KIRCHE ALS HEIMAT - Die künstlerische Neugestaltung der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen' und deren Auswirkungen
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KIRCHE ! ALS ! HEIMAT! Die künstlerische Neugestaltung ! der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen‘ ! und deren Auswirkungen! ! ! ! ! ! ! ! Johannes Neubert
Inhaltsverzeichnis! ! 1. Hinführung............................................................................................................3! ! 2. Kirche, Kirchenraum und Kunst - ein spannendes Verhältnis...............................5! ! 3. Der Begriff Heimat...............................................................................................10! ! 3.1. Bedeutungsvarianten im Überblick................................................................10! 3.2. Heimat bei Gott..............................................................................................15! 3.3. Heimat als Leitthema Stefan Strumbels.........................................................16! 3.4. Das Verständnis von Heimat bei den ! ! Gemeindemitgliedern und Besuchern ! ! der Kirche ,Maria-Hilfe der Christen‘...............................................................20! ! 4. Die katholische Kirche in Kehl/Goldscheuer.........................................................21! ! 4.1. Eine Kirchenrettung als Heimatgeschichte.....................................................21! 4.2. Deutender Einblick in die künstlerische Neugestaltung..................................24! ! 5. Heimat und Glaube - Auswirkungen der künstlerischen ! Neugestaltung.......................................................................................................28! ! 6. Rückblick und Ausblick..........................................................................................32! ! 7. Literaturverzeichnis...............................................................................................33! ! 8. Anhang..................................................................................................................37! ! 8.1 Transskript des Interviews mit Stefan Strumbel vom ! 29.7.2013.........................................................................................................37! 8.2 Fragebogen......................................................................................................43! 8.3 Auszüge aus dem Besucherbuch.....................................................................46! ! 9. Erklärung über die Eigenständigkeit der Arbeit.....................................................47! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! 2
1. Hinführung! ! Auch wenn Papst Franziskus wie auf dem Weltjugendtag in Rio de Janeiro die Jugend der Welt mit seiner lebendigen Verkündigung und seinem Eintreten für die Armen begeistern kann1, fällt die Bilanz für die kath. Kirche in den letzten Jahren nicht unbedingt positiv aus. Zu viele Skandale, wie z.B. der Missbrauchsvorwurf in Deutschland, haben das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Kirche nachhaltig beeinflusst. Der zunehmende Glaubens- und Bedeutungsverlust führte und führt zu einer vermehrten Anzahl von Kirchenaustritten und zurückgehenden Zahlen beim Gottesdienstbesuch2. Gleichzeitig lösen sich zumindest in Deutschland, bedingt durch den Priestermangel, Gemeinden auf und werden großen Seelsorgeeinheiten zugeordnet mit nur noch unregelmäßigen Gottesdiensten in der Ortskirche oder wohnortnahen Kirche. Viele Gläubige erleben diese Entwicklung als tiefen Verlust in ihrer religiösen Identität und Verwurzelung, ja als regelrechte Ent-heimatung. Als zusätzliche Verschärfung dieser Problematik zeichnet sich immer mehr die Sorge auch um die Kirchengebäude ab. Viele Kirchen sind von der Schließung, Profanierung und Umwandlung hin zu einer anderen Nutzung oder von Abriss bedroht. An dieser Stelle tritt für mich nun eine sehr bemerkenswerte Entwicklung ein, die scheinbar der Beobachtung vermehrter Kirchenaustritte und der abnehmenden Zahl der Gläubigen, des insgesamt großen Verlustes an kirchlicher Bindung zuwiderläuft3. Ausgetretene, Kirchenferne und Gläubige kämpfen Seite an Seite um den Erhalt ihrer Kirche vor Ort und mobilisieren ungeahnte Kräfte und Ressourcen.! Herausfordernd offensichtlich wurde dies für mich in der unmittelbaren Nachbarschaft als hochemotionales Dauerthema angesichts des drohenden Abrisses mit versprochenem Neubau von St.Paulus/Lohrbach. Die Auseinandersetzung um die richtige Lösung führte zu einem tiefen Riss mit offenen Anfeindungen im Dorf und zum erbitterten Streit mit Freiburg und verhinderte so bisher eine konstruktive Lösung.! Warum ringen Menschen so intensiv um den Erhalt von Kirchenräumen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, seien es Zeitungsartikel, Mahnwachen oder andere Demonstrationen?! Erklären lässt sich dieses Phänomen großen gemeindlichen Engagements für den Erhalt von Kirchengebäuden und das Eintreten für eine ortsnahe Kirche weit über die Grenzen aktiver Gottesdienstbesucher hinaus für mich nur aufgrund von mehreren unterschiedlichen Faktoren:! ! 1! Oehrlein, Josef: Wir alle sind Brüder, in: FAZ, Nr.173/31, Mo. 29. Juli 2013, S.1, in dem Josef Oehrlein dezidiert vom „umjubelten Auftritt“ von Franziskus spricht: „Franziskus stellt die Armen und Ausgegrenzten in den Mittelpunkt. Das ist zum Programm seines Pontifikats geworden und lässt wie eine Zauberformel früher unüberwindlich scheinende innerkirchliche Kontroversen unbedeutend erscheinen“. 2! Vgl. Konradsblatt Nr.30 vom 28.7.2013, S.9: „Im Erzbistum Freiburg sind im Jahr 2012 10375 Menschen aus der Kirche ausgetreten…Der Blick auf die einzelnen statistischen Größen zeigt, dass sich der allgemeine Rückgang des kirchlichen Lebens im Erzbistum Freiburg – wie auch in den anderen deutschen Bistümern – auch im vergangenen Jahr fortgesetzt hat…Unverändert problematisch erscheint die Entwicklung der Zahl der Gottesdienstteilnehmer. Diese hat auch im vergangenen Jahr weiter abgenommen“. 3! Vgl. Schwebel, Horst, Die Kirche und ihr Raum. Aspekte der Wahrnehmung, in: Glockzin-Bever, Sigrid; Schwebel, Horst (Hrsg.): Kirchenraumpädagogik, Münster 2002, S.9: „ Sowohl die Kirchentreuen als auch die der Kirche Fernstehenden scheinen die Kirchenräume in einer beneidenswerten Selbstverständlichkeit zu akzeptieren“. 3
Die meisten Menschen können sich ihren Ort nicht ohne Kirche vorstellen, denn ! mit ihrer Kirche verbinden sie viele Emotionen, Erinnerungen, Halt, Vertrautheit, Zugehörigkeit und Identität. Zudem haben viele Ältere auch einen großen finanziellen Beitrag für die bestehende Kirche geleistet. Die Menschen spüren vielleicht, dass „jede ,Profanierung‘ auch ein Akt der Selbstaufgabe einer Gemeinschaft“4 ist. Vor allem aber haben sie ein Gefühl der Verwurzelung und ein Bedürfnis nach Beheimatung gegenüber dieser Kirche und ihrem Raum entwickelt. Im Hintergrund steht dabei zumindest unbewusst meiner Ansicht nach die Erkenntnis der Leistungsfähigkeit kirchlicher Räume: „Als Gedenk- und Erinnerungsorte vergegenwärtigen sie die Vergangenheit, als Orte des Heiligen transzendieren sie die Gegenwart, als Stein gewordener Glaube bezeugen sie die sprachlich kaum fassbare Hoffnung auf Ewigkeit“5.! Dann ergab sich die Gelegenheit, die Kirche ,Maria - Hilfe der Christen‘ in Kehl- Goldscheuer zu besuchen. Fasziniert von der künstlerischen Ausgestaltung von Stefan Strumbel, habe ich auch vom Glücksfall der Kirchenrettung erfahren. Pfarrer Thomas Braunstein und die Gemeinde sind gemeinsam mit dem bekannten Künstler das Wagnis der Neugestaltung eingegangen und konnten so - im Rückblick überaus erfolgreich – die Kirche als Gebäude, Gottesdienstraum und Raum für das persönliche Gebet vor dem Abriss bewahren. ! Stefan Strumbel versteht seine Kunst zentral vom Begriff der Heimat her und hierin verbinden sich beide Bewegungen, das Bedürfnis nach Heimat, Be-heimatung, speziell in der Ortskirche und ein Künstler, der Heimat zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Überlegungen gewählt hat. Dies hat mich aufgrund meiner Erfahrungen in der unmittelbaren Umgebung neugierig gemacht, mich auf Spurensuche zu begeben:! Welche Bedeutung hat Kunst für die Wirkung eines Kirchenraumes? ! Was versteht ,man‘ eigentlich unter dem Begriff ,Heimat‘?! Wie konnte es zur Kirchenrettung in Kehl/Goldscheuer kommen und wie sieht das künstlerische Ergebnis aus? ! Zum Schluss hin soll dann ein Antwortversuch gewagt werden auf meine zentralen Anfragen:! Kann ein Street Art Künstler Glauben als Begegnung zwischen Mensch und Gott neu beleben?! Gewinnen die Bewohner von Goldscheuer eine neue Identität im Bezug auf ihre Kirche? Kann die Kirche zu einer neuen Heimat für sie werden?! ! ! ! ! ! ! ! ! ! 4 Deckers, Daniel: Wider das Kirchensterben; in: FAZ Nr. 300, 24.12.2012, S.1 5 Deckers, D.: Wider das Kirchensterben, S.1 4
2. Kirche, Kirchenraum und Kunst ! ! – ein spannendes Verhältnis! ! „Um die Botschaft weiterzugeben, die ihr von ! Christus anvertraut wurde, braucht die Kirche die Kunst“6.! ! Im Folgenden soll es um einen Einblick in das Verhältnis von Kirche, Kirchenraum und Kunst gehen, insbesondere um die unterschiedlichen Funktionszuschreibungen und deren Auswirkungen auf den Einsatz und die Leistungen von Kunst im kirchlichen Raum.! Das besondere Augenmerk auf die Gestaltung des Kircheninnenraumes, die besondere Herausforderung für den Künstler und die Notwendigkeit eines speziellen Fingerspitzengefühls liegt sicherlich in der Funktion dieses Raumes als geprägtem Raum begründet. ! Ob es sich allerdings beim Kirchenraum um einen heiligen Raum handelt, darüber besteht in der Forschung Uneinigkeit. Zudem existiert diesbezüglich eine unterschiedliche Einschätzung in der evangelischen und katholischen Theologie. Körs gibt in ihrer Dissertation7 einen Überblick über die evangelisch-theologische Kirchenraumtheorie. Zwar sprechen ihren Forschungen nach alle Ansätze dem Kirchenraum ein „Mindestmaß an Bedeutung“8 zu. Allerdings wird in der reformatorischen Richtung von der Neutralität des Kirchenraumes zur Gottesbeziehung ausgegangen. „Die Heiligkeit des Raumes entsteht hier durch die individuelle und räumlich vermittelte Auseinandersetzung mit früheren und gegenwärtigen Nutzungen und Glaubensinhalten“9. Daneben existieren aber auch andere Deutungen, die diese distanzierte Betrachtung des Kirchenraumes aufbrechen und der These der Funktionslosigkeit des Kirchenraumes „außerhalb der gottesdienstlichen Nutzung…widersprechen“10. Manfred Josuttis hingegen schreibt dem Kirchenraum per se eine Heiligkeit zu11, was dann zu besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich der Entnutzung leerstehender Kirchengebäude führt, denn einen per se heiligen Raum kann man nicht ,entsorgen‘. Der Münsteraner Theologe Klemens Richter hingegen spricht dem Raum nur insofern Heiligkeit zu, als er hingeordnet ist auf die Beziehung zu Gott und dieser Beziehung einen Ermöglichungsraum zur Verfügung stellt12. ! 6 Johannes Paul II, Brief an die Künstler 1999 in: www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/letters/documents/ hf_jp-ii_let_23041999_artists_ge.html ! aus dem Internet entnommen am 20.7.2013, Punkt 12 7Körs, Anna: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive, Wiesbaden 2012 8 Körs,A.: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S.45 9 Körs,A.: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S.45 10 Körs,A.: Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen, S.45 11 zitiert in Schwebel, H.: Die Kirche und ihr Raum, S.22 12 zitiert in Schwebel, H.: Die Kirche und ihr Raum, S.23 5
Zahner drückt dies in seinem Artikel „Orte der Zeitgenossenschaft – Kirchenbau als Baukunst“ so aus: „Hier begegnen sich Gott und Mensch – was natürlich nicht ausschließlich gemeint ist“13. ! Mensch und Gott begegnen sich im Gebet, im Gesang, in der Eucharistiefeier, in der Feier der Sakramente, im Wort des Evangeliums. Kirchen sind deshalb zuallererst liturgische Orte für die Versammlung der ganzen Gemeinde in der Vielfalt der heute möglichen gottesdienstlichen Formen. Daneben muss die Kirche aber auch einen Raum bieten für die „individuelle Frömmigkeit“14 im persönlichen Dialog mit Gott außerhalb der Gottesdienste. So können Kirchen laut Zahner auch zu „Orten des Rückzugs aus der täglichen Hektik“, zu „Stätten des Gebetes“15 werden. Im besten Sinne gibt der Kirchenraum die Möglichkeit zu einer religiösen Erfahrung der Transparenz unserer Wirklichkeit. Diese tiefste Erfahrung lässt sich aber weder herbeiführen noch erzwingen. „Es wäre ein Geschenk, etwas Unverfügbares“16. Sei es jedoch im Gottesdienst, sei es außerhalb gottesdienstlicher Formen, immer sind die Menschen in einem kirchlichen Raum „in eine Beziehung hineingestellt…, die sie schützt und ihnen Zukunft öffnet, sie aufnimmt und über sich hinausbringt, sie beheimatet, aber auch orientiert“17. Das dialogische Geschehen zwischen Gott und Mensch, das sich im Raum ereignet, bleibt spürbar für nachfolgende Besucher und prägt sich in seiner Qualität „im kollektiven Bewusstsein nicht zuletzt als das Bedürfnis ein …, solche Räume in der Mitte der Gemeinwesen zu erhalten oder auch neu zu gestalten“18. Natürlich beschränkt sich die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht exklusiv auf diesen Raum und darf sich nicht darauf beschränken, aber diese bemerkenswerten Einschätzungen und Bedeutungszuschreibungen von Ulrike Wagner-Rau führen bezogen auf jede Neu-Gestaltung des Kirchenraumes unweigerlich zu einer zentralen Frage: Wie soll, wie muss der Innenraum einer Kirche gestaltet sein, damit diese Begegnung glücken und ermöglicht werden kann?! Neben den rein architektonischen Anforderungen und Elementen kommt dabei meiner Ansicht nach der künstlerischen Gestaltung in ihren vielfältigen Formen eine herausragende Rolle zu. ! Was aber bedeutet das für die Kunst, welchen Beitrag kann und darf die Kunst zum Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott leisten? Auch wenn Zahner konstatiert, dass sich „Kunst und Kirche durchaus wieder auf Augenhöhe begegnen“19, gestaltete und gestaltet sich die Beziehung dieser beiden Bereiche keinesfalls unproblematisch – von beiden Seiten aus. Kunst als Kunst für die Menschen, die in der Gemeinde leben oder deren Kirchenraum besuchen, sollte zunächst die gottesdienstlichen und individuellen Vollzüge der Gemeinde unterstützen, indem sich die Menschen durch sie im Raum wohl, geborgen und getragen fühlen. ! 13Zahner, Walter: Orte der Zeitgenossenschaft – Kirchenbau als Baukunst, in: Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste, Herder Korrespondenz Spezial 1.2012, S.17 14 Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.17 15 Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.17 16 Schwebel, H.: Die Kirche und ihr Raum, S.10 17Wagner-Rau, Ulrike; Gotteshaus und Gottesbeziehung. Kirchen als Segensräume, in: Erne, Thomas;Schüz, Peter (Hrsg.): Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion, Göttingen 2010, S.162 18 Wagner-Rau, U., Gotteshaus, und Gottesbeziehung, S.163 19 Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.17 6
Kirche als Heimat auf Zeit wird durch die besondere Atmosphäre zur „gemeinsamen Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“20, die (auch und vor allem) durch die Kunst in ihr entsteht.! Berechtigterweise lässt sich in diesem Zusammenhang aber auch die Frage stellen, inwieweit die Kunst im kirchlichen Raum nicht nur – wie eben beschrieben – quasi Zuliefererfunktionen erfüllen kann, sondern eigenständig wahrgenommen werden darf, ja sogar muss: Inwieweit darf eine „künstlerische Arbeit für den Kirchenraum darüber hinaus auch oder gerade eine … autonome Qualität“21 haben. Pointiert nimmt Andreas Mertin dazu Stellung, wenn er der Kunst explizite Freiheitsqualitäten zuschreibt: „Kunst…ist der einzige Bereich, an dem wir Menschen in einem umfassenden Sinne frei sind und Freiheit erleben können“22. Dies setzt die Freiheit der Kunst in sich voraus, was in besonderer Weise für die unsrige Zeit der Moderne gilt, in der sich Künstler nicht wie z.B. im Mittelalter nur darauf ausrichteten, kirchliche Vorgaben umzusetzen. Mertins Ansicht nach gibt es keinen religiös zwingenden Grund, die Kunst in irgendeiner Weise zu beschränken oder zu begrenzen. Dies hat auch die katholische Kirche erkannt, wenn sie sich schon 1996 in ihrer liturgischen Handreichung „Liturgie und Bild“ gegen eine Vereinnahmung der Kunst ausspricht: „In der langen Zeit ihrer Entwicklung unabhängig von kirchlichen Vorschriften konnte die abendländische Kunst eine Formensprache entwickeln, die in der gegenwärtigen Phase…für die Kirche außerordentlich inspirierend sein kann“23.! Möglich wurde diese heutige Sichtweise gegenüber Bildern jeglicher Art, seien es Bilder, Skulpturen, Installationen etc. erst durch eine Entwicklung hin zu einem neuzeitlichen und modernen Bildverständnis. Spannend finde ich hierbei, wie sehr Kirche und Künstler aufeinander bezogen bleiben und voneinander lernen und profitieren können: „Kunst und Kirche ringen beide um den in der Vielfalt der geistigen und kulturellen Strömungen der Gegenwart oft orientierungslosen Menschen. Um dabei voneinander lernen zu können, ist gegenseitiger Respekt vonnöten“24. Bezeichnenderweise erkennt die Dt. Bischofskonferenz die Chance, sich durch die Kunst im Glauben verändern zu können und bewegen zu lassen. Dabei verläuft diese Beeinflussung nicht einseitig von der Kunst zu den Gläubigen. Es findet vielmehr eine gegenseitige Beeinflussung von Kunst und Religion statt, der von beiden Seiten eine große, aber auch bereichernde Offenheit verlangt. So wie ein Einfluss der Kunstwerke auf die religiösen Erfahrungen des Einzelnen spürbar werden kann, so wirkt sich der religiöse Raumkontext immer auch auf die an sich autonomen Kunstwerke selbst aus. ! ! 20Beyer, Franz-Heinrich: Geheiligte Räume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes, Darmstadt 2008, S.18 21 Zahner, W.: Orte der Zeitgenossenschaft, S.18 22Mertin, Andreas: Kunst und Kirche in der Praxis, in: Ludwig, Matthias (Hrsg.): Kunstraum Kirche, Lauertal 2005, S.121 23 Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz (Hrsg.): Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, Arbeitshilfen 132, S.5, in: www.liturgie.de/liturgie/pub/op/dok/download/ah132.pdf, aus dem Internet entnommen am 2.6.2013! Die Orientierungshilfe spiegelt so Aussagen des Vat.II in der Liturgiekonstitution wieder, Art.123: „Auch die Kunst unserer Zeit und aller Völker und Länder soll in der Kirche Freiheit der Ausübung haben“. Liturgiekonstitution des Vat.II, Sacrosanctum concilium, Art.123, in: www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html, entnommen am 1.7.2013! 24 Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23 7
! Die Dt. Bischofskonferenz befürwortet die Bewegung der Künstler auf die Kirche zu, um ihrerseits neue und andere Erfahrungen mit und in ihr zu machen, weil sie ihnen ihrerseits „unbekannte Dimensionen des Fragens, Suchens oder aber der Sinngebung vermitteln kann“25. Eine gegenseitige Lern- und Lebenserfahrung kann möglich werden. Geradezu auf zeitgenössische Künstler wie Strumbel zugeschnitten, wirkt dann folgende Aussage:! „Eine Stärke der Kunst ist es, die Finger auf die Wunden des Gegenwärtigen zu legen, Fragen und Wünsche, auch Sehnsüchte aufzudecken. Ein solcher Anstoß kann ein erster Schritt in einem Heilungsprozess sein. Hierin liegt nicht zuletzt die Kraft künstlerischer Provokation. Die Kirche ist Versammlungsort der Gemeinde und damit ein Ort, wo diese schmerzenden Fragen der Gegenwart zur Sprache gebracht werden müssen. Die Kunst kann der Kirche helfen, sich dieser Spannungen bewusst zu werden und sie auszuhalten. Ihre Stärke ist dabei - mehr als beim Wort – die Unausweichlichkeit des Sinnlichen. Der Provokation von Bildern können die Betrachtenden sich nur schwer entziehen“26. ! ! Diese Aussage ist Ermutigung und Aufforderung an Künstler zugleich, sich dieser Aufgabe auch zu stellen, die Augen zu öffnen für Neues, Unerwartetes. Vielleicht kann moderne Kunst in ihrer Neu- und Andersartigkeit sogar – so hoffe ich – zum Bindeglied werden zwischen einer Institution Kirche auf der Suche nach einer größeren gesellschaftlichen Ver-Ortung und den heutigen Menschen in ihrem Bedürfnis nach (religiösem) Sinn und Orientierung in ihrem Alltag. So würden beide Seiten profitieren: „Die Verarbeitung religiöser Inhalte und Motive [bietet für die moderne Kunst]… die Möglichkeit einer kreativen Ausdeutung oder Uminterpretation zentraler Sinngehalte des menschlichen Lebens. Andererseits sichert die populäre Verarbeitung religiöser Themen ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit“27 für den Künstler selbst, so Bohrmann. Aber auch aus theologischer Perspektive bietet die moderne Kunst die Möglichkeit „zeitgenössische kulturelle Elemente in religiöse Praktiken zu integrieren und dadurch die Teilnahme und die Nähe zur Lebenswelt der Gläubigen zu unterstreichen“28. Besonders, aber keinesfalls ausschließlich in den Blick geraten dabei die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ihrer Lebenswirklichkeit, ohne sich ihnen anzubiedern, sondern sie vielmehr zu würdigen. Wenn Gott immer wieder neu in jeder Zeit zur Sprache kommen soll, weil er ein gegenwärtiger Gott ist, vermag die freie, autonome Kunst dazu einen entscheidenden Beitrag in ihrer eigenen Gegenwärtigkeit zu leisten. Über den Einfluss der modernen Kunst gelingt eine Vergegenwärtigung, die durchaus immer in der Gefahr steht, missverstanden und missgedeutet zu werden als bloße Anpassung an den Zeitgeist in ihrer anstößigen, an-stoßenden Kraft.! Moderne Kunst kann und soll provozieren, sieht sich aber gerade dadurch auch vielfältigen Angriffen aus kirchlichen Kreisen ausgesetzt und in ihrer Sinnhaftigkeit und in ihrer Berechtigung hinterfragt: Werden mit solcher Kunst nicht Kirchensteuern verschwendet? Wie lange wird eine solche Kunst ausgehalten? Wie lange kann sie ihren Wert erhalten? ! 25 Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23 26 Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23 27 Bohrmann, Thomas; Reichelt Matthias: Eigene Prägekraft. Zum religiösen Potential der Populärkultur, in: Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste, Herder Korrespondenz Spezial 1.2012, S. 38 28 Bohrmann, Th.: Eigene Prägekraft, S.38 8
Könnte man das Geld nicht für sinnvollere Zwecke ausgeben wie die Versorgung hilfebedürftiger Mitglieder in der Gemeinde?29. Energisch widerspricht hier Garhammer: „Gerade Gemeinden, die sich für moderne Kunst öffnen, haben unter anderem auch ein genaues Gespür für das Soziale und Diakonische“30. Er verweist dabei beispielhaft auf die Gemeinde Maria Geburt in Schweinheim, deren künstlerisch veränderter Feierraum die Menschen verändert hat in ihrem religiösen Tun, aber eben nicht nur da, sondern auch in ihrem Leben, in der Umsetzung neuer sozialer Projekte31. In Schweinheim zumindest haben die veränderten Wahrnehmungen durch die Kunst die Gemeindemitglieder nicht nur sensibler, sondern auch „diakonischer“32 gemacht. Aber nicht nur in Schweinheim lassen sich Menschen in sozialer Hinsicht durch Kunst berühren und verwandeln. Kunst kann so in einem überaus positiven Sinne „über-flüssig (sein), sie fließt über, auch in andere Bereiche des Lebens. Sie prägt das Verhalten der Menschen und verändert sie“33.! Wenn Kirche Kunst, insbesondere moderner Kunst, einen Raum bietet, sie bewusst einsetzt und ermöglicht, beweist sie oftmals nicht nur Mut und mutet den Menschen mit ihr etwas zu, sondern sie erweist meiner Ansicht nach auch ihre Achtung vor ihren Mitgliedern, indem sie deren Bedürfnisse und Anliegen wertschätzt. Indem Kirche einen guten, gelungenen, wertvollen Raum für den Glauben ermöglicht, wertet sie damit auch die Menschen in ihm auf. Menschen dürfen sich im Kunst-Raum Kirche angesprochen fühlen und werden nicht einem einfachen, kargen, nicht mehr zeitgemäßen Innenleben einer Kirche überlassen. Dass man nie alle Menschen einer Gemeinde damit gleichermaßen ansprechen kann, steht auf einem anderen Blatt und gebietet Vorsicht und wertschätzende Auseinandersetzung mit jenen, die mit der ausgewählten Kunst nichts oder nur wenig anfangen können.! In besonderer Weise problematisch wird die Begegnung mit moderner Kunst im Kirchenraum dann, wenn keine Bereitschaft zur inhaltlichen und emotionalen Auseinandersetzung besteht, weder im Sinne einer Zustimmung noch im Sinne einer radikalen Ablehnung. Mertin bezeichnet diese Problematik als „kulturgeschichtliche Verdinglichung“34, wenn der Kirchenraum mit seiner Kunst nur noch als musealer Raum wahrgenommen wird. Diese sog. „Baedecker-Christen begreifen…Kunst wie Religion als geronnene Formen der Vergangenheit, die keine lebendigen Erfahrungsräume mehr eröffnen können“35. Ein ausdrucksstarkes Ineinander von Kunst und Kirche weicht so einem Nebeneinander ohne spezifische Veränderungskraft auf die Gegenwart bezogen. Kunst und Kirche verlieren dementsprechend ihre Sprache für die Menschen und ihr gegenwärtiges Leben.! ! ! ! 29Vgl. Garhammer, Erich: Ist Kunst überflüssig? Zum Spannungsfeld von kulturellem und sozialem Engagement der Kirche, in: Irritierende Schönheit. Die Kirche und die Künste, Herder Korrespondenz Spezial 1.2012, S.21 30 Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.22 31 Vgl. Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.22 32 Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.22 33 Garhammer, E.: Ist Kunst überflüssig?, S.24 34 Mertin, A.: Kunst und Kirche in der Praxis, S.129 35 Mertin, A., Kunst und Kirche in der Praxis, S.129 9
3. Der Begriff Heimat ! ! ! 3.1. Bedeutungsvarianten im Überblick! ! Heimat - ein Begriff, den jeder zur Zeit im Munde führt, der aber in all seinen Dimensionen kaum zu fassen ist, der einem entgleitet, sobald man ihn zu fassen glaubt. Die Schwierigkeiten für eine allgemein-gültige Definition liegen dabei „in der individuell-emotionalen Komponente des Begriffes“36. Geprägt durch den je eigenen Kontext in Landschaft, Sprache, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, geprägt aber eben auch durch die Individualität der ihn nutzenden und empfindenden Menschen, zeigt sich der Begriff bei jedem Menschen unterschiedlich und veränderlich. Deswegen finden sich im Folgenden nur ausgewählte Aspekte von Heimat als Rahmen oder Hintergrund für den Heimatgedanken Stefan Strumbels.! Zunächst möchte ich das Wort Heimat jedoch von seiner Herkunft her erschließen. Etymologisch leitet sich der Begriff Heimat, der auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt ist, von dem Substantiv Heim ab. „Das gemeingerm. Wort ,heim‘.... ist eine Substantivbildung zu der idg. Wurzel kei- ,liegen‘ und bedeutete demnach ursprünglich ,Ort, wo man sich niederlässt, Lager‘„37. Schon hierin kann man den ersten Hinweis auf eine Ortskomponente des Begriffes bis heute entdecken.! 36Heilingsetzer, Georg Christoph: Identität=Heimat? Interdisziplinäre Untersuchungen zu scheinbar einfachen Begriffen, Norderstedt 2004, S. 16 37Duden, Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen Sprache, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim 2001 10
Beschäftigt man sich mit der Begriffsgeschichte des Wortes Heimat und wirft einen Blick in das Grimmsche Wörterbuch, fällt sofort auf, dass sehr früh die Bedeutung schon stark und über die Jahrhunderte hinweg in unterschiedlichen Gegenden variierte38. Dies ist bis heute so geblieben, beispielhaft sei hier die Brockhaus- Enzyklopädie als Nachweis genannt39. Ursprünglich scheint der Begriff Heimat jedoch weitgehend eindimensional beschränkt auf den unmittelbar vorhandenen Besitz von Haus und Hof verbunden mit rechtlichen Fragen in den Familien bezüglich des Besitzrechtes festgelegt gewesen zu sein. Erst im 19. Jhd. wandelte sich dieses Verständnis laut Bausinger hin zu einem bürgerlich-freundlichen Heimatbild: weil die industrielle Revolution zu raschen Veränderungen in der Welt führte, „wurde Heimat in einen Bereich abseits ... angesiedelt. ! Heimat - das war vor allem Natur, schöne, unberührte ... Natur, fern jedenfalls von all dem, was in den Sturmzeiten der Industrialisierung der Natur angetan ward“40. Heimat soll die persönlichen und gesellschaftlichen Unsicherheiten der Industrialisierung ausgleichen. Diesem zutiefst unpolitischen Verständnis tritt dann nach und nach eine politische Komponente zur Seite, „die weitgehende Gleichsetzung von Heimat und Vaterland“41. Eine regelrechte Heimatbewegung im engeren Sinne bildete sich um die Jahrhundertwende mit der Gründung von Heimatbünden und Heimatvereinigungen, Heimat wird „im wesentlichen mit dem ländlichen Lebensraum identifiziert“42 und erlebt eine begriffliche Blütezeit. Von hieraus vermag man eine Linie zur heutigen Aktualität des Begriffes zu ziehen, der allerdings mehr denn je einen achtsamen und genauen Umgang erfordert durch den geschichtlichen Missbrauch in der Zeit des Nationalsozialismus. Instrumentalisiert für die Propagandamaschinerie des Krieges, ideologisch eingesetzt und zweckentfremdet, eingeschränkt auf die ,arische Rasse‘ war nach dem Zweiten Weltkrieg eine wertfreie Betrachtung des Begriffes zunächst nicht möglich, geschweige denn eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit. Grundsätzlich verschwand der Gebrauch des Wortes Heimat bis auf die Verwendung in idyllischen Heimatfilmen allerdings weitgehend in der Versenkung. Er erfuhr seine Neuausrichtung erst in dem erwachenden ökologischen Bewusstsein Ende der 1960er/Anfang 70er in den konkreten Utopien unterschiedlich ausgerichteter Gemeinschaften. Mit dem geschichtlichen Abstand, aber auch im Bewusstsein der geschichtlichen Problematik, erlebt heute die ,Heimat‘ eine neue Konjunktur und ein neuerwachtes Interesse unter anderen Vorzeichen und mit anderen Schwerpunktsetzungen vor dem Horizont veränderter,globalerer Lebensverhältnisse. 38vgl. Bausinger, Hermann: Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis.! Begriffsgeschichte als Problemgeschichte, in: ! www.tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2012/6180/pdf/ Bausinger_Hermann_Weg_neues_aktives_Heimatverstaendnis.pdf, ! S.211, aus dem Internet entnommen am 10.6.2013 39 Heimat, in: Brockhaus Enzyklopädie, 21., völlig neu bearbeitete Auflage, Leipzig,Mannheim 2006, S.212-226 40 Bausinger, H.: Auf dem Wege, S.212 41 Bausinger, H.:Auf dem Wege, S.213 42 Bausinger, H.: Auf dem Wege, S.213 11
Davon zeugen eine unerschöpfliche Fülle von Publikationen, Textsammlungen, Interviews, Zeitschriftenartikel und Fernsehserien43.! 64% der in einer Spiegel-Umfrage Befragten gaben an, dass Heimat im Zeitalter der Globalisierung für sie eher an Bedeutung gewonnen hat. 1999 sagten das nur 56%44. ! Auf einer Skala von 0 (stimme überhaupt nicht zu) bis 10 (stimme voll und ganz zu) erreichen folgende Aussagen zum Thema Heimat 7,4 bis 8 Punkte: „...ist wichtig für ein Volk, ist Teil meiner Persönlichkeit, gibt mir Rückhalt und Sicherheit“45. Schon hier zeigen sich wichtige Momente von Heimat, ihre entscheidende Funktion für die Identität des Einzelnen und die Stabilisierung des Lebens angesichts zunehmender Unsicherheiten und Fragmentarisierungen der globalisierten Welt.! ! In ihrer Bachelorarbeit ,Das Heimat-Moment‘ in Zeiten der Globalisierung‘ setzt sich Theresa Sophie Obermaier46 mit der Wiederentdeckung der Heimat auf dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung auseinander. „Als Reaktion auf die beschleunigte Lebenswelt“47, die die eigene Identität aufweicht und instabiler werden lässt, kommt es ihrer Ansicht nach zu einer Renaissance des Heimatgedankens in einer Haltgebungs- und Suchbewegung. Globalisierung als „Beschleunigung, Pluralisierung, Fragmentierung“48, aber auch Erweiterung der eigenen Lebenswelt ruft gleichzeitig im Individuum eine Gegenbewegung hervor zur Stabilisierung der Identität: „Die Heimat wirkt innerhalb des Beschleunigungsstrudels wie eine Brechung, ein Reflex des Festhaltens, ein Orientierungsversuch an Gewohntem und Altbekanntem. Die Orientierungs- und Haltlosigkeit, mit denen sich das Individuum innerhalb seiner Selbstkonstitution in Zeiten der Globalisierung konfrontiert sieht, fördern die Bindung zur Heimat im Sinne einer Konstanzerfahrung“49. Heimat und die heutige, vermehrte Suche nach ihr stehen für sie in einem unauflösbaren Zusammenhang mit der Suche nach der eigenen Identität50 angesichts der Herausforderungen der globalisierten Lebenswelt. Dabei konzentriert sie sich in ihrer Untersuchung auf die drei Kategorien Raum, Gefühl und Struktur im Bezug auf die Heimat und ihre Bedeutung für die personale Identität.! Den Modernisierungprozessen der „Enträumlichung, Rationalisierung und Komplexitätssteigerung“ wirkt die Heimat dabei „in ihren Funktionen der Ortsbindung, Emotionalisierung und Komplexitätsreduktion“51 entgegen. ! 43Beispielhaft seien hier nur folgende Werke genannt: Kurbjuweit, Dirk: ,Mein Herz hüpft‘. Eine Spurensuche, in: Der Spiegel 15/2012, S.60-69, die Fernsehserie Heimat von Edgar Reitz (ab 1984), Zehetmair, Hans und Zöpfl, Helmut: Heimat heute, Rosenheim 1989 44 Kurbjuweit, D.: Mein Herz hüpft, S.63 45 Kurbjuweit, D., Mein Herz hüpft,S.63 46Obermaier, Theresa Sophie: Das ,Heimat-Moment‘ in Zeiten der Globalisierung. Eine Identitätssuche zwischen Raum, Gefühl und Struktur, Jena 2012 47 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.2 48 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.3 49 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.3 50Diese Suche nach der eigenen Identität wird ihrer Meinung nach durch den modernen Anspruch nach Individualität und Autonomie weg von der sozialen Identität und den sozialen Orientierungsmustern zunehmend erschwert. vgl. Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.6-9 51 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.5 12
Der Heimatbegriff selbst lässt sich jedoch - wie eingangs erwähnt - zunehmend schwer fassen und definieren, da er parallel zur Individualisierung des Menschen nicht mehr als kollektiver, einheitlicher Begriff verstanden werden kann, sondern je nach Individuum seine Bedeutung verändert und so die Individualisierung auf begrifflicher Ebene mitvollzieht. Dennoch lassen sich einige immer wiederkehrende Grundkonstanten feststellen, wobei laut Spiegel-Umfrage im März 201252 an erster Stelle dabei die Verbindung zum Geburts- oder Heimatort von 51% der Befragten genannt wird.! Obermaier betont in ihrer Arbeit die Wichtigkeit räumlicher Verortung für das Finden der eigenen Identität, ja „letztlich wird Identität im Raum erst sichtbar und trägt somit zur Identitätsvergewisserung bei“53. ! In diesem Sinne erweist sich Heimat „als raumbezogene Identität“54, vermittelt Sicherheit und Stabilität. Heimat verwurzelt Menschen und erdet sie im wahrsten Sinne des Wortes. Gleichzeitig hat der Raum im Zuge der Globalisierung und medialen Vernetzung seine Bedeutung insofern verloren, als die stabilen direkten menschlichen Beziehungen, Gespräche und Erlebnisse in umgrenzten Orten immer mehr abgelöst werden durch virtuelle Beziehungen, durch medial vermittelte Kommunikation und Interaktion über große Distanzen hinweg aufgrund des Wegfalls der räumlichen Begrenzungen, sei es aus finanziellen, politischen oder technischen Gründen. Angesichts dieser Entwicklung beginnt sozusagen eine Gegenbewegung des Menschen zur eben beschriebenen Enträumlichung. Als Heimatbestrebung geht der Mensch „seinem Wunsch nach überschaubarer räumlicher wie sozialer Zuordnung nach“55. Innerhalb der Wissenschaft setzt dabei jedoch eine Diskussion ein, wie lange diese Zuordnung noch haltbar sein wird und inwieweit sie durch virtuelle Räume ersetzt wird oder ersetzt werden kann. Fest steht dabei jedoch, dass der moderne/postmoderne Mensch in den Zeiten wechselnder Lebensräume und Arbeitsstätten sich Raum als Heimat immer wieder neu bewusst und aktiv aneignen muss. Nach Obermaier bleibt die Erkenntnis, dass Heimat früher „einfach da war (bedingt durch einen festen Ort) und nun neu gemacht werden muss“56.! Neben der Verbindung zum Raum und der Definition von Heimat im Kontext des Raumes existieren jedoch noch vielfältige andere Beziehungen, Verbindungen zur Heimat. Nach Obermaier spielen Gefühle, Emotionen für Heimat mindestens eine dem Raum gleichwertige Rolle. Neben konkreten Erfahrungen in einem Raum erzeugen vielfältige Gefühle Heimat. Für viele Menschen entscheidend wirken in diesem Zusammenhang Erinnerungen - Erinnerungen vor allem an die eigene Kindheit mit ihren komplexen Gerüchen, Geschmäckern, menschlichen Begegnungen und Erlebnissen. ! Insofern kann Obermaier Heimat als Gefühl darstellen, das einen „Erinnerungs-raum“ freilegt, Heimat kann laut ihr „als eine ,Art produktiver Gefühlserinnerung‘ bezeichnet werden“57. Nicht nur die Erinnerung schafft dabei allerdings meiner Meinung nach als 52 Kurbjuweit, D.: Mein Herz hüpft, S.63 53 Obermaier, Th.: Das Heimat-Moment, S.10/11 54Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.12; nicht explizit möchte ich in diesem Zusammenhang auf den Raumbegriff als solchen eingehen, skizzenhaft kann man ihn nachlesen bei Obermaier, Th., ebd., S.14-18 55 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.22 56 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.23 57 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment S.25 13
Gefühl Heimat; gefühlte Gegenwart konstruiert ebenso Heimat im Zulassen echter Beziehungen, Bindungen und Wahrnehmungen. Gefühle legen so auch die Basis für Heimat in Zukunft. Wenn Obermaier das Heimat-Moment „als Wiederkehr des Gefühls in der Gesellschaft und letztlich als kollektive Wiederverzauberung“58 gegen die Rationalisierung der Moderne bezeichnet, wirkt das Gefühl als Begriff dabei sehr - zu sehr? - allgemeingültig und allumfassend. Vielleicht ist dies aber Schwierigkeit und Realität des Begriffes zugleich.! ! Heimat als strukturierendes Element bildet Obermaiers letzte Komponente in der Bachelorarbeit. Heimat übernimmt in diesem Aspekt eine bestimmte Funktion gegenüber dem Individuum. Angesichts der Komplexität der globalisierten Welt mit dem Verlust einfacher Strukturen wirkt das Heimat-Moment als Orientierungsinstanz, die einfache, stabile Strukturen im Sinne einer Komplexitätsreduktion schafft59.! ! Heimat an Orten, Heimat durch Gefühle - der Bogen, der sich dadurch spannt, lässt sich fast beliebig fortsetzen und ausdifferenzieren. Heimat finden Menschen gerade in der Begegnung mit anderen Menschen, in ihren Familien, in Beziehungen, in gewachsenen Freundschaften - und nicht nur in der Erinnerung, sondern als gegenwärtig gelebtes Geschehen.! Heimat finden Menschen aber auch in der Literatur, in der Musik, in der Kunst und in der Sprache. „In der Sprache denken sie, formulieren sie, drücken sie ihre Gefühle aus, da sind sie zu Hause“60. Auch im Rückblick auf den Missbrauch der ,Heimat‘ im Dritten Reich hat mich in diesem Zusammenhang besonders die Aussage Hilde Domins, einer jüdischen Schriftstellerin, berührt: ! „Für mich ist die Sprache das Unverlierbare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte. Das letzte unabnehmbare Zuhause.....Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, dass wir die Identität mit uns bewahren konnten“61.! ! Allen individuellen Heimatvarianten, allen Erklärungs- und Deutungsversuchen liegt dabei zu Grunde das tatsächliche Erleben oder die Sehnsucht nach dem Erleben von „Sicherheit, Vertrautheit, Geborgenheit“62, von gegenseitigem Verstehen und Verstandenwerden, von Freundschaft und Liebe. Heimat offenbart sich dadurch insgesamt als anthropologische Konstante, auf die der Mensch angewiesen zu sein scheint, um in allen Zeiten und besonders heute in den Herausforderungen unserer Zeit lebensfähig zu bleiben.! ! ! ! ! 58 Obermaier, Th., Das Heimat-Moment, S.33 59vgl. Obermaier, Th.: Das Heimat-Moment in Zeiten der Globalisierung, S.43f: „Heimatphänomene produzieren Vereinfachung, Strukturierung und Schematisierung der alltagsweltlichen Realität, was für den Einzelnen einen Gewinn an Sicherheit, Handhabbarkeit und Handlungskompetenz bedeutet“. 60 Grün, Anselm: Wo ich zu Hause bin. Von der Sehnsucht nach Heimat, Freiburg i.Br. 2011, S.46 61 Domin, Hilde; zitiert nach Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.48 62Zehetmair, Hans und Zöpfl, Helmut: Heimat heute, Rosenheim 1989, S.10; vgl. auch Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.12 14
3.2 Heimat bei Gott! ! Bewusst ausgespart habe ich bei meinen bisherigen Ausführungen zum Thema Heimat die religiösen Implikationen, um sie nun - entsprechend dem Schwerpunkt meiner Arbeit - genauer in den Blick zu nehmen.! Suche nach Heimat als anthropologische Konstante stellt die Suchenden dabei letztlich immer vor ein unauflösliches Dilemma: Heimat kann nur zeitlich begrenzt, nur bruchstückhaft gefunden werden. Das Gefühl von Beheimatung, Geborgenheit und Aufgehobensein muss angesichts beständiger Veränderungen endlich bleiben und existiert vielfach als Utopie oder Hoffnung, weniger als dauerhafte Realität63. Auch Christen spüren diese Spannung, sie bekennen aber, wie Anselm Grün es formuliert, dass das, „was uns Heimat verheißt, ...letztlich erst von Gott eingelöst“ wird. „In Gott erwarten wir, dass wir für immer daheim sind...Doch Gott ist nicht nur die Heimat, die uns im Tod erwartet. Vielmehr ist Gott hier und jetzt schon unsere Heimat“64. ! Biblisch sucht man ebenfalls weitgehend vergeblich nach einer zutreffenden Beschreibung von Heimat. Heimat steht vielmehr in einem engen Kontext mit Heimatlosigkeit, mit dem unwiederbringlichen Verlust der alten Heimat und dem ungewissen Aufbruch in eine neue Heimat mit der Sicherheit allein von Gottes Zusage und Zuspruch. Die Radikalität des Herausgerufenseins durch Gott trifft Abraham genauso wie die Propheten. Abraham muss sein Land und seine Verwandtschaft verlassen, um Stammvater eines großen Volkes zu werden. Israel lebte Jahrhunderte in der Fremde in Ägypten, bevor es durch Mose in das Land ziehen soll, das Gott ihnen zugedacht hat. Im Buch Rut wird dann insofern ein neuer Schwerpunkt gelegt, als zwar wiederholt Heimat als Ort verlassen werden muss, aber Heimat in der Beziehung zu einer Person, zu Noomi, der Schwiegermutter, gestaltet und gefunden werden kann: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott“(Rut 1,16)65. Rut ist bereit mit Noomi in ein für sie fremdes Land zu ziehen, „das sie aber nicht als solches wahrnimmt, da die Beziehung mit Noomi jeden gemeinsamen Ort zur Heimat macht“66.! Im Neuen Testament ist Heimat „eher der enge Raum, aus dem Jesus selbst sich herausentwickelt“67 und aus dem auch die Jünger Jesu aufbrechen müssen, um dem Ruf Jesu zu folgen. Jesus bricht aus der gewohnten Existenz und Heimat Galiläa auf, um den Glauben an Gott zu verkünden und verlangt auch von seinen Jüngern, ihre Heimat und ihre Familien zu verlassen. Er äußert sogar über sich: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“(Lk 9,58). ! 63 vgl. Grün, A.: Wo ich zu Hause bin, S.146: „Es gibt hier keinen Ort..., der all unsere Sehnsucht nach Heimat erfüllen könnte. Immer haben wir Heimweh nach mehr“. 64 Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.135; vgl. Grün, A., ebd., S.146: „unsere Seele weiß um ihre Heimat in Gott“. 65Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg i.Br. 1980; alle Bibelstellen werden künftig nach der Einheitsübersetzung zitiert. 66Bail, Ulrike: „...und niemand schreckt sie auf.“(Mi 4,4). Fragmente zu ,Heimat‘ aus biblischer Perspektive; in: www.ulrike-bail.de/Ulrike_Bail/Veroffentlichungen_files/BailUlrike Heimat AT.pdf, entnommen aus dem Internet 1.6.201, S.5 67 Grün, A., Wo ich zu Hause bin, S.95 15
Heimat, Zuhausesein kann es für ihn nur in seinem Einssein mit Gott geben. Besonders Paulus macht sich diese örtliche Heimatlosigkeit Jesu zu eigen, um die Frohe Botschaft möglichst vielen Menschen zu verkünden: „Die Heimat, die er in Jesus Christus gefunden hat, hat es ihm ermöglicht, seine äußere Heimat aufzugeben und heimatlos von der Heimat zu predigen, die wir in Christus finden“68. Diesen Gedanken greift der Hebräerbrief auf und entfaltet ihn, indem er die christliche Gemeinde als Ganzes als das wandernde Gottesvolk versteht.! Gott mutet den Menschen der Bibel insgesamt zu, Gewohntes, Vertrautes, Heimat als Ort und Beziehung zu verlassen und offen auf Neues, Verändertes zuzugehen, sich positiv darauf einzulassen - dies zieht sich wie ein roter Faden durch die biblischen Texte hindurch. Deutlich wird aber auch, wie schwer es den Menschen fällt, sich darauf einzulassen, viele wehren sich lange wie die Propheten, Gott stößt auf Unverständnis und Trauer, wenn sie diese Radikalität nicht leben können69. Denn hinter dem Anspruch Gottes scheint immer die Sehnsucht der Menschen nach Heimat und Beständigkeit hindurch.! Kirchen als Institutionen gelingt es heute leider aber immer weniger, eine Heimat für die Menschen mit ihren Anfragen, Zweifeln und Sehnsüchten zu sein - ungeachtet der Suche vieler Menschen nach religiöser Beheimatung. Im Rückblick erinnern sich viele noch an ihre Ortskirche mit ihren Gottesdiensten, Festen und Ritualen, die in der gemeinsamen Verbundenheit der Feiernden mit Blick auf Gott Heimat entstehen ließ. Aber selbst diese Erinnerung existiert für die meisten Jugendlichen meines Alter nicht mehr.! Prinzipiell ist die Verwirklichung einer Heimat bei Gott natürlich orts- und raum- und zeitungebunden. Allerdings können Kirchengebäude durch ihre räumliche Beschaffenheit, künstlerische Ausgestaltung und Atmosphäre eine äußere Heimat auf Zeit bieten, um innere Heimat bei Gott zu finden70. ! ! ! ! 3.3 Heimat als Leitthema Stefan Strumbels! ! Für Stefan Strumbel, 1979 geb., führte der persönliche und erfolgreiche künstlerische Weg von der Street Art in den 90er Jahren bis hin zum Abitur-Thema heute. Gelungen ist ihm dies durch seine künstlerische Ausdrucksfähigkeit, die sich als Leitthema der ,Heimat‘ annimmt und diese überraschend, laut und für manche auch provokativ in immer neuen Variationen gestaltet. ! So sehr Strumbel mit seiner Heimat-Kunst für positives Aufsehen sorgt und so sehr sich Menschen von dieser angesprochen fühlen, kommt es dennoch häufig vor, dass er auch für sein Grundthema angegriffen wird. ! ! ! ! 68 Grün, A.: Wo ich zu Hause bin, S.97 69vgl. Mk 10, 22: „der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen“. Er kann dem Wunsch Jesu zur Nachfolge unter Aufgabe seines gesamten Besitzes nicht entsprechen. 70vgl. Liturgie und Bild, eine Orientierungshilfe, S.23: „Kirche ist immer auch ein Ort der Heimat, aber einer im Kommen begriffenen Heimat“. 16
Auf dem Hintergrund der Vereinnahmung des Begriffes Heimat im Nationalsozialismus löst sein gänzlich unpolitisches Heimatverständnis Unverständnis und Unbehagen aus. Aber er steht dazu: „Von Politik versuche ich mich so fern wie möglich zu halten!“71! Heimat beschreibt Stefan Strumbel vor diesem Hintergrund primär als ein Gefühl, das überall entstehen und durch viele verschiedene Arten und Mittel ausgelöst werden kann, die sich überall verbergen. ! Für ihn lebt jeder - gerade bei dem Heimatgefühl - auf verschiedenen „Inseln der Erinnerungen“, somit zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Es ist ihm vor allen Dingen wichtig, dass dieses Gefühl transportiert wird, dass wir es wieder erleben. Stefan Strumbel erklärt es wie folgt: „Wenn ich in einem Hotel in England liege und ich rieche das Waschmittel, das meine Oma, meine Mutter benutzte, dann kommt bei mir eine Erinnerung hoch und ich gehe wieder in die Zeit zurück,wo ich diese Wärme, dieses Familienglück gespürt habe. Egal, ob ich jetzt nicht bei der Person bin“, genau darum geht es bei den Inseln der Erinnerungen. Das Gefühl der Heimat vermittelt so zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart als emotionales Moment. ! Aber auch Familienbilder sowie verschiedene Dinge, die damit in Verbindung stehen, können dieses Heimatgefühl und die damit ebenfalls einhergehenden Gefühle auslösen. Denn für Strumbel sind die begleitenden Gefühle, die dort entstehen, also Liebe, Geborgenheit und Wärme Schattierungen des Heimatgefühles, welches für jeden von uns ein anderes ist. ! Neben den Gerüchen und Bildern rufen auch Geschmäcker, die man erlebt, das Gefühl der Heimat hervor. Der Einzelne wird somit wieder in die Vergangenheit zurückversetzt, in der er diese Erfahrungen der Liebe und Geborgenheit schon einmal gemacht hat. Auch hier möchte ich seine Worte erklärend hinzufügen: „ ... wenn ich überlege, wie meine Oma damals gekocht hat! Die Maultaschen habe ich nie wieder gegessen, aber trotzdem annähernd, wenn ich eine Maultasche, die gut gekocht ist, zu mir nehme, habe ich wieder das Gefühl, das Gefühl der damaligen Zeit“ . Der heutige Geschmack löst so den vergangenen Geschmack der Erinnerung aus und lässt daneben die tiefen Emotionen zum Vorschein kommen.! Für ihn hat Heimat, wie oben schon deutlich angeklungen ist, viel mit Liebe zu tun, und das kommt nicht von ungefähr, denn wenn wir seiner Ansicht nach Menschen in Deutschland fragen, wo ihre Heimat ist, dann werden sehr viele darauf antworten, dass es ihr Geburtsort sei. Strumbel sieht gerade die Mutterliebe als etwas Einmaliges an und eben untrennbar mit dem Geburtsort verbunden, denn hier, gerade nach der Geburt oder in den prägenden Babyjahren erfährt man diese Liebe so intensiv, wie man es nie wieder empfinden wird. Das Gefühl unbedingten Angenommenseins und der Ort der Entstehung des Gefühls hängen unauflöslich miteinander zusammen. Heimat wird deshalb für ihn auch zu einem überall möglichen Gefühl der bedingungslosen Liebe und Nähe, denn „ jeder Mensch auf der Welt strebt nach diesem Gefühl“. Insofern entwickelt das Streben nach Heimat ein ungeheures Suchtpotential und wird dadurch zur von ihm vielbeschworenen „stärksten Droge der Welt“. Heimat insgesamt steht so als Synonym für Geborgenheit, Wärme, Glück und Liebe, im Speziellen Mutterliebe.! Hier schlägt er einen Bogen zur Kirche und führt die Madonna an, die auch in vielen seiner Kunstwerke auftaucht und für ihn das Bild der Mutterliebe symbolisiert.! 71Alle folgenden Zitate von Stefan Strumbel ohne Quellenangabe stammen aus dem mit mir geführten Interview vom 29.7.2013, dokumentiert im Anhang. 17
Für ihn ist das Heimatgefühl aber nicht ausschließlich an einen bestimmten Ort oder ein Gebäude gebunden, man kann es seiner Meinung nach auch im Park erleben, wenn man nach einem total gestressten Arbeitstag durch den Park läuft und dann eben die Sonne scheint und Momente der Natur da sind und „ich... Wärme... und Geborgenheit“ empfinde. Diese Geborgenheit kann zwar durchaus auch in der Architektur, auch in einer Kirche erlebt werden, muss es aber nicht, das ist das Wichtige für ihn. Im Zuge seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit der Goldscheurer Kirche ist diese aber dennoch für ihn Heimat geworden. Besondere Bedeutung bekommen dabei für ihn die Madonna, die Wandgestaltung und die LED- Streifenverbindung zwischen Jesus und seiner Mutter. Grundsätzlich nicht die Kirche als Institution, aber die Kirche als Raum strahlt auf ihn zumindest im Unterbewusstsein Geborgenheit und Liebe aus; vor allem durch die Macht, die „power“ des Kirchenschiffes72 scheint sie als Rückzugsort geeignet. Fasziniert ist er von der Allgegenwart der Kirche. Wenn Strumbel von Holy Heimat spricht, schwingt dabei immer auch eine religiöse Komponente des Begriffes mit. Begriff, Inhalt und Thema Heimat sind für ihn heilig.! Heimat kann man zwar nicht an einen Ort binden und auf ihn festlegen oder beschränken, sondern sie ist prinzipiell überall möglich. Bei Strumbel selbst hat Heimat jedoch neben der Gefühlsebene durchaus die oben beschriebene Ortkomponente, bezogen auf den Offenburger Raum, in dem er wohnt und arbeitet. Allerdings nicht im Sinne einer Beschränkung, sondern als Basis, als Form von Stabilität und Selbstvergewisserung, von der aus er seine Kunst in der Welt und für die Welt entwirft und gestaltet. ! Heimat als Begriff ist sehr allumfassend deutbar und nicht auf eine Sichtweise festlegbar: „Heimat kann alles sein“. Seine Heimatkunst ist zudem offen für jede Interpretation, sie gibt deshalb eben nicht vor, was Heimat für den einzelnen zu bedeuten hat. Damit spiegelt sich in seinen Aussagen die heutige Offenheit des Heimatbegriffes, wie ich ihn oben dargelegt habe. ! Stefan Strumbel stellt jedoch grundlegend klar, dass seine Kunstwerke, Installationen, Drucke etc. seinem Verständnis nach keine Heimat erzeugen können, „es gibt ja keine Rezeptur für dieses Gefühl“, denn wenn er diese Rezeptur finden würde oder ein Kunstwerk hätte, was Heimat erzeugen könnte, dann würde er keine Kunst mehr machen, sondern "die Welt mit diesem Gefühl beglücken". Strumbel kann Heimat nicht kreieren, sondern Heimat erfordert von jedem einen Prozess der Aneignung und persönlichen Auseinandersetzung.! Stattdessen will er den Betrachter in einer Ausstellung oder einen späteren Käufer durch diese Werke aufrütteln und somit versuchen zu erreichen, dass dieser sich auf „seine persönliche Heimreise“ begibt. Deswegen ist für ihn seine Kunst ein Transportmittel, mit dem er diese Wirkung bei den Menschen erreichen möchte.! Um dieses Transportmittel zu schaffen, gibt Strumbel seinen Werken mehr Lautstärke und Aufmerksamkeit, um den Betrachter auf etwas Neues zu stoßen, was er vorher noch nicht in diesem Objekt gesehen hat, oder damit er überhaupt etwas in diesem Objekt sieht. Die Lautstärke, die er seinen Werken verleiht, erreicht er durch den bewussten Einsatz von dem Grellen und den Farben, mit denen er in all seinen Werken spielt. ! ! ! 72 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an seine Gestaltung eines in Wellenbewegung inszenierten Kirchenschiffes im Museum beim Markt in Karlsruhe vom 28. Juli bis 25. November 2012 18
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