Die Welt als zu bereisender Katalog. Enumerative Verfahren der Reiseliteratur bei Adam Olearius, Johann Wolfgang Goethe und Otto Julius Bierbaum

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pen          Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 61–84

Björn Weyand

Die Welt als zu bereisender Katalog.
Enumerative Verfahren der Reiseliteratur bei Adam Olearius,
Johann Wolfgang Goethe und Otto Julius Bierbaum

I. Einleitung: Im Reisebüro.

       „Haben Sie schon mal an die Kanaren gedacht? […] Die Leute denken selten an die Kanaren…
       Eine Inselgruppe vor der afrikanischen Küste, vom Passatwind und dem Kanarenstrom beein-
       flusst; ganzjährig mildes Wetter. Ich kenne Kunden, die haben da im Januar gebadet… […] Wir
       hätten da ein Sonderangebot für das Bougainville Playa. 3290 Franc die Woche, alles inklusi-
       ve, Abflug von Paris am 9., 16. und 23. Januar. Vier-Sterne-Hotel, landesüblich. Zimmer mit
       voll eingerichtetem Bad, Föhn, Klimaanlage, Telefon, TV, Minibar, Privattresor gegen Gebühr,
       Balkon mit Poolblick (oder Meerblick gegen Aufpreis). 1000 m2-Schwimmbecken mit Whirl-
       pool, außerdem Sauna, Hammam, Work-Out-Area. 3 Tenniscourts, 2 Squashfelder, Minigolf,
       Tischtennis. Tanzdarbietungen, Ausflüge ab Hotel (Programm vor Ort erhältlich). Unfall- und
       Reiserücktrittskostenversicherung eingeschlossen.“
       Ich musste einfach fragen: „Wo ist das?“
       „Lanzarote.“1

Mit diesem Beratungsgespräch in einem Reisebüro beginnt Michel Houellebecqs Erzählung
Lanzarote, die im Jahr 2000 nach Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen gleich-
zeitig in Frankreich und Deutschland erschien. Wie die meisten von Houellebecqs Prota-
gonisten ist auch dieser autodiegetische Erzähler vereinzelt, gelangweilt, desillusioniert und
trägt den Vornamen des Autors, wodurch seine misanthrope, misogyne, islamophobe und
rassistische Weltsicht um eine autofiktionale Dimension verschärft wird. Kurzentschlossen
entscheidet sich Michel Mitte Dezember 1999, im „erstbeste[n] Reisebüro“2 einen Urlaub
zu buchen, da „mein Weihnachtsfest wahrscheinlich ein Reinfall sein würde – wie üblich“.3
   Die aufzählenden Ausführungen der Mitarbeiterin über das Hotel Bougainville Playa
führen mitten hinein in die eng verflochtenen Beziehungen, die zahlreiche reiseliterarische
Texte seit der Antike zu enumerativen Schreibweisen unterhalten.4 Mit dem Schiffskatalog
im Zweiten Gesang von Homers Ilias5 wird diese Tradition begründet, in der Frühen Neu-
zeit setzt sie sich in den reisepraktischen Apodemiken fort und gestaltet sich mit den im

1 Houellebecq (2000, 10 f.).
2 Houellebecq (2000, 7).
3 Houellebecq (2000, 7).
4 Zur Gattung und Geschichte des Reiseberichts Brenner (1990), zur reiseliterarischen Relevanz von Katalogen
  Ette (2020, 133).
5 „Führer der Schiffe nenn ich nur und alle die Schiffe“, heißt es einleitend in eine Liste, die sich auf über 250
  Verse erstreckt (Homer [2020, V. 494–759]); sie bildet gewissermaßen den Prototyp literarischer Kataloge, vgl.
  Fasbender (2007), Asper (1998, 915), von Wilpert (2001). Eco (2011, 6) bezeichnet den Schiffskatalog als
  „Vorbild und Modell der Liste überhaupt“.

© 2022 Björn Weyand - http://doi.org/10.3726/92171_61 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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19. Jahrhundert aufkommenden Reisekatalogen warenförmig aus, deren Ära gegenwärtig –
wie sich parallel hierzu an der Einstellung des Ikea-Warenkatalogs zeigt – an ein Ende
gelangt.6 Die Aufzählung der Ausstattungsmerkmale des Bougainville Playa in Houelle­
becqs Lanzarote gleicht einer Auflistung, wie sie in einem der ausliegenden Reisekataloge
zu finden sein könnte, die Michel vor dem Gespräch im Reisebüro einsammelt. Damit wird
die gesprochene Rede der Mitarbeiterin unmerklich in einen schriftsprachlichen Diskurs
überführt, was spätestens durch die in Klammern gesetzten Ergänzungen auch vom Text
kenntlich gemacht wird. Das führt die mediale Gebundenheit von Listen und Katalogen
vor Augen.
   Der folgende Beitrag nimmt – nach einem kurzen kulturwissenschaftlichen Vorlauf zum
Katalog (II.) – drei reiseliterarische Texte und ihr Verhältnis zu enumerativen Verfahren in
den Blick: Mit der Gottorfischen Kunst=Kammer (1666/1674) legt der Hofgelehrte Adam
Olearius einen Katalog des Wunderbaren vor, der zahlreiche Objekte präsentiert, die Ole-
arius von seiner Reise nach Persien mitgebracht und in der Wunderkammer auf Schloss
Gottorf ausgestellt hat (III.). Einen Gegenentwurf zu den Reisehandbüchern seiner Zeit
und deren Listen liefert Johann Wolfgang Goethe 1816/17 in der Italienischen Reise (IV.).
Dem Goethe’schen Ideal verpflichtet, aber den Bedingungen des Tourismus ausgesetzt,
schreibt Otto Julius Bierbaum die Yankeedoodle=Fahrt (1910), in der das Programm einer
Pauschalreise eigene Listen erzeugt (V.). Alle drei Reisenden erleben die Welt auf ihre Art
als einen zu bereisenden Katalog – und entwickeln aus dieser Erfahrung höchst unter-
schiedliche Schreibweisen.

