Richard Schröder: Abschaffung der Religion?
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Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 1 In seinem Buch „Das egoistische Gen“ (EG) I. „Eine Welt ohne Religion?“ meinte D: „Der Mensch ist eine Maschine, „Stellen wir uns doch mit John Lennon mal durch die Gene geschaffen, Behälter für unse- eine Welt vor, in der es keine Religion – kei- re Genkombination.“ Im Umgang mit anderen ne Selbstmordattentate ... mehr gibt“ (GW Menschen würden wir nie so sprechen. Das 12) 1 spricht nicht für die Theorie von D. Warum sich kein Mensch nur als Behälter versteht, 1. Déjà-vu: Atheismus einst und jetzt liegt darin, dass alle Menschen irgendwie den Der ganze Kommunismus vollzog sich unter Unterschied zwischen Person und Sache ken- Berufung auf die wissenschaftliche Weltan- nen. Anthropomorphismus nennt man die schauung des Marxismus-Leninismus. Das illegitime Personifizierung einer Sache. D tut war doch Pseudowissenschaft, wird man ein- ständig das Umgekehrte – die illegitime Ver- wenden. Das ist wohl wahr. Aber was folgt dinglichung von Personen – ein Technomor- daraus? Es gibt auch eine missbräuchliche phismus – eine Kategorienverwechslung. Berufung auf „die Wissenschaft“, mit der viel Die Proklamation eines radikalen Bruchs Unheil angerichtet werden kann. Der Mar- bringt den Vorteil, alles Übel den „anderen“ xismus verstand sich als einzig legitimer Erbe und der Vergangenheit anzulasten. Das tut D der Aufklärung. Offenbar gibt es auch eine ständig. Die Gefährlichkeit solcher Absolut- verfehlte, inhumane Berufung auf die Aufklä- heitsansprüche ist einerseits der Traditionsab- rung. Das spricht nicht gegen die Aufklärung, bruch. Dass gerade ein Darwinist ein Datum mahnt aber zur Vorsicht. Offenbar kann man proklamiert, vor dem alle Antworten falsch alles in der Welt missbrauchen, nicht nur die waren, muss zwiefach verwundern. (Wie er- Religion. Es kann nicht angehen, von einer klären wir, dass die Menschheit mit all ihren Welt ohne Religion zu schwärmen und ein- falschen Ansichten bis 1859 nicht ausgestor- fach zu übergehen, was im Namen des Athe- ben ist? Und wie erklären wir uns, dass ausge- ismus alles verbrochen wurde. rechnet die moderne Wissenschaft und die D (D) will damit sicher nichts zu tun haben – Möglichkeit der Selbstausrottung eröffnet sowenig ich mit den Kreuzzügen. Was habe hat? ich mit Selbstmordattentaten zu tun? Im Vorwort zu EG sagt Wolfgang Winkler, Die beiden dunklen Utopien des 20. Jahrhun- dass es der Schöpfung ohne den Menschen derts, George Orwells „1984“ und Aldous besser ginge. Gäbe es Menschen, die eine Huxleys „Schöne neue Welt“ spielen in einer Erde ohne Menschen beobachten könnten, Welt ohne Religion. würden sie zum Schluss kommen: „Es ist gut, D proklamiert (analog des Marxismus 1848 dass es uns nicht gibt.“ Winkler hat damit mal Manifest) einen revolutionären Bruch – 1859 eben schnell den Standpunkt Gottes einge- (Darwin). Es gehört schon einiger Hochmut nommen. Gott urteilt gnädiger. und Dünkel dazu, alles für wertlos zu erklä- Die andere Gefahr solcher Absolutheitsan- ren, was Generationen von Menschen früher sprüche im Namen der Wissenschaft ist die gedacht haben, die nicht dümmer waren als Enteignung der eigenen Erfahrung. „Lass dir wir. von mir im Namen der Wissenschaft erklären, D erhebt einen Absolutheitsanspruch, wie ihn was du bist und wie die Welt beschaffen ist.“ die christliche Theologie nie erhoben hat. Die hat nämlich nie bestritten, dass Nichtchristen Zur Behauptung, dass doch kein Atheist eine zu bewundernswerten Einsichten fähig sind Kirche platt walzen würde (GW 345) sei erin- (z.B. antike Philosophen). Und Aufklärung nert, dass Ulbricht in Leibzig Sprengstoff hat nur dort stattgefunden, wo es zuvor auch benutzte und Stalin 54'000 Kirchen schliessen eine Scholastik gab. liess – aber nicht alle sprengt. „Ich neige zur Vermutung, dass nur wenige 1 Richard D, Der Gotteswahn (2006), 5. Aufl. S. Atheisten im Gefängnis sitzen“ (GW 318). 12
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 2 D hat eine ausgeprägte Neigung zu Vermu- 2. Wissenschaft widerlegt Religion? tungen, so auch zu der, Atheisten seien gebil- D verwendet einen weiteren Singular: „die deter, intelligenter, nachdenklicher (GW 318). Wissenschaft“. Sie nämlich habe die Religion Nachdenklichkeit ist oft gepaart mit dem Sta- widerlegt. Echte Wissenschaftler sind also tus einer Minderheit. In einer atheistischen Atheisten. Unter Wissenschaft versteht er die Umgebung wären es die Glaubenden (vgl. Naturwissenschaften, die er zu einer universa- DDR). len Evolutionstheorie erweitert. Sehr verwun- Es gehöre Mut dazu, den Atheismus zu be- derlich ist, dass er offensichtlich den Gesell- kennen – ja, in einer atheistischen Gesell- schafts-, Kultur- oder Geisteswissenschaften schaft gilt das auch für die Glaubenden. keinen nennenswerten Beitrag zum Verständ- nis unseres Daseins zutraut. Er übergeht sie D hätte uns informieren müssen, dass er nicht einfach. Bei ihm hat sich die Biologie zur zu jeder Art von Atheismus bekehren möchte Allerklärungskompetenz verstiegen. Dazu – der Atheismus hat längst seine Unschuld muss er aber kräftig das Prinzip Hoffnung verloren, und zwar auf ähnliche Weise wie bemühen und auf ein Jenseits des gegenwärti- „die Religion.“ D hat den schmerzlichen gen Wissensstandes verweisen. „Wir sollten Schritt zu einer kritischen Sicht der Geschich- die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch in der te des Atheismus noch vor sich. Wenn es aber Physik noch ein besserer ‚Kran’ gefunden grundverschiedene Arten von Atheismus gibt, wird, der ebenso leistungsfähig ist wie der dann auch grundverschiedene Religionen – Darwinismus in der Biologie“ (GW 223). womöglich auch humane und gebildete. Gemeint ist ein Prinzip, das erklärt, wie aus Wenn es sein sollte, dann bricht die eine Front Einfachem Komplexes wird, ohne dass Höhe- zusammen: „Hier Atheismus, dort Religion.