KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
KIRCHE !
           ALS !
         HEIMAT!
     Die künstlerische Neugestaltung !
    der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen‘ !
         und deren Auswirkungen!

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                                      Johannes Neubert
KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
Inhaltsverzeichnis!
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1. Hinführung............................................................................................................3!
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2. Kirche, Kirchenraum und Kunst - ein spannendes Verhältnis...............................5!
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3. Der Begriff Heimat...............................................................................................10!
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  3.1. Bedeutungsvarianten im Überblick................................................................10!
  3.2. Heimat bei Gott..............................................................................................15!
  3.3. Heimat als Leitthema Stefan Strumbels.........................................................16!
  3.4. Das Verständnis von Heimat bei den !
!      Gemeindemitgliedern und Besuchern !
!      der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen‘...............................................................20!
!
4. Die katholische Kirche in Kehl/Goldscheuer.........................................................21!
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    4.1. Eine Kirchenrettung als Heimatgeschichte.....................................................21!
    4.2. Deutender Einblick in die künstlerische Neugestaltung..................................24!
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5. Heimat und Glaube - Auswirkungen der künstlerischen !
    Neugestaltung.......................................................................................................28!
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6. Rückblick und Ausblick..........................................................................................32!
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7. Literaturverzeichnis...............................................................................................33!
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8. Anhang..................................................................................................................37!
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    8.1 Transskript des Interviews mit Stefan Strumbel vom !
        29.7.2013.........................................................................................................37!
    8.2 Fragebogen......................................................................................................43!
    8.3 Auszüge aus dem Besucherbuch.....................................................................46!
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9. Erklärung über die Eigenständigkeit der Arbeit.....................................................47!
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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
1. Hinführung!
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Auch wenn Papst Franziskus wie auf dem Weltjugendtag in Rio de Janeiro die
Jugend der Welt mit seiner lebendigen Verkündigung und seinem Eintreten für die
Armen begeistern kann1, fällt die Bilanz für die kath. Kirche in den letzten Jahren
nicht unbedingt positiv aus. Zu viele Skandale, wie z.B. der Missbrauchsvorwurf in
Deutschland, haben das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Kirche nachhaltig
beeinflusst. Der zunehmende Glaubens- und Bedeutungsverlust führte und führt zu
einer vermehrten Anzahl von Kirchenaustritten und zurückgehenden Zahlen beim
Gottesdienstbesuch2. Gleichzeitig lösen sich zumindest in Deutschland, bedingt
durch den Priestermangel, Gemeinden auf und werden großen Seelsorgeeinheiten
zugeordnet mit nur noch unregelmäßigen Gottesdiensten in der Ortskirche oder
wohnortnahen Kirche. Viele Gläubige erleben diese Entwicklung als tiefen Verlust in
ihrer religiösen Identität und Verwurzelung, ja als regelrechte Ent-heimatung. Als
zusätzliche Verschärfung dieser Problematik zeichnet sich immer mehr die Sorge
auch um die Kirchengebäude ab. Viele Kirchen sind von der Schließung,
Profanierung und Umwandlung hin zu einer anderen Nutzung oder von Abriss
bedroht. An dieser Stelle tritt für mich nun eine sehr bemerkenswerte Entwicklung
ein, die scheinbar der Beobachtung vermehrter Kirchenaustritte und der
abnehmenden Zahl der Gläubigen, des insgesamt großen Verlustes an kirchlicher
Bindung zuwiderläuft3. Ausgetretene, Kirchenferne und Gläubige kämpfen Seite an
Seite um den Erhalt ihrer Kirche vor Ort und mobilisieren ungeahnte Kräfte und
Ressourcen.!
Herausfordernd offensichtlich wurde dies für mich in der unmittelbaren
Nachbarschaft als hochemotionales Dauerthema angesichts des drohenden Abrisses
mit versprochenem Neubau von St.Paulus/Lohrbach. Die Auseinandersetzung um
die richtige Lösung führte zu einem tiefen Riss mit offenen Anfeindungen im Dorf und
zum erbitterten Streit mit Freiburg und verhinderte so bisher eine konstruktive
Lösung.!
Warum ringen Menschen so intensiv um den Erhalt von Kirchenräumen mit allen
ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, seien es Zeitungsartikel, Mahnwachen oder
andere Demonstrationen?!
Erklären lässt sich dieses Phänomen großen gemeindlichen Engagements für den
Erhalt von Kirchengebäuden und das Eintreten für eine ortsnahe Kirche weit über die
Grenzen aktiver Gottesdienstbesucher hinaus für mich nur aufgrund von mehreren
unterschiedlichen Faktoren:!
!
1!
 Oehrlein, Josef: Wir alle sind Brüder, in: FAZ, Nr.173/31, Mo. 29. Juli 2013, S.1, in dem Josef Oehrlein dezidiert
vom „umjubelten Auftritt“ von Franziskus spricht: „Franziskus stellt die Armen und Ausgegrenzten in den
Mittelpunkt. Das ist zum Programm seines Pontifikats geworden und lässt wie eine Zauberformel früher
unüberwindlich scheinende innerkirchliche Kontroversen unbedeutend erscheinen“.

2!
 Vgl. Konradsblatt Nr.30 vom 28.7.2013, S.9: „Im Erzbistum Freiburg sind im Jahr 2012 10375 Menschen aus der
Kirche ausgetreten…Der Blick auf die einzelnen statistischen Größen zeigt, dass sich der allgemeine Rückgang
des kirchlichen Lebens im Erzbistum Freiburg – wie auch in den anderen deutschen Bistümern – auch im
vergangenen Jahr fortgesetzt hat…Unverändert problematisch erscheint die Entwicklung der Zahl der
Gottesdienstteilnehmer. Diese hat auch im vergangenen Jahr weiter abgenommen“.

3! Vgl.
      Schwebel, Horst, Die Kirche und ihr Raum. Aspekte der Wahrnehmung, in: Glockzin-Bever, Sigrid;
Schwebel, Horst (Hrsg.): Kirchenraumpädagogik, Münster 2002, S.9: „ Sowohl die Kirchentreuen als auch die der
Kirche Fernstehenden scheinen die Kirchenräume in einer beneidenswerten Selbstverständlichkeit zu
akzeptieren“.