II. Zwischen Enzyklopädie und Detail: Kataloge als ein Grundmodell der Kulturwissenschaf-
ten. Auch wenn der ‚Katalog‘ weder zu den Ästhetischen Grundbegriffen zählt noch einen
Platz zwischen ‚Katachrese‘ und ‚Katharsis‘ im Metzler Lexikon Literatur- und Kultur-
theorie findet,7 bildet er nicht nur ein traditionsreiches literarisches Verfahren, sondern
geradezu ein Grundmodell der Kulturwissenschaften. In seinem einschlägigen Essay
Das Plebiszit der Verbraucher (1962) unterzieht Hans Magnus Enzensberger den Necker-
mann-Versandkatalog einer literaturkritischen Rezension und attestiert ihm: „Ein Ethno-
loge aus dem Jahr 3000 könnte aus diesem Katalog genauere und fruchtbarere Schlüsse
auf unsere Zivilisation ziehen als aus unserer ganzen erzählenden Literatur“.8 Mit den
Warenkatalogen, die seit 1900 aufkommen, erhalten die rein textuellen Kataloge der Li-
teratur eine kulturhistorisch beachtliche Konkurrenz, wie im Zusammenhang mit Bier-
baums Yankeedoodle=Fahrt zu sehen sein wird. Doch bereits die literarischen Kataloge
stellen „einen Grenzfall von Text“ dar, insofern ihre Elemente durch Graphiken, Tabellen
etc. ersetzt werden könnten – oder Streichungen zum Opfer fallen. So fehlt in gekürzten
Ausgaben der Ilias oft genug gerade der Schiffskatalog, ungeachtet seiner literarhistori-
schen Gründungsfunktion.9

6 , zuletzt: 7.6.2021.
7 Vgl. Barck u. a. (2010), Nünning (2004).
8 Enzensberger (1962a, 138).
9 Ba ßler (1996, 135). Zur Kürzung vgl. exemplarisch Homer (1950).

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    Mit Blick auf die katalogartigen Texturen, die in der Literatur des Historismus und der
literarischen Moderne Konjunktur haben, hat Moritz Baßler eine strukturalistische Defi-
nition des Katalogs vorgeschlagen. Ein Katalog ist demzufolge „die tendenziell vollständige
Anordnung aller Lexeme eines gegebenen Paradigmas im Syntagma schlichter Reihung
und damit wohl die einfachste Textur überhaupt.“10 Baßler begreift den Katalog dabei sy-
nonym als „Liste von Begriffen, die einen gegebenen Oberbegriff nach einer vorgegebenen
Ordnung vollständig explizieren“.11 Nach diesem Verständnis des Katalogs als einer bloßen
Aufzählung zusammengehöriger Begriffe besteht seine „semantische Leistung“ einzig im
Denotat.12 Semantische Zusammenhänge zwischen den Lexemen entstehen hingegen
nicht, und ihre Anordnung erscheint angesichts der Gleichwertigkeit aller Listenelemente
willkürlich. Doch gerade dadurch verspricht der Katalog eine positivistische „1:1-Abbildung
der Welt“, und diese macht „im wahrsten Sinne des Wortes lesbar, was in einer gegebenen
Kultur für äquivalent genommen wird“.13 Kataloge erscheinen mithin „als Schlüssel zu
einer Poetik oder Rhetorik von Kultur“.14
    Für eine kulturwissenschaftliche Lektüre stellen Kataloge und Listen eine ergiebige
Quelle dar. Ihre Faszinationskraft übt, so zumindest beurteilt sie Umberto Eco, einen
„unwiderstehlichen Zauber“ aus.15 Während Baßler die tendenzielle Vollständigkeit zum
Kriterium des Katalogs erhebt, grenzt Eco den Katalog dagegen von der in sich geschlossenen
Form ab und kehrt damit seine Unabgeschlossenheit hervor, die „das Unendliche geradezu
physisch fühlbar“ mache.16 Beiden Auffassungen ist gemein, dass Kataloge und Listen einen
mannigfaltigen Ausschnitt der inner- und/oder außerliterarischen Wirklichkeit wiederge-
ben. Dabei lässt sich der Grad an Welthaltigkeit dieser Verfahren methodisch durch die
Unterscheidung zwischen einerseits historistischen oder enzyklopädischen Katalogen und
andererseits rhetorischen Katalogen fassen,17 die einander auch durchkreuzen und überla-
gern können. Dass Kataloge die Welt durch die Enumeration und Benennung einzelner
Elemente darstellen, macht sie wertvoll für eine am Detail interessierte Kulturwissenschaft,
deren Tradition von Walter Benjamin über Roland Barthes bis zu Stephen Greenblatt und
zahlreichen anderen reicht.18 Kataloge stellen eine spezifische Verbindung von Makro- und
Mikroperspektive her, und die Fülle an aufgeführten Details eröffnet die Möglichkeit,
die Aufmerksamkeit zwischen den einzelnen Elementen und ihrem Zusammenspiel hin-
und herspringen zu lassen. Die Form der Liste und die Anordnung des Aufgelisteten sind
dabei – anders als von Baßler angenommen – keineswegs willkürlich, sondern können im
Gegenteil von eigenem ästhetischem Wert sein. Sabine Mainberger streicht heraus, dass jeder
Aufzählung „an der Stelle, wo sie auftaucht, eine jeweils genau zu bestimmende rhetorische

10   Ba ßler (1996, 134).
11   Ba ßler (1996, 134).
12   Ba ßler (1996, 134).
13   Ba ßler (2005, 135, 227).
14   Ba ßler (2005, 227).
15   Eco (2011, 18).
16   Eco (2011, 17), Herv. i. O.
17   Vgl. Ba ßler (1996, 137, 140 f.).
18   Zum Detail in den Kulturwissenschaften vgl. Weigel (2004, bes. 7–63), Weyand (2006).