“ res (Gott als Schöpfer) im Spiel steht. Es eröffnet sich ein unüberschaubares Feld von Auseinandersetzungen zw. Verschiede- 3. Meme – eine naturwissenschaftliche Kul- nen Formen des Atheismus und der Religio- turtheorie nen. In der DDR formierte sich der Wider- D hat einen Einfall, wie die Kulturwissen- stand aus der Religion, nicht aus irgendeiner, schaften auf darwinistischen Vordermann sondern aus einer bestimmten. gebracht werden können – die Memtheorie D Singulare „der Atheismus“ und „die Reli- (Einheiten der kulturellen Vererbung GW gion“ sind sehr abstrakte Konstrukte. Duale 268). Meme springen von Gehirn zu Gehirn Konstrukte dieser Art passen besonders gut (EG 321). Geistige Atome möchte D nicht ins Freud-Feind-Schema, was nicht ganz einführen, damit bleibt aber unklar woraus die harmlos ist. Meme bestehen und wie sie sich reduplizie- Wenn D die religiöse Kindererziehung ren. Kindsmissbrauch nennt, ist ihm der Gedanke Ist die Memtheorie selbst auch ein Mem, das offenbar noch nie gekommen, dass Eltern jenseits von wahr und falsch wie ein Virus darunter leiden könnten, wenn ihre Kinder in von Hirn zu Hirn springt? Da beisst sich die der Schule atheistisch indoktriniert werden. Katze in den Schwanz. Aber Kinder im Status eines religiös unbe- Die Grundverkehrtheit dieser Idee liegt darin, schriebenen Blattes zu halten, eröffnet ihnen dass Kultur naturwissenschaftlich verstanden nicht die grosse Freiheit der Wahl, sondern wird. Das geht nicht. Das Umgekehrte ist verhindert sie. Es ist wie bei den Sprachen: vielmehr wahr: Die Naturwissenschaft ist ein Nur wer früh genug eine Muttersprache ge- Kulturphänomen. lernt hat, kann Fremdsprachen lernen und Alles Kulturelle (Sprache, Religion, Kunst, sogar die Muttersprache wechseln. Technik, Recht, Wissenschaft) wird gelernt und nicht vererbt. Obwohl sich nach D die Memtheorie in ihrem frühen Entwicklungsstadium befindet, schüt- telt er schon mal eine Liste religiöser Meme
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 3 aus dem Ärmel: „Ketzer, Gotteslästerer und Aus dieser Entdeckung können wir nicht er- Abtrünnige sollte man umbringen.“ (GW kennen, was lachen ist und wo es angebracht 279). Dass es in den ersten drei Jahrhunderten ist. Was Lachen ist, wissen wir aus unserer der Christenheit keine Ketzerverfolgungen lebensweltlichen Erfahrung. Hätten die Um- gab, und dass die Kritik an ihnen von Christen stehenden nicht aus Selbsterfahrung gewusst, stammt, die sich auf die Bibel bezogen, was Lachen ist, dann hätten sie gar nicht be- scheint ihm ebenso entgangen zu sein wie die merkt, dass die Patientin lacht. Tatsache, dass auch Atheisten blutige Verfol- Verstehen lässt sich nicht als physikalischer ger von atheistischen „Ketzern“ werden kön- Vorgang beschreiben, weil dann das Verstan- nen. Unter Stalin entstand ein offizieller Kata- dene oder der Inhalt nicht erfasst ist. Kant log von Ketzereien – diese waren in der DDR erkannte schon, dass man die Erkenntnisbe- bis 1989 noch in Geltung. ziehung nicht zum Erkenntnisobjekt machen kann. Man kann auch das Sehen nicht sehen, 4. Ich bin mein Gehirn sondern nur etwas. Weiter verbreitet als die Memtheorie ist die Da haben wir einen keineswegs übernatürli- Vorstellung, die das menschliche Bewusstsein chen Kandidaten für Unsichtbares: das Sehen mit dem Gehirn und seinen Aktivitäten identi- selbst. Auch Bedeutung hat ihr Sein nur im fiziert. Sie ist auch für D selbstverständlich. Bewusstsein. Die Biologie und der Darwi- Die Gehirnforschung kann immer nur physi- nismus übrigens auch. kalische oder biochemische Prozesse im Ge- An Tieren können wir einfache Formen von hirn registrieren und selbstverständlich keine Bewusstsein feststellen. Wir entdecken da Gedanken oder Gefühle. Welche Bewusst- etwas an den Tieren, das wir zuvor von uns seinsvorgänge den jeweiligen Gehirnaktivitä- selber kennen. Wie auch immer das Bewusst- ten entsprechen, das muss der Proband den sein entstanden sein mag – was es heisst, ein Forschern erzählen. Das Erlebte und Gedach- bewusstes Wesen zu sein, wissen wir jeden- te hat also weiterhin sein Sein im Bewusst- falls, aus Selbsterfahrung. sein. Wenn nun die Möglichkeit bestehen würde, Vor einiger Zeit wurde per Zufall das Lach- die Gedanken anderer zu lesen, dann müsste zentrum entdeckt (Izhak Fried, an der Univer- ein Gremium darüber entscheiden, wie weit sity of California, Gehirnregion mit Elektro- das mit den Persönlichkeitsrechten vereinbar den gereizt). Entdeckt wurde eine Gehirnregi- wäre. Diese Entscheidungen kann aber die on, die aktiv wird, wenn jemand lacht. Je- Gehirnforschung selber nicht leisten – sie mand kann vermutlich nicht lachen, wenn muss von einer anderen Art von Wissen diese Region beschädigt ist. Die Funktion stammen, als der Naturwissenschaft. D meint dieser Region ist also eine notwendige Vo- aber, dass „die Gehirnforschung einige allge- raussetzung (conditio sine qua non) für das meine ethische Regeln aufdeckt.“ (GW 309) Lachen, nicht aber zureichende Vorausset- „Die Ursache der Religion ist vielleicht die zung (conditio qua), denn die Patientin über- übermässige Aktivität irgendeines Gehirnare- raschte ja die Umstehenden durch ein Lachen als (GW 234).“ Damit könnte man den Athe- ohne Grund – genauer: bloss mit Ursachen im ismus durch einen kleinen Eingriff ins Gehirn Hirn, aber ohne Grund in der Welt. Und wenn befördern. Aber wie erklären wir uns Bekeh- wir nicht wüssten, dass es von den Elektroden rungen in die eine oder andere Richtung? Wa- stimuliert wurde, dann würden wir sie für rum bist du Atheist geworden? Weil die Reli- verrückt halten. gionsneuronen nicht mehr feuern? Warum Also: Ohne funktionierendes Gehirn können feuern sie denn nicht mehr? wir nicht lachen oder denken (conditio sine Ebenso schlecht wie das Bewusstsein durch qua non). Nicht conditio qua heisst: Das Ge- die Hirnforschung erschlossen werden kann, hirn alleine lacht nicht und verursacht allein kann man die Kultur durch Naturwissenschaft auch nicht das Lachen. erschliessen. Wir verstehen offenbar nichts von Musik, wenn wir sie nur physikalisch
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 4 betrachten und es ist eine Illusion, wenn je- Die NW beschränkt sich eben auf das Mess- mand meint, die vollendete Physik würde uns bare und was daraus gefolgert werden kann. dann auch Bachs Kunst der Fuge erschliessen. D meint alles mit dem Darwinismus erklären Ebenso absurd wäre die Erwartung, dass uns zu können – also das Komplexere aus dem die Spektralanalyse einen Zugang zur Malerei Einfacheren. Versuchen wir es mit seinem eröffnet. Konsequente Materialisten, wie D, Ansatz: Der Mensch hat sich aus dem Tier- haben hier jedenfalls ein Problem und benut- reich entwickelt. Wie steht es mit der Ver- zen dafür eher verschleiernde Begriffe wie: antwortung bei Tieren? Es findet sich hier Emergenz, Fulguration. So umschreiben Mo- Ähnliches bei der Brutpflege etc. Aber was nisten das jeweils neu Auftretende, das ihren machen wir gerade? Wir suchen Analogien Monismus gefährden könnte. Z.B. die Entste- bei den Tieren, für etwas, das wir aus der hung des Lebens, des Bewusstseins, der Kul- Menschenwelt kennen. Wir gehen rückwärts tur, der Genetik. Das Neue ist nämlich des- vom Komplexeren zum Einfacheren. Das halb neu, weil es sich nicht vollständig aus kann man ja machen. Man sollte aber nicht dem Bisherigen, dem Alten, ergibt, selbst vergessen, dass auf diesem Weg hin und zu- wenn es dieses zur