Richard Schröder: Abschaffung der Religion?

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Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                    1

                                                 In seinem Buch „Das egoistische Gen“ (EG)
I. „Eine Welt ohne Religion?“                    meinte D: „Der Mensch ist eine Maschine,
„Stellen wir uns doch mit John Lennon mal        durch die Gene geschaffen, Behälter für unse-
eine Welt vor, in der es keine Religion – kei-   re Genkombination.“ Im Umgang mit anderen
ne Selbstmordattentate ... mehr gibt“ (GW        Menschen würden wir nie so sprechen. Das
12) 1                                            spricht nicht für die Theorie von D. Warum
                                                 sich kein Mensch nur als Behälter versteht,
1. Déjà-vu: Atheismus einst und jetzt            liegt darin, dass alle Menschen irgendwie den
Der ganze Kommunismus vollzog sich unter         Unterschied zwischen Person und Sache ken-
Berufung auf die wissenschaftliche Weltan-       nen. Anthropomorphismus nennt man die
schauung des Marxismus-Leninismus. Das           illegitime Personifizierung einer Sache. D tut
war doch Pseudowissenschaft, wird man ein-       ständig das Umgekehrte – die illegitime Ver-
wenden. Das ist wohl wahr. Aber was folgt        dinglichung von Personen – ein Technomor-
daraus? Es gibt auch eine missbräuchliche        phismus – eine Kategorienverwechslung.
Berufung auf „die Wissenschaft“, mit der viel    Die Proklamation eines radikalen Bruchs
Unheil angerichtet werden kann. Der Mar-         bringt den Vorteil, alles Übel den „anderen“
xismus verstand sich als einzig legitimer Erbe   und der Vergangenheit anzulasten. Das tut D
der Aufklärung. Offenbar gibt es auch eine       ständig. Die Gefährlichkeit solcher Absolut-
verfehlte, inhumane Berufung auf die Aufklä-     heitsansprüche ist einerseits der Traditionsab-
rung. Das spricht nicht gegen die Aufklärung,    bruch. Dass gerade ein Darwinist ein Datum
mahnt aber zur Vorsicht. Offenbar kann man       proklamiert, vor dem alle Antworten falsch
alles in der Welt missbrauchen, nicht nur die    waren, muss zwiefach verwundern. (Wie er-
Religion. Es kann nicht angehen, von einer       klären wir, dass die Menschheit mit all ihren
Welt ohne Religion zu schwärmen und ein-         falschen Ansichten bis 1859 nicht ausgestor-
fach zu übergehen, was im Namen des Athe-        ben ist? Und wie erklären wir uns, dass ausge-
ismus alles verbrochen wurde.                    rechnet die moderne Wissenschaft und die
D (D) will damit sicher nichts zu tun haben –    Möglichkeit der Selbstausrottung eröffnet
sowenig ich mit den Kreuzzügen. Was habe         hat?
ich mit Selbstmordattentaten zu tun?             Im Vorwort zu EG sagt Wolfgang Winkler,
Die beiden dunklen Utopien des 20. Jahrhun-      dass es der Schöpfung ohne den Menschen
derts, George Orwells „1984“ und Aldous          besser ginge. Gäbe es Menschen, die eine
Huxleys „Schöne neue Welt“ spielen in einer      Erde ohne Menschen beobachten könnten,
Welt ohne Religion.                              würden sie zum Schluss kommen: „Es ist gut,
D proklamiert (analog des Marxismus 1848         dass es uns nicht gibt.“ Winkler hat damit mal
Manifest) einen revolutionären Bruch – 1859      eben schnell den Standpunkt Gottes einge-
(Darwin). Es gehört schon einiger Hochmut        nommen. Gott urteilt gnädiger.
und Dünkel dazu, alles für wertlos zu erklä-     Die andere Gefahr solcher Absolutheitsan-
ren, was Generationen von Menschen früher        sprüche im Namen der Wissenschaft ist die
gedacht haben, die nicht dümmer waren als        Enteignung der eigenen Erfahrung. „Lass dir
wir.                                             von mir im Namen der Wissenschaft erklären,
D erhebt einen Absolutheitsanspruch, wie ihn     was du bist und wie die Welt beschaffen ist.“
die christliche Theologie nie erhoben hat. Die
hat nämlich nie bestritten, dass Nichtchristen   Zur Behauptung, dass doch kein Atheist eine
zu bewundernswerten Einsichten fähig sind        Kirche platt walzen würde (GW 345) sei erin-
(z.B. antike Philosophen). Und Aufklärung        nert, dass Ulbricht in Leibzig Sprengstoff
hat nur dort stattgefunden, wo es zuvor auch     benutzte und Stalin 54'000 Kirchen schliessen
eine Scholastik gab.                             liess – aber nicht alle sprengt.

                                                 „Ich neige zur Vermutung, dass nur wenige
1
 Richard D, Der Gotteswahn (2006), 5. Aufl. S.   Atheisten im Gefängnis sitzen“ (GW 318).
12
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D hat eine ausgeprägte Neigung zu Vermu-          2. Wissenschaft widerlegt Religion?
tungen, so auch zu der, Atheisten seien gebil-    D verwendet einen weiteren Singular: „die
deter, intelligenter, nachdenklicher (GW 318).    Wissenschaft“. Sie nämlich habe die Religion
Nachdenklichkeit ist oft gepaart mit dem Sta-     widerlegt. Echte Wissenschaftler sind also
tus einer Minderheit. In einer atheistischen      Atheisten. Unter Wissenschaft versteht er die
Umgebung wären es die Glaubenden (vgl.            Naturwissenschaften, die er zu einer universa-
DDR).                                             len Evolutionstheorie erweitert. Sehr verwun-
Es gehöre Mut dazu, den Atheismus zu be-          derlich ist, dass er offensichtlich den Gesell-
kennen – ja, in einer atheistischen Gesell-       schafts-, Kultur- oder Geisteswissenschaften
schaft gilt das auch für die Glaubenden.          keinen nennenswerten Beitrag zum Verständ-
                                                  nis unseres Daseins zutraut. Er übergeht sie
D hätte uns informieren müssen, dass er nicht     einfach. Bei ihm hat sich die Biologie zur
zu jeder Art von Atheismus bekehren möchte        Allerklärungskompetenz verstiegen. Dazu
– der Atheismus hat längst seine Unschuld         muss er aber kräftig das Prinzip Hoffnung
verloren, und zwar auf ähnliche Weise wie         bemühen und auf ein Jenseits des gegenwärti-
„die Religion.“ D hat den schmerzlichen           gen Wissensstandes verweisen. „Wir sollten
Schritt zu einer kritischen Sicht der Geschich-   die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch in der
te des Atheismus noch vor sich. Wenn es aber      Physik noch ein besserer ‚Kran’ gefunden
grundverschiedene Arten von Atheismus gibt,       wird, der ebenso leistungsfähig ist wie der
dann auch grundverschiedene Religionen –          Darwinismus in der Biologie“ (GW 223).
womöglich auch humane und gebildete.              Gemeint ist ein Prinzip, das erklärt, wie aus
Wenn es sein sollte, dann bricht die eine Front   Einfachem Komplexes wird, ohne dass Höhe-
zusammen: „Hier Atheismus, dort Religion.“        res (Gott als Schöpfer) im Spiel steht.
Es eröffnet sich ein unüberschaubares Feld
von Auseinandersetzungen zw. Verschiede-          3. Meme – eine naturwissenschaftliche Kul-
nen Formen des Atheismus und der Religio-         turtheorie
nen. In der DDR formierte sich der Wider-         D hat einen Einfall, wie die Kulturwissen-
stand aus der Religion, nicht aus irgendeiner,    schaften auf darwinistischen Vordermann
sondern aus einer bestimmten.                     gebracht werden können – die Memtheorie
D Singulare „der Atheismus“ und „die Reli-        (Einheiten der kulturellen Vererbung GW
gion“ sind sehr abstrakte Konstrukte. Duale       268). Meme springen von Gehirn zu Gehirn
Konstrukte dieser Art passen besonders gut        (EG 321). Geistige Atome möchte D nicht
ins Freud-Feind-Schema, was nicht ganz            einführen, damit bleibt aber unklar woraus die
harmlos ist.                                      Meme bestehen und wie sie sich reduplizie-
Wenn D die religiöse Kindererziehung              ren.
Kindsmissbrauch nennt, ist ihm der Gedanke        Ist die Memtheorie selbst auch ein Mem, das
offenbar noch nie gekommen, dass Eltern           jenseits von wahr und falsch wie ein Virus
darunter leiden könnten, wenn ihre Kinder in      von Hirn zu Hirn springt? Da beisst sich die
der Schule atheistisch indoktriniert werden.      Katze in den Schwanz.
Aber Kinder im Status eines religiös unbe-        Die Grundverkehrtheit dieser Idee liegt darin,
schriebenen Blattes zu halten, eröffnet ihnen     dass Kultur naturwissenschaftlich verstanden
nicht die grosse Freiheit der Wahl, sondern       wird. Das geht nicht. Das Umgekehrte ist
verhindert sie. Es ist wie bei den Sprachen:      vielmehr wahr: Die Naturwissenschaft ist ein
Nur wer früh genug eine Muttersprache ge-         Kulturphänomen.
lernt hat, kann Fremdsprachen lernen und          Alles Kulturelle (Sprache, Religion, Kunst,
sogar die Muttersprache wechseln.                 Technik, Recht, Wissenschaft) wird gelernt
                                                  und nicht vererbt.
                                                  Obwohl sich nach D die Memtheorie in ihrem
                                                  frühen Entwicklungsstadium befindet, schüt-
                                                  telt er schon mal eine Liste religiöser Meme
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aus dem Ärmel: „Ketzer, Gotteslästerer und         Aus dieser Entdeckung können wir nicht er-
Abtrünnige sollte man umbringen.“ (GW              kennen, was lachen ist und wo es angebracht
279). Dass es in den ersten drei Jahrhunderten     ist. Was Lachen ist, wissen wir aus unserer
der Christenheit keine Ketzerverfolgungen          lebensweltlichen Erfahrung. Hätten die Um-
gab, und dass die Kritik an ihnen von Christen     stehenden nicht aus Selbsterfahrung gewusst,
stammt, die sich auf die Bibel bezogen,            was Lachen ist, dann hätten sie gar nicht be-
scheint ihm ebenso entgangen zu sein wie die       merkt, dass die Patientin lacht.
Tatsache, dass auch Atheisten blutige Verfol-      Verstehen lässt sich nicht als physikalischer
ger von atheistischen „Ketzern“ werden kön-        Vorgang beschreiben, weil dann das Verstan-
nen. Unter Stalin entstand ein offizieller Kata-   dene oder der Inhalt nicht erfasst ist. Kant
log von Ketzereien – diese waren in der DDR        erkannte schon, dass man die Erkenntnisbe-
bis 1989 noch in Geltung.                          ziehung nicht zum Erkenntnisobjekt machen
                                                   kann. Man kann auch das Sehen nicht sehen,
4. Ich bin mein Gehirn                             sondern nur etwas.
Weiter verbreitet als die Memtheorie ist die       Da haben wir einen keineswegs übernatürli-
Vorstellung, die das menschliche Bewusstsein       chen Kandidaten für Unsichtbares: das Sehen
mit dem Gehirn und seinen Aktivitäten identi-      selbst. Auch Bedeutung hat ihr Sein nur im
fiziert. Sie ist auch für D selbstverständlich.    Bewusstsein. Die Biologie und der Darwi-
Die Gehirnforschung kann immer nur physi-          nismus übrigens auch.
kalische oder biochemische Prozesse im Ge-         An Tieren können wir einfache Formen von
hirn registrieren und selbstverständlich keine     Bewusstsein feststellen. Wir entdecken da
Gedanken oder Gefühle. Welche Bewusst-             etwas an den Tieren, das wir zuvor von uns
seinsvorgänge den jeweiligen Gehirnaktivitä-       selber kennen. Wie auch immer das Bewusst-
ten entsprechen, das muss der Proband den          sein entstanden sein mag – was es heisst, ein
Forschern erzählen. Das Erlebte und Gedach-        bewusstes Wesen zu sein, wissen wir jeden-
te hat also weiterhin sein Sein im Bewusst-        falls, aus Selbsterfahrung.
sein.                                              Wenn nun die Möglichkeit bestehen würde,
Vor einiger Zeit wurde per Zufall das Lach-        die Gedanken anderer zu lesen, dann müsste
zentrum entdeckt (Izhak Fried, an der Univer-      ein Gremium darüber entscheiden, wie weit
sity of California, Gehirnregion mit Elektro-      das mit den Persönlichkeitsrechten vereinbar
den gereizt). Entdeckt wurde eine Gehirnregi-      wäre. Diese Entscheidungen kann aber die
on, die aktiv wird, wenn jemand lacht. Je-         Gehirnforschung selber nicht leisten – sie
mand kann vermutlich nicht lachen, wenn            muss von einer anderen Art von Wissen
diese Region beschädigt ist. Die Funktion          stammen, als der Naturwissenschaft. D meint
dieser Region ist also eine notwendige Vo-         aber, dass „die Gehirnforschung einige allge-
raussetzung (conditio sine qua non) für das        meine ethische Regeln aufdeckt.“ (GW 309)
Lachen, nicht aber zureichende Vorausset-          „Die Ursache der Religion ist vielleicht die
zung (conditio qua), denn die Patientin über-      übermässige Aktivität irgendeines Gehirnare-
raschte ja die Umstehenden durch ein Lachen        als (GW 234).“ Damit könnte man den Athe-
ohne Grund – genauer: bloss mit Ursachen im        ismus durch einen kleinen Eingriff ins Gehirn
Hirn, aber ohne Grund in der Welt. Und wenn        befördern. Aber wie erklären wir uns Bekeh-
wir nicht wüssten, dass es von den Elektroden      rungen in die eine oder andere Richtung? Wa-
stimuliert wurde, dann würden wir sie für          rum bist du Atheist geworden? Weil die Reli-
verrückt halten.                                   gionsneuronen nicht mehr feuern? Warum
Also: Ohne funktionierendes Gehirn können          feuern sie denn nicht mehr?
wir nicht lachen oder denken (conditio sine        Ebenso schlecht wie das Bewusstsein durch
qua non). Nicht conditio qua heisst: Das Ge-       die Hirnforschung erschlossen werden kann,
hirn alleine lacht nicht und verursacht allein     kann man die Kultur durch Naturwissenschaft
auch nicht das Lachen.                             erschliessen. Wir verstehen offenbar nichts
                                                   von Musik, wenn wir sie nur physikalisch
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betrachten und es ist eine Illusion, wenn je-    Die NW beschränkt sich eben auf das Mess-
mand meint, die vollendete Physik würde uns      bare und was daraus gefolgert werden kann.
dann auch Bachs Kunst der Fuge erschliessen.     D meint alles mit dem Darwinismus erklären
Ebenso absurd wäre die Erwartung, dass uns       zu können – also das Komplexere aus dem
die Spektralanalyse einen Zugang zur Malerei     Einfacheren. Versuchen wir es mit seinem
eröffnet. Konsequente Materialisten, wie D,      Ansatz: Der Mensch hat sich aus dem Tier-
haben hier jedenfalls ein Problem und benut-     reich entwickelt. Wie steht es mit der Ver-
zen dafür eher verschleiernde Begriffe wie:      antwortung bei Tieren? Es findet sich hier
Emergenz, Fulguration. So umschreiben Mo-        Ähnliches bei der Brutpflege etc. Aber was
nisten das jeweils neu Auftretende, das ihren    machen wir gerade? Wir suchen Analogien
Monismus gefährden könnte. Z.B. die Entste-      bei den Tieren, für etwas, das wir aus der
hung des Lebens, des Bewusstseins, der Kul-      Menschenwelt kennen. Wir gehen rückwärts
tur, der Genetik. Das Neue ist nämlich des-      vom Komplexeren zum Einfacheren. Das
halb neu, weil es sich nicht vollständig aus     kann man ja machen. Man sollte aber nicht
dem Bisherigen, dem Alten, ergibt, selbst        vergessen, dass auf diesem Weg hin und zu-
wenn es dieses zur Voraussetzung hat. D liebt    rück zumeist Verluste entstehen, und die füh-
aber Reduktionen des Neuen auf das Alte, das     ren zu jenen Vereinfachungen, die vielen als
seine Voraussetzung ist.                         Plausibilitätsgewinn gelten, oft aber nur Aus-
                                                 blendungen sind.
5. Verantwortung – lebensweltlich und na-        Bei ethischen Diskussionen ist es beliebt auf
turwissenschaftlich verstanden                   die „Urhorde“ zu rekurrieren. Warum aber
Naturwissenschaftlich geschulte Ärzte haben      sollen Wesen, die noch nicht waren, was wir
in den KZs Experimente an Menschen durch-        heute sind, geeignet sein uns über uns besser
geführt – es gab auch „verwertbare“ Resulta-     zu belehren als wir über uns? Wir lernen auch
te. Daher kann man nicht sagen, die Ärzte        nicht viel, wenn wir zur Kutsche zurückkeh-
hätten nur Pseudowissenschaft betrieben. D       ren, aus der das Auto entstanden ist, wenn wir
spricht den Religiösen Forscherdrang und         einen Automotor untersuchen. Die Urhorde
Neugier ab, Tugenden, die diese Ärzte durch-     aber fasziniert. Wenn jemand vor Gericht
aus hatten. Gerade wegen dieser Experimente      gefragt wird, weshalb er seine Verantwortung
wurde im Deutschen Grundgesetz der Artikel       nicht wahrgenommen hat, helfen ihm Exkurse
1 der Menschenwürde aufgenommen. Men-            ins Tierreich nicht.
schenwürde ist aber mit keiner naturwissen-
schaftlichen Methode feststellbar. Wenn sich     Lebensweltliche Erfahrungen und naturwis-
Naturwissenschaftler auf die Menschenwürde       senschaftliche experimentelle Erfahrungen
berufen, beweisen sie eigentlich, was keines     sind also zwei paar Schuhe und die zweiten
Beweises bedarf, nämlich, dass auch sie ande-    setzen die ersten nicht ausser Kraft. Aber der
res Wissen beanspruchen als nur das natur-       Irrtum ist weit verbreitet. Das ist der Irrtum
wissenschaftliche.                               einer „wissenschaftlichen Weltanschauung.“
In manchen Situationen erscheinen naturwis-      Ihre Gefahr besteht in der Enteignung der
senschaftliche Antworten geradezu als pein-      lebensweltlichen Erfahrungen: Glaube nicht
lich daneben: „Warum ist das Kind in den         deinen Erfahrungen, glaube der Wissenschaft.
Brunnen gefallen?“ „Wegen der Gravitation.“
Weder Verantwortung noch Unglück sind             Verantwortung lässt sich nicht nach dem
Termini der Naturwissenschaft. Sie gehören       Schema Ursache-Wirkung hinreichend erfas-
der Alltagssprache an, ohne die wir das, was     sen. Man kann ja auch für die Unterlassung,
hier interessiert, gar nicht besprechen könn-    also das „Nicht-Wirken“ „zur Verantwortung
ten.                                             gezogen werden.“ Für den, der Verantwor-
Daraus folgt nicht, dass die Naturwissenschaft   tung wahrnimmt, ist die Welt teleologisch
um eine Theorie der Verantwortung erweitert      strukturiert, weil sie am gedeihen von Leben-
werden sollte – das würde sie nur verderben,     digem orientiert ist. Das Tun hat für ihn einen
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Sinn, den er nicht selbst gemacht hat. Die        Durch die heutige Nähe der verschiedenen
Welt in der es Verantwortung gibt, ist nicht      Religionen ergeben sich zwei Problemkreise
sinnlos. Wer Verantwortung wahrnimmt,             1. Auf der Ebene des Zusammenlebens und
kann dabei weder sich noch was er tut darwi-      2. auf der Ebene konkurrierender Wahrheits-
nistisch verstehen. Er kann kein reiner Egoist    ansprüche.
aber auch kein Altruist sein, denn wer sich       D bringt aber für beide Ebenen nichts Kon-
ruiniert, kann keine Verantwortung mehr           struktives – einige Bemerkungen lassen sogar
wahrnehmen.                                       Schlechtes ahnen.
Bei der Verantwortung für die Schöpfung
wirft D der Religion nicht vor, sie habe 1. Mo    Zur politischen Ebene:
1,28 („macht die Erde untertan“) benutzt, um      D schliesst, dass die Tolerierung normaler
die Erde zu zerstören. Das würde seiner           Religionen, auch Osama Bin Laden Tür und
Hauptthese von der Wissenschaftsfeindlich-        Tor öffne.
keit der Religion widersprechen. Man merke:       Wenn dem so ist, dann kann man auch
Religionskritik ist nicht gleich Religionskri-    schliessen, dass der Darwinismus der Rassen-
tik.                                              hygiene und Zwangssterilisation die Türen
Nur Personen können Verantwortung tragen.         öffne. Fast alles in der Welt kann missbraucht
Wenn es Verantwortung geben soll, kann man        werden. Daher sollten wir den sorgfältigen
die Welt nicht dergestalt monistisch verste-      Gebrauch vom Missbrauch klar unterschei-
hen, dass das Individuum nur Instrument von       den, statt mit aller Macht vom Gebrauch zu
etwas anderem ist. Man kann auch nicht auf        warnen.
dem naturalistischen Feld vom Sein auf das        Der Dreissigjährige Krieg ist nicht durch Ab-
Sollen schliessen. Aus der naturwissenschaft-     schaffung der Religion beendet worden, son-
lichen Rekonstruktion der Wirklichkeit lässt      dern dadurch, dass rechtliche Regeln gefun-
sich keine Ethik ablesen. Die Welt, in der es     den wurden, die die konfessionellen Gegens-
Verantwortung gibt, ist mit den Methoden der      ätze ausklammerten. Das Recht sollte nicht
Naturwissenschaft schlechterdings nicht er-       mehr die religiöse Wahrheit schützen, son-
fassbar: Oder die Frage: „Was ist der             dern die Personen mitsamt ihren Überzeugun-
Mensch?“ lässt sich mit naturwissenschaftli-      gen - deshalb Religionsfreiheit. Der damit
chen Methoden nicht hinreichend beantwor-         geforderte Respekt gilt der Person und des-
ten. Das spricht nicht gegen die NW, wohl         halb ihren Überzeugungen. Denn die Über-
aber gegen den Wahn, ihr eine Allerklärungs-      zeugungen gehören zur Person. Dieser Res-
kompetenz zuzuschreiben. Auch Gerechtig-          pekt findet überall auf der Welt seine Grenze
keit, Frieden und Freiheit, Schuld und Verge-     am Recht. Religions- und Gewissensfreiheit
bung sind in unserer Lebenswelt von grosser       findet ihre Grenze in dem Grundsatz, dass ich
Bedeutung, aber für die Naturwissenschaften       nicht anderen die Kosten dieser meiner Frei-
schlechterdings unzugänglich.                     heit aufbürden darf.
Auch Ds’ dritter Singular „die Wissenschaft“      D erwähnt das Gewissen nie. Selber nennt er
pluralisiert sich. Es gibt verschiedene Wissen-   sich Konsequentialist oder Utilitarist und
schaften, die sich nicht zu einer Einheitswis-    möchte alle ethischen Fragen nach dem Prin-
senschaft vereinigen lassen.                      zip des Nutzens entscheiden (GW 420). Da-
                                                  mit braucht er sich denn auch nicht über das
6. Pluralität der Religionen – wie gehen wir      Gewissen Gedanken zu machen, denn Nütz-
damit um?                                         lichkeitsrechnungen kann man auch von ei-
Religionen geben ganz verschiedene und ei-        nem Computer erstellen lassen – vorausge-
nander ausschliessende Antworten. Auch            setzt, dass die Folgen unserer Handlungen
wenn die Religionen abgeschafft werden            exakt berechenbar sind. Kant war der Auffas-
könnten, würden auf die diversen Lebensfra-       sung, für solche Folgenprognosen sei unsere
gen ganz verschiedene Antworteten gegeben         Vernunft nicht erleuchtet genug.
(vgl. Philosophie).
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Kinder können noch nicht selber entscheiden,      ihnen auch“ (Mt 7,12). Oft ist aber den Men-
welche Ansichten sie über das Leben oder die      schen diese Perspektive unzugänglich – wie
moralischen Prinzipien haben sollen (GW           bei einer Katze, die sich nicht in die Maus
471). Richtig. Deshalb beginnt die Religi-        versetzen kann, ohne selber zu verhungern.
onsmündigkeit erst mit 14. Kinder können          Wenn diese Perspektive grundsätzlich unzu-
aber auch nicht entscheiden, welche Sprache       gänglich bleibt, dann wird Sicherungsverwah-
sie sprechen wollen und ihre Eltern können        rung unvermeidlich.
sie auch nicht auswählen. Sie können aber nur
dann eine Fremdsprache erwerben, wenn sie         Beim Auftreten unterschiedlicher Ansichten
zuvor ihre Muttersprache gelernt haben.           gibt es grob zwei Erklärungsmuster.
Gewiss sollen Eltern ihre Kinder nicht indokt-    1. Man kann die nicht geteilten Überzeugun-
rinieren. Aber sie sollen sie an ihrem Leben      gen eines anderen aus anderen Randbedin-
teilnehmen lassen. Sie würden ihre Kinder um      gungen, anderen Voraussetzungen oder der
etwas betrügen, wenn sie ihnen vorenthielten,     Unkenntnis bestimmter Sachverhalte herleiten
was ihnen für ihr Leben wichtig ist.              und kann annehmen, dass wir in der gleichen
                                                  Lage ähnlich denken würden. Obwohl sich
Zur Ebene der konkurrierenden Wahrheitsan-        die Unterschiede nicht ausräumen lassen,
sprüche:                                          bleiben wir dennoch in einem gemeinsamen
D möchte uns missionieren. Wer aber jeman-        Verständigungsraum.
den zum geistigen Wohnungswechsel animie-         2. Andererseits kann man auch die nicht ge-
ren möchte, muss ihm eine bessere Wohnung         teilten Überzeugungen auf einen Gehirnscha-
anbieten. D Angebot sieht aber eher wie ein       den oder eine Geisteskrankheit zurückführen.
Abrissunternehmen aus.                            Was ein verblendeter Fanatiker zu einem
Die Pluralität der Wahrheitsansprüche würde       Sachverhalt verlauten lässt, ist dann nicht
durch das Beseitigen der Religionen nicht         mehr Zeugnis eines anderen Verstehens in
auch verschwinden, sie würde als Pluralität       einem gemeinsamen Verstehenshorizont,
nichtreligiöser Weltanschauungen wiederkeh-       sondern Wirkung einer Ursache, mit der wir
ren. Aber es kann doch nur eine Wahrheit          uns erklären, weshalb die Äusserung nicht zu
geben. Richtig – anders vermögen wir gar          verstehen ist. Wir sagen dann: Der spinnt.
nicht konsistent zu denken.                       Dieser Erklärungstyp für die verschiedenen
Diejenigen Sachverhalte, über die sich alle       Auffassungen bedeutet immer Kommunikati-
Menschen, die bei Verstand sind, unstrittig       onsabbruch.
einigen (wie der, dass zwei mal zwei vier ist),   Es gibt aber keine feststehenden Grenzen, die
haben leider für die relevanten Fragen der        uns zeigen, wo man vom gemeinsamen Ver-
Lebensführung die geringste Relevanz.             stehenshorizont zur Erklärung durch äussere
Es kann nur eine Wahrheit geben. Aber es          Ursachen wechseln muss. Intensive Beschäf-
gibt für uns Menschen nicht den absoluten         tigung mit dem Gegenstand der Frage kann
Standpunkt, von dem aus sich für uns die eine     dazu führen, dass man einiges verstehen kann,
Wahrheit als ein einheitliches Wissen von         was andere nur als Blödsinn abtun.
allem erschliesst, weil es für uns keinen vo-     Am häufigsten erklären aber diejenigen je-
raussetzungslosen Standpunkt gibt. Das wäre       manden für verrückt, deren eigene Verste-
nämlich der Standpunkt Gottes. Trotzdem           hensmöglichkeiten beschränkt sind, die Fä-
scheint mir D diesen Standpunkt zu beanspru-      higkeit also, sich in andere Menschen zu ver-
chen.                                             setzen. Sie können sich nur mit Menschen
Unser Erkennen ist immer perspektivisch.          verständigen, die passgenau so denken wie
Wir können aber die verschiedenen Perspek-        sie. Damit tendieren sie aber zur fundamenta-
tiven unterscheidend beschreiben. Beim inter-     listischen Selbstisolierung. Die gibt es unter
personalen Standpunkt vollzieht das Erkennen      Religiösen wie Nichtreligiösen.
das, was die Goldene Regel sagt: „Alles, was      Es ist ein Gebot der Fairness, das sich aus der
ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut       Anerkennung anderer Menschen als meines-
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                      7

gleichen ergibt, es so weit wie möglich mit       7. Eine absolute Grenze darwinistischer
den Erklärungen des ersten Typs zu versu-         Erklärungen
chen. Wohlwollen ist das oberste methodische      Wer alles mithilfe eines universalisierten
Gebot der Hermeneutik und der schönste Er-        Darwinismus erklären möchte muss doch
folg ist der, jemanden besser zu verstehen, als   immer eine Ausnahme machen, nämlich für
er sich selbst verstand und ihm das vermitteln    seine Erklärungen selbst. Die soll ja richtig
zu können.                                        oder wahr sein und dafür wird er Gründe an-
D Erklärung der Religion ist nun eindeutig        führen und Zustimmung erwarten. Sonst
dem Typ 2 zuzuordnen. Es sind Erklärungen         beisst sich die Katze in den Schwanz, wie
für Religionsverächter – denn „Religion ist       z.B: Die Erkenntnis, dass das Denken eine
eine Fehlfunktion eines eigentlich nützlichen     Eigenschaft der Materie ist, wiederum eine
Mechanismus“ (GW 263). Er sucht daher             Eigenschaft der Materie usw. oder: Das Ge-
„das primitiv-vorteilhafte Merkmal ..., das       hirn produziert die Gedanken und darunter
manchmal falsch funktioniert und dann die         auch den Gedanken, dass das Gehirn Gedan-
Religion entstehen lässt“ (GW 242). Dazu          ken produziert – das kann man dann aber
müsse man einfach die richtige Frage stellen.     auch für sich behalten, denn mein Gehirn
Dieses Prinzip wendet er nun auf die Religion     produziert eben nur meine Gedanken.
an: Viele Antworten sind möglich, sie müssen      Wer an Einsicht appelliert, setzt voraus, dass
aber immer unter der Voraussetzung stehen,        es Einsicht gibt. Wer für irgendeine Aussage
dass Religion eine Fehlfunktion ist. Es gibt da   Wahrheit beansprucht, muss voraussetzen,
aber noch eine andere Ebene des Fragens: Ob       dass es einsichtige Gründe gibt und nicht nur
denn die Frage wirklich so gestellt werden        wirkende Ursachen.
muss.                                             Die Entstehung der Genetik ist nicht das Re-
In den Naturwissenschaften ist es berechtigt,     sultat der natürlichen Selektion und schon gar
nur solche Antworten zuzulassen, die den          nicht einer genetischen Mutation. Sie das Er-
Kriterien experimenteller Überprüfbarkeit         gebnis sehr intensiver Forschungsarbeit. Wis-
genügen. Im Feld interpersonaler Verständi-       senschaft entzieht sich einfach einer darwinis-
gung dagegen sind solche präjudizierenden         tischen Erklärung. Aber wie ist sie dann ent-
Fragestellungen gegebenenfalls inhumane           standen?
sophistische Fallen. D ist jede Antwort recht,    Ausser der Materie und allem, was wir von
wenn sie nur die Religion als Fehlfunktion        ihr erforschen können, gibt es also mindestens
entlarvt.                                         noch den Forscher. Es gibt mindestens einen
D möchte die Menschheit von der Krankheit         „Gegenstand,“ auf den der Darwinismus nicht
der Religion befreien. Wer eine Krankheit         umstandslos anwendbar ist: den Darwinismus.
bekämpfen will, der muss diese genau studie-      Der versteht sich nämlich nicht als vom Se-
ren. D Kenntnisse sind hier aber mehr als         lektionsdruck Geschobener, sondern als der-
dürftig. Er lässt ja nur Antworten zu, die zu     jenige, der die Wirklichkeit erkennt, wie sie
seiner Fragestellung passen (Was kann die         wirklich ist, auch wenn er sich dabei kräftig
Fehlfunktion der Religion erklären?).             vertut.
D findet es verschwenderisch, dass in den         Nach D sind wir Genmaschinen und werden
Religionen z.B. Kathedralen gebaut werden,        als Memmaschinen erzogen, aber wir haben
oder zeitaufwendige, Wohlstand verschlin-         die Macht, uns unseren Schöpfern entgegen-
gende Rituale gepflegt werden. Da ruft je-        zustellen (EG 334). Woher wir diese wunder-
mand den Darwinismus zu Hilfe für ein Prob-       bare Macht haben, erklärt er uns nicht. Das
lem, das er sich erst durch die Anwendung         bleibt eine Behauptung ohne Kontext. Und es
des Darwinismus auf die menschliche Kultur        ist ein Perspektivenwechsel, von der techni-
aufhalst.                                         zistischen zur interpersonalen Perspektive.
                                                  Denn von Befreiung können nur Personen
                                                  reden und die sind immer Individuen. Sein
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                      8

wenig überzeugendes Beispiel ist die Emp-          zulässt, nämlich für sich, den Erklärer, der
fängnisverhütung oder die Gentherapie.             sich von seinen Schöpfern befreit.
Für unsere genetische Veranlagung sind wir         D hat noch das Bibelverständnis mit den Kre-
nicht verantwortlich, wohl aber dafür, wie wir     ationisten gemeinsam: Alles oder nichts von
mit ihr umgehen.                                   dem, was da zu lesen ist, müsse gelten. Daher
Dass es in der Geschichte kein Beispiel für        findet er, die Bibel sei nicht jugendfrei. Er
reinen Altruismus gegeben habe, ist auch eine      behauptet nun, es gebe kein Kriterium für die
starke These, von der ich gerne wüsste, wie        Auswahl, also müsse ein Christ alles oder
sie bewiesen werden kann.                          nichts für verbindlich halten. (GW 328f., 336,
Gar nicht verständlich ist die These, dass wir     365). Da irrt er sich.
etwas zuwege bringen können, „für das es in        Auswahlkriterien gibt es nicht – wir sind ja
der Natur keinen Raum gibt“ – wo dann gibt         nicht im Supermarkt – aber Auslegungsrich-
es einen Raum dafür?                               tungen und Fokussierungen gibt es in der Bi-
Mein hoher Respekt vor den Naturwissen-            bel selbst. Wenn Jesus sagt, dass das Gesetz
schaften gilt der Sorgfalt, mit der sie unter      und die Propheten im Doppelgebot der Liebe
streng definierten Voraussetzungen ihre For-       zusammengefasst seien (Mt 22,27f.), oder
schung betreibt. Was D hier vorträgt, verdient     Paulus „die Liebe als des Gesetzes Erfüllung
solchen Respekt nicht. Das ist unreflektierte      nennt“ (Rö 13.10), dann ist das eine radikale
materialistische Pseudometaphysik, und zwar        Absage an jede Kasuistik.
eine inkonsistente, die uns erst zu Produkten      So fundamentalistisch wie die Christen nach
egoistischer Gene und Meme erklärt und dann        D sein müssten, können also nicht einmal die
den Aufstand gegen unsere Schöpfer prokla-         fundamentalistischsten Christen sein, da auch
miert.                                             für sie der Neue Bund den Alten neu interpre-
D unterscheidet also sehr wohl zwischen Ma-        tiert. Seltsam, dass jemand, der als Darwinist
terie und Bewusstsein, nämlich zweifach: 1.        zu Recht darauf besteht, dass auch die Natur
Die Evolution begünstigt nicht die Naturwis-       eine Geschichte hat, blind dafür ist, dass die
senschaft und 2. Wir können uns von unseren        Bibel eine Geschichte Gottes mit den Men-
Schöpfern befreien. Nun hat D aber erklärt,        schen präsentiert.
dass jene, die diesen Unterschied machten,         Ds’ hermeneutische These „alles oder nichts
Dualisten seien. Dann ist er aber an diesem        muss gelten“ kann ich mir nur so erklären,
Punkt selber einer.                                dass er die Bibel mit einem Gesetzestext ver-
Das Ich mit Namen D, das denkt, es könne           wechselt. Doch auch die Juristen brauchen
sich von der Tyrannei der Gene befreien, die-      eine Hermeneutik – wenn dem nicht so wäre,
ses Ich erklärt, Individuen seien keine Einheit.   könnte ein Computer Recht setzen.
Es ist eben sehr wohl eine Einheit.                Die „alles oder nichts“ Hermeneutik schafft
                                                   ein sehr schlichtes Diskriminierungsinstru-
8. Im Osten liest sich manches anders              ment: Wer nicht jedem Satz der Bibel die
D schrieb sein Buch nicht für den deutschen        Geltung eines Gesetzesparagraphen zuspricht,
Leser. Er schreibt gegen die Kreationisten im      ist ein Heuchler, denn er glaubt nicht, was in
amerikanischen Kulturkampf. Aber wer sich          der Bibel steht.
in einen Gegner allzu sehr verbeisst, steht        Auch denkt er wie die Kreationisten, die ja
immer in der Gefahr, ihm ähnlich zu werden.        glauben, dass die Bibel kosmologische Hypo-
Sowohl die Kreationisten, wie auch D, sind         thesen von sich gebe.
geschichtsblind und inkonsequent. Die Krea-        Der 11.9. ist für D nicht Anlass, die christli-
tionisten, welche Atomstrom beziehen und           chen und muslimischen Fundamentalisten in
doch die Gesetze der Physik ablehnen. D ist        einen Topf zu werfen, nein, er bracht den
inkonsequent, weil er wie jeder vernünftige        11.9. als Argument gegen alle Religion.
Mensch, schliesslich doch faktisch eine Aus-       Bürgermeister im Osten von Deutschland
nahme vom naturwissenschaftlichen Erklären         werden wenig Verständnis für die Gefahr der
                                                   Religion aufbringen. Sie bemerken, dass die
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                        9

Kirche sich gerade gegen den aufkeimenden          sierte Verfahren zur Feststellung von Regel-
Rechtsextremismus wendet. D wird sagen,            mässigkeiten (Gesetzmässigkeiten) in der
mit denen habe ich nichts zu tun. Ja, aber er      Natur und Gesellschaft, dann ergibt sich: Die
ist Utilitarist oder Konsequentialist und möch-    so verstandene Wissenschaft kann zwar unser
te die Moral der Handlungen ausschliesslich        Verfügungswissen erweitern, aber doch keine
nach ihren Wirkungen beurteilen. Solche            Ziele setzen. Wir erfahren durch sie, was wir
Wirkungen hat er nicht beabsichtigt. Wer aber      tun können, nicht aber, was wir tun sollen. Es
erklärt, dass die Nächstenliebe in uns eine        kommt nach dieser Methode nie eine Ethik,
Fehlfunktion ist, schiebt vergeblich nach, dass    also eine Lebensorientierung zustande.
das nicht abwertend gemeint sei. Der normale       Wissenschaft liefert Beiträge, aber keine hin-
Leser findet Sein wichtiger als Meinen: Du         reichenden Antworten auf die Frage, wie wir
bist ein Esel, aber das ist nicht beleidigend      uns selbst zu verstehen und miteinander um-
gemeint.                                           zugehen haben.

                                                   3. Perspektiven auf Religion
II. Religion - ein widerborstiges                  Es gibt die Binnensicht und die Aussensicht.
Phänomen                                           Binnenperspektive: Die Religionskritik muss
                                                   nicht atheistisch sein, es gibt auch die religiö-
1. Definitionsprobleme                             se Religionskritik, und das heisst ja immer
2. Wortgeschichte                                  auch Selbstkritik. Die Schrift ist Instanz der
Religio in der lateinisches Umgangssprache         Selbstkritik. Sie muss einerseits unter gewan-
bezeichnet ein bestimmtes Verhalten: Res-          delten Umständen interpretiert werden, inter-
pekt. Daher kam das Wort ursprünglich nur          pretiert aber andererseits immer auch selbst
im Singular vor.                                   diejenigen, die sich dieser Norm verpflichtet
Die christliche Glaubensvorstellung wird zu        wissen.
Beginn der Neuzeit durch drei Erfahrungen          Von Seiten eines atheistischen Humanismus
problematisiert:                                   wird gern der Satz von Marx in Anspruch
a) die Erfahrung mit der Pluralität christlicher   genommen, dass der Mensch für den Men-
Konfessionen,                                      schen das höchste Wesen sei. Das kann be-
b) die Erfahrung mit Fremdreligionen und           deuten: Es kann und soll für den Menschen
c) die Religionskritik der europäischen Auf-       keine Ziele geben, die Menschenopfer for-
klärung                                            dern. Wenn sich der Mensch aber selber für
Zu b): Wie verhält sich der Plural zum Singu-      das höchste Wesen hält (ein Satz der in
lar. Die Aufklärung kam auf den Gedanken,          merkwürdigem Kontrast steht zu der materia-
man könne allen Streit in Religionssachen          listischen These, dass der Mensch bloss ein
durch Vernunft beilegen, indem man hinter          Tier sei und das Bewusstsein nichts anderes
den faktisch existierenden Religionen das          als eine Funktion strukturierter Materie), dann
Vernünftige, die eine natürliche oder Ver-         findet diese These Widerspruch in vielen Re-
nunftsreligion rekonstruiert. Dies ist aus zwei    ligionen, deren Lebenspraxis voraussetzt, dass
Gründen gescheitert: Keine dieser Konstrukte       der Mensch darin seine Würde findet, dass sie
einer Vernunftsreligion hat je gemeinschafts-      etwas Höheres als sich selbst anzuerkennen
bildende Kraft entfaltet. Und bei näherem          vermögen.
Hinsehen erwiesen sich diese Konstrukte im-        Aussenperspektiven erfolgen immer dem
mer als ein Destillat aus einer bestimmten         Schema: x ist von y abhängig. Deshalb setzt
Religion, nämlich der christlichen.                jedes Erklären eine Entscheidung darüber
Zu c): Die Vorstellung einer wissenschaftli-       voraus, was als Konstante, was als Variable in
chen Weltanschauung hat ihre Plausibilität         Betracht kommt.
verloren. Versteht man nämlich unter Wissen-       Leistung der Religion: Kontingenzbewälti-
schaft nicht mehr, wie noch Hegel, das Wis-        gung: Sie kann sozial stabilisierend wirken,
sen vom Ganzen, sondern das institutionali-        indem sie einen gewissen gesellschaftlichen
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                      10

Konsens liefert, sie kann für den Einzelnen      Publikum ist keine Gemeinde. Ausserdem
sozial integrierend wirken, aber auch biogra-    wird ein erheblicher Teil des kulturellen Ge-
phisch stabilisierend, indem sie namentlich      dächtnisses verloren gehen.
den Umgang mit Grenzerfahrungen (Krank-          b) Mit der Religion würde die religiöse Ein-
heit, Tod, Versagen, Schuld und Verzweif-        sicht in den Zusammenhang von Sünde,
lung) orientieren. Mehr als „die Religionen      Schuld und Vergebung verschwinden, eine
können ...“ kann aber nicht gesagt werden.       Einsicht, die, von ihrem religiösen Zusam-
Denn Religion ist ein ambivalentes Phäno-        menhang gelöst, allzu leicht zu Menschenver-
men. Religionen können auch missbraucht          achtung führt und immer eine latente Gefahr
werden. Es gibt eben nicht nur nette Religio-    für den atheistischen Humanismus darstellt,
nen. Es gibt auch destruktive Religiosität       der an das Gute im Menschen glaubt, aber
(Voodoo, Okkultismus, Satanskulte etc.).         sich ein Äquivalent für Gottes Barmherzigkeit
Nun gibt es aber auf dem Feld unserer grund-     nicht beschaffen kann.
legenden Lebensorientierungen kein rationa-      c) Mit der Religion würde Gott als die untrüg-
les Verfahren zur definitiven Klärung aller      liche Instanz menschlicher Letztverantwor-
anstehenden Fragen. Es sind also immer auch      tung verschwinden.
Entscheidungen gefragt. Doch wie entschei-       d) Mit der Religion würde ein nicht ersetzba-
den? Alle Religionen auszuprobieren, dazu        rer Grund der Dankbarkeit verschwinden,
fehlt uns die Lebenszeit. Die Extensität des     einer Dankbarkeit, die die Wahrnehmung des
Probierens geht auf Kosten der Intensität.       Selbstverständlichen intensiviert und das
                                                 menschliche Tun entlastend und in den Status
4. Religionen und Sprachen                       der Antwort statt der prometischen Selbst-
5. Zur Zukunft der Religionen                    schöpfung entlässt.
Vermutlich werden die grossen Religionen         e) Es würde ein Grund zur Gelassenheit und
aufgrund des Bevölkerungswachstums mehr          Zufriedenheit verschwinden, als unerschütter-
zunehmen als die Gruppe der Atheisten. Die       licher Hintergrund in vielen Unzufriedenhei-
Migration wird den Trend zu Mischformen          ten.
der Religionen vermutlich verstärken. Beson-     f) Es wäre die Verheissung verschwunden
ders bei Jugendlichen wächst die Tendenz,        von der Auflösung aller Widersprüche, die,
sich die eigene Religion zu stricken.            wenn sie hier und jetzt gefordert wird, zerstö-
Der Fundamentalismus ist als Reaktion auf        rerisch wirkt.
die Entfremdung durch die Moderne zu ver-
stehen. Es gibt aber nicht „die fundamentalis-
tische Religion,“ sondern nur fundamentalisti-   III. Wissen, Meinen, Glauben - Ein-
sche Versionen von Religionen.                   übung ins Unterscheiden
6. Lässt sich die Religion durch Ethik er-       1. Orientierungs- und Verfügungswissen
setzen?                                          Menschen möchten sich in der Welt zurecht-
Es geht um die Frage, ob etwas Unersetzbares     finden, sie möchten sich aber auch vor Gefah-
verschwindet, wenn Religion verschwindet.        ren schützen und sich beschaffen, was sie
a) Es wäre die Art der Vergewisserung unse-      zum Leben brauchen. Daraus ergeben sich
res Weltaufenthaltes durch Geschichten, ge-      zwei verschiedene Erkenntnisinteressen und
meinschaftliche Handlungen und Vollzüge,         zwei verschiedene Arten des Wissens. Jürgen
Feiern und Feste im Kreise Gleichgesinnter,      Mittelstrass prägte dafür die Begriffe: Orien-
die Intensivierung durch Wiederholung, die       tierungswissen und Verfügungswissen.
heimisch werden lässt in einer Überlieferung,    Verfügungswissen ist das know how das zum
das Gespräch mit den Vorgängern im Glau-         Ziel führt. Aus dem Orientierungswissen er-
ben, die in Texten und Liedern präsent sind.     geben sich die Ziele, für die wir unser know
                                                 how einsetzen. Eine jeweilige Zuordnung ist
                                                 aber gar nicht so einfach. Nicht einmal die
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                     11

Wissenschaften kann man leicht einordnen.         Faktoren begrenzt und erfassbar sein müssen.
Man kann Geisteswissenschaften sicher eher        Deshalb ist es für einen Physiker nicht vo-
beim Orientierungswissen anordnen. Philoso-       raussagbar, was geschieht, wenn ich einen
phie ist dann Reflexion über das Orientie-        Stein in eine Scheibe werfe.
rungswissen. Auch lehrt die Theologie nicht
den Glauben. Sie ist Lehre über den Glauben.      Und wie steht das Experiment zu unserem
Der Glaube wird hier reflektiert. Religion ist    Leben? Es gibt Menschen, die mal dies und
ein ambivalentes Phänomen. Sie kann miss-         mal jenes ausprobieren. Aber Orientierungs-
braucht werden. Daher ist Reflexion dringend      wissen, das ein freies Leben ermöglicht, wird
nötig.                                            nicht durch Experimente gewonnen, es muss
Fazit: Wissenschaften sind für unser Orientie-    vielmehr diejenigen Experimente ausschlis-
rungswissen nicht die originäre Quelle. Wir       sen, die uns der Freiheit berauben.
gewinnen es zunächst durch Lebenserfahrung        Experimentell gewonnene Erkenntnis nennen
und Kommunikation.                                wir objektiv, weil sie unter den gleichen Be-
                                                  dingungen von jedem wiederholt und über-
2. Wissen, Experimentieren, Glauben               prüft werden kann. Es hat sich eingebürgert,
Was ist ein Experiment? Kant hat ganz richtig     alles andere Wissen als subjektiv zu bezeich-
gesehen, dass die experimentierende Natur-        nen. Dabei schwingt immer auch das Relative
wissenschaft nicht ein voraussetzungsloses        oder Beliebige mit.
Sich-Umsehen in der Natur ist, sondern mit        Es gibt aber noch ein drittes Wissen, das we-
starken Voraussetzungen arbeitet. Sie sucht       der objektiv noch subjektiv ist, das aber auch
Bestätigung für Gesetzmässigkeiten, die sie       nicht durch Experimente gewonnen werden
zuvor entworfen hat. Das Experiment bestä-        kann: Das Wissen aus interpersonalen Erfah-
tigt sie oder nicht, aber sie gehen nicht aus     rungen. D amüsiert sich über die Trinitätsleh-
dem Experiment hervor. Die Natur erscheint        re (GW 49; 280). Gottes Trinität bleibt aber
wie der Angeklagte, dem der Richter vor-          für Christen auch dann noch ein Geheimnis,
schreibt, worauf und wie er zu antworten hat,     wenn sie sie verstehen. Das unterscheidet das
nämlich ausschlisslich mit messbaren Daten.       Geheimnis vom Rätsel. D möchte alles als
Wer dagegen der Natur zubilligt, nicht nur als    Rätsel sehen.
Angeklagte, sondern auch als Lehrerin spre-       Auch Schlager bewegen sich meist auf der
chen zu dürfen, kann von der Natur noch ganz      interpersonalen Ebene. Da redet man von
anderes erfahren, das Kant in einem anderen       Wundern. Altagssprachlich meint Wunder
Zusammenhang (Kritik der Urteilskraft) auch       nicht die Durchbrechung der Naturgesetze,
gewürdigt hat: Schönheit, Erhabenheit, Na-        sondern die Durchbrechung trüber, pessimis-
turabsichten und auch: “Die Himmel rühmen         tischer Erwartungen. „Das ist ein Wunder,
des Ewigen Ehre.“                                 dass du heute mal nicht zu spät kommst.“
Damit liegen die Grenzen der experimentellen      Auch das Wort Glauben kommt nicht so sel-
Methode bei den Singularitäten. Sie lassen        ten in der Schlagern vor: Ich glaube an dich.
sich nicht als solche experimentell erforschen,   D erklärt: „Atheisten haben keinen Glauben“
weil die Experimente jederzeit wiederholbar -     (GW 73). Dann kann er sich nicht einmal sei-
überprüfbar sein müssen. Nun besteht aber         nes Geburtstags sicher sein. Er war zwar da-
das ganze Weltgeschehen aus singulären Er-        bei, muss aber trotzdem denen glauben, die
eignissen und ist auch als Ganzes singulär.       den Geburtstag bezeugen.
Experimentell lässt sich also nur das Konstan-    Im Deutschen unterschieden wir: „Ich glaube
te überprüfen.                                    etwas oder dass ...“ und „ich glaube dir“.
Damit fällt dieser Typ der Wissensgewinnung       Glauben dass ... bezieht sich auf einen Sach-
für Politik und Zukunftsplanung weitestge-        verhalt und bedeutet „vermuten.“ Es gibt
hend aus. Hochkomplexe Fragen lassen sich         Sachverhalte, die wir grundsätzlich nicht si-
schwer experimentell erforschen, weil in ex-      cher wissen können, wie die Zukunft. Wenn
perimentellen Situationen die einwirkenden        wir uns verlaufen haben, fragen wir einen
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                     12

Ortskundigen und glauben ihm. Dieser Glau-        technisierten Welt leben, erscheinen uns tech-
be kann nicht durch Wissen überboten wer-         nomorphe Begriffe oft sehr plausibel: Das
den. Glaube als interpersonales Geschehen         Gehirn als Computer. Dass wir Menschen uns
wird durch das Einfordern von Beweisen zer-       am besten über den Umweg unserer mechani-
stört.                                            schen Produkte erkennen können, ist eine
In der Polemik gegen den Glauben sollte zu-       seltsame Erwartung. Es sind diese tech-
mindest unterschieden werden zwischen et-         nomorphen Metaphern, die suggerieren, hier
was vermuten und jemandem vertrauen –             werde etwas Kompliziertes endlich einmal
Glaube in der objektivierenden und der inter-     verständlich. In Wahrheit stolpert D über sei-
personalen Dimension. Die interpersonale          nen Metaphernsalat, ohne es zu merken. Ich
Perspektive ist D offenbar verschlossen –         zähle das zum modernen Priesterbetrug der
wenn er schreibt. Denn im Lebensvollzug           Priester der Wissenschaft.
wäre er längst vereinsamt.                        Unter Seele haben die Alten das verstanden,
Mit dem Unterschied von objektivierender          was der Leiche fehlt. Bei Tieren ist das Le-
und interpersonaler Perspektive ist das Prob-     bendigkeit und die Intentionalität, beim Men-
lem des Anthropomorphismus verbunden. D           schen zudem Bewusstsein. Dass der Leiche
praktiziert durchwegs eine andere Art von         etwas fehlt, kann doch wohl schlecht bestrit-
Anthropomorphismus. Er spricht von Begrif-        ten werden. Und was ihr fehlt, ist jedenfalls
fen wie von handelnden Personen. „Die Evo-        nicht ein Stück des Körpers.
lution hat ...“ Und er wird böse, wenn man
diese Redeart kritisiert – der habe wohl zuviel   3. Evolution, Fortschritt, Fortschritte
Philosophie studiert. Es ist aber unzweifelhaft   Entwicklung kann man teleologisch sehen,
so, dass nur Personen egoistisch sein können,     zielgerichtet. Als Stufenmodell in der Zeit
weil nur sie auch anders können – und nicht       hielt dieses Denkmodell Einzug in die Ge-
die Gene. D behauptet, er könne alles, was er     schichtsphilosophie. In Lessings „Erziehung
in bildlicher Sprache formuliert hat, in die      des Menschengeschlchtes“ wird das Men-
Sprache der „Realität“ übersetzen (EG 166).       schengeschlecht wie ein Individuum verstan-
Nun verfügt die Biologie gar nicht über eine      den, das einen Prozess der Entwicklung, wie
exakte Formelsprache (wie die Chemie oder         vom Kinde zum Erwachsenen durchläuft. Die
Physik). Sie gehört nicht zu den mathemati-       Vollendung - Vergeistigung - wird im kom-
schen Naturwissenschaften. Solche Formel-         menden Zeitalter des Geistes erwartet (bezo-
sprachen schützen dank sie davor, dass sich       gen auf Joachim von Fiore 1130-1202). Nach
heimlich die Teleologie einschleicht. Darwi-      Lessing ist es Gott der die Menschheit zu sich
nisten haben es da schwerer. Sie müssen sich      führt. Derselbe Grundgedanke spielt bei Her-
der Alltagssprache bedienen, aber alle zweck-     der, Schelling und Hegel die entscheidende
orientierten Wendungen vermeiden – Z.B.           Rolle und begründet die Geschichtsphiloso-
alle Verben, die ein handelndes Subjekt vo-       phie des deutschen Idealismus. Durch dieses
raussetzen (arbeiten, erkennen, zählen ...) und   Ziel wird die Geschichte als Ganzes zum Got-
Wörter „Zweck“, „damit“ ... Der hemmungs-         tesbeweis. Die Logik, nach der sich diese
lose Gebrauch einer anthropomorphistischen        Selbstentfaltung des Absoluten vollzieht, ist
Sprache des Handelns verleiht den Texten          bei Schelling und Hegel die Dialektik, sozu-
von D die Gestalt erzählter Geschichten.          sagen die göttliche Vorsehung in neuer Ge-
Dadurch wird alles so schön eingängig. Er         stalt. Im Gegensatz zur biologischen Evoluti-
verdient als Mythenerzähler eine gepfefferte      onstheorie ist Entwicklung hier teleologisch
Mythenkritik, die diese illegitimen Anthro-       gedacht. Als Höherentwicklung zu dem Ziel
pomorphismen aufdeckt.                            der Vergeistigung.
Nun gibt es noch den umgekehrten Miss-            Das NT kennt den plötzlichen Anbruch einer
brauch der Sprache, den Technomorphismus.         Heilszeit, nicht aber den Gedanken einer suk-
Spätestens beim Wort „Menschenmaterial“           zessiven innergeschichtlichen Vergeistigung
wird’s ungemütlich. Weil wir in einer hoch-       und Vervollkommnung der Menschheit.
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                       13

Die idealistische Geschichtsphilosophie ist im     nicht. Darwin hat zwar die Unterscheidung
19 Jahrhundert noch einmal transformiert           von teleologischer und nichtteleologischer
worden, indem nun von Wissenschaft und             Entwicklung am Schluss der „Entstehung der
Technik erwartet wurde, dass sie die Mensch-       Arten“ etwas vernebelt. Es gibt eben nur Ver-
heit an das Ziel ihrer Vollendung führen wer-      vollkommnung in der Anpassung. Auch die
den. Der Marxismus ist wohl die wirkungs-          Zunahme von Komplexität wird nicht als Hö-
mächtigste Gestalt dieser Transformation.          herentwicklung (zu einem Zielpunkt hin),
Der Gedanke des Menschheitsfortschritts,           sondern als Anpassung erklärt. Die komplexe-
nach dem Europa die Spitze der Entwicklung         ren Lebewesen haben ja nicht die einfacheren
repräsentiert und von den anderen Erdteilen,       ausgemerzt. Es gibt nach wie vor Bakterien
wie ein Erwachsener von Kindern umgeben            und Insekten - mit grosser Konstanz über die
ist (Schiller), hat im Zeitalter des Kolonialis-   Zeiträume. In Darwins Theorie gibt es keine
mus die Legitimation dafür geliefert, dass         notwendige Höherentwicklung. Sie besteht,
man jene noch kindlichen Völker wie Kinder         grob gesagt, aus zwei Elementen: einem Zu-
behandeln müsse.                                   fallsprinzip und einem Ausleseprinzip.
Hannah Arendt: Eine „Zwischengeneration“           Zufallsprinzip: Mutation der Gene durch
würde an sich keine Bedeutung haben. Sie           Umweltbedingungen. Darwin bietet eine an-
würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die     dere Theorie als Lamark, der die Weitergabe
Stufe der nachfolgenden Generation wäre.           erworbener Eigenschaften postulierte. Diese
Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr       Art von Weitergabe ist typisch menschlich -
Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr         die kulturelle „Vererbung“ durch soziales
hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst.      Lernen. Aber daraus entstehen keine neuen
Nach Auschwitz und Hiroshima ist es schlicht       Gene. Wenn D behauptet (EG 361), „Zufall“
Wahrnehmungsverweigerung, einen unauf-             sei nur ein Wort, das unserer Unkenntnis
haltsamen moralischen Fortschritt der              Ausdruck verleihe, dann irrt er sich. Beobach-
Menschheit zu postulieren. D ficht das alles       tet wurde allerdings eine transspezifische Mu-
nicht an. Er vertraut dem ethischen Zeitgeist      tation - die Entstehung neuer Arten - aber
und sieht einen Fortschrittstrend, der sich        noch nicht. Das ist aber kein durchschlagen-
fortsetzt (GW 376). D ist im 19. Jahrhundert       der Einwand gegen die Theorie, weil sie mit
stehen geblieben. Am Terrorismus der RAF           riesigen Zeiträumen rechnet. Für Darwins
kann man studieren, wie das brennende Herz         Theorie ist charakteristisch, dass sie nicht die
für den Menschheitsfortschritt in Brutalität       Entstehung des Neuen, sondern seine Bewäh-
umschlagen kann.                                   rung oder Durchsetzung erklärt.
Auch die wachsende Anerkennung der Men-            Allaussagen als „Natur-Gesetze“ sind nur auf
schenrechte ist kein unerschütterlicher Besitz.    der Ebene der Selektion möglich, nicht auf
Niemand hat damit gerechnet, dass nach so          der Eben der Mutation und auf der Ebene des
vielen Jahren zivilisierter Verhältnisse in Ju-    Gesamtprozesses schon gar nicht, weil er eine
goslawien ein Bürgerkrieg mit Völkermord           Singularität darstellt.
ausbrechen werde. Den unstrittigsten Fort-         D meint, die Evolution sei ebenso eine wahre
schritt haben wir nur in Wissenschaft und          Tatsache, wie die Existenz Neuseelands (GW
Technik erreicht. Die sind aber ambivalent.        392). Dann lasst uns mal nach Evolutionien
Denn je mehr wir tun können, desto mehr            gehen. Die Evolution ist und bleibt die These
können wir auch falsch machen und um so            einer wissenschaftlichen Theorie. Sie wandelt
mehr plagt uns die Frage, was wir nun tun          sich nie in eine Tatsache. D hält es für mög-
sollen und was eben nicht.                         lich, dass eine Auslese zwischen verschiede-
                                                   nen Universen (GW 206) stattgefunden haben
Darwins Evolutionstheorie kennt diese Art          könnte. Bitte: um welches knappe Gut kon-
von Höherentwicklung nicht. Die Zweckmäs-          kurrieren dann diese Universen und wo? In
sigkeit wird nicht bestritten, auch das Staunen    einem gemeinsamen Superuniversum? Das
über solche Zweckmässigkeiten verbietet sich       hat die Multiversentheorie nie vorgesehen.
Richard Schröder: Abschaffung der Religion?                      14

Analog zum Rechtswesen kann man sagen,            4. Dawkins weltanschauliche Interpretati-
dass die Evolution auf einem Indizienprozess      on des Darwinismus
beruht und nicht auf einem Augenzeugenbe-         D möchte die Biologie vom Kopf auf die Bei-
richt. Es gibt aber auch Sachverhalte, die sich   ne stellen (EG 430). Damit wird die Frage:
bisher schwer erklären lassen: Die Rückbil-       Welche Funktion haben die Gene für das In-
dung der Augen bei Höhlentieren. Wie wird         dividuum,“ zur Frage: „Welche Funktion ha-
sie durch Mutation erklärt? Und zudem muss        ben die Individuen für die Gene?“ Die Ant-
diese zufällige Mutation einen Vorteil brin-      wort: Wir sind Wegwerf-Überlebens-
gen. Aber solche Fragen sind keine Gründe         Maschinen für die Gene. Eine praktische
gegen die Theorie, auch nicht die irreduziblen    Nutzanwendung dieser Umkehrung kann ich
Komplexitäten. Auch die Mehrfachentstehung        nicht erkennen. Sie würde lauten: Wie müssen
von Linsenaugen kann durch die zufällige          wir uns verhalten und die Individuen verän-
Mutation nur schwer erklärt werden.               dern, damit das den Genen den grössten Nut-
Darwin hat den Unterschied zwischen der           zen bringt?
natürlichen Zuchtwahl und der kulturellen         Wenn man die Wissenschaft um 180 Grad
Entwicklung sehr wohl gesehen. Er sah gute        umdreht, wird das Folgen für das Begriffsge-
Gründe, den Darwinismus nicht zu universali-      füge haben. Das widerfährt D nun ausgerech-
sieren. Zudem erklärte er ausdrücklich: „Ich      net mit dem Begriff des Gens.
sehe keinen vernünftigen Grund, warum die         Der zweite Verlust: Individualität und Be-
in diesem Werke entwickelten Ansichten ir-        wusstsein werden ihm zum Rätsel. Aus der
gendwie religiöse Gefühle verletzen sollten.“     Sicht der „Gene“ müssen die Individuen ihr
Mögliche atheistische Konsequenzen seiner         Verhalten möglichst effektiv auf die Verbrei-
Theorie haben ihn geplagt und nicht gefreut.      tung ihrer Gene ausrichten. Eine Mutter ist
Darwin bezog sich auf 1. Mo 1,24: „Die Erde       dann eine „Maschine, die so programmiert ist,
bringe lebende Wesen hervor.“ Gott benutzt        dass sie alles in ihrer Macht Stehende tut, um
die Sekundärursachen (seit Augustin werden        Kopien der in ihr eingeschlossenen Gene zu
damit dir innerweltlichen Ursachen gemeint).      verbreiten (EG 219). D radikale Ökonomisie-
                                                  rung des Tierverhaltens nach dem Massstab
Marx war zunächst von Darwin begeistert. Er       des egoistischen Gens bringt hier eher Ver-
bemerkte aber zutreffend, dass bei Darwin der     ständnisprobleme als Verständnisgewinn.
Fortschritt rein zufällig sei. Das konnte er      Zwar: für Konkurrenzverhalten im Tierreich
aber für seine Theorie des „notwendigen“          passt diese Interpretation. Wer Tiere genauer
Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialis-          beobachtet, findet aber nicht bestätigt, dass
mus gar nicht gebrauchen. Die Theorie von         ihr gesamtes Verhalten der effektivsten Ver-
Marx ist nichts anderes als Pseudotheologie,      breitung ihrer Gene unter jeglicher Vermei-
Er wollte, im Gefolge von Feuerbach, Hegel        dung von Verschwendung dient. Manchmal
vom Kopf auf die Füsse stellen. Wo Hegel          liegen sie einfach in der Sonne und man ist
Gott sagt, müsse man Mensch sagen. Damit          geneigt zu sagen, dass sie sich ihres Lebens
überfordert sich aber der Mensch. Ein Athe-       erfreuen. Es muss nicht alles, was Tiere tun
ismus, der die Stelle Gottes unbesetzt lässt,     den genetischen Erfolg begünstigen, um sie
statt den Menschen an seine Stelle zu setzen,     vor dem Aussterben zu bewahren, es genügt,
der die Menschen so nimmt, wie sie sind, ist      wenn ihr Tun den genetischen Erfolg nicht
humaner und koalitionsfähiger für einen           behindert, was ein gewaltiger Unterschied
Christen, wenn sich beide für die vielen klei-    ausmacht. Es gibt auch in der Tierwelt Raum
nen und möglichen Fortschritte einsetzen,         für Spiel, Neugier, Faulenzen und wohl auch
statt so oder so das Himmelreich auf Erden        interesseloses Wohlgefallen. Gott, heisst es in
erreichen zu wollen.                              Ps 104, habe den Wal geschaffen, um mit ihm
                                                  zu spielen. Man kann D so karikieren: Wozu
                                                  der Blinddarm bei Menschen gut ist, weiss ich
                                                  nicht, aber jedenfalls muss er einen geneti-
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