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oder ästhetische Funktion“ zukommt.19 Aufzählungen „lassen sich […] nicht ersetzen“20 –
sie sind in ihrer Vielfalt, auch ihrer formalen Vielfalt, zu beschreiben.
   Auch deshalb sind die verschiedenen Verfahren des Enumerativen zu differenzieren. In
Abgrenzung zur weitgehend synonymen Verwendung von Katalog, Liste und Aufzählung
bei Eco und Baßler21 schlage ich für die Kataloge und Listen seit der Frühen Neuzeit zu
heuristischen Zwecken eine mediengebundene Unterscheidung vor. Aufzählung dient hierbei
als Oberbegriff für die Vielfalt verschiedenster enumerativer Verfahren.22 Listen stellen eine
besondere, klassifikatorische Form der Aufzählung dar, die durch Schriftgebundenheit
und relative Standardisierung, aber auch durch spezifische Graphien und eine Nähe etwa
zu Tabellen gekennzeichnet ist und historisch auf langen, schmalen Trägerstreifen notiert
wurde.23 Als „columnenförmige[s] verzeichniss[] von personen oder sachen irgend einer art“
gelangt das ursprünglich althochdeutsche Wort lîsta über den Umweg der romanischen Spra-
chen im 17. Jahrhundert wieder zurück ins Deutsche, wo es zunächst im kaufmännischen
Kontext Verwendung findet und sich von hier aus bald ausbreitet.24 Unter einem Katalog ist
idealiter ein in sich geschlossenes und geordnetes Werk mit einem übergreifenden Thema
zu verstehen, das in Buchform vorliegt und Listen und Aufzählungen enthalten kann.25
   Zwar heißt es noch im fünften Band von Johann Heinrich Zedlers Großem Vollstän-
digem Universal Lexikon 1733 unter dem Stichwort ‚Catalogus‘ recht allgemein: „eine
Rede, die in einer Ordnung zusammen hengt. lt. Ein Aufsatz, Register, oder Verzeichniß
gedruckter Bücher oder anderer Sachen“.26 In der einige Jahrzehnte später begonnenen
Oekonomisch-technologischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz zeigt sich jedoch
eine deutliche kulturgeschichtliche Verschiebung. Anstelle eines eigenen Eintrags zum
Katalog finden sich in anderen Artikeln zahlreiche Erwähnungen etwa von Verlags- und
Messkatalogen, aber auch Sammlungskatalogen von Museen. Unter dem Eintrag ‚Univer-
salkatalog‘ wird erläutert:

        ein allgemeiner Katalog entweder über eine Bibliothek oder über eine Sammlung von Kunst-
        gegenständen. Die Anfertigung eines solchen erfordert, wenn sie systematisch sein soll, große
        literarische oder artistische Kenntnisse, weshalb Männer, die damit ausgerüstet sind, und sich
        dieser gewiß nicht sehr angenehmen und höchst beschwerlichen Arbeit unterziehen wollen,
        sehr gesucht sind. Soll ein Katalog seinem Zweck entsprechen, so müssen die Bücher nach den
        verschiedenen Disciplinen, und jede Disciplin nach den einzelnen Unterabtheilungen, diese aber
        wiederum nach der historischen Entwicklung der Wissenschaft oder überhaupt des Materials,
        welches sie behandeln, geordnet sein. Bei Kunstkatalogen ist auf die Sonderung der Schulen auf

19 Mainberger (2003, 9).
20 Mainberger (2003, 9).
21 Die „Form der Darstellung […], [die] nicht abgeschlossen ist in einer Form […][,] wollen wir Liste, Aufzählung
   oder Katalog nennen“, so Eco (2011, 17). Ba ßler definiert den Katalog wie oben zitiert als eine Liste von
   Begriffen.
22 Zu dieser Vielfalt auch Mainberger (2003, 6 ff.).
23 Zur Schriftgebundenheit vgl. Mainberger (2003, 5 f.), Goody (2012, bes. 346–354, 384–396), zum materiellen
   Träger Grimm (2021).
24 Grimm (2021).
25 Die epischen Kataloge bzw. Katalogverse der antiken Literatur bleiben von der hier vorgeschlagenen Terminologie
   unberührt.
26 Zedler (1733, 1413–1414).

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       die strenge Scheidung der Originale von den Copieen, auf die mehr oder weniger gute Erhaltung
       etc. zu sehen. Es gehört dazu neben dem gründlichsten Kunststudium ein sehr geübtes Auge. Es
       giebt auch Cataloge über Sammlungen jeder anderen Art z. B. über Mineralien, Schmetterling=,
       Käfersammlungen, Gewehr=, Münz=, Antiquitätensammlungen und dergl. Ein jeder fordert
       eine specielle Kenntniß, weil sonst eine so heillose Verwirrung entstehen würde, daß keiner sich
       herauszufinden vermöchte.27

Damit tritt die Mediengebundenheit von Katalogen als eine gängige Praxis der Wissens- und
Objekterfassung in Buchform hervor, die bei Krünitz unter dem Vorzeichen seines eigenen
aufklärerischen Enzyklopädieprojekts nicht zufällig unmittelbar dem Eintrag ‚Universal-
lexicon‘ voransteht. Im übertragenen Sinne erweisen sich katalogisierende Verfahren durch
Abgeschlossenheit, Anordnung und thematischen Zusammenhang bis in die Gegenwart
für museale Ausstellungen als konstitutiv, die dementsprechend in der Regel mit einer
Katalogpublikation einhergehen.28
   Mit Jack Goody können Listen hinsichtlich ihrer Funktion in retrospektive, prospektive
und lexikalische Listen unterschieden werden, je nachdem, ob sie Gegebenes aufzeichnen
und inventarisieren, als Führer oder Plan für künftige Handlungen dienen oder sich zu
historischen Vorformen von Wörterbüchern und Enzyklopädien ausweiten, die neue
Denkweisen und Wissensformen etablieren.29 Diese funktionale Differenzierung lässt sich
auf Kataloge übertragen und ist für die Reiseliteratur insofern bedeutsam, als Reisen und
Schreiben eng mit dem Erwerb und der Vermittlung von Wissen und Bildung, aber auch
mit Praktiken der Kanonisierung und Normierung verbunden sind.30

III. Adam Olearius’ Katalog des Wunderbaren: Die „Gottorfische Kunst=Kammer“. Besucher
des Schlosses Gottorf konnten Mitte des 17. Jahrhunderts eine ganze Fülle von Objekten
bewundern, die „theils die Natur / theils künstliche Hände hervorgebracht und bereitet“31
hatten: Die unter Herzog Friedrich III. begründete und von seinem Hofgelehrten Adam
Olearius betreute Wunderkammer versammelte zahlreiche Naturalia, Ethnographica,
Artificialia und Scientifica, darunter Tierpräparate, Waffen, Kunstwerke, Uhren, Kabi-
nettschränke und Skulpturen.32 Den Grundstock der Sammlung bildete die berühmte
Naturalien- und Antiquitätensammlung des niederländischen Arztes Bernhard Paluda-
nus, die Friedrich III. 1651 erworben hatte und die von Adam Olearius erweitert wur-
de.33 Maßgeblich durch Olearius’ Wirken entwickelte sich der Gottorfer Hof zu einem
frühneuzeitlichen „Knotenpunkt für die Vermittlung von Wissen über die außereuro-
päische Welt“,34 und die Bekanntheit der Gottorfer Wunderkammer machte diese für

27   Krünitz (1848, 476).
28   Zu Katalogtexten und zum Verhältnis von Katalog und Museum vgl. Schmitz-Emans (2019, bes. 716, 722).
29   Goody (2012, 346 f.).
30   Zum Verhältnis von Reisen und Wissen vgl. Bies, Košenina (2014), Holdenried, Honold, Hermes (2017,
     13), zu Normierungen und Kanonisierungen des Reisens Schaffers (2018) sowie die Beiträge in Schaffers,
     Neuhaus, Diekmannshenke (2018).
31   Olearius (1674, Titelblatt).
32   Vgl. Bischoff, Hill (2012, 686).
33   Vgl. Bischoff, Hill (2012, 686), Olearius (1674, Vorrede).
34   Bischoff, Hill (2012, 683), zur herausragenden Bedeutung von Olearius vgl. Baumann, Köster, Kuhl (2017).