Voraussetzung hat. D liebt rück zumeist Verluste entstehen, und die füh- aber Reduktionen des Neuen auf das Alte, das ren zu jenen Vereinfachungen, die vielen als seine Voraussetzung ist. Plausibilitätsgewinn gelten, oft aber nur Aus- blendungen sind. 5. Verantwortung – lebensweltlich und na- Bei ethischen Diskussionen ist es beliebt auf turwissenschaftlich verstanden die „Urhorde“ zu rekurrieren. Warum aber Naturwissenschaftlich geschulte Ärzte haben sollen Wesen, die noch nicht waren, was wir in den KZs Experimente an Menschen durch- heute sind, geeignet sein uns über uns besser geführt – es gab auch „verwertbare“ Resulta- zu belehren als wir über uns? Wir lernen auch te. Daher kann man nicht sagen, die Ärzte nicht viel, wenn wir zur Kutsche zurückkeh- hätten nur Pseudowissenschaft betrieben. D ren, aus der das Auto entstanden ist, wenn wir spricht den Religiösen Forscherdrang und einen Automotor untersuchen. Die Urhorde Neugier ab, Tugenden, die diese Ärzte durch- aber fasziniert. Wenn jemand vor Gericht aus hatten. Gerade wegen dieser Experimente gefragt wird, weshalb er seine Verantwortung wurde im Deutschen Grundgesetz der Artikel nicht wahrgenommen hat, helfen ihm Exkurse 1 der Menschenwürde aufgenommen. Men- ins Tierreich nicht. schenwürde ist aber mit keiner naturwissen- schaftlichen Methode feststellbar. Wenn sich Lebensweltliche Erfahrungen und naturwis- Naturwissenschaftler auf die Menschenwürde senschaftliche experimentelle Erfahrungen berufen, beweisen sie eigentlich, was keines sind also zwei paar Schuhe und die zweiten Beweises bedarf, nämlich, dass auch sie ande- setzen die ersten nicht ausser Kraft. Aber der res Wissen beanspruchen als nur das natur- Irrtum ist weit verbreitet. Das ist der Irrtum wissenschaftliche. einer „wissenschaftlichen Weltanschauung.“ In manchen Situationen erscheinen naturwis- Ihre Gefahr besteht in der Enteignung der senschaftliche Antworten geradezu als pein- lebensweltlichen Erfahrungen: Glaube nicht lich daneben: „Warum ist das Kind in den deinen Erfahrungen, glaube der Wissenschaft. Brunnen gefallen?“ „Wegen der Gravitation.“ Weder Verantwortung noch Unglück sind Verantwortung lässt sich nicht nach dem Termini der Naturwissenschaft. Sie gehören Schema Ursache-Wirkung hinreichend erfas- der Alltagssprache an, ohne die wir das, was sen. Man kann ja auch für die Unterlassung, hier interessiert, gar nicht besprechen könn- also das „Nicht-Wirken“ „zur Verantwortung ten. gezogen werden.“ Für den, der Verantwor- Daraus folgt nicht, dass die Naturwissenschaft tung wahrnimmt, ist die Welt teleologisch um eine Theorie der Verantwortung erweitert strukturiert, weil sie am gedeihen von Leben- werden sollte – das würde sie nur verderben, digem orientiert ist. Das Tun hat für ihn einen
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 5 Sinn, den er nicht selbst gemacht hat. Die Durch die heutige Nähe der verschiedenen Welt in der es Verantwortung gibt, ist nicht Religionen ergeben sich zwei Problemkreise sinnlos. Wer Verantwortung wahrnimmt, 1. Auf der Ebene des Zusammenlebens und kann dabei weder sich noch was er tut darwi- 2. auf der Ebene konkurrierender Wahrheits- nistisch verstehen. Er kann kein reiner Egoist ansprüche. aber auch kein Altruist sein, denn wer sich D bringt aber für beide Ebenen nichts Kon- ruiniert, kann keine Verantwortung mehr struktives – einige Bemerkungen lassen sogar wahrnehmen. Schlechtes ahnen. Bei der Verantwortung für die Schöpfung wirft D der Religion nicht vor, sie habe 1. Mo Zur politischen Ebene: 1,28 („macht die Erde untertan“) benutzt, um D schliesst, dass die Tolerierung normaler die Erde zu zerstören. Das würde seiner Religionen, auch Osama Bin Laden Tür und Hauptthese von der Wissenschaftsfeindlich- Tor öffne. keit der Religion widersprechen. Man merke: Wenn dem so ist, dann kann man auch Religionskritik ist nicht gleich Religionskri- schliessen, dass der Darwinismus der Rassen- tik. hygiene und Zwangssterilisation die Türen Nur Personen können Verantwortung tragen. öffne. Fast alles in der Welt kann missbraucht Wenn es Verantwortung geben soll, kann man werden. Daher sollten wir den sorgfältigen die Welt nicht dergestalt monistisch verste- Gebrauch vom Missbrauch klar unterschei- hen, dass das Individuum nur Instrument von den, statt mit aller Macht vom Gebrauch zu etwas anderem ist. Man kann auch nicht auf warnen. dem naturalistischen Feld vom Sein auf das Der Dreissigjährige Krieg ist nicht durch Ab- Sollen schliessen. Aus der naturwissenschaft- schaffung der Religion beendet worden, son- lichen Rekonstruktion der Wirklichkeit lässt dern dadurch, dass rechtliche Regeln gefun- sich keine Ethik ablesen. Die Welt, in der es den wurden, die die konfessionellen Gegens- Verantwortung gibt, ist mit den Methoden der ätze ausklammerten. Das Recht sollte nicht Naturwissenschaft schlechterdings nicht er- mehr die religiöse Wahrheit schützen, son- fassbar: Oder die Frage: „Was ist der dern die Personen mitsamt ihren Überzeugun- Mensch?“ lässt sich mit naturwissenschaftli- gen - deshalb Religionsfreiheit. Der damit chen Methoden nicht hinreichend beantwor- geforderte Respekt gilt der Person und des- ten. Das spricht nicht gegen die NW, wohl halb ihren Überzeugungen. Denn die Über- aber gegen den Wahn, ihr eine Allerklärungs- zeugungen gehören zur Person. Dieser Res- kompetenz zuzuschreiben. Auch Gerechtig- pekt findet überall auf der Welt seine Grenze keit, Frieden und Freiheit, Schuld und Verge- am Recht. Religions- und Gewissensfreiheit bung sind in unserer Lebenswelt von grosser findet ihre Grenze in dem Grundsatz, dass ich Bedeutung, aber für die Naturwissenschaften nicht anderen die Kosten dieser meiner Frei- schlechterdings unzugänglich. heit aufbürden darf. Auch Ds’ dritter Singular „die Wissenschaft“ D erwähnt das Gewissen nie. Selber nennt er pluralisiert sich. Es gibt verschiedene Wissen- sich Konsequentialist oder Utilitarist und schaften, die sich nicht zu einer Einheitswis- möchte alle ethischen Fragen nach dem Prin- senschaft vereinigen lassen. zip des Nutzens entscheiden (GW 420). Da- mit braucht er sich denn auch nicht über das 6. Pluralität der Religionen – wie gehen wir Gewissen Gedanken zu machen, denn Nütz- damit um? lichkeitsrechnungen kann man auch von ei- Religionen geben ganz verschiedene und ei- nem Computer erstellen lassen – vorausge- nander ausschliessende Antworten. Auch setzt, dass die Folgen unserer Handlungen wenn die Religionen abgeschafft werden exakt berechenbar sind. Kant war der Auffas- könnten, würden auf die diversen Lebensfra- sung, für solche Folgenprognosen sei unsere gen ganz verschiedene Antworteten gegeben Vernunft nicht erleuchtet genug. (vgl. Philosophie).