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
Die meisten Menschen können sich ihren Ort nicht ohne Kirche vorstellen, denn !
mit ihrer Kirche verbinden sie viele Emotionen, Erinnerungen, Halt, Vertrautheit,
Zugehörigkeit und Identität. Zudem haben viele Ältere auch einen großen finanziellen
Beitrag für die bestehende Kirche geleistet. Die Menschen spüren vielleicht, dass
„jede ,Profanierung‘ auch ein Akt der Selbstaufgabe einer Gemeinschaft“4 ist. Vor
allem aber haben sie ein Gefühl der Verwurzelung und ein Bedürfnis nach
Beheimatung gegenüber dieser Kirche und ihrem Raum entwickelt. Im Hintergrund
steht dabei zumindest unbewusst meiner Ansicht nach die Erkenntnis der
Leistungsfähigkeit kirchlicher Räume: „Als Gedenk- und Erinnerungsorte
vergegenwärtigen sie die Vergangenheit, als Orte des Heiligen transzendieren sie die
Gegenwart, als Stein gewordener Glaube bezeugen sie die sprachlich kaum
fassbare Hoffnung auf Ewigkeit“5.!
Dann ergab sich die Gelegenheit, die Kirche ,Maria - Hilfe der Christen‘ in Kehl-
Goldscheuer zu besuchen. Fasziniert von der künstlerischen Ausgestaltung von
Stefan Strumbel, habe ich auch vom Glücksfall der Kirchenrettung erfahren. Pfarrer
Thomas Braunstein und die Gemeinde sind gemeinsam mit dem bekannten Künstler
das Wagnis der Neugestaltung eingegangen und konnten so - im Rückblick überaus
erfolgreich – die Kirche als Gebäude, Gottesdienstraum und Raum für das
persönliche Gebet vor dem Abriss bewahren. !
Stefan Strumbel versteht seine Kunst zentral vom Begriff der Heimat her und hierin
verbinden sich beide Bewegungen, das Bedürfnis nach Heimat, Be-heimatung,
speziell in der Ortskirche und ein Künstler, der Heimat zum Ausgangspunkt seiner
künstlerischen Überlegungen gewählt hat. Dies hat mich aufgrund meiner
Erfahrungen in der unmittelbaren Umgebung neugierig gemacht, mich auf
Spurensuche zu begeben:!
Welche Bedeutung hat Kunst für die Wirkung eines Kirchenraumes? !
Was versteht ,man‘ eigentlich unter dem Begriff ,Heimat‘?!
Wie konnte es zur Kirchenrettung in Kehl/Goldscheuer kommen und wie sieht das
künstlerische Ergebnis aus? !
Zum Schluss hin soll dann ein Antwortversuch gewagt werden auf meine zentralen
Anfragen:!
Kann ein Street Art Künstler Glauben als Begegnung zwischen Mensch und Gott neu
beleben?!
Gewinnen die Bewohner von Goldscheuer eine neue Identität im Bezug auf ihre
Kirche? Kann die Kirche zu einer neuen Heimat für sie werden?!
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4   Deckers, Daniel: Wider das Kirchensterben; in: FAZ Nr. 300, 24.12.2012, S.1

5   Deckers, D.: Wider das Kirchensterben, S.1

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
2. Kirche, Kirchenraum und Kunst !
!   – ein spannendes Verhältnis!
!
                                             „Um die Botschaft weiterzugeben, die ihr von !
                                             Christus anvertraut wurde, braucht die Kirche die Kunst“6.!
!
Im Folgenden soll es um einen Einblick in das Verhältnis von Kirche, Kirchenraum
und Kunst gehen, insbesondere um die unterschiedlichen Funktionszuschreibungen
und deren Auswirkungen auf den Einsatz und die Leistungen von Kunst im
kirchlichen Raum.!
Das besondere Augenmerk auf die Gestaltung des Kircheninnenraumes, die
besondere Herausforderung für den Künstler und die Notwendigkeit eines speziellen
Fingerspitzengefühls liegt sicherlich in der Funktion dieses Raumes als geprägtem
Raum begründet. !
Ob es sich allerdings beim Kirchenraum um einen heiligen Raum handelt, darüber
besteht in der Forschung Uneinigkeit. Zudem existiert diesbezüglich eine
unterschiedliche Einschätzung in der evangelischen und katholischen Theologie.
Körs gibt in ihrer Dissertation7 einen Überblick über die evangelisch-theologische
Kirchenraumtheorie. Zwar sprechen ihren Forschungen nach alle Ansätze dem
Kirchenraum ein „Mindestmaß an Bedeutung“8 zu. Allerdings wird in der
reformatorischen Richtung von der Neutralität des Kirchenraumes zur
Gottesbeziehung ausgegangen. „Die Heiligkeit des Raumes entsteht hier durch die
individuelle und räumlich vermittelte Auseinandersetzung mit früheren und
gegenwärtigen Nutzungen und Glaubensinhalten“9. Daneben existieren aber auch
andere Deutungen, die diese distanzierte Betrachtung des Kirchenraumes
aufbrechen und der These der Funktionslosigkeit des Kirchenraumes „außerhalb der
gottesdienstlichen Nutzung…widersprechen“10. Manfred Josuttis hingegen schreibt
dem Kirchenraum per se eine Heiligkeit zu11, was dann zu besonderen
Schwierigkeiten hinsichtlich der Entnutzung leerstehender Kirchengebäude führt,
denn einen per se heiligen Raum kann man nicht ,entsorgen‘. Der Münsteraner
Theologe Klemens Richter hingegen spricht dem Raum nur insofern Heiligkeit zu, als
er hingeordnet ist auf die Beziehung zu Gott und dieser Beziehung einen
Ermöglichungsraum zur Verfügung stellt12. !

6 Johannes Paul II, Brief an die Künstler 1999 in: www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/letters/documents/
hf_jp-ii_let_23041999_artists_ge.html !
aus dem Internet entnommen am 20.7.2013, Punkt 12

7Körs, Anna: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur
Besucherperspektive, Wiesbaden 2012

8   Körs,A.: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S.45

9   Körs,A.: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S.45

10   Körs,A.: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S.45

11   zitiert in Schwebel, H.: Die Kirche und ihr Raum, S.22

12   zitiert in Schwebel, H.: Die Kirche und ihr Raum, S.23

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
Zahner drückt dies in seinem Artikel „Orte der Zeitgenossenschaft – Kirchenbau als
Baukunst“ so aus: „Hier begegnen sich Gott und Mensch – was natürlich nicht
ausschließlich gemeint ist“13. !
Mensch und Gott begegnen sich im Gebet, im Gesang, in der Eucharistiefeier, in der
Feier der Sakramente, im Wort des Evangeliums. Kirchen sind deshalb zuallererst
liturgische Orte für die Versammlung der ganzen Gemeinde in der Vielfalt der heute
möglichen gottesdienstlichen Formen. Daneben muss die Kirche aber auch einen
Raum bieten für die „individuelle Frömmigkeit“14 im persönlichen Dialog mit Gott
außerhalb der Gottesdienste. So können Kirchen laut Zahner auch zu „Orten des
Rückzugs aus der täglichen Hektik“, zu „Stätten des Gebetes“15 werden. Im besten
Sinne gibt der Kirchenraum die Möglichkeit zu einer religiösen Erfahrung der
Transparenz unserer Wirklichkeit. Diese tiefste Erfahrung lässt sich aber weder
herbeiführen noch erzwingen. „Es wäre ein Geschenk, etwas Unverfügbares“16. Sei
es jedoch im Gottesdienst, sei es außerhalb gottesdienstlicher Formen, immer sind
die Menschen in einem kirchlichen Raum „in eine Beziehung hineingestellt…, die sie
schützt und ihnen Zukunft öffnet, sie aufnimmt und über sich hinausbringt, sie
beheimatet, aber auch orientiert“17. Das dialogische Geschehen zwischen Gott und
Mensch, das sich im Raum ereignet, bleibt spürbar für nachfolgende Besucher und
prägt sich in seiner Qualität „im kollektiven Bewusstsein nicht zuletzt als das
Bedürfnis ein …, solche Räume in der Mitte der Gemeinwesen zu erhalten oder auch
neu zu gestalten“18. Natürlich beschränkt sich die Beziehung zwischen Gott und
Mensch nicht exklusiv auf diesen Raum und darf sich nicht darauf beschränken, aber
diese bemerkenswerten Einschätzungen und Bedeutungszuschreibungen von Ulrike
Wagner-Rau führen bezogen auf jede Neu-Gestaltung des Kirchenraumes
unweigerlich zu einer zentralen Frage: Wie soll, wie muss der Innenraum einer
Kirche gestaltet sein, damit diese Begegnung glücken und ermöglicht werden kann?!
Neben den rein architektonischen Anforderungen und Elementen kommt dabei
meiner Ansicht nach der künstlerischen Gestaltung in ihren vielfältigen Formen eine
herausragende Rolle zu. !
Was aber bedeutet das für die Kunst, welchen Beitrag kann und darf die Kunst zum
Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott leisten? Auch wenn Zahner
konstatiert, dass sich „Kunst und Kirche durchaus wieder auf Augenhöhe
begegnen“19, gestaltete und gestaltet sich die Beziehung dieser beiden Bereiche
keinesfalls unproblematisch – von beiden Seiten aus. Kunst als Kunst für die
Menschen, die in der Gemeinde leben oder deren Kirchenraum besuchen, sollte
zunächst die gottesdienstlichen und individuellen Vollzüge der Gemeinde
unterstützen, indem sich die Menschen durch sie im Raum wohl, geborgen und
getragen fühlen. !