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Reisende zu einer eigenen Attraktion. Diejenigen jedoch, „so das Glück nicht haben dahin
zu gelangen“, sollten zumindest „keine geringe Ergetzung“ darin finden, „wenn sie die
frembden Sachen mit Figuren abgezeichnet sehen und beschrieben lesen können“.35 Zu
diesem Zweck fertigte Olearius die Gottorfische Kunst=Kammer an, einen Katalog mit
einer Auswahl an Objekten, der zunächst 1666 in einem separaten Text- und einem Band
mit Kupferstichen erschien und 1674 in einer einbändigen Text-Bild-Ausgabe neu aufge-
legt wurde.
   Das Titelblatt der Gottorfischen Kunst=Kammer kündigt an, Dinge zu zeigen, die „[a]us
allen vier Theilen der Welt zusammen getragen“ wurden.36 In seiner Vorrede erklärt Olearius
allerdings, dass er für diese erste Zusammenstellung „nur / was theils ich selbst aus den
Orientalischen Ortern mitgebracht / theils bey andern angezogenen Autoren befindlich /
Summarischer Weise eingeführet“.37 Damit können die Gottorfische=Kunstkammer und die
darin versammelten Objekte nicht nur als Katalog der Wunderkammer, sondern darüber
hinaus als ein retrospektiver Katalog zu Olearius’ Gesandtschaftsreise nach Moskau und
Persien gelesen werden und treten somit ergänzend zu seinem 1647 gedruckten Reisebericht
Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Reise hinzu,38 auf die das Kunstkam-
merbuch wiederholt verweist.
   Die 36 Tafeln der Gottorfischen Kunst=Kammer zeigen jeweils ein bis dreizehn taxono-
misch zusammengehörige, nummerierte Objekte, die als Einzelobjekte auf freiem Hinter-
grund neben- und/oder übereinander angeordnet sind: So versammeln die Tafeln Schlangen
und Würmer (Tabula XI.), Vögel (Tabula XIII.), gehörnte Käfer (Tabula XVI.), Schnecken
und Muscheln (Tabulae XXIX.–XXXIII.), Pflanzen und Früchte (Tabulae XVIII., XIX.),
Seegewächse (Tabula XXXV.), gemaserte Hölzer (Tabula XX.), aber auch „Bilder, welche
durch gemahlte Früchte die Vier Zeiten des Jahres abbilden“,39 und bei denen es sich um
Kopien von Giuseppe Arcimboldos Gemäldeserie handelt (Tabula V.), sowie Tiere, die
„die vier Elementa bedeuten“40 sollen (Tabula VIII.). Die einzige Ausnahme von dieser
Präsentationsform bildet die Tabula I, die in einer szenischen Darstellung Menschen in
Kleidung der „Orientalischen und Nordischen Völcker“41 zeigt. Damit sind die tabulae den
enumerativen Tafeln der knapp hundert Jahre später erscheinenden Encyclopédie von Denis
Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert vergleichbar, die allerdings den Anteil an
szenischen und erklärenden Tafeln deutlich erhöhen und diese Darstellungsformen auch
miteinander kombinieren.42 Die in der Gottorfischen Kunst=Kammer gezeigten Objekte wer-
den im begleitenden Text erläutert, der durch die enumerativen Zwischentitel TABULA I.
bis TABULA XXXVI. unterteilt ist, unter denen wiederum in arabisch nummerierten
Listeneinträgen die einzelnen Objekte benannt und beschrieben werden.

35   Olearius (1674, Vorrede).
36   Olearius (1674, Titelblatt).
37   Olearius (1674, Vorrede).
38   Olearius (1647).
39   Olearius (1674, 6).
40   Olearius (1674, 8).
41   Olearius (1674, 3).
42   Vgl. hierzu exemplarisch die Tafeln zum Druckwesen in Darnton (1993, 183, 187, 207).

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   So zeigen die Tabulae IX. (vgl. Abb. 1) und X. eine Reihe von Hörnern, die im Text wie
folgt aufgelistet und bezeichnet werden:

       TABULA IX.
       Num. 1. Ist ein Einhorn / so 8. Fuß 4. Zoll lang ist / bey welchem noch zwey kleinere sich befin-
       den von fünfftehalb und von 3. Fuß 3. Zoll / fast so weiß als Elfenbein / und seynd von Natur
       gedrehet. […]
       Num. 2. Seynd Hörner von einem Elend / Alces, so grösser und stärcker als ein Hirsch. […]
       Num. 3. Seynd Hörner von einer Gems / Rupicapra genant / so sich im Schweizer=Gebirge
       häuffig finden lassen. […]
       Num. 3. 4. 5. [sic!] Seynd Rhinocer Hörner / deren gröstes gar ungemein und 3. Fuß lang ist. […]
       Num. 7. Diese Hörner seynd von einem Bezoar Bocke / in welchem der Bezoar Stein gefunden
       wird. […]
       Num. 8. Ist ein Horn vom wilden Ochsen / der an Gestalt als ein Hirsch sich befindet / hat das
       Horn mitten aufm Kopffe / wächset eine Hand hoch erst als ein einzeln Horn / und ergeust sich
       hernach in etliche Enden. […]
       Num. 9. Ist ein Horn von einem Onagro oder wilden Indianischen WaldEsel / das einig mitten
       an der Stirn stehet / und daher wol könnte ein Einhorn genant werden / wie es / als obgedacht /
       von den 70. Interpretibus hat wollen für das Reem angesehen werden. […]43

                         Abb. 1: Aus der Gottorfischen Kunst=Kammer (1674).

43 Olearius (1674, 9–15).

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Schematisch liefert die Liste nach jeder Nummer eine Bestimmung des Objekts. In den
hier ausgelassenen Passagen folgen ausführlichere Erläuterungen zur Gestalt, Herkunft oder
Beschaffenheit der Objekte, aber auch, wie im Falle des Einhorns, zum Wahrheitsgehalt
der zugeschriebenen Eigenschaften. Unter Num. 1. führt Olearius aus:

        Daß aber solche Hörner sollten von einem vierfüssigem Thiere seyn / so man Einhörner nennet /
        in Grösse und Gestalt eines jungen Pferdes / so in den Orientalischen Ländern in den Wildnissen
        sich auffhalten sollen / wie die Alten darvon geschrieben / ist nicht wol zu gläuben. Wiewol es
        von langen Zeiten her dafür gehalten / und solche Hörner von vornehmen Herrn und Potentaten
        theur an sich gekaufft / und als ein überaus köstlicher Schatz verwahret worden.
        Es wird disputiret / ob auch in der Welt solche Thiere / nemblich Einhörner / zu finden oder ge-
        wesen seynd / weil zu unser Zeit / da die Welt doch ziemlich durchgewandert / keines von jemand
        gesehen / und davon Bericht gethan worden. Gleichwol aber findet man in der Bibel / daß an un-
        terschiedlichen Orten der Einhörner gedacht / und Gleichnisse darvon genommen worden. Als im
        4. Buch Mos. Cap. 33 V. 17. Seine Hörner seynd wie Einhorns Hörner. Joh. 39. V. 12. Meynestu
        das Einhorn wird dir dienen / und werde bleiben an deiner Krippen. Psalm 22. V. 22. Errette mich
        von den Einhörnern. Psalm 92. V. 11. Mein Horn wird erhöhet / wie eines Einhorns.44

Mit dem Verweis auf die vier Bibelstellen, die Einhörner erwähnen, wird die Liste intern
noch einmal um eine Aufzählung erweitert. Diese wuchernde Verschachtelung von Katalog,
Liste und Aufzählung inszeniert über die enumerativen Verfahren die nicht zu erfassende
Vielgestaltigkeit der Welt. Auf der Erde, erklärt Olearius in seiner Vorrede, „finden wir
daselbst der Wunder so viel / daß sie nicht alle zu erzehlen und zu beschreiben seynd“.45 Die
Enumerationen machen somit im Sinne Ecos „das Unendliche geradezu physisch fühlbar“,
und zwar gerade durch ihre Kombination.
   Die Wunderkammern der Frühen Neuzeit versammeln ein Wissen, das sonst nicht,
jedenfalls nicht in diesem Umfang zugänglich wäre. Wissbegierige, die die Wunder der
Welt sehen und vor allem bewundern möchte, denen

        kann gutes theils geholffen werden / wenn sie an gewisse Oerter kommen / da man solche herrli-
        che / rare / wunderbare und frembde Sachen in den Cabinetten / Musæis und Kunst=Kammern
        zusammen getragen / findet / da man ohne Gefahr solche Dinge in Augenschein bekommen kann
        / die man sonst ausser dem auff weiten Reysen unmüglich alle antreffen wird.46

Die Wunderkammern katalogisieren die Wunder der Welt,47 idealerweise sogar der gesamten
Welt, da „die Natur an einem Orte immer herrlicher / reicher und künstlicher sich erzeiget
als am andern“.48 Diese Vielfalt ist es, an der sich die Neugierde und der Genuss entfalten:
„Varietas delectat“, so Olearius, denn „da ist die Vielheit und Abwechselunge der frembden
und ungemeinen Sachen / daß man immer von einem auff das ander kommen kann“.49

44 Olearius (1674, 9 f.).
45 Olearius (1674, Vorrede).
46 Olearius (1674, Vorrede).
47 Zu Wunderkammern ausführlicher Daston, Park (2002, 301–354), Bredekamp (2000), Schmitz-Emans
   (2019, 720 f.).
48 Olearius (1674, Vorrede).
49 Olearius (1674, Vorrede).

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An genau diesem Punkt der Vielfalt oder ‚Mannigfaltigkeit‘ setzt 150 Jahre später Goethe
an, um seine nicht-katalogisierende Poetik der Italienischen Reise zu entwickeln.

IV. Johann Wolfgang Goethes Gegenentwurf zu katalogisierenden Verfahren: Die „Italienische
Reise“. Am 19. Februar 1740 besichtigt Johann Caspar Goethe während seiner Italienreise
das Große Arsenal in Venedig, über das er in seinem Reisebericht ausführt:

       Wir wurden zunächst in die Säle geführt, die mit Waffen aller Art angefüllt sind, vor allem mit
       Büchsen für ein Heer von 80 000 Mann und mit den Schwertern, Helmen und Rüstungen der
       berühmtesten Generäle der Republik. Dann gingen wir durch einige Werkstätten, in denen 1)
       die Galeerenruder für das Arsenal 2) geschmiedet werden. Man sieht dort auch das Gestell, auf
       dem der Doge nach seiner Wahl um den Markusplatz herumgetragen wird und dabei Geld unter
       das Volk wirft. 3) Eine Werkstatt für Kanonen, in der ohne Unterlaß gearbeitet wird. 4) Wo Seile
       hergestellt werden. Ein Lager für Seile, von denen eines 2000 Silberdukaten wert ist. 5) In einem
       anderen Raum befinden sich 3000 eiserne Kanonen. 6) Eine Tischlerwerkstatt für feine Arbei-
       ten. 7) Wo die Karren für Kanonen angefertigt werden. 8) Die Werkstatt für die Steuerruder der
       Galeeren. 9) Die Werkstatt für die Schiffsmasten. Wir gingen dann weiter und kamen zu dem
       Ort, wo die Schiffe der ersten Größe gebaut werden, von denen gerade acht in Arbeit waren; eines
       davon hatte eine Länge von 148 Fuß und eine Breite von 50 Fuß. An einer anderen Stelle liegen
       sechs Galeeren, die man den Türken weggenommen hat und der Erinnerung halber aufbewahrt.
       Dann sah ich elf Schiffe der obersten Klasse. Zwei Galeeren, von denen eine 160 Fuß lang ist.
       Schließlich kann man dort auch das prachtvolle und berühmte Schiff sehen, das Bucentaurus
       heißt und wohl auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen hat.50

Sechsundvierzig Jahre später, im Oktober 1786, besucht sein Sohn Johann Wolfgang
Goethe ebenfalls das Arsenal in Venedig. In der 1816/17 erscheinenden Italienischen Reise
beschreibt er das Große Arsenal mit folgender Erzählung:

       Heute früh war ich im Arsenal, mir immer interessant genug, da ich noch kein Seewesen kenne,
       und hier die untere Schule besuchte: denn freilich sieht es hier nach einer alten Familie aus, die
       sich noch rührt, obgleich die beste Zeit der Blüte und der Früchte vorüber ist. Da ich denn auch
       den Handwerkern nachgehe, habe ich manches Merkwürdige gesehen, und ein Schiff von vier
       und achtzig Kanonen, dessen Gerippe fertig steht, bestiegen.
       Ein gleiches ist vor sechs Monaten, an der Riva de Sciavoni, bis aufs Wasser verbrannt, die Pul-
       verkammer war nicht sehr gefüllt und da sie sprang, tat es keinen großen Schaden. Die benach-
       barten Häuser büßten ihre Scheiben ein.
       Das schönste Eichenholz, aus Istrien, habe ich verarbeiten sehen, und dabei über den Wachstum
       dieses werten Baumes, meine stillen Betrachtungen angestellt. Ich kann nicht genug sagen, was
       meine sauer erworbene Kenntnis natürlicher Dinge, die doch der Mensch zuletzt als Materialien
       braucht, und in seinen Nutzen verwendet, mir überall hilft um mir das Verfahren der Künstler
       und Handwerker zu erklären; so ist mir auch die Kenntnis der Gebirge und des daraus genom-
       menen Gesteins ein großer Vorsprung in der Kunst.51

Kaum ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den Besichtigungen des Großen Arsenals durch
Johann Caspar und Johann Wolfgang Goethe, und doch könnten ihre Beschreibungen

50 Goethe, J. C. (1999, 34 f.).
51 Goethe (1993, 85).

Peter Lang                                                      Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
70 | Björn Weyand: Die Welt als zu bereisender Katalog. Enumerative Verfahren der Reiseliteratur

kaum unterschiedlicher ausfallen. Wo der Vater das Gesehene möglichst vollständig und
geradezu gewissenhaft aufzählt und in einer nummerierten Liste zu ordnen versucht, zeich-
net sich die Arsenalbeschreibung des Sohnes durch die Menge des Ausgelassenen und nicht
Erwähnten aus: Er beschränkt sich darauf, „manches Merkwürdige“ zu verbürgen, ohne
es weiter zu benennen, und beschreibt allein das imposante „Schiff von vier und achtzig
Kanonen“.
   Das diametrale Verhältnis der beiden Reiseberichte zum Enumerativen ist nicht allein aus
ihren unterschiedlichen literarischen Ansprüchen zu erklären, sondern zeigt einen literatur-
und wissensgeschichtlichen Umbruch, der in der Italienischen Reise ästhetisch inszeniert
und poetologisch reflektiert wird. J. C. Goethe verfasst seinen Bericht fünfundzwanzig
Jahre nach seiner Reise in italienischer Sprache unter dem Titel Viaggio per l’Italia und lässt
sein handschriftliches Manuskript in einen stattlichen Ledereinband binden.52 Literarische
Ambitionen verfolgt er mit seinem Bericht nicht, vielmehr begründet er die schriftliche
Ausarbeitung seiner Reiseerfahrungen damit, dass seine Beobachtungen „immer dort ge-
macht worden sind, wo sich die erwähnten Dinge befunden haben; sie übertreffen in dieser
Hinsicht unzählige Schriften, die nur aus bereits gedruckten Werken zusammengesucht
sind“.53 J. C. Goethe setzt sich hiermit von der kompilatorischen Reiseliteratur seiner Zeit ab,
die das Wissen über fremde Länder aus verschiedenen Quellen zusammenträgt, wie bspw.
das erstmals 1640 und erneut 1688 erschienene ITINERARIUM ITALIÆ NOV-ANTIQUE
des Polyhistors Martin Zeiller: Das Titelblatt wirbt damit, es sei „[a]lles / zum Theil auß
eygener Erfahrung / zum Theil aber auß den besten alten und newen Scribenten / auch
vielen in underschiedlichen Spraachen gedruckten / und geschriebenen Raißbüchern / so
viel deren zu bekommen gewesen / mit Fleiß colligirt“.54 Demgegenüber hebt J. C. Goethe
die eigene Anschauung für alles Beschriebene hervor. Das Modell für diese Form von Rei-
sebericht findet er in Maximilien Missons Nouveau Voyage d’Italie (1691). 1713 erscheint
unter dem Titel Reise nach Italien eine deutsche Übersetzung, die J. C. Goethe in der 5.
Auflage von 1722 besaß.55 Über das Arsenal schreibt Misson lapidar:

        Das arsenal zu Venedig (*) hat den ruhm eines der schönsten und grösten von Europa zu seyn, und
        muß man allerdings gestehen, daß selbiges sehr wichtig sey. Es ist aber auch dabey zu bedencken,
        daß es das eintzige in gantz Italien ist, so die Venetianer haben, und daß da hinein alles von ihnen
        geschaffet worden. Ausser diesem ist es auch um die helffte des grossen wesens nicht werth, das
        davon gemachet wird […].56

In seiner Vorrede erklärt allerdings der Übersetzer, es handele sich bei der vorliegenden
Ausgabe um einen „verbesserten Misson“.57 Diese Verbesserungen des Übersetzers gehen
über die Ergänzungen, die Misson selbst in den verschiedenen Auflagen der französischen
Originalausgabe vorgenommen hat, hinaus und speisen sich nun wiederum aus zusätzli-
chen Quellen:

52   Vgl. Meier (1999, 497 f.).
53   Goethe, J. C. (1999), S. 7.
54   Zeiller (1640, Titelblatt).
55   Vgl. Meier (1999, 491).
56   Misson (1713, 324 f.).
57   Misson (1713, Vorrede).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                              Peter Lang
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       [W]enn man in tüchtigen büchern sonst glaubwürdige gefunden, die zur käntniß von Italien
       gehören, sind solche entweder, wenn es sich schicken wollen, dem texte selbst einverleibt, oder
       doch unter die columnen als anmerckungen gesetzt worden, gestalt denn Misson viele merckwür-
       digkeiten von städten und der art ihrer einwohner weggelassen.58

So ergänzt die angezeigte Fußnote Missons Erläuterung des Arsenals um eine umfangreiche
Liste von Angaben, die dem Übersetzer zuzuschreiben ist:

       (*) Der umkreiß desselben begreifft ohngefehr 2 Italiänische meilen, und ist es mit einer sehr
       hohen mauer und dem meere umschlossen. Es hat nicht mehr als ein eintziges thor, und auch einen
       eintzigen canal, der nach dem meere zu gehet. Das gantze gebäude wird in drey grosse apartemente
       eingetheilet, in welchen täglich so viel volcks arbeitet, daß so gleich 15 galeren, 4 galeazzen, und
       auch 15 kriegs=schiffe ausgerüstet werden können. Die anzahl der sämtlichen arbeiter kan man
       zwar so genau nicht wissen, iedoch wollen die meisten, daß deren auff die 1800, andere aber bis
       2000 wären. Von selben kann einer des tages einen ducaten verdienen, wie denn auch die kinder
       allda ihren lohn und zugleich ihre arbeit haben. Unter den vielen canonen finden sich etliche mit
       7 läufften, und 32 grosse, die denen Türcken abgenommen worden, wiewohl die öfftern in dem
       letzt verwichenen kriege erhaltenen siege diese anzahl sonder zweiffel vermehret. An dem orte,
       wo die schiffe gezimmert werden, sollen bis 200 galeren fertig liegen, woran weiter nicht fehle,
       als daß die stücke darauff gebracht würden. Hiernechst stehen allda auch noch 40 andere galeren,
       die bloß zur verwahrung des Golfo gewiedmet, und davon iede 5000 ducaten an golde kosten
       soll. Nicht weniger siehet man noch 13 galeazzen von einer gar ungemeinen grösse, worunter aber
       der Bucentauro mitgerechnet wird. Annebenst ist auch ein gewisser saal, auff welchem nichts
       als alte weiber sitzen, die bloß zur ausbesserung der segel=tücher verordnet: der sämtlichen säle
       aber sind in die 44. Ausser diesen finden sich noch eine grosse menge öfen, in denen täglich viel
       brodt und biscuit gebacken wird. Der thürne [sic!], die auff der um das arsenal gehenden mauer
       anzutreffen, seynd an der zahl 12, auff denen alle nacht starcke wacht gehalten wird, und muß
       ein Venetianischer Edler alle stunden die runde mit thun. Man sagt sonst, daß in diesem arsenal
       ein brunnen vorhanden, der mit wein und zween drittel wasser angefüllet, und von dem die im
       arsenal arbeitenden täglich so viel nahmen mögten, als ihnen gefiele. In der giesserey stehet das
       stücke, welches in gegenwart des Czaars gegossen werden sollen, und mit welchem ihm die Repu-
       blic beschencken wollen, es ist mit sehr schönen und vielen zierrathen versehen. Sonsten werden
       in dem arsenal sehr grosse austern gehalten und gespeiset, mit welchen der Senat, ihrer seltenheit
       halber, die ausländischen Prinzen zu beschencken pfleget.59

Die Anmerkung zählt etliche Informationen über das Arsenal auf, wobei messbaren und
zahlenmäßig zu erfassenden Daten, Größenordnungen und Relationen eine besondere
Aufmerksamkeit zukommt. J. C. Goethe folgt in seiner Beschreibung dieser positivis-
tisch-aufklärerischen Darstellungsweise, und seine retrospektive Liste erweist sich – entgegen
seinem Anspruch auf eigene Anschauung – vielfach als eine Neuschreibung der bereits in
der zeitgenössischen Reiseliteratur vorhandenen Listen.60 Seine Italienreise steht damit ex-
emplarisch für die Praxis des Grand Tour im 18. Jahrhundert, die auf einer Wiederholung
zuvor konsultierter Listen beruht: Apodemiken liefern die Informationen zur Reiseplanung,
zu Gepflogenheiten vor Ort und insbesondere zu den Sehens- oder Merkwürdigkeiten, sie

58 Misson (1713, Vorrede).
59 Misson (1713, 324–326).
60 Vgl. Meier (1999, 491).

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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sind somit auch prospektive Kataloge des zu Bereisenden.61 Schon der Reiseverlauf von J. C.
Goethes Grand Tour mit den Stationen Venedig während des Karnevals, anschließend
Bologna und in der Karwoche Rom entspricht den apodemischen Gepflogenheiten, wie sie
bspw. Carl Christian Schramm in seinem Neuen Europäischen Historischen Reise=LEXICON
(1744) verzeichnet.62
   Auch Johann Wolfgang Goethe orientiert sich bei seiner Reise nach Italien in den
Jahren 1786 bis 1788 an den prospektiven Katalogen der Reiseliteratur.63 Wie zuvor schon
Gotthold Ephraim Lessing und nach ihm Johann Gottfried Herder auf ihren Italienreisen
1775 bzw. 1788/89 hat Goethe die drei Bände von Johann Jacob Volkmanns Historisch=
kritischen Nachrichten von Italien im Gepäck.64 Wiederholt erwähnt er Volkmann in der
Italienischen Reise. In Rom, beim längsten Aufenthalt seiner Italienreise, konsultiert er im
Februar 1787 „des ehrlichen Volkmanns zweiten Teil, […] um auszuziehen, was ich noch
nicht gesehn habe“65 – mit anderen Worten, um die prospektive Liste abzuarbeiten. Oft
genug distanziert sich Goethe allerdings von Volkmann. So notiert er am 3. Oktober 1786
mit Blick auf Palladio: „Volckmann sagt etwas davon, trifft aber den Nagel nicht auf den
Kopf“,66 und im Mai 1787 befindet er in Neapel: „Der gute und so brauchbare Volkmann
nötigt mich von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen.“67
   Die zunehmende Emanzipation von den vorgegebenen Listen innerhalb der Italienischen
Reise ist Programm und das Ergebnis einer gezielten Bearbeitung. In einer ersten Fassung
seines Reiseberichts, dem Tagebuch für Frau von Stein, verweist Goethe noch weitaus
unbefangener auf Volkmanns Historisch=kritische Nachrichten, die er am Lago di Garda
„zuerst aus meinem Coffer hohl[t]“.68 Seiner Adressatin empfiehlt er kurzerhand, sie solle
sich „Volckmanns Reise nach Italien“ beschaffen, „etwa von der Bibliotheck, ich will immer
die Seite anführen und thun als wenn du das Buch gelesen hättest“.69 Damit lagert Goethe
das Handbuchwissen aus seinem eigenen Tagebuch aus und ‚verlinkt‘ es fortan durch
Seitenverweise. Die prospektive Liste erspart es ihm, selbst eine retrospektive Liste anzu-
fertigen. Beide Listen scheinen auf einigen Etappen ohnehin weitgehend identisch zu sein:
„Nun denn in Padua! und habe in fünf Stunden was Volckmann anzeigt meist gesehen“.70
   Goethe vertraut also in den unmittelbar während der Reise gemachten Notizen sehr
viel stärker auf Volkmanns Historisch=kritische Nachrichten, als die spätere Bearbeitung der
Italienischen Reise glauben machen will. Die Tilgung dieses Einflusses findet ihre Ursache
in der klassischen Kunst-, Natur- und Weltbetrachtung, deren Entfaltung Goethe mit der
Italienischen Reise im autobiographischen Rückblick veranschaulicht. Zunächst unter dem
Titel Aus meinem Leben. Zweiter Abteilung Erster Teil. Auch in Arcadien! erschienen, stellt die

61 Zum Grand Tour vgl. Brilli (1997), einen Überblick über apodemische Literatur gibt Stagl (1983).
62 Vgl. Schramm (1744, 729–733).
63 Zu einer Verortung der Italienischen Reise im Kontext der zeitgenössischen Reiseliteratur vgl. Aurnhammer
   (2003).
64 Volkmann (1777), vgl. Meier (1999, 491).
65 Goethe (1993, 184).
66 Goethe (1993, 78), Herv. i. O.
67 Goethe (1993, 355).
68 Goethe (1993, 630).
69 Goethe (1993, 641).
70 Goethe (1993, 669).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
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Italienische Reise den ‚Reifeprozess‘ zur klassischen Ästhetik dar, der vor allem eine Sehschule
ist, die darauf abzielt, die Vielfältigkeit der Welt nicht in Listen und Katalogen aufzuzäh-
len, sondern in einem zusammenfassenden Prinzip zu bündeln.71 In der Kunstanschauung
lehnt Goethe deshalb die ‚einfache‘ Nachahmung ab, die darauf beruhe, „der Natur ihre
Buchstaben im Zeichnen nur gleichsam nachzubuchstabieren“,72 und stellt ihr mit der
Manier eine Ästhetik gegenüber, die sich nicht getreulich an Details hält, sondern diese für
einen „allgemeine[n] Ausdruck“ eines „großen Ganzen“ aufgibt,73 deren Brennpunkt das
anschauende Subjekt bildet. Dieses Prinzip ist auch der Grundpfeiler seiner Botanik, die er
auf der Italienreise entwickelt. Da das botanische Klassifizieren und Systematisieren, wie es
Carl von Linné mit seiner im Systema Naturæ entwickelten taxonomischen Nomenklatur
begründet, für Goethe „meine Stärke niemals werden kann“, wählt er einen anderen Zugang
zur Vielfältigkeit der Pflanzenwelt: „Daher schärf’ ich mein Auge aufs Allgemeine“.74 Seine
Metamorphose der Pflanzen fasst Goethe als den Versuch zusammen, „die mannigfaltigen,
besondern Erscheinungen des herrlichen Weltgartens auf ein allgemeines, einfaches Prinzip
zurückzuführen“.75 Und schließlich macht Goethe dies zum Grundsatz seiner Poetik, wenn
er seine erste Begegnung mit Friedrich Schiller rückblickend mit der Erläuterung schildert:

       Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im
       Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als
       Beyspiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie
       spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun
       dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden,
       oder erst spät.76

Während er Schiller auf der Seite der Allegorie verortet, sieht er sein eigenes Werk auf Seiten
des Symbols, das im Besonderen das Allgemeine „schaut“.77 Wenn im Einzelnen das große
Ganze immer schon enthalten ist, dann kommt es für Goethe auf die Vielfalt der einzelnen
Erscheinungen nicht an – Kataloge und Listen verlieren damit ihren Wert.

V. Otto Julius Bierbaums Katalog des touristischen Zeitalters: Die „Yankeedoodle=Fahrt“. Gut
hundert Jahre nach Goethe begibt sich Otto Julius Bierbaum auf Reisen.78 Als der Münch-
ner Lyriker, Romanautor, Überbrettl-Autor und Mitbegründer der kurzlebigen, aber wirk-
mächtigen Zeitschrift Die Insel seinen Reisebericht Yankeedoodle=Fahrt veröffentlicht,
haben sich die Bedingungen des Reisens grundlegend verändert: 1907 reist Bierbaum,
begleitet von seiner zweiten Ehefrau Gemma, als Tourist auf einem Kreuzfahrtschiff
durch den Mittelmeerraum. Seine Pauschalreise wurde im Reisebüro gebucht und schließt
ein minutiös durchgeplantes Sightseeingprogramm ein. Bierbaum entscheidet sich, wie er

71   Zu Goethes Wahrnehmungsform vgl. Egger (2004).
72   Goethe (1998, 226).
73   Goethe (1998, 226).
74   Goethe (1993, 22).
75   Goethe (1987, 415 f.).
76   Goethe (1994, 368).
77   Vgl. hierzu auch Stockhammer (2005), Maatsch (2012).
78   Die folgenden Ausführungen beruhen in Teilen auf der ausführlicheren Darstellung in Weyand (2018).

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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berichtet, auf Anraten seines Arztes für die Reise, um seine Nerven zu regenerieren.79 Das
Ziel sei ihm deshalb „vollkommen gleichgültig“ – er überlässt es „einem Freunde, Schiff
und Ziel zu bestimmen“.80 Der Wunsch nach Bildung und Wissen erscheint für eine
solche Erholungsreise obsolet, spielt aber gerade deshalb eine umso wichtigere Rolle für
Bierbaum, der trotz seiner bekundeten Gleichgültigkeit bezüglich des Reiseziels dem rein
touristischen „Amüsiervergnügen[] zu Wasser und zu Lande“81 kritisch gegenübersteht.
   Die 79-tägige Kreuzfahrt führt nach Monte Carlo, Korsika, Jerusalem, Kairo, Kons-
tantinopel und an weitere Stationen, die, wenngleich sie nicht eigens in einer Aufzählung
aufgelistet, sondern über den Text verstreut genannt werden, für sich genommen eine statt-
liche Liste ergeben, die wiederum vervielfacht wird durch die impliziten Listen, zu denen
sich die genannten Sehenswürdigkeiten an den einzelnen Orten summieren. In Syrakus,
einer der ersten Stationen der Reise, werden die Kreuzfahrtpassagiere gruppenweise von
einheimischