst“ (Sloterdijk, 2004:545) ermöglichen terdijk, 2004:532) nehmen im technisierten und serialisier- sollen und damit immer zugleich auch „Umzugsmaschinen“ ten Wohnen der Moderne eine neue Qualität an. Immer wie- (Sloterdijk, 2004:553) sind.8 der betont Sloterdijk die Ähnlichkeit der modernen Wohnung mit dem Raumschiff. Bei beidem handelt es sich um „Vital- 3.2 Gewohnheitsmaschine und Nachrichtenempfänger Kapseln“, die eine lebenserhaltende Umwelt im eigenen In- neren herstellen und damit versuchen, geographisch und at- Durch diese Entwicklung wird rekursiv eine weitere primäre mosphärisch autark zu werden. Diese „Umwelt-Umkehrung“ Funktion des Wohnens sichtbar: Wohnräume sind Redun- verweist auf die Rolle des Wohnraums als Immunsystem: danzgeneratoren und Habitusgeber (Sloterdijk, 2004:520), „Damit gewinnt die Wohnung Anteil am Kernprozess der sie machen ihre Bewohner einerseits existenzfähig, indem sie Modernisierung: Sie artikuliert das Auftauchen – oder das Reizarmut herstellen und Gewohnheiten begünstigen, pro- Ausdrücklichwerden – der Immunsysteme sowie das Experi- duzieren damit aber andererseits auch „den background für mentieren der selbstbezüglichen Einheiten mit größeren As- Sensibilisierungen“ und stellen die technischen Vorausset- soziationen“ (Sloterdijk, 2004:540). zungen dafür bereit, dass Informationen aus der Welt emp- fangen werden können (Sloterdijk, 2004:521). „Die Moder- 3.4 Schaumgeborgen. Wohnen als Ko-Isolation ne hat das empfangsbereite Warten auf Zeichen in techni- sche Apparate wie Rundfunkgeräte und Telephone projiziert, Im modernen Wohnraum materialisieren sich Weltoffenheit deren Existenz rückwirkend zu sagen erlaubt, was mensch- und -abwendung gleichermaßen. Die mehr oder weniger liche Häuser nach einer anderen Seite immer schon gewe- dünnen Wände zwischen den Wohnungen trennen und ver- sen sind – nämlich Empfangsstationen für Botschaften aus binden die Bewohner_innen voneinander bzw. miteinander. dem Außergewöhnlichen“ (Sloterdijk, 2004:516). Aufgabe „Solche von beiden Seiten angeeigneten Wände sind die ur- der modernen Wohnung ist es, aus dem Rauschen der Welt sprünglichen Interfaces“ (Sloterdijk, 2004:56). Deswegen ist sinnvolle Informationen zu gewinnen. Das, was am Woh- das moderne Wohnen auch das hervorgehobene Beispiel, an nen gemeinhin als lebensweltlicher Hintergrund wahrgenom- dem Sloterdijk seine Theorie des Schaums illustriert. Die Ba- men wird, entpuppt sich also bei genauerem Hinsehen als siseinheit eines Schaums ist eine „Blase“ bzw. ein „von [. . . ] technisches Produkt (Sloterdijk, 2004:521), das den eigenen pluripolaren Resonanzen gespannte[r] [. . . ] Haushalt“ (Slo- Wohnraum infrastrukturell mit der Welt in Beziehung setzt. terdijk, 2004:55). Eine solche Blase ist kein vereinzeltes Mit diesem Fokus auf die informationstechnische Vernetzt- Individuum, sondern selbst schon plural. Die Agglomerati- heit des Wohnens macht Sloterdijk den Wohnraum als wich- 9 Sloterdijks Blick auf die Wohnung als sozio-technische Welt 8 Der hier von Sloterdijk thematisierte Zusammenhang von Woh- macht die gemeinhin mit dem Wohnraum assoziierten Trennungen nen und Mobilität findet auch in der sozialwissenschaftlichen zwischen Gesellschaft, Umwelt und Technik (Kaika, 2004) hinter- Wohnforschung zunehmend Aufmerksamkeit. So sind etwa in der fragbar. Mit seiner techniksensiblen Perspektive auf das Wohnen ist deutschsprachigen Geographie in den letzten Jahren im Zuge der Sloterdijk anschlussfähig an sozialwissenschaftliche Analysen des Auseinandersetzung mit spätmodernen Lebensstilen und gegenwär- Zusammenhangs von Wohnraum und Technik, die seit einigen Jah- tigen Migrations- und Mobilitätsphänomenen eine Reihe von Arbei- ren im Schnittfeld von gender studies, Medienwissenschaften und ten entstanden, die Multilokalität theoretisieren und trans- und mul- ANT entstehen (siehe z.B. Hand und Shove, 2007; Longhurst, 2013; tilokale Wohnarrangements und ein „polytopisches“ Wohnen em- Morley, 2003). Eine Auseinandersetzung mit aktuellen Phänome- pirisch in den Blick nehmen (siehe u.a. Hilti, 2013; Schier, 2014; nen der Digitalisierung und deren Auswirkungen auf das Wohnen Stock, 2009). steht allerdings auch hier noch weitgehend aus. www.geogr-helv.net/73/79/2018/ Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018
86 A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes on vieler Blasen bildet einen Schaum, in dem gleichzeitig informatorisch mit der Umwelt – und zwar nicht nur mit der die Offenheit und Geschlossenheit der Blasen bzw. Haus- unmittelbaren Nachbarschaft, sondern letztlich mit der Öko- halte gewahrt bleibt. Die „vielfach-Ko-Isolation der Blasen- sphäre als Ganzer – verschaltet werden, um es den Bewoh- Haushalte in ihren multiplen Nachbarschaften [kann] eben- ner_innen zu ermöglichen, ihr Handeln in einem erweiter- sogut als Abschließung wie als Weltoffenheit beschrieben ten Verantwortungshorizont zu reflektieren und ökologisch werden“ (Sloterdijk, 2004:56f.). Das moderne Wohnen of- zu gestalten. Man kann darin eine Form multiskalarer Um- feriert eine neue Form der Schaumgeborgenheit jenseits von weltpolitik erkennen, weil Umweltschutz nicht einfach „glo- reiner Isolation einerseits und Aufgehen in der Gemeinschaft bal“ bzw. als „Earth System Governance“ (Biermann, 2014), andererseits. Auch wenn der einzelne Haushalt bei Sloterdi- sondern durch die Kopplung von Intim- und Ökosphäre von- jk als Blase figuriert, ist das moderne Schaumwohnen kein stattengeht. Der Abschied von einem Denken in Ganzheiten, Phänomen der Mikrosphärologie. Das gegenwärtige Zeital- den Sloterdijks „plurale Sphärologie“ einfordert, kann auch ter wird vielmehr unter dem Gesichtspunkt in den Blick ge- als Absage an die Steuerungsphantasien gelesen werden, die nommen, „daß das ,Leben‘ sich multifokal, multiperspekti- globale Umweltpolitik im Sinne einer Steuerung der kyber- visch und heterarchisch entfaltet“ (Sloterdijk, 2004:24). Slo- netischen Supermaschine „Raumschiff Erde“ (Buckminster terdijks neo-monadologisches Denken unterläuft damit die Fuller) entwerfen. Gleichwohl gehen mit dieser Neuvertei- Unterscheidung von Mikro- und Makro.10 Mit seiner Auf- lung ökologischer Politik und Governance neue Probleme merksamkeit für gesellschaftliche Wohnverhältnisse und sei- und Machtkonstellationen einher, für die Sloterdijks Ansatz ner gleichzeitigen Absage an eine Bestimmung des Wohnens weitgehend blind ist, weil er dazu neigt, Formen der Schau- als „Mikroebene“ des Sozialen ist Sloterdijk – wenngleich si- morganisation als etwas per se Gutes zu betrachten. Im An- cher nicht beabsichtigt – anschlussfähig an die feministische schluss an Überlegungen aus den governmentality studies Betonung der Bedeutung des Wohnens und des Haushalts für und der ANT sowie Beiträge zur Debatte um eine neue „Kos- gesellschaftliche Analysen (siehe u.a. Domosh, 1998; Blunt, mopolitik“ (Stengers, 2008; Latour, 2013; Haraway, 2016; 2005 und zuletzt Brickell, 2012). Während prominente Ver- Folkers und Marquardt, 2017) wollen wir daher einige Limi- treter des scale-Denkens den Haushalt – und damit auch alle tationen von Sloterdijks Denken aufzeigen und Vorschläge Fragen nach Lebensprozessen im Wohnraum – nach wie vor für eine Erweiterung der pluralen Sphärologie entwickeln. häufig als „no more than relatively stable background struc- tures“ (Brenner, 2001:598) für gesellschaftliche Transforma- 4.1 Die ökologische Explikation des Wohnens mit tionen abqualifizieren, heben feministische Geograph_innen digitalen Mitteln die „multiscalar embeddedness of constructions of the house- hold scale“ (Marston und Smith, 2001:618) und den „plura- Eine weitere Explikation, die Sloterdijk in seiner Ausein- len“ Charakter dieser Konstruktion (ebd., siehe auch Massey, andersetzung mit dem modernen Wohnen andeutet, ist das 2004; Gibson-Graham, 2002) hervor. „in Richtung auf Intelligenz explizierte Wohnen“ (Sloterdijk, 2004:562). Wie Sloterdijk betont, ist die Rede vom „intelli- genten Haus“ mehr als nur eine „Reklamephrase“: „Intelli- 4 Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt im genz ist Navigationsfähigkeit in einem Chancenraum. Das in smart eco-home Richtung auf Intelligenz explizierte Wohnen macht aus der Wohnung eine Agentur: Standort und Schnittstelle für Agen- Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäfts- ten, handelnde künstliche Programme, die mit menschlichen führung der Erde im Ganzen verantwortlich gewor- Endverbrauchern interagieren“ (Sloterdijk, 2004:562). Es ist den (Sloterdijk, 2016b:7). allerdings die Frage, ob man das smart home einfach als wei- tere Explikationsstufe des Wohnens begreift, oder ob nicht Im Folgenden möchten wir das von Sloterdijk vorgeschla- vielmehr die Digitalisierung als Mittel für alle möglichen Ex- gene analytische Programm einer „pluralen Sphärologie“ plikationen mobilisiert wird. Denn durch die Digitalisierung und die damit einhergehende Absage an eine einfache Unter- tritt weniger „Intelligenz“ als grundlegendes Charakteristi- scheidung in Mikro- und Makrophänomene aufnehmen und kum des Wohnens in den Vordergrund. Vielmehr erlaubt es an einem Fall erproben, in dem sich Wohnwelt und Umwelt die digitale Verschaltung des Wohnraums, ganz unterschied- aktuell verschränken. Es geht dabei um Experimente eines liche Facetten des Wohnens zu beleuchten und damit explizit digitalisierten und „intelligenten“ Wohnens, von denen sich zu machen. Entwickler_innen einen wesentlichen Beitrag zur Realisie- Tatsächlich ist der „Chancenraum“ intelligenten Wohnens rung der Energiewende versprechen. Die Wohnung soll hier offen für unterschiedlichste Programmierungen und Expli- 10 Deutlicher als Sloterdijk, der sich nicht eingehend mit sozi- kationsprojekte. Die Verschaltung mit ökologischen Zielstel- alwissenschaftlichen Maßstabsdebatten beschäftigt hat, betont La- lungen ist aktuell ein zentrales Betätigungsfeld von smart tour im Anschluss an Tarde die Implikationen des monadologischen home-Experimenten (Marres, 2012). Durch die Verquickung Denkens für eine Revision der Unterscheidung von Mikro und Ma- mit ökologischen Problemzusammenhängen hat das smart kro, Ganzem und Teil (Latour et al., 2012). home gewaltig an Bedeutung gewonnen und wird gegen- Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018 www.geogr-helv.net/73/79/2018/
A. Folkers und N. Marquardt: Die Verschränkung von Umwelt und Wohnwelt – Grüne smart homes 87 wärtig vor allem im Zusammenhang mit der Umsetzung netzbetreiber zu begeben, auf dem Markt sein, ohne Rücken der Energiewende ins Spiel gebracht (siehe etwa WBGU, an Rücken mit Händlern um die Wette zu schreien, und einen 2011:77). In vielerlei Hinsicht ist also nicht Intelligenz per se Fußabdruck in der Atmosphäre hinterlassen, ohne von der eine neue Explikationsstufe des Wohnens. Vielmehr ermög- Couch aufstehen zu müssen. licht das smart home eine ökologische Explikation des Woh- Der Rückgriff auf Sloterdijks plurale Sphärologie lässt nens mit digitalen Mitteln. Das grüne smart home expliziert hier also sichtbar werden, wie sich Wohn- und Umwelt ver- den Wohnraum als zentralen Umschlagsplatz für Stoffwech- schränken, ohne dass letztere einfach erstere in sich enthalten selprozesse (Essen, Energie, Wasser, Abfall etc.), durch die würde wie eine russische Schachtelpuppe. Vielmehr wird der der Mensch mit der Umwelt verbunden ist. Damit macht es planetarische Horizont des Wohnens im Haushalt entfaltet, sichtbar, messbar und alltäglich erfahrbar, worauf geogra- während umgekehrt dieser planetarische Horizont überhaupt phische Theorien des urbanen Metabolismus (Gandy, 2004; erst dadurch entstehen kann, dass die in situ-Informationen Kaika, 2004; Swyngedouw, 2006) bereits seit längerem hin- von Haushalten und anderen lokalen Messstationen von Kli- gewiesen haben: Die moderne Erfahrung der Wohnung als masimulationsmodellen zu einem globalen Weltbild synthe- Intimsphäre wird überhaupt nur durch ihren Anschluss an tisiert werden (Edwards, 2010). Es entstehen hybride Wohn- eine Vielzahl von Strömen möglich, die das scheinbar Pri- Umweltschäume, in denen die globale, ja geradezu plane- vate durchqueren und mit der Öffentlichkeit verbinden. Das tarische Signifikanz alltäglicher und lokaler Wohnvollzüge smart home offenbart damit aber nicht nur eine Facette des zur Geltung gebracht wird. Der ko-konstitutive Zusammen- Wohnens, die dieses „immer schon“ bestimmt hat. Vielmehr hang von Globalem und Lokalem ist in jüngerer Zeit im- soll die informatorische Vernetzung die Wohnung zu einem mer wieder betont worden (Sassen, 1991; Knorr-Cetina und Schauplatz ökologischer Modernisierung machen, an dem Bruegger, 2002; Ong und Collier, 2005; Tsing, 2005; La- durch materielle Designs und technisch unterstützte Alltags- tour, 2007). Zumeist wurde dabei jedoch nur gezeigt, wie das praktiken der Stoffwechsel zwischen Wohnwelt und Umwelt Globale (etwa als Weltmarkt) durch lokale Praktiken (etwa sichtbar gemacht und verträglicher gestaltet werden soll. Das durch digitalisierte Arbeitswelten in global cities) versam- Zuhause zeigt sich als hybride Welt voller Interaktionen mit melt wird. Die Verschränkung von Wohn- und Umwelt im technischen Applikationen, die uns mit der Außenwelt ver- grünen smart home zeigt demgegenüber, wie sich das Pla- netzen und gleichzeitig von ihr abgrenzen (Dodge und Kit- netarische (als lebenserhaltendes Ökosystem) in alltäglichen chin, 2009; Morley, 2003). Wohnvollzügen einnisten kann. Die von Sloterdijk identifizierte Funktion des Wohnraums als Empfänger von Informationen nimmt damit eine neue 4.2 „Ethics of response-ability“ oder kybernetische Qualität an, die der Selbstbezüglichkeit der Wohnenden ei- Moral? ne weitere rekursive Schleife hinzufügt und gleichzeitig ih- re Vernetzung mit der Außenwelt intensiviert. Eine Schlüs- Eine Schlüsselrolle für die sozio-technische Erweiterung des selrolle hierbei spielen interfaces – Bildschirme, Tastatu- Wohnhorizonts spielen Monitoring-Techniken, die interakti- ren, touchscreens – als Schnittstellen zwischen großtechni- ve Möglichkeiten des self-sensing bereitstellen und die öko- schen Systemen und ihren Nutzer_innen. Galten Sloterdijk logischen Folgen des eigenen Alltagshandelns transparent die Wände zwischen Wohnungen als „ursprüngliche [. . . ] In- machen sollen. Das 2016 verabschiedete Gesetz zur Digi- terfaces“ (Sloterdijk, 2004:56), so lassen sich diese neuen talisierung der Energiewende etwa sieht als zentralen Bau- Artefakte als erweiterte interfaces verstehen, weil sie eine stein die sukzessive Ausstattung privater Haushalte mit smart Verbindung nicht nur mit der unmittelbaren Nachbarschaft, metern vor, die transparent machen sollen, wann genau und sondern auch mit weit Entferntem zulassen. Dadurch wird wo im Haushalt wie viel Strom verbraucht wird. Intelligen- Wohnen in einem erweiterten Horizont erfahrbar. Lässt man te Messsysteme erlauben ein permanentes und kleinteiliges sich vom smart meter den carbon footprint anzeigen, der Echtzeit-Feedback, das den Energieverbrauch situativ auf die durch den Energieverbrauch im eigenen Haushalt verursacht Nutzung einzelner Geräte oder einzelne Handlungen (Ge- wird, bekommt man die Effekte lokalen Handelns auf atmo- schirr spülen, Tee kochen, das Handy aufladen etc.) herun- sphärischer Ebene zurückgespiegelt. Der smart meter fun- terbrechen kann und diese Handlungen so im Hinblick auf giert dann als „everyday device [. . . ] of carbon accounting“ ihre Energiebilanz miteinander vergleichbar macht. (Marres, 2011). Indem der smart meter über die Verfügbar- Als zentral für das Gelingen einer ökologischen Umstel- keit von günstigem Strom im Netz informiert, wird die Woh- lung des Alltags gilt die Frage der genauen Gestaltung von nung als Element im großtechnischen System der Stromver- Mensch-Maschine-Schnittstellen und der Informationen, die sorgung expliziert. Wird über wechselnde Strompreise in- sie bereitstellen. Die smart meter beschränken sich bei der formiert, wird der private Haushalt zudem zum Akteur auf Informationsvermittlung nicht auf die Darstellung quantita- dem Strommarkt. Die informatorische Verbindung erlaubt tiver Daten (etwa Kilowattstunden, Liter oder CO2 -Werte). aber gleichzeitig auch eine räumliche Immunisierung von der Eine zentrale Rolle spielen auch „Klimaanimationen“, die Umwelt. Man kann auf der Ebene der Versorgungsinfrastruk- die möglichen Folgen des eigenen Alltagshandelns in Bil- tur wirken, ohne sich in die Kontrollräume der Übertragungs- der übersetzen und als sogenannte nudges bzw. „Stupser“ www.geogr-helv.net/73/79/2018/ Geogr. Helv., 73, 79–93, 2018
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