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 6 Kinder können noch nicht selber entscheiden, ihnen auch“ (Mt 7,12). Oft ist aber den Men- welche Ansichten sie über das Leben oder die schen diese Perspektive unzugänglich – wie moralischen Prinzipien haben sollen (GW bei einer Katze, die sich nicht in die Maus 471). Richtig. Deshalb beginnt die Religi- versetzen kann, ohne selber zu verhungern. onsmündigkeit erst mit 14. Kinder können Wenn diese Perspektive grundsätzlich unzu- aber auch nicht entscheiden, welche Sprache gänglich bleibt, dann wird Sicherungsverwah- sie sprechen wollen und ihre Eltern können rung unvermeidlich. sie auch nicht auswählen. Sie können aber nur dann eine Fremdsprache erwerben, wenn sie Beim Auftreten unterschiedlicher Ansichten zuvor ihre Muttersprache gelernt haben. gibt es grob zwei Erklärungsmuster. Gewiss sollen Eltern ihre Kinder nicht indokt- 1. Man kann die nicht geteilten Überzeugun- rinieren. Aber sie sollen sie an ihrem Leben gen eines anderen aus anderen Randbedin- teilnehmen lassen. Sie würden ihre Kinder um gungen, anderen Voraussetzungen oder der etwas betrügen, wenn sie ihnen vorenthielten, Unkenntnis bestimmter Sachverhalte herleiten was ihnen für ihr Leben wichtig ist. und kann annehmen, dass wir in der gleichen Lage ähnlich denken würden. Obwohl sich Zur Ebene der konkurrierenden Wahrheitsan- die Unterschiede nicht ausräumen lassen, sprüche: bleiben wir dennoch in einem gemeinsamen D möchte uns missionieren. Wer aber jeman- Verständigungsraum. den zum geistigen Wohnungswechsel animie- 2. Andererseits kann man auch die nicht ge- ren möchte, muss ihm eine bessere Wohnung teilten Überzeugungen auf einen Gehirnscha- anbieten. D Angebot sieht aber eher wie ein den oder eine Geisteskrankheit zurückführen. Abrissunternehmen aus. Was ein verblendeter Fanatiker zu einem Die Pluralität der Wahrheitsansprüche würde Sachverhalt verlauten lässt, ist dann nicht durch das Beseitigen der Religionen nicht mehr Zeugnis eines anderen Verstehens in auch verschwinden, sie würde als Pluralität einem gemeinsamen Verstehenshorizont, nichtreligiöser Weltanschauungen wiederkeh- sondern Wirkung einer Ursache, mit der wir ren. Aber es kann doch nur eine Wahrheit uns erklären, weshalb die Äusserung nicht zu geben. Richtig – anders vermögen wir gar verstehen ist. Wir sagen dann: Der spinnt. nicht konsistent zu denken. Dieser Erklärungstyp für die verschiedenen Diejenigen Sachverhalte, über die sich alle Auffassungen bedeutet immer Kommunikati- Menschen, die bei Verstand sind, unstrittig onsabbruch. einigen (wie der, dass zwei mal zwei vier ist), Es gibt aber keine feststehenden Grenzen, die haben leider für die relevanten Fragen der uns zeigen, wo man vom gemeinsamen Ver- Lebensführung die geringste Relevanz. stehenshorizont zur Erklärung durch äussere Es kann nur eine Wahrheit geben. Aber es Ursachen wechseln muss. Intensive Beschäf- gibt für uns Menschen nicht den absoluten tigung mit dem Gegenstand der Frage kann Standpunkt, von dem aus sich für uns die eine dazu führen, dass man einiges verstehen kann, Wahrheit als ein einheitliches Wissen von was andere nur als Blödsinn abtun. allem erschliesst, weil es für uns keinen vo- Am häufigsten erklären aber diejenigen je- raussetzungslosen Standpunkt gibt. Das wäre manden für verrückt, deren eigene Verste- nämlich der Standpunkt Gottes. Trotzdem hensmöglichkeiten beschränkt sind, die Fä- scheint mir D diesen Standpunkt zu beanspru- higkeit also, sich in andere Menschen zu ver- chen. setzen. Sie können sich nur mit Menschen Unser Erkennen ist immer perspektivisch. verständigen, die passgenau so denken wie Wir können aber die verschiedenen Perspek- sie. Damit tendieren sie aber zur fundamenta- tiven unterscheidend beschreiben. Beim inter- listischen Selbstisolierung. Die gibt es unter personalen Standpunkt vollzieht das Erkennen Religiösen wie Nichtreligiösen. das, was die Goldene Regel sagt: „Alles, was Es ist ein Gebot der Fairness, das sich aus der ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut Anerkennung anderer Menschen als meines-
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 7 gleichen ergibt, es so weit wie möglich mit 7. Eine absolute Grenze darwinistischer den Erklärungen des ersten Typs zu versu- Erklärungen chen. Wohlwollen ist das oberste methodische Wer alles mithilfe eines universalisierten Gebot der Hermeneutik und der schönste Er- Darwinismus erklären möchte muss doch folg ist der, jemanden besser zu verstehen, als immer eine Ausnahme machen, nämlich für er sich selbst verstand und ihm das vermitteln seine Erklärungen selbst. Die soll ja richtig zu können. oder wahr sein und dafür wird er Gründe an- D Erklärung der Religion ist nun eindeutig führen und Zustimmung erwarten. Sonst dem Typ 2 zuzuordnen. Es sind Erklärungen beisst sich die Katze in den Schwanz, wie für Religionsverächter – denn „Religion ist z.B: Die Erkenntnis, dass das Denken eine eine Fehlfunktion eines eigentlich nützlichen Eigenschaft der Materie ist, wiederum eine Mechanismus“ (GW 263). Er sucht daher Eigenschaft der Materie usw. oder: Das Ge- „das primitiv-vorteilhafte Merkmal ..., das hirn produziert die Gedanken und darunter manchmal falsch funktioniert und dann die auch den Gedanken, dass das Gehirn Gedan- Religion entstehen lässt“ (GW 242). Dazu ken produziert – das kann man dann aber müsse man einfach die richtige Frage stellen. auch für sich behalten, denn mein Gehirn Dieses Prinzip wendet er nun auf die Religion produziert eben nur meine Gedanken. an: Viele Antworten sind möglich, sie müssen Wer an Einsicht appelliert, setzt voraus, dass aber immer unter der Voraussetzung stehen, es Einsicht gibt. Wer für irgendeine Aussage dass Religion eine Fehlfunktion ist. Es gibt da Wahrheit beansprucht, muss voraussetzen, aber noch eine andere Ebene des Fragens: Ob dass es einsichtige Gründe gibt und nicht nur denn die Frage wirklich so gestellt werden wirkende Ursachen. muss. Die Entstehung der Genetik ist nicht das Re- In den Naturwissenschaften ist es berechtigt, sultat der natürlichen Selektion und schon gar nur solche Antworten zuzulassen, die den nicht einer genetischen Mutation. Sie das Er- Kriterien experimenteller Überprüfbarkeit gebnis sehr intensiver Forschungsarbeit. Wis- genügen. Im Feld interpersonaler Verständi- senschaft entzieht sich einfach einer darwinis- gung dagegen sind solche präjudizierenden tischen Erklärung. Aber wie ist sie dann ent- Fragestellungen gegebenenfalls inhumane standen? sophistische Fallen. D ist jede Antwort recht, Ausser der Materie und allem, was wir von wenn sie nur die Religion als Fehlfunktion ihr erforschen können, gibt es also mindestens entlarvt. noch den Forscher. Es gibt mindestens einen D möchte die Menschheit von der Krankheit „Gegenstand,“ auf den der Darwinismus nicht der Religion befreien. Wer eine Krankheit umstandslos anwendbar ist: den Darwinismus. bekämpfen will, der muss diese genau studie- Der versteht sich nämlich nicht als vom Se- ren. D Kenntnisse sind hier aber mehr als lektionsdruck Geschobener, sondern als der- dürftig. Er lässt ja nur Antworten zu, die zu jenige, der die Wirklichkeit erkennt, wie sie seiner Fragestellung passen (Was kann die wirklich ist, auch wenn er sich dabei kräftig Fehlfunktion der Religion erklären?). vertut. D findet es verschwenderisch, dass in den Nach D sind wir Genmaschinen und werden Religionen z.B. Kathedralen gebaut werden, als Memmaschinen erzogen, aber wir haben oder zeitaufwendige, Wohlstand verschlin- die Macht, uns unseren Schöpfern entgegen- gende Rituale gepflegt werden. Da ruft je- zustellen (EG 334). Woher wir diese wunder- mand den Darwinismus zu Hilfe für ein Prob- bare Macht haben, erklärt er uns nicht. Das lem, das er sich erst durch die Anwendung bleibt eine Behauptung ohne Kontext. Und es des Darwinismus auf die menschliche Kultur ist ein Perspektivenwechsel, von der techni- aufhalst. zistischen zur interpersonalen Perspektive. Denn von Befreiung können nur Personen reden und die sind immer Individuen. Sein
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 8 wenig überzeugendes Beispiel ist die Emp- zulässt, nämlich für sich, den Erklärer, der fängnisverhütung oder die Gentherapie. sich von seinen Schöpfern befreit. Für unsere genetische Veranlagung sind wir D hat noch das Bibelverständnis mit den Kre- nicht verantwortlich, wohl aber dafür, wie wir ationisten gemeinsam: Alles oder nichts von mit ihr umgehen. dem, was da zu lesen ist, müsse gelten. Daher Dass es in der Geschichte kein Beispiel für findet er, die Bibel sei nicht jugendfrei. Er reinen Altruismus gegeben habe, ist auch eine behauptet nun, es gebe kein Kriterium für die starke These, von der ich gerne wüsste, wie Auswahl, also müsse ein Christ alles oder sie bewiesen werden kann. nichts für verbindlich halten. (GW 328f., 336, Gar nicht verständlich ist die These, dass wir 365). Da irrt er sich. etwas zuwege bringen können, „für das es in Auswahlkriterien gibt es nicht – wir sind ja der Natur keinen Raum gibt“ – wo dann gibt nicht im Supermarkt – aber Auslegungsrich- es einen Raum dafür? tungen und Fokussierungen gibt es in der Bi- Mein hoher Respekt vor den Naturwissen- bel selbst. Wenn Jesus sagt, dass das Gesetz schaften gilt der Sorgfalt, mit der sie unter und die Propheten im Doppelgebot der Liebe streng definierten Voraussetzungen ihre For- zusammengefasst seien (Mt 22,27f.), oder schung betreibt. Was D hier vorträgt, verdient Paulus „die Liebe als des Gesetzes Erfüllung solchen Respekt nicht. Das ist unreflektierte nennt“ (Rö 13.10), dann ist das eine radikale materialistische Pseudometaphysik, und zwar Absage an jede Kasuistik. eine inkonsistente, die uns erst zu Produkten So fundamentalistisch wie die Christen nach egoistischer Gene und Meme erklärt und dann D sein müssten, können also nicht einmal die den Aufstand gegen unsere Schöpfer prokla- fundamentalistischsten Christen sein, da auch miert. für sie der Neue Bund den Alten neu interpre- D unterscheidet also sehr wohl zwischen Ma- tiert. Seltsam, dass jemand, der als Darwinist terie und Bewusstsein, nämlich zweifach: 1. zu Recht darauf besteht, dass auch die Natur Die Evolution begünstigt nicht die Naturwis- eine Geschichte hat, blind dafür ist, dass die senschaft und 2. Wir können uns von unseren Bibel eine Geschichte Gottes mit den Men- Schöpfern befreien. Nun hat D aber erklärt, schen präsentiert. dass jene, die diesen Unterschied machten, Ds’ hermeneutische These „alles oder nichts Dualisten seien. Dann ist er aber an diesem muss gelten“ kann ich mir nur so erklären, Punkt selber einer. dass er die Bibel mit einem Gesetzestext ver- Das Ich mit Namen D, das denkt, es könne wechselt. Doch auch die Juristen brauchen sich von der Tyrannei der Gene befreien, die- eine Hermeneutik – wenn dem nicht so wäre, ses Ich erklärt, Individuen seien keine Einheit. könnte ein Computer Recht setzen. Es ist eben sehr wohl eine Einheit. Die „alles oder nichts“ Hermeneutik schafft ein sehr schlichtes Diskriminierungsinstru- 8. Im Osten liest sich manches anders ment: Wer nicht jedem Satz der Bibel die D schrieb sein Buch nicht für den deutschen Geltung eines Gesetzesparagraphen zuspricht, Leser. Er schreibt gegen die Kreationisten im ist ein Heuchler, denn er glaubt nicht, was in amerikanischen Kulturkampf. Aber wer sich der Bibel steht. in einen Gegner allzu sehr verbeisst, steht Auch denkt er wie die Kreationisten, die ja immer in der Gefahr, ihm ähnlich zu werden. glauben, dass die Bibel kosmologische Hypo- Sowohl die Kreationisten, wie auch D, sind thesen von sich gebe. geschichtsblind und inkonsequent. Die Krea- Der 11.9. ist für D nicht Anlass, die christli- tionisten, welche Atomstrom beziehen und chen und muslimischen Fundamentalisten in doch die Gesetze der Physik ablehnen. D ist einen Topf zu werfen, nein, er bracht den inkonsequent, weil er wie jeder vernünftige 11.9. als Argument gegen alle Religion. Mensch, schliesslich doch faktisch eine Aus- Bürgermeister im Osten von Deutschland nahme vom naturwissenschaftlichen Erklären werden wenig Verständnis für die Gefahr der Religion aufbringen. Sie bemerken, dass die
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 9 Kirche sich gerade gegen den aufkeimenden sierte Verfahren zur Feststellung von Regel- Rechtsextremismus wendet. D wird sagen, mässigkeiten (Gesetzmässigkeiten) in der mit denen habe ich nichts zu tun. Ja, aber er Natur und Gesellschaft, dann ergibt sich: Die ist Utilitarist oder Konsequentialist und möch- so verstandene Wissenschaft kann zwar unser te die Moral der Handlungen ausschliesslich Verfügungswissen erweitern, aber doch keine nach ihren Wirkungen beurteilen. Solche Ziele setzen. Wir erfahren durch sie, was wir Wirkungen hat er nicht beabsichtigt. Wer aber tun können, nicht aber, was wir tun sollen. Es erklärt, dass die Nächstenliebe in uns eine kommt nach dieser Methode nie eine Ethik, Fehlfunktion ist, schiebt vergeblich nach, dass also eine Lebensorientierung zustande. das nicht abwertend gemeint sei. Der normale Wissenschaft liefert Beiträge, aber keine hin- Leser findet Sein wichtiger als Meinen: Du reichenden Antworten auf die Frage, wie wir bist ein Esel, aber das ist nicht beleidigend uns selbst zu verstehen und miteinander um- gemeint. zugehen haben. 3. Perspektiven auf Religion II. Religion - ein widerborstiges Es gibt die Binnensicht und die Aussensicht. Phänomen Binnenperspektive: Die Religionskritik muss nicht atheistisch sein, es gibt auch die religiö- 1. Definitionsprobleme se Religionskritik, und das heisst ja immer 2. Wortgeschichte auch Selbstkritik. Die Schrift ist Instanz der Religio in der lateinisches Umgangssprache Selbstkritik. Sie muss einerseits unter gewan- bezeichnet ein bestimmtes Verhalten: Res- delten Umständen interpretiert werden, inter- pekt. Daher kam das Wort ursprünglich nur pretiert aber andererseits immer auch selbst im Singular vor. diejenigen, die sich dieser Norm verpflichtet Die christliche Glaubensvorstellung wird zu wissen. Beginn der Neuzeit durch drei Erfahrungen Von Seiten eines atheistischen Humanismus problematisiert: wird gern der Satz von Marx in Anspruch a) die Erfahrung mit der Pluralität christlicher genommen, dass der Mensch für den Men- Konfessionen, schen das höchste Wesen sei. Das kann be- b) die Erfahrung mit Fremdreligionen und deuten: Es kann und soll für den Menschen c) die Religionskritik der europäischen Auf- keine Ziele geben, die Menschenopfer for- klärung dern. Wenn sich der Mensch aber selber für Zu b): Wie verhält sich der Plural zum Singu- das höchste Wesen hält (ein Satz der in lar. Die Aufklärung kam auf den Gedanken, merkwürdigem Kontrast steht zu der materia- man könne allen Streit in Religionssachen listischen These, dass der Mensch bloss ein durch Vernunft beilegen, indem man hinter Tier sei und das Bewusstsein nichts anderes den faktisch existierenden Religionen das als eine Funktion strukturierter Materie), dann Vernünftige, die eine natürliche oder Ver- findet diese These Widerspruch in vielen Re- nunftsreligion rekonstruiert. Dies ist aus zwei ligionen, deren Lebenspraxis voraussetzt, dass Gründen gescheitert: Keine dieser Konstrukte der Mensch darin seine Würde findet, dass sie einer Vernunftsreligion hat je gemeinschafts- etwas Höheres als sich selbst anzuerkennen bildende Kraft entfaltet. Und bei näherem vermögen. Hinsehen erwiesen sich diese Konstrukte im- Aussenperspektiven erfolgen immer dem mer als ein Destillat aus einer bestimmten Schema: x ist von y abhängig. Deshalb setzt Religion, nämlich der christlichen. jedes Erklären eine Entscheidung darüber Zu c): Die Vorstellung einer wissenschaftli- voraus, was als Konstante, was als Variable in chen Weltanschauung hat ihre Plausibilität Betracht kommt. verloren. Versteht man nämlich unter Wissen- Leistung der Religion: Kontingenzbewälti- schaft nicht mehr, wie noch Hegel, das Wis- gung: Sie kann sozial stabilisierend wirken, sen vom Ganzen, sondern das institutionali- indem sie einen gewissen gesellschaftlichen
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 10 Konsens liefert, sie kann für den Einzelnen Publikum ist keine Gemeinde. Ausserdem sozial integrierend wirken, aber auch biogra- wird ein erheblicher Teil des kulturellen Ge- phisch stabilisierend, indem sie namentlich dächtnisses verloren gehen. den Umgang mit Grenzerfahrungen (Krank- b) Mit der Religion würde die religiöse Ein- heit, Tod, Versagen, Schuld und Verzweif- sicht in den Zusammenhang von Sünde, lung) orientieren. Mehr als „die Religionen Schuld und Vergebung verschwinden, eine können ...“ kann aber nicht gesagt werden. Einsicht, die, von ihrem religiösen Zusam- Denn Religion ist ein ambivalentes Phäno- menhang gelöst, allzu leicht zu Menschenver- men. Religionen können auch missbraucht achtung führt und immer eine latente Gefahr werden. Es gibt eben nicht nur nette Religio- für den atheistischen Humanismus darstellt, nen. Es gibt auch destruktive Religiosität der an das Gute im Menschen glaubt, aber (Voodoo, Okkultismus, Satanskulte etc.). sich ein Äquivalent für Gottes Barmherzigkeit Nun gibt es aber auf dem Feld unserer grund- nicht beschaffen kann. legenden Lebensorientierungen kein rationa- c) Mit der Religion würde Gott als die untrüg- les Verfahren zur definitiven Klärung aller liche Instanz menschlicher Letztverantwor- anstehenden Fragen. Es sind also immer auch tung verschwinden. Entscheidungen gefragt. Doch wie entschei- d) Mit der Religion würde ein nicht ersetzba- den? Alle Religionen auszuprobieren, dazu rer Grund der Dankbarkeit verschwinden, fehlt uns die Lebenszeit. Die Extensität des einer Dankbarkeit, die die Wahrnehmung des Probierens geht auf Kosten der Intensität. Selbstverständlichen intensiviert und das menschliche Tun entlastend und in den Status 4. Religionen und Sprachen der Antwort statt der prometischen Selbst- 5. Zur Zukunft der Religionen schöpfung entlässt. Vermutlich werden die grossen Religionen e) Es würde ein Grund zur Gelassenheit und aufgrund des Bevölkerungswachstums mehr Zufriedenheit verschwinden, als unerschütter- zunehmen als die Gruppe der Atheisten. Die licher Hintergrund in vielen Unzufriedenhei- Migration wird den Trend zu Mischformen ten. der Religionen vermutlich verstärken. Beson- f) Es wäre die Verheissung verschwunden ders bei Jugendlichen wächst die Tendenz, von der Auflösung aller Widersprüche, die, sich die eigene Religion zu stricken. wenn sie hier und jetzt gefordert wird, zerstö- Der Fundamentalismus ist als Reaktion auf rerisch wirkt. die Entfremdung durch die Moderne zu ver- stehen. Es gibt aber nicht „die fundamentalis- tische Religion,“ sondern nur fundamentalisti- III. Wissen, Meinen, Glauben - Ein- sche Versionen von Religionen. übung ins Unterscheiden 6. Lässt sich die Religion durch Ethik er- 1. Orientierungs- und Verfügungswissen setzen? Menschen möchten sich in der Welt zurecht- Es geht um die Frage, ob etwas Unersetzbares finden, sie möchten sich aber auch vor Gefah- verschwindet, wenn Religion verschwindet. ren schützen und sich beschaffen, was sie a) Es wäre die Art der Vergewisserung unse- zum Leben brauchen. Daraus ergeben sich res Weltaufenthaltes durch Geschichten, ge- zwei verschiedene Erkenntnisinteressen und meinschaftliche Handlungen und Vollzüge, zwei verschiedene Arten des Wissens. Jürgen Feiern und Feste im Kreise Gleichgesinnter, Mittelstrass prägte dafür die Begriffe: Orien- die Intensivierung durch Wiederholung, die tierungswissen und Verfügungswissen. heimisch werden lässt in einer Überlieferung, Verfügungswissen ist das know how das zum das Gespräch mit den Vorgängern im Glau- Ziel führt. Aus dem Orientierungswissen er- ben, die in Texten und Liedern präsent sind. geben sich die Ziele, für die wir unser know how einsetzen. Eine jeweilige Zuordnung ist aber gar nicht so einfach. Nicht einmal die
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 11 Wissenschaften kann man leicht einordnen. Faktoren begrenzt und erfassbar sein müssen. Man kann Geisteswissenschaften sicher eher Deshalb ist es für einen Physiker nicht vo- beim Orientierungswissen anordnen. Philoso- raussagbar, was geschieht, wenn ich einen phie ist dann Reflexion über das Orientie- Stein in eine Scheibe werfe. rungswissen. Auch lehrt die Theologie nicht den Glauben. Sie ist Lehre über den Glauben. Und wie steht das Experiment zu unserem Der Glaube wird hier reflektiert. Religion ist Leben? Es gibt Menschen, die mal dies und ein ambivalentes Phänomen. Sie kann miss- mal jenes ausprobieren. Aber Orientierungs- braucht werden. Daher ist Reflexion dringend wissen, das ein freies Leben ermöglicht, wird nötig. nicht durch Experimente gewonnen, es muss Fazit: Wissenschaften sind für unser Orientie- vielmehr diejenigen Experimente ausschlis- rungswissen nicht die originäre Quelle. Wir sen, die uns der Freiheit berauben. gewinnen es zunächst durch Lebenserfahrung Experimentell gewonnene Erkenntnis nennen und Kommunikation. wir objektiv, weil sie unter den gleichen Be- dingungen von jedem wiederholt und über- 2. Wissen, Experimentieren, Glauben prüft werden kann. Es hat sich eingebürgert, Was ist ein Experiment? Kant hat ganz richtig alles andere Wissen als subjektiv zu bezeich- gesehen, dass die experimentierende Natur- nen. Dabei schwingt immer auch das Relative wissenschaft nicht ein voraussetzungsloses oder Beliebige mit. Sich-Umsehen in der Natur ist, sondern mit Es gibt aber noch ein drittes Wissen, das we- starken Voraussetzungen arbeitet. Sie sucht der objektiv noch subjektiv ist, das aber auch Bestätigung für Gesetzmässigkeiten, die sie nicht durch Experimente gewonnen werden zuvor entworfen hat. Das Experiment bestä- kann: Das Wissen aus interpersonalen Erfah- tigt sie oder nicht, aber sie gehen nicht aus rungen. D amüsiert sich über die Trinitätsleh- dem Experiment hervor. Die Natur erscheint re (GW 49; 280). Gottes Trinität bleibt aber wie der Angeklagte, dem der Richter vor- für Christen auch dann noch ein Geheimnis, schreibt, worauf und wie er zu antworten hat, wenn sie sie verstehen. Das unterscheidet das nämlich ausschlisslich mit messbaren Daten. Geheimnis vom Rätsel. D möchte alles als Wer dagegen der Natur zubilligt, nicht nur als Rätsel sehen. Angeklagte, sondern auch als Lehrerin spre- Auch Schlager bewegen sich meist auf der chen zu dürfen, kann von der Natur noch ganz interpersonalen Ebene. Da redet man von anderes erfahren, das Kant in einem anderen Wundern. Altagssprachlich meint Wunder Zusammenhang (Kritik der Urteilskraft) auch nicht die Durchbrechung der Naturgesetze, gewürdigt hat: Schönheit, Erhabenheit, Na- sondern die Durchbrechung trüber, pessimis- turabsichten und auch: “Die Himmel rühmen tischer Erwartungen. „Das ist ein Wunder, des Ewigen Ehre.“ dass du heute mal nicht zu spät kommst.“ Damit liegen die Grenzen der experimentellen Auch das Wort Glauben kommt nicht so sel- Methode bei den Singularitäten. Sie lassen ten in der Schlagern vor: Ich glaube an dich. sich nicht als solche experimentell erforschen, D erklärt: „Atheisten haben keinen Glauben“ weil die Experimente jederzeit wiederholbar - (GW 73). Dann kann er sich nicht einmal sei- überprüfbar sein müssen. Nun besteht aber nes Geburtstags sicher sein. Er war zwar da- das ganze Weltgeschehen aus singulären Er- bei, muss aber trotzdem denen glauben, die eignissen und ist auch als Ganzes singulär. den Geburtstag bezeugen. Experimentell lässt sich also nur das Konstan- Im Deutschen unterschieden wir: „Ich glaube te überprüfen. etwas oder dass ...“ und „ich glaube dir“. Damit fällt dieser Typ der Wissensgewinnung Glauben dass ... bezieht sich auf einen Sach- für Politik und Zukunftsplanung weitestge- verhalt und bedeutet „vermuten.“ Es gibt hend aus. Hochkomplexe Fragen lassen sich Sachverhalte, die wir grundsätzlich nicht si- schwer experimentell erforschen, weil in ex- cher wissen können, wie die Zukunft. Wenn perimentellen Situationen die einwirkenden wir uns verlaufen haben, fragen wir einen
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 12 Ortskundigen und glauben ihm. Dieser Glau- technisierten Welt leben, erscheinen uns tech- be kann nicht durch Wissen überboten wer- nomorphe Begriffe oft sehr plausibel: Das den. Glaube als interpersonales Geschehen Gehirn als Computer. Dass wir Menschen uns wird durch das Einfordern von Beweisen zer- am besten über den Umweg unserer mechani- stört. schen Produkte erkennen können, ist eine In der Polemik gegen den Glauben sollte zu- seltsame Erwartung. Es sind diese tech- mindest unterschieden werden zwischen et- nomorphen Metaphern, die suggerieren, hier was vermuten und jemandem vertrauen – werde etwas Kompliziertes endlich einmal Glaube in der objektivierenden und der inter- verständlich. In Wahrheit stolpert D über sei- personalen Dimension. Die interpersonale nen Metaphernsalat, ohne es zu merken. Ich Perspektive ist D offenbar verschlossen – zähle das zum modernen Priesterbetrug der wenn er schreibt. Denn im Lebensvollzug Priester der Wissenschaft. wäre er längst vereinsamt. Unter Seele haben die Alten das verstanden, Mit dem Unterschied von objektivierender was der Leiche fehlt. Bei Tieren ist das Le- und interpersonaler Perspektive ist das Prob- bendigkeit und die Intentionalität, beim Men- lem des Anthropomorphismus verbunden. D schen zudem Bewusstsein. Dass der Leiche praktiziert durchwegs eine andere Art von etwas fehlt, kann doch wohl schlecht bestrit- Anthropomorphismus. Er spricht von Begrif- ten werden. Und was ihr fehlt, ist jedenfalls fen wie von handelnden Personen. „Die Evo- nicht ein Stück des Körpers. lution hat ...“ Und er wird böse, wenn man diese Redeart kritisiert – der habe wohl zuviel 3. Evolution, Fortschritt, Fortschritte Philosophie studiert. Es ist aber unzweifelhaft Entwicklung kann man teleologisch sehen, so, dass nur Personen egoistisch sein können, zielgerichtet. Als Stufenmodell in der Zeit weil nur sie auch anders können – und nicht hielt dieses Denkmodell Einzug in die Ge- die Gene. D behauptet, er könne alles, was er schichtsphilosophie. In Lessings „Erziehung in bildlicher Sprache formuliert hat, in die des Menschengeschlchtes“ wird das Men- Sprache der „Realität“ übersetzen (EG 166). schengeschlecht wie ein Individuum verstan- Nun verfügt die Biologie gar nicht über eine den, das einen Prozess der Entwicklung, wie exakte Formelsprache (wie die Chemie oder vom Kinde zum Erwachsenen durchläuft. Die Physik). Sie gehört nicht zu den mathemati- Vollendung - Vergeistigung - wird im kom- schen Naturwissenschaften. Solche Formel- menden Zeitalter des Geistes erwartet (bezo- sprachen schützen dank sie davor, dass sich gen auf Joachim von Fiore 1130-1202). Nach heimlich die Teleologie einschleicht. Darwi- Lessing ist es Gott der die Menschheit zu sich nisten haben es da schwerer. Sie müssen sich führt. Derselbe Grundgedanke spielt bei Her- der Alltagssprache bedienen, aber alle zweck- der, Schelling und Hegel die entscheidende orientierten Wendungen vermeiden – Z.B. Rolle und begründet die Geschichtsphiloso- alle Verben, die ein handelndes Subjekt vo- phie des deutschen Idealismus. Durch dieses raussetzen (arbeiten, erkennen, zählen ...) und Ziel wird die Geschichte als Ganzes zum Got- Wörter „Zweck“, „damit“ ... Der hemmungs- tesbeweis. Die Logik, nach der sich diese lose Gebrauch einer anthropomorphistischen Selbstentfaltung des Absoluten vollzieht, ist Sprache des Handelns verleiht den Texten bei Schelling und Hegel die Dialektik, sozu- von D die Gestalt erzählter Geschichten. sagen die göttliche Vorsehung in neuer Ge- Dadurch wird alles so schön eingängig. Er stalt. Im Gegensatz zur biologischen Evoluti- verdient als Mythenerzähler eine gepfefferte onstheorie ist Entwicklung hier teleologisch Mythenkritik, die diese illegitimen Anthro- gedacht. Als Höherentwicklung zu dem Ziel pomorphismen aufdeckt. der Vergeistigung. Nun gibt es noch den umgekehrten Miss- Das NT kennt den plötzlichen Anbruch einer brauch der Sprache, den Technomorphismus. Heilszeit, nicht aber den Gedanken einer suk- Spätestens beim Wort „Menschenmaterial“ zessiven innergeschichtlichen Vergeistigung wird’s ungemütlich. Weil wir in einer hoch- und Vervollkommnung der Menschheit.
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 13 Die idealistische Geschichtsphilosophie ist im nicht. Darwin hat zwar die Unterscheidung 19 Jahrhundert noch einmal transformiert von teleologischer und nichtteleologischer worden, indem nun von Wissenschaft und Entwicklung am Schluss der „Entstehung der Technik erwartet wurde, dass sie die Mensch- Arten“ etwas vernebelt. Es gibt eben nur Ver- heit an das Ziel ihrer Vollendung führen wer- vollkommnung in der Anpassung. Auch die den. Der Marxismus ist wohl die wirkungs- Zunahme von Komplexität wird nicht als Hö- mächtigste Gestalt dieser Transformation. herentwicklung (zu einem Zielpunkt hin), Der Gedanke des Menschheitsfortschritts, sondern als Anpassung erklärt. Die komplexe- nach dem Europa die Spitze der Entwicklung ren Lebewesen haben ja nicht die einfacheren repräsentiert und von den anderen Erdteilen, ausgemerzt. Es gibt nach wie vor Bakterien wie ein Erwachsener von Kindern umgeben und Insekten - mit grosser Konstanz über die ist (Schiller), hat im Zeitalter des Kolonialis- Zeiträume. In Darwins Theorie gibt es keine mus die Legitimation dafür geliefert, dass notwendige Höherentwicklung. Sie besteht, man jene noch kindlichen Völker wie Kinder grob gesagt, aus zwei Elementen: einem Zu- behandeln müsse. fallsprinzip und einem Ausleseprinzip. Hannah Arendt: Eine „Zwischengeneration“ Zufallsprinzip: Mutation der Gene durch würde an sich keine Bedeutung haben. Sie Umweltbedingungen. Darwin bietet eine an- würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die dere Theorie als Lamark, der die Weitergabe Stufe der nachfolgenden Generation wäre. erworbener Eigenschaften postulierte. Diese Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Art von Weitergabe ist typisch menschlich - Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr die kulturelle „Vererbung“ durch soziales hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst. Lernen. Aber daraus entstehen keine neuen Nach Auschwitz und Hiroshima ist es schlicht Gene. Wenn D behauptet (EG 361), „Zufall“ Wahrnehmungsverweigerung, einen unauf- sei nur ein Wort, das unserer Unkenntnis haltsamen moralischen Fortschritt der Ausdruck verleihe, dann irrt er sich. Beobach- Menschheit zu postulieren. D ficht das alles tet wurde allerdings eine transspezifische Mu- nicht an. Er vertraut dem ethischen Zeitgeist tation - die Entstehung neuer Arten - aber und sieht einen Fortschrittstrend, der sich noch nicht. Das ist aber kein durchschlagen- fortsetzt (GW 376). D ist im 19. Jahrhundert der Einwand gegen die Theorie, weil sie mit stehen geblieben. Am Terrorismus der RAF riesigen Zeiträumen rechnet. Für Darwins kann man studieren, wie das brennende Herz Theorie ist charakteristisch, dass sie nicht die für den Menschheitsfortschritt in Brutalität Entstehung des Neuen, sondern seine Bewäh- umschlagen kann. rung oder Durchsetzung erklärt. Auch die wachsende Anerkennung der Men- Allaussagen als „Natur-Gesetze“ sind nur auf schenrechte ist kein unerschütterlicher Besitz. der Ebene der Selektion möglich, nicht auf Niemand hat damit gerechnet, dass nach so der Eben der Mutation und auf der Ebene des vielen Jahren zivilisierter Verhältnisse in Ju- Gesamtprozesses schon gar nicht, weil er eine goslawien ein Bürgerkrieg mit Völkermord Singularität darstellt. ausbrechen werde. Den unstrittigsten Fort- D meint, die Evolution sei ebenso eine wahre schritt haben wir nur in Wissenschaft und Tatsache, wie die Existenz Neuseelands (GW Technik erreicht. Die sind aber ambivalent. 392). Dann lasst uns mal nach Evolutionien Denn je mehr wir tun können, desto mehr gehen. Die Evolution ist und bleibt die These können wir auch falsch machen und um so einer wissenschaftlichen Theorie. Sie wandelt mehr plagt uns die Frage, was wir nun tun sich nie in eine Tatsache. D hält es für mög- sollen und was eben nicht. lich, dass eine Auslese zwischen verschiede- nen Universen (GW 206) stattgefunden haben Darwins Evolutionstheorie kennt diese Art könnte. Bitte: um welches knappe Gut kon- von Höherentwicklung nicht. Die Zweckmäs- kurrieren dann diese Universen und wo? In sigkeit wird nicht bestritten, auch das Staunen einem gemeinsamen Superuniversum? Das über solche Zweckmässigkeiten verbietet sich hat die Multiversentheorie nie vorgesehen.
Richard Schröder: Abschaffung der Religion? 14 Analog zum Rechtswesen kann man sagen, 4. Dawkins weltanschauliche Interpretati- dass die Evolution auf einem Indizienprozess on des Darwinismus beruht und nicht auf einem Augenzeugenbe- D möchte die Biologie vom Kopf auf die Bei- richt. Es gibt aber auch Sachverhalte, die sich ne stellen (EG 430). Damit wird die Frage: bisher schwer erklären lassen: Die Rückbil- Welche Funktion haben die Gene für das In- dung der Augen bei Höhlentieren. Wie wird dividuum,“ zur Frage: „Welche Funktion ha- sie durch Mutation erklärt? Und zudem muss ben die Individuen für die Gene?“ Die Ant- diese zufällige Mutation einen Vorteil brin- wort: Wir sind Wegwerf-Überlebens- gen. Aber solche Fragen sind keine Gründe Maschinen für die Gene. Eine praktische gegen die Theorie, auch nicht die irreduziblen Nutzanwendung dieser Umkehrung kann ich Komplexitäten. Auch die Mehrfachentstehung nicht erkennen. Sie würde lauten: Wie müssen von Linsenaugen kann durch die zufällige wir uns verhalten und die Individuen verän- Mutation nur schwer erklärt werden. dern, damit das den Genen den grössten Nut- Darwin hat den Unterschied zwischen der zen bringt? natürlichen Zuchtwahl und der kulturellen Wenn man die Wissenschaft um 180 Grad Entwicklung sehr wohl gesehen. Er sah gute umdreht, wird das Folgen für das Begriffsge- Gründe, den Darwinismus nicht zu universali- füge haben. Das widerfährt D nun ausgerech- sieren. Zudem erklärte er ausdrücklich: „Ich net mit dem Begriff des Gens. sehe keinen vernünftigen Grund, warum die Der zweite Verlust: Individualität und Be- in diesem Werke entwickelten Ansichten ir- wusstsein werden ihm zum Rätsel. Aus der gendwie religiöse Gefühle verletzen sollten.“ Sicht der „Gene“ müssen die Individuen ihr Mögliche atheistische Konsequenzen seiner Verhalten möglichst effektiv auf die Verbrei- Theorie haben ihn geplagt und nicht gefreut. tung ihrer Gene ausrichten. Eine Mutter ist Darwin bezog sich auf 1. Mo 1,24: „Die Erde dann eine „Maschine, die so programmiert ist, bringe lebende Wesen hervor.“ Gott benutzt dass sie alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Sekundärursachen (seit Augustin werden Kopien der in ihr eingeschlossenen Gene zu damit dir innerweltlichen Ursachen gemeint). verbreiten (EG 219). D radikale Ökonomisie- rung des Tierverhaltens nach dem Massstab Marx war zunächst von Darwin begeistert. Er des egoistischen Gens bringt hier eher Ver- bemerkte aber zutreffend, dass bei Darwin der ständnisprobleme als Verständnisgewinn. Fortschritt rein zufällig sei. Das konnte er Zwar: für Konkurrenzverhalten im Tierreich aber für seine Theorie des „notwendigen“ passt diese Interpretation. Wer Tiere genauer Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialis- beobachtet, findet aber nicht bestätigt, dass mus gar nicht gebrauchen. Die Theorie von ihr gesamtes Verhalten der effektivsten Ver- Marx ist nichts anderes als Pseudotheologie, breitung ihrer Gene unter jeglicher Vermei- Er wollte, im Gefolge von Feuerbach, Hegel dung von Verschwendung dient. Manchmal vom Kopf auf die Füsse stellen. Wo Hegel liegen sie einfach in der Sonne und man ist Gott sagt, müsse man Mensch sagen. Damit geneigt zu sagen, dass sie sich ihres Lebens überfordert sich aber der Mensch. Ein Athe- erfreuen. Es muss nicht alles, was Tiere tun ismus, der die Stelle Gottes unbesetzt lässt, den genetischen Erfolg begünstigen, um sie statt den Menschen an seine Stelle zu setzen, vor dem Aussterben zu bewahren, es genügt, der die Menschen so nimmt, wie sie sind, ist wenn ihr Tun den genetischen Erfolg nicht humaner und koalitionsfähiger für einen behindert, was ein gewaltiger Unterschied Christen, wenn sich beide für die vielen klei- ausmacht. Es gibt auch in der Tierwelt Raum nen und möglichen Fortschritte einsetzen, für Spiel, Neugier, Faulenzen und wohl auch statt so oder so das Himmelreich auf Erden interesseloses Wohlgefallen. Gott, heisst es in erreichen zu wollen. Ps 104, habe den Wal geschaffen, um mit ihm zu spielen. Man kann D so karikieren: Wozu der Blinddarm bei Menschen gut ist, weiss ich nicht, aber jedenfalls muss er einen geneti-
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