13Zahner, Walter: Orte der Zeitgenossenschaft – Kirchenbau als Baukunst, in: Irritierende Schönheit. Die Kirche
und die Künste, Herder Korrespondenz Spezial 1.2012, S.17

14   Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.17

15   Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.17

16   Schwebel, H.: Die Kirche und ihr Raum, S.10

17Wagner-Rau, Ulrike; Gotteshaus und Gottesbeziehung. Kirchen als Segensräume, in: Erne, Thomas;Schüz,
Peter (Hrsg.): Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion, Göttingen 2010, S.162

18   Wagner-Rau, U., Gotteshaus, und Gottesbeziehung, S.163

19   Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.17

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
Kirche als Heimat auf Zeit wird durch die besondere Atmosphäre zur „gemeinsamen
Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“20, die (auch und vor
allem) durch die Kunst in ihr entsteht.!
Berechtigterweise lässt sich in diesem Zusammenhang aber auch die Frage stellen,
inwieweit die Kunst im kirchlichen Raum nicht nur – wie eben beschrieben – quasi
Zuliefererfunktionen erfüllen kann, sondern eigenständig wahrgenommen werden
darf, ja sogar muss: Inwieweit darf eine „künstlerische Arbeit für den Kirchenraum
darüber hinaus auch oder gerade eine … autonome Qualität“21 haben. Pointiert
nimmt Andreas Mertin dazu Stellung, wenn er der Kunst explizite Freiheitsqualitäten
zuschreibt: „Kunst…ist der einzige Bereich, an dem wir Menschen in einem
umfassenden Sinne frei sind und Freiheit erleben können“22. Dies setzt die Freiheit
der Kunst in sich voraus, was in besonderer Weise für die unsrige Zeit der Moderne
gilt, in der sich Künstler nicht wie z.B. im Mittelalter nur darauf ausrichteten, kirchliche
Vorgaben umzusetzen. Mertins Ansicht nach gibt es keinen religiös zwingenden
Grund, die Kunst in irgendeiner Weise zu beschränken oder zu begrenzen. Dies hat
auch die katholische Kirche erkannt, wenn sie sich schon 1996 in ihrer liturgischen
Handreichung „Liturgie und Bild“ gegen eine Vereinnahmung der Kunst ausspricht:
„In der langen Zeit ihrer Entwicklung unabhängig von kirchlichen Vorschriften konnte
die abendländische Kunst eine Formensprache entwickeln, die in der gegenwärtigen
Phase…für die Kirche außerordentlich inspirierend sein kann“23.!
Möglich wurde diese heutige Sichtweise gegenüber Bildern jeglicher Art, seien es
Bilder, Skulpturen, Installationen etc. erst durch eine Entwicklung hin zu einem
neuzeitlichen und modernen Bildverständnis. Spannend finde ich hierbei, wie sehr
Kirche und Künstler aufeinander bezogen bleiben und voneinander lernen und
profitieren können: „Kunst und Kirche ringen beide um den in der Vielfalt der
geistigen und kulturellen Strömungen der Gegenwart oft orientierungslosen
Menschen. Um dabei voneinander lernen zu können, ist gegenseitiger Respekt
vonnöten“24. Bezeichnenderweise erkennt die Dt. Bischofskonferenz die Chance,
sich durch die Kunst im Glauben verändern zu können und bewegen zu lassen.
Dabei verläuft diese Beeinflussung nicht einseitig von der Kunst zu den Gläubigen.
Es findet vielmehr eine gegenseitige Beeinflussung von Kunst und Religion statt, der
von beiden Seiten eine große, aber auch bereichernde Offenheit verlangt. So wie ein
Einfluss der Kunstwerke auf die religiösen Erfahrungen des Einzelnen spürbar
werden kann, so wirkt sich der religiöse Raumkontext immer auch auf die an sich
autonomen Kunstwerke selbst aus. !
!
20Beyer, Franz-Heinrich: Geheiligte Räume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes,
Darmstadt 2008, S.18

21   Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.18

22Mertin, Andreas: Kunst und Kirche in der Praxis, in: Ludwig, Matthias (Hrsg.): Kunstraum Kirche, Lauertal 2005,
S.121

23 Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz (Hrsg.): Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, Arbeitshilfen 132, S.5,
in: www.liturgie.de/liturgie/pub/op/dok/download/ah132.pdf, aus dem Internet entnommen am 2.6.2013!
Die Orientierungshilfe spiegelt so Aussagen des Vat.II in der Liturgiekonstitution wieder, Art.123: „Auch die Kunst
unserer Zeit und aller Völker und Länder soll in der Kirche Freiheit der Ausübung haben“. Liturgiekonstitution des
Vat.II, Sacrosanctum concilium, Art.123, in: www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/
vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html, entnommen am 1.7.2013!

24   Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
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Die Dt. Bischofskonferenz befürwortet die Bewegung der Künstler auf die Kirche zu,
um ihrerseits neue und andere Erfahrungen mit und in ihr zu machen, weil sie ihnen
ihrerseits „unbekannte Dimensionen des Fragens, Suchens oder aber der
Sinngebung vermitteln kann“25. Eine gegenseitige Lern- und Lebenserfahrung kann
möglich werden. Geradezu auf zeitgenössische Künstler wie Strumbel zugeschnitten,
wirkt dann folgende Aussage:!
„Eine Stärke der Kunst ist es, die Finger auf die Wunden des Gegenwärtigen zu legen,
Fragen und Wünsche, auch Sehnsüchte aufzudecken. Ein solcher Anstoß kann ein erster
Schritt in einem Heilungsprozess sein. Hierin liegt nicht zuletzt die Kraft künstlerischer
Provokation. Die Kirche ist Versammlungsort der Gemeinde und damit ein Ort, wo diese
schmerzenden Fragen der Gegenwart zur Sprache gebracht werden müssen. Die Kunst
kann der Kirche helfen, sich dieser Spannungen bewusst zu werden und sie auszuhalten.
Ihre Stärke ist dabei - mehr als beim Wort – die Unausweichlichkeit des Sinnlichen. Der
Provokation von Bildern können die Betrachtenden sich nur schwer entziehen“26. !
!
Diese Aussage ist Ermutigung und Aufforderung an Künstler zugleich, sich dieser
Aufgabe auch zu stellen, die Augen zu öffnen für Neues, Unerwartetes. Vielleicht
kann moderne Kunst in ihrer Neu- und Andersartigkeit sogar – so hoffe ich – zum
Bindeglied werden zwischen einer Institution Kirche auf der Suche nach einer
größeren gesellschaftlichen Ver-Ortung und den heutigen Menschen in ihrem
Bedürfnis nach (religiösem) Sinn und Orientierung in ihrem Alltag. So würden beide
Seiten profitieren: „Die Verarbeitung religiöser Inhalte und Motive [bietet für die
moderne Kunst]… die Möglichkeit einer kreativen Ausdeutung oder Uminterpretation
zentraler Sinngehalte des menschlichen Lebens. Andererseits sichert die populäre
Verarbeitung religiöser Themen ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit“27 für den
Künstler selbst, so Bohrmann. Aber auch aus theologischer Perspektive bietet die
moderne Kunst die Möglichkeit „zeitgenössische kulturelle Elemente in religiöse
Praktiken zu integrieren und dadurch die Teilnahme und die Nähe zur Lebenswelt der
Gläubigen zu unterstreichen“28. Besonders, aber keinesfalls ausschließlich in den
Blick geraten dabei die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ihrer
Lebenswirklichkeit, ohne sich ihnen anzubiedern, sondern sie vielmehr zu würdigen.
Wenn Gott immer wieder neu in jeder Zeit zur Sprache kommen soll, weil er ein
gegenwärtiger Gott ist, vermag die freie, autonome Kunst dazu einen
entscheidenden Beitrag in ihrer eigenen Gegenwärtigkeit zu leisten. Über den
Einfluss der modernen Kunst gelingt eine Vergegenwärtigung, die durchaus immer in
der Gefahr steht, missverstanden und missgedeutet zu werden als bloße Anpassung
an den Zeitgeist in ihrer anstößigen, an-stoßenden Kraft.!
Moderne Kunst kann und soll provozieren, sieht sich aber gerade dadurch auch
vielfältigen Angriffen aus kirchlichen Kreisen ausgesetzt und in ihrer Sinnhaftigkeit
und in ihrer Berechtigung hinterfragt: Werden mit solcher Kunst nicht Kirchensteuern
verschwendet? Wie lange wird eine solche Kunst ausgehalten? Wie lange kann sie
ihren Wert erhalten? !

25   Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23

26   Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23

27 Bohrmann, Thomas; Reichelt Matthias: Eigene Prägekraft. Zum religiösen Potential der Populärkultur, in:
Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste, Herder Korrespondenz Spezial 1.2012, S. 38

28   Bohrmann, Th.: Eigene Prägekraft, S.38

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KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
Könnte man das Geld nicht für sinnvollere Zwecke ausgeben wie die Versorgung
hilfebedürftiger Mitglieder in der Gemeinde?29. Energisch widerspricht hier
Garhammer: „Gerade Gemeinden, die sich für moderne Kunst öffnen, haben unter
anderem auch ein genaues Gespür für das Soziale und Diakonische“30. Er verweist
dabei beispielhaft auf die Gemeinde Maria Geburt in Schweinheim, deren
künstlerisch veränderter Feierraum die Menschen verändert hat in ihrem religiösen
Tun, aber eben nicht nur da, sondern auch in ihrem Leben, in der Umsetzung neuer
sozialer Projekte31. In Schweinheim zumindest haben die veränderten
Wahrnehmungen durch die Kunst die Gemeindemitglieder nicht nur sensibler,
sondern auch „diakonischer“32 gemacht. Aber nicht nur in Schweinheim lassen sich
Menschen in sozialer Hinsicht durch Kunst berühren und verwandeln. Kunst kann so
in einem überaus positiven Sinne „über-flüssig (sein), sie fließt über, auch in andere
Bereiche des Lebens. Sie prägt das Verhalten der Menschen und verändert sie“33.!
Wenn Kirche Kunst, insbesondere moderner Kunst, einen Raum bietet, sie bewusst
einsetzt und ermöglicht, beweist sie oftmals nicht nur Mut und mutet den Menschen
mit ihr etwas zu, sondern sie erweist meiner Ansicht nach auch ihre Achtung vor
ihren Mitgliedern, indem sie deren Bedürfnisse und Anliegen wertschätzt. Indem
Kirche einen guten, gelungenen, wertvollen Raum für den Glauben ermöglicht, wertet
sie damit auch die Menschen in ihm auf. Menschen dürfen sich im Kunst-Raum
Kirche angesprochen fühlen und werden nicht einem einfachen, kargen, nicht mehr
zeitgemäßen Innenleben einer Kirche überlassen. Dass man nie alle Menschen einer
Gemeinde damit gleichermaßen ansprechen kann, steht auf einem anderen Blatt und
gebietet Vorsicht und wertschätzende Auseinandersetzung mit jenen, die mit der
ausgewählten Kunst nichts oder nur wenig anfangen können.!
In besonderer Weise problematisch wird die Begegnung mit moderner Kunst im
Kirchenraum dann, wenn keine Bereitschaft zur inhaltlichen und emotionalen
Auseinandersetzung besteht, weder im Sinne einer Zustimmung noch im Sinne einer
radikalen Ablehnung. Mertin bezeichnet diese Problematik als „kulturgeschichtliche
Verdinglichung“34, wenn der Kirchenraum mit seiner Kunst nur noch als musealer
Raum wahrgenommen wird. Diese sog. „Baedecker-Christen begreifen…Kunst wie
Religion als geronnene Formen der Vergangenheit, die keine lebendigen
Erfahrungsräume mehr eröffnen können“35. Ein ausdrucksstarkes Ineinander von
Kunst und Kirche weicht so einem Nebeneinander ohne spezifische
Veränderungskraft auf die Gegenwart bezogen. Kunst und Kirche verlieren
dementsprechend ihre Sprache für die Menschen und ihr gegenwärtiges Leben.!
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29Vgl. Garhammer, Erich: Ist Kunst überflüssig? Zum Spannungsfeld von kulturellem und sozialem Engagement
der Kirche, in: Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste, Herder Korrespondenz Spezial 1.2012, S.21

30   Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.22

31   Vgl. Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.22

32   Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.22

33   Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.24

34   Mertin, A.: Kunst und Kirche in der Praxis, S.129

35   Mertin, A., Kunst und Kirche in der Praxis, S.129

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3. Der Begriff Heimat !

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3.1. Bedeutungsvarianten im Überblick!
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Heimat - ein Begriff, den jeder zur Zeit im Munde führt, der aber in all seinen
Dimensionen kaum zu fassen ist, der einem entgleitet, sobald man ihn zu fassen
glaubt. Die Schwierigkeiten für eine allgemein-gültige Definition liegen dabei „in der
individuell-emotionalen Komponente des Begriffes“36. Geprägt durch den je eigenen
Kontext in Landschaft, Sprache, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, geprägt aber
eben auch durch die Individualität der ihn nutzenden und empfindenden Menschen,
zeigt sich der Begriff bei jedem Menschen unterschiedlich und veränderlich.
Deswegen finden sich im Folgenden nur ausgewählte Aspekte von Heimat als
Rahmen oder Hintergrund für den Heimatgedanken Stefan Strumbels.!
Zunächst möchte ich das Wort Heimat jedoch von seiner Herkunft her erschließen.
Etymologisch leitet sich der Begriff Heimat, der auf das deutsche Sprachgebiet
beschränkt ist, von dem Substantiv Heim ab. „Das gemeingerm. Wort ,heim‘.... ist
eine Substantivbildung zu der idg. Wurzel kei- ,liegen‘ und bedeutete demnach
ursprünglich ,Ort, wo man sich niederlässt, Lager‘„37. Schon hierin kann man den
ersten Hinweis auf eine Ortskomponente des Begriffes bis heute entdecken.!

36Heilingsetzer, Georg Christoph: Identität=Heimat? Interdisziplinäre Untersuchungen zu scheinbar einfachen
Begriffen, Norderstedt 2004, S. 16

37Duden, Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen Sprache, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte
Auflage, Mannheim 2001

                                                                                                              10
Beschäftigt man sich mit der Begriffsgeschichte des Wortes Heimat und wirft einen
Blick in das Grimmsche Wörterbuch, fällt sofort auf, dass sehr früh die Bedeutung
schon stark und über die Jahrhunderte hinweg in unterschiedlichen Gegenden
variierte38. Dies ist bis heute so geblieben, beispielhaft sei hier die Brockhaus-
Enzyklopädie als Nachweis genannt39. Ursprünglich scheint der Begriff Heimat
jedoch weitgehend eindimensional beschränkt auf den unmittelbar vorhandenen
Besitz von Haus und Hof verbunden mit rechtlichen Fragen in den Familien bezüglich
des Besitzrechtes festgelegt gewesen zu sein. Erst im 19. Jhd. wandelte sich dieses
Verständnis laut Bausinger hin zu einem bürgerlich-freundlichen Heimatbild: weil die
industrielle Revolution zu raschen Veränderungen in der Welt führte, „wurde Heimat
in einen Bereich abseits ... angesiedelt. !
Heimat - das war vor allem Natur, schöne, unberührte ... Natur, fern jedenfalls von all
dem, was in den Sturmzeiten der Industrialisierung der Natur angetan ward“40.
Heimat soll die persönlichen und gesellschaftlichen Unsicherheiten der
Industrialisierung ausgleichen. Diesem zutiefst unpolitischen Verständnis tritt dann
nach und nach eine politische Komponente zur Seite, „die weitgehende
Gleichsetzung von Heimat und Vaterland“41. Eine regelrechte Heimatbewegung im
engeren Sinne bildete sich um die Jahrhundertwende mit der Gründung von
Heimatbünden und Heimatvereinigungen, Heimat wird „im wesentlichen mit dem
ländlichen Lebensraum identifiziert“42 und erlebt eine begriffliche Blütezeit. Von
hieraus vermag man eine Linie zur heutigen Aktualität des Begriffes zu ziehen, der
allerdings mehr denn je einen achtsamen und genauen Umgang erfordert durch den
geschichtlichen Missbrauch in der Zeit des Nationalsozialismus. Instrumentalisiert für
die Propagandamaschinerie des Krieges, ideologisch eingesetzt und
zweckentfremdet, eingeschränkt auf die ,arische Rasse‘ war nach dem Zweiten
Weltkrieg eine wertfreie Betrachtung des Begriffes zunächst nicht möglich,
geschweige denn eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit. Grundsätzlich
verschwand der Gebrauch des Wortes Heimat bis auf die Verwendung in idyllischen
Heimatfilmen allerdings weitgehend in der Versenkung. Er erfuhr seine
Neuausrichtung erst in dem erwachenden ökologischen Bewusstsein Ende der
1960er/Anfang 70er in den konkreten Utopien unterschiedlich ausgerichteter
Gemeinschaften. Mit dem geschichtlichen Abstand, aber auch im Bewusstsein der
geschichtlichen Problematik, erlebt heute die ,Heimat‘ eine neue Konjunktur und ein
neuerwachtes Interesse unter anderen Vorzeichen und mit anderen
Schwerpunktsetzungen vor dem Horizont veränderter,globalerer Lebensverhältnisse.

38vgl. Bausinger, Hermann: Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis.!
Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, in: !
www.tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2012/6180/pdf/
Bausinger_Hermann_Weg_neues_aktives_Heimatverstaendnis.pdf, !
S.211, aus dem Internet entnommen am 10.6.2013

39   Heimat, in: Brockhaus Enzyklopädie, 21., völlig neu bearbeitete Auflage, Leipzig,Mannheim 2006, S.212-226

40   Bausinger, H.: Auf dem Wege, S.212

41   Bausinger, H.:Auf dem Wege, S.213

42   Bausinger, H.: Auf dem Wege, S.213

                                                                                                                 11
Davon zeugen eine unerschöpfliche Fülle von Publikationen, Textsammlungen,
Interviews, Zeitschriftenartikel und Fernsehserien43.!
64% der in einer Spiegel-Umfrage Befragten gaben an, dass Heimat im Zeitalter der
Globalisierung für sie eher an Bedeutung gewonnen hat. 1999 sagten das nur 56%44. !
Auf einer Skala von 0 (stimme überhaupt nicht zu) bis 10 (stimme voll und ganz zu)
erreichen folgende Aussagen zum Thema Heimat 7,4 bis 8 Punkte: „...ist wichtig für
ein Volk, ist Teil meiner Persönlichkeit, gibt mir Rückhalt und Sicherheit“45. Schon hier
zeigen sich wichtige Momente von Heimat, ihre entscheidende Funktion für die
Identität des Einzelnen und die Stabilisierung des Lebens angesichts zunehmender
Unsicherheiten und Fragmentarisierungen der globalisierten Welt.!
!
In ihrer Bachelorarbeit ,Das Heimat-Moment‘ in Zeiten der Globalisierung‘ setzt sich
Theresa Sophie Obermaier46 mit der Wiederentdeckung der Heimat auf dem
Hintergrund der zunehmenden Globalisierung auseinander. „Als Reaktion auf die
beschleunigte Lebenswelt“47, die die eigene Identität aufweicht und instabiler werden
lässt, kommt es ihrer Ansicht nach zu einer Renaissance des Heimatgedankens in
einer Haltgebungs- und Suchbewegung. Globalisierung als „Beschleunigung,
Pluralisierung, Fragmentierung“48, aber auch Erweiterung der eigenen Lebenswelt
ruft gleichzeitig im Individuum eine Gegenbewegung hervor zur Stabilisierung der
Identität: „Die Heimat wirkt innerhalb des Beschleunigungsstrudels wie eine
Brechung, ein Reflex des Festhaltens, ein Orientierungsversuch an Gewohntem und
Altbekanntem. Die Orientierungs- und Haltlosigkeit, mit denen sich das Individuum
innerhalb seiner Selbstkonstitution in Zeiten der Globalisierung konfrontiert sieht,
fördern die Bindung zur Heimat im Sinne einer Konstanzerfahrung“49. Heimat und die
heutige, vermehrte Suche nach ihr stehen für sie in einem unauflösbaren
Zusammenhang mit der Suche nach der eigenen Identität50 angesichts der
Herausforderungen der globalisierten Lebenswelt. Dabei konzentriert sie sich in ihrer
Untersuchung auf die drei Kategorien Raum, Gefühl und Struktur im Bezug auf die
Heimat und ihre Bedeutung für die personale Identität.!
Den Modernisierungprozessen der „Enträumlichung, Rationalisierung und
Komplexitätssteigerung“ wirkt die Heimat dabei „in ihren Funktionen der Ortsbindung,
Emotionalisierung und Komplexitätsreduktion“51 entgegen. !

43Beispielhaft seien hier nur folgende Werke genannt: Kurbjuweit, Dirk: ,Mein Herz hüpft‘. Eine Spurensuche, in:
Der Spiegel 15/2012, S.60-69, die Fernsehserie Heimat von Edgar Reitz (ab 1984), Zehetmair, Hans und Zöpfl,
Helmut: Heimat heute, Rosenheim 1989

44   Kurbjuweit, D.: Mein Herz hüpft, S.63

45   Kurbjuweit, D., Mein Herz hüpft,S.63

46Obermaier, Theresa Sophie: Das ,Heimat-Moment‘ in Zeiten der Globalisierung. Eine Identitätssuche zwischen
Raum, Gefühl und Struktur, Jena 2012

47   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.2

48   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.3

49   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.3

50Diese Suche nach der eigenen Identität wird ihrer Meinung nach durch den modernen Anspruch nach
Individualität und Autonomie weg von der sozialen Identität und den sozialen Orientierungsmustern zunehmend
erschwert. vgl. Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.6-9

51   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.5

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Der Heimatbegriff selbst lässt sich jedoch - wie eingangs erwähnt - zunehmend
schwer fassen und definieren, da er parallel zur Individualisierung des Menschen
nicht mehr als kollektiver, einheitlicher Begriff verstanden werden kann, sondern je
nach Individuum seine Bedeutung verändert und so die Individualisierung auf
begrifflicher Ebene mitvollzieht. Dennoch lassen sich einige immer wiederkehrende
Grundkonstanten feststellen, wobei laut Spiegel-Umfrage im März 201252 an erster
Stelle dabei die Verbindung zum Geburts- oder Heimatort von 51% der Befragten
genannt wird.!
Obermaier betont in ihrer Arbeit die Wichtigkeit räumlicher Verortung für das Finden
der eigenen Identität, ja „letztlich wird Identität im Raum erst sichtbar und trägt somit
zur Identitätsvergewisserung bei“53. !
In diesem Sinne erweist sich Heimat „als raumbezogene Identität“54, vermittelt
Sicherheit und Stabilität. Heimat verwurzelt Menschen und erdet sie im wahrsten
Sinne des Wortes. Gleichzeitig hat der Raum im Zuge der Globalisierung und
medialen Vernetzung seine Bedeutung insofern verloren, als die stabilen direkten
menschlichen Beziehungen, Gespräche und Erlebnisse in umgrenzten Orten immer
mehr abgelöst werden durch virtuelle Beziehungen, durch medial vermittelte
Kommunikation und Interaktion über große Distanzen hinweg aufgrund des Wegfalls
der räumlichen Begrenzungen, sei es aus finanziellen, politischen oder technischen
Gründen. Angesichts dieser Entwicklung beginnt sozusagen eine Gegenbewegung
des Menschen zur eben beschriebenen Enträumlichung. Als Heimatbestrebung geht
der Mensch „seinem Wunsch nach überschaubarer räumlicher wie sozialer
Zuordnung nach“55. Innerhalb der Wissenschaft setzt dabei jedoch eine Diskussion
ein, wie lange diese Zuordnung noch haltbar sein wird und inwieweit sie durch
virtuelle Räume ersetzt wird oder ersetzt werden kann. Fest steht dabei jedoch, dass
der moderne/postmoderne Mensch in den Zeiten wechselnder Lebensräume und
Arbeitsstätten sich Raum als Heimat immer wieder neu bewusst und aktiv aneignen
muss. Nach Obermaier bleibt die Erkenntnis, dass Heimat früher „einfach da war
(bedingt durch einen festen Ort) und nun neu gemacht werden muss“56.!
Neben der Verbindung zum Raum und der Definition von Heimat im Kontext des
Raumes existieren jedoch noch vielfältige andere Beziehungen, Verbindungen zur
Heimat. Nach Obermaier spielen Gefühle, Emotionen für Heimat mindestens eine
dem Raum gleichwertige Rolle. Neben konkreten Erfahrungen in einem Raum
erzeugen vielfältige Gefühle Heimat. Für viele Menschen entscheidend wirken in
diesem Zusammenhang Erinnerungen - Erinnerungen vor allem an die eigene
Kindheit mit ihren komplexen Gerüchen, Geschmäckern, menschlichen
Begegnungen und Erlebnissen. !
Insofern kann Obermaier Heimat als Gefühl darstellen, das einen „Erinnerungs-raum“
freilegt, Heimat kann laut ihr „als eine ,Art produktiver Gefühlserinnerung‘ bezeichnet
werden“57. Nicht nur die Erinnerung schafft dabei allerdings meiner Meinung nach als

52   Kurbjuweit, D.: Mein Herz hüpft, S.63

53   Obermaier, Th.: Das Heimat-Moment, S.10/11

54Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.12; nicht explizit möchte ich in diesem Zusammenhang auf den
Raumbegriff als solchen eingehen, skizzenhaft kann man ihn nachlesen bei Obermaier, Th., ebd., S.14-18

55   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.22

56   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.23

57   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment S.25

                                                                                                         13
Gefühl Heimat; gefühlte Gegenwart konstruiert ebenso Heimat im Zulassen echter
Beziehungen, Bindungen und Wahrnehmungen. Gefühle legen so auch die Basis für
Heimat in Zukunft. Wenn Obermaier das Heimat-Moment „als Wiederkehr des
Gefühls in der Gesellschaft und letztlich als kollektive Wiederverzauberung“58 gegen
die Rationalisierung der Moderne bezeichnet, wirkt das Gefühl als Begriff dabei sehr
- zu sehr? - allgemeingültig und allumfassend. Vielleicht ist dies aber Schwierigkeit
und Realität des Begriffes zugleich.!
!
Heimat als strukturierendes Element bildet Obermaiers letzte Komponente in der
Bachelorarbeit. Heimat übernimmt in diesem Aspekt eine bestimmte Funktion
gegenüber dem Individuum. Angesichts der Komplexität der globalisierten Welt mit
dem Verlust einfacher Strukturen wirkt das Heimat-Moment als Orientierungsinstanz,
die einfache, stabile Strukturen im Sinne einer Komplexitätsreduktion schafft59.!
!
Heimat an Orten, Heimat durch Gefühle - der Bogen, der sich dadurch spannt, lässt
sich fast beliebig fortsetzen und ausdifferenzieren. Heimat finden Menschen gerade
in der Begegnung mit anderen Menschen, in ihren Familien, in Beziehungen, in
gewachsenen Freundschaften - und nicht nur in der Erinnerung, sondern als
gegenwärtig gelebtes Geschehen.!
Heimat finden Menschen aber auch in der Literatur, in der Musik, in der Kunst und in
der Sprache. „In der Sprache denken sie, formulieren sie, drücken sie ihre Gefühle
aus, da sind sie zu Hause“60. Auch im Rückblick auf den Missbrauch der ,Heimat‘ im
Dritten Reich hat mich in diesem Zusammenhang besonders die Aussage Hilde
Domins, einer jüdischen Schriftstellerin, berührt: !
„Für mich ist die Sprache das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar
erwiesen hatte. Das letzte unabnehmbare Zuhause.....Die deutsche Sprache war der Halt,
ihr verdanken wir, dass wir die Identität mit uns bewahren konnten“61.!
!
Allen individuellen Heimatvarianten, allen Erklärungs- und Deutungsversuchen liegt
dabei zu Grunde das tatsächliche Erleben oder die Sehnsucht nach dem Erleben von
„Sicherheit, Vertrautheit, Geborgenheit“62, von gegenseitigem Verstehen und
Verstandenwerden, von Freundschaft und Liebe. Heimat offenbart sich dadurch
insgesamt als anthropologische Konstante, auf die der Mensch angewiesen zu sein
scheint, um in allen Zeiten und besonders heute in den Herausforderungen unserer
Zeit lebensfähig zu bleiben.!
!
!
!
!
58   Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.33

59vgl. Obermaier, Th.: Das Heimat-Moment in Zeiten der Globalisierung, S.43f: „Heimatphänomene produzieren
Vereinfachung, Strukturierung und Schematisierung der alltagsweltlichen Realität, was für den Einzelnen einen
Gewinn an Sicherheit, Handhabbarkeit und Handlungskompetenz bedeutet“.

60   Grün, Anselm: Wo ich zu Hause bin. Von der Sehnsucht nach Heimat, Freiburg i.Br. 2011, S.46

61   Domin, Hilde; zitiert nach Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.48

62Zehetmair, Hans und Zöpfl, Helmut: Heimat heute, Rosenheim 1989, S.10; vgl. auch Grün, A., Wo ich zu
Hause bin, S.12

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3.2 Heimat bei Gott!
!
Bewusst ausgespart habe ich bei meinen bisherigen Ausführungen zum Thema
Heimat die religiösen Implikationen, um sie nun - entsprechend dem Schwerpunkt
meiner Arbeit - genauer in den Blick zu nehmen.!
Suche nach Heimat als anthropologische Konstante stellt die Suchenden dabei
letztlich immer vor ein unauflösliches Dilemma: Heimat kann nur zeitlich begrenzt,
nur bruchstückhaft gefunden werden. Das Gefühl von Beheimatung, Geborgenheit
und Aufgehobensein muss angesichts beständiger Veränderungen endlich bleiben
und existiert vielfach als Utopie oder Hoffnung, weniger als dauerhafte Realität63.
Auch Christen spüren diese Spannung, sie bekennen aber, wie Anselm Grün es
formuliert, dass das, „was uns Heimat verheißt, ...letztlich erst von Gott eingelöst“
wird. „In Gott erwarten wir, dass wir für immer daheim sind...Doch Gott ist nicht nur
die Heimat, die uns im Tod erwartet. Vielmehr ist Gott hier und jetzt schon unsere
Heimat“64. !
Biblisch sucht man ebenfalls weitgehend vergeblich nach einer zutreffenden
Beschreibung von Heimat. Heimat steht vielmehr in einem engen Kontext mit
Heimatlosigkeit, mit dem unwiederbringlichen Verlust der alten Heimat und dem
ungewissen Aufbruch in eine neue Heimat mit der Sicherheit allein von Gottes
Zusage und Zuspruch. Die Radikalität des Herausgerufenseins durch Gott trifft
Abraham genauso wie die Propheten. Abraham muss sein Land und seine
Verwandtschaft verlassen, um Stammvater eines großen Volkes zu werden. Israel
lebte Jahrhunderte in der Fremde in Ägypten, bevor es durch Mose in das Land
ziehen soll, das Gott ihnen zugedacht hat. Im Buch Rut wird dann insofern ein neuer
Schwerpunkt gelegt, als zwar wiederholt Heimat als Ort verlassen werden muss,
aber Heimat in der Beziehung zu einer Person, zu Noomi, der Schwiegermutter,
gestaltet und gefunden werden kann: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und
umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe
auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“(Rut 1,16)65. Rut ist
bereit mit Noomi in ein für sie fremdes Land zu ziehen, „das sie aber nicht als
solches wahrnimmt, da die Beziehung mit Noomi jeden gemeinsamen Ort zur Heimat
macht“66.!
Im Neuen Testament ist Heimat „eher der enge Raum, aus dem Jesus selbst sich
herausentwickelt“67 und aus dem auch die Jünger Jesu aufbrechen müssen, um dem
Ruf Jesu zu folgen. Jesus bricht aus der gewohnten Existenz und Heimat Galiläa auf,
um den Glauben an Gott zu verkünden und verlangt auch von seinen Jüngern, ihre
Heimat und ihre Familien zu verlassen. Er äußert sogar über sich: „Die Füchse
haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen
Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“(Lk 9,58). !

63 vgl. Grün, A.: Wo ich zu Hause bin, S.146: „Es gibt hier keinen Ort..., der all unsere Sehnsucht nach Heimat
erfüllen könnte. Immer haben wir Heimweh nach mehr“.

64   Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.135; vgl. Grün, A., ebd., S.146: „unsere Seele weiß um ihre Heimat in Gott“.

65Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg i.Br. 1980; alle Bibelstellen werden
künftig nach der Einheitsübersetzung zitiert.

66Bail, Ulrike: „...und niemand schreckt sie auf.“(Mi 4,4). Fragmente zu ,Heimat‘ aus biblischer Perspektive; in:
www.ulrike-bail.de/Ulrike_Bail/Veroffentlichungen_files/BailUlrike Heimat AT.pdf, entnommen aus dem Internet
1.6.201, S.5

67   Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.95

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Heimat, Zuhausesein kann es für ihn nur in seinem Einssein mit Gott geben.
Besonders Paulus macht sich diese örtliche Heimatlosigkeit Jesu zu eigen, um die
Frohe Botschaft möglichst vielen Menschen zu verkünden: „Die Heimat, die er in
Jesus Christus gefunden hat, hat es ihm ermöglicht, seine äußere Heimat
aufzugeben und heimatlos von der Heimat zu predigen, die wir in Christus finden“68.
Diesen Gedanken greift der Hebräerbrief auf und entfaltet ihn, indem er die
christliche Gemeinde als Ganzes als das wandernde Gottesvolk versteht.!
Gott mutet den Menschen der Bibel insgesamt zu, Gewohntes, Vertrautes, Heimat
als Ort und Beziehung zu verlassen und offen auf Neues, Verändertes zuzugehen,
sich positiv darauf einzulassen - dies zieht sich wie ein roter Faden durch die
biblischen Texte hindurch. Deutlich wird aber auch, wie schwer es den Menschen
fällt, sich darauf einzulassen, viele wehren sich lange wie die Propheten, Gott stößt
auf Unverständnis und Trauer, wenn sie diese Radikalität nicht leben können69. Denn
hinter dem Anspruch Gottes scheint immer die Sehnsucht der Menschen nach
Heimat und Beständigkeit hindurch.!
Kirchen als Institutionen gelingt es heute leider aber immer weniger, eine Heimat für
die Menschen mit ihren Anfragen, Zweifeln und Sehnsüchten zu sein - ungeachtet
der Suche vieler Menschen nach religiöser Beheimatung. Im Rückblick erinnern sich
viele noch an ihre Ortskirche mit ihren Gottesdiensten, Festen und Ritualen, die in
der gemeinsamen Verbundenheit der Feiernden mit Blick auf Gott Heimat entstehen
ließ. Aber selbst diese Erinnerung existiert für die meisten Jugendlichen meines Alter
nicht mehr.!
Prinzipiell ist die Verwirklichung einer Heimat bei Gott natürlich orts- und raum- und
zeitungebunden. Allerdings können Kirchengebäude durch ihre räumliche
Beschaffenheit, künstlerische Ausgestaltung und Atmosphäre eine äußere Heimat
auf Zeit bieten, um innere Heimat bei Gott zu finden70. !
!
!
!
3.3 Heimat als Leitthema Stefan Strumbels!
!
Für Stefan Strumbel, 1979 geb., führte der persönliche und erfolgreiche künstlerische
Weg von der Street Art in den 90er Jahren bis hin zum Abitur-Thema heute.
Gelungen ist ihm dies durch seine künstlerische Ausdrucksfähigkeit, die sich als
Leitthema der ,Heimat‘ annimmt und diese überraschend, laut und für manche auch
provokativ in immer neuen Variationen gestaltet. !
So sehr Strumbel mit seiner Heimat-Kunst für positives Aufsehen sorgt und so sehr
sich Menschen von dieser angesprochen fühlen, kommt es dennoch häufig vor, dass
er auch für sein Grundthema angegriffen wird. !
!
!
!
68   Grün, A.: Wo ich zu Hause bin, S.97

69vgl. Mk 10, 22: „der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes
Vermögen“. Er kann dem Wunsch Jesu zur Nachfolge unter Aufgabe seines gesamten Besitzes nicht
entsprechen.

70vgl. Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23: „Kirche ist immer auch ein Ort der Heimat, aber einer im
Kommen begriffenen Heimat“.

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Auf dem Hintergrund der Vereinnahmung des Begriffes Heimat im
Nationalsozialismus löst sein gänzlich unpolitisches Heimatverständnis
Unverständnis und Unbehagen aus. Aber er steht dazu: „Von Politik versuche ich
mich so fern wie möglich zu halten!“71!
Heimat beschreibt Stefan Strumbel vor diesem Hintergrund primär als ein Gefühl,
das überall entstehen und durch viele verschiedene Arten und Mittel ausgelöst
werden kann, die sich überall verbergen. !
Für ihn lebt jeder - gerade bei dem Heimatgefühl - auf verschiedenen „Inseln der
Erinnerungen“, somit zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Es ist ihm vor
allen Dingen wichtig, dass dieses Gefühl transportiert wird, dass wir es wieder
erleben. Stefan Strumbel erklärt es wie folgt: „Wenn ich in einem Hotel in England
liege und ich rieche das Waschmittel, das meine Oma, meine Mutter benutzte, dann
kommt bei mir eine Erinnerung hoch und ich gehe wieder in die Zeit zurück,wo ich
diese Wärme, dieses Familienglück gespürt habe. Egal, ob ich jetzt nicht bei der
Person bin“, genau darum geht es bei den Inseln der Erinnerungen. Das Gefühl der
Heimat vermittelt so zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart als emotionales
Moment. !
Aber auch Familienbilder sowie verschiedene Dinge, die damit in Verbindung stehen,
können dieses Heimatgefühl und die damit ebenfalls einhergehenden Gefühle
auslösen. Denn für Strumbel sind die begleitenden Gefühle, die dort entstehen, also
Liebe, Geborgenheit und Wärme Schattierungen des Heimatgefühles, welches für
jeden von uns ein anderes ist. !
Neben den Gerüchen und Bildern rufen auch Geschmäcker, die man erlebt, das
Gefühl der Heimat hervor. Der Einzelne wird somit wieder in die Vergangenheit
zurückversetzt, in der er diese Erfahrungen der Liebe und Geborgenheit schon
einmal gemacht hat. Auch hier möchte ich seine Worte erklärend hinzufügen: „ ...
wenn ich überlege, wie meine Oma damals gekocht hat! Die Maultaschen habe ich
nie wieder gegessen, aber trotzdem annähernd, wenn ich eine Maultasche, die gut
gekocht ist, zu mir nehme, habe ich wieder das Gefühl, das Gefühl der damaligen
Zeit“ . Der heutige Geschmack löst so den vergangenen Geschmack der Erinnerung
aus und lässt daneben die tiefen Emotionen zum Vorschein kommen.!
Für ihn hat Heimat, wie oben schon deutlich angeklungen ist, viel mit Liebe zu tun,
und das kommt nicht von ungefähr, denn wenn wir seiner Ansicht nach Menschen in
Deutschland fragen, wo ihre Heimat ist, dann werden sehr viele darauf antworten,
dass es ihr Geburtsort sei. Strumbel sieht gerade die Mutterliebe als etwas
Einmaliges an und eben untrennbar mit dem Geburtsort verbunden, denn hier,
gerade nach der Geburt oder in den prägenden Babyjahren erfährt man diese Liebe
so intensiv, wie man es nie wieder empfinden wird. Das Gefühl unbedingten
Angenommenseins und der Ort der Entstehung des Gefühls hängen unauflöslich
miteinander zusammen. Heimat wird deshalb für ihn auch zu einem überall
möglichen Gefühl der bedingungslosen Liebe und Nähe, denn „ jeder Mensch auf der
Welt strebt nach diesem Gefühl“. Insofern entwickelt das Streben nach Heimat ein
ungeheures Suchtpotential und wird dadurch zur von ihm vielbeschworenen
„stärksten Droge der Welt“. Heimat insgesamt steht so als Synonym für
Geborgenheit, Wärme, Glück und Liebe, im Speziellen Mutterliebe.!
Hier schlägt er einen Bogen zur Kirche und führt die Madonna an, die auch in vielen
seiner Kunstwerke auftaucht und für ihn das Bild der Mutterliebe symbolisiert.!

71Alle folgenden Zitate von Stefan Strumbel ohne Quellenangabe stammen aus dem mit mir geführten Interview
vom 29.7.2013, dokumentiert im Anhang.

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Für ihn ist das Heimatgefühl aber nicht ausschließlich an einen bestimmten Ort oder
ein Gebäude gebunden, man kann es seiner Meinung nach auch im Park erleben,
wenn man nach einem total gestressten Arbeitstag durch den Park läuft und dann
eben die Sonne scheint und Momente der Natur da sind und „ich... Wärme... und
Geborgenheit“ empfinde. Diese Geborgenheit kann zwar durchaus auch in der
Architektur, auch in einer Kirche erlebt werden, muss es aber nicht, das ist das
Wichtige für ihn. Im Zuge seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit der
Goldscheurer Kirche ist diese aber dennoch für ihn Heimat geworden. Besondere
Bedeutung bekommen dabei für ihn die Madonna, die Wandgestaltung und die LED-
Streifenverbindung zwischen Jesus und seiner Mutter. Grundsätzlich nicht die Kirche
als Institution, aber die Kirche als Raum strahlt auf ihn zumindest im
Unterbewusstsein Geborgenheit und Liebe aus; vor allem durch die Macht, die
„power“ des Kirchenschiffes72 scheint sie als Rückzugsort geeignet. Fasziniert ist er
von der Allgegenwart der Kirche. Wenn Strumbel von Holy Heimat spricht, schwingt
dabei immer auch eine religiöse Komponente des Begriffes mit. Begriff, Inhalt und
Thema Heimat sind für ihn heilig.!
Heimat kann man zwar nicht an einen Ort binden und auf ihn festlegen oder
beschränken, sondern sie ist prinzipiell überall möglich. Bei Strumbel selbst hat
Heimat jedoch neben der Gefühlsebene durchaus die oben beschriebene
Ortkomponente, bezogen auf den Offenburger Raum, in dem er wohnt und arbeitet.
Allerdings nicht im Sinne einer Beschränkung, sondern als Basis, als Form von
Stabilität und Selbstvergewisserung, von der aus er seine Kunst in der Welt und für
die Welt entwirft und gestaltet. !
Heimat als Begriff ist sehr allumfassend deutbar und nicht auf eine Sichtweise
festlegbar: „Heimat kann alles sein“. Seine Heimatkunst ist zudem offen für jede
Interpretation, sie gibt deshalb eben nicht vor, was Heimat für den einzelnen zu
bedeuten hat. Damit spiegelt sich in seinen Aussagen die heutige Offenheit des
Heimatbegriffes, wie ich ihn oben dargelegt habe. !
Stefan Strumbel stellt jedoch grundlegend klar, dass seine Kunstwerke,
Installationen, Drucke etc. seinem Verständnis nach keine Heimat erzeugen können,
„es gibt ja keine Rezeptur für dieses Gefühl“, denn wenn er diese Rezeptur finden
würde oder ein Kunstwerk hätte, was Heimat erzeugen könnte, dann würde er keine
Kunst mehr machen, sondern "die Welt mit diesem Gefühl beglücken". Strumbel
kann Heimat nicht kreieren, sondern Heimat erfordert von jedem einen Prozess der
Aneignung und persönlichen Auseinandersetzung.!
Stattdessen will er den Betrachter in einer Ausstellung oder einen späteren Käufer
durch diese Werke aufrütteln und somit versuchen zu erreichen, dass dieser sich auf
„seine persönliche Heimreise“ begibt. Deswegen ist für ihn seine Kunst ein
Transportmittel, mit dem er diese Wirkung bei den Menschen erreichen möchte.!
Um dieses Transportmittel zu schaffen, gibt Strumbel seinen Werken mehr
Lautstärke und Aufmerksamkeit, um den Betrachter auf etwas Neues zu stoßen, was
er vorher noch nicht in diesem Objekt gesehen hat, oder damit er überhaupt etwas in
diesem Objekt sieht. Die Lautstärke, die er seinen Werken verleiht, erreicht er durch
den bewussten Einsatz von dem Grellen und den Farben, mit denen er in all seinen
Werken spielt. !
!
!
72 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an seine Gestaltung eines in Wellenbewegung inszenierten
Kirchenschiffes im Museum beim Markt in Karlsruhe vom 28. Juli bis 25. November 2012

                                                                                                       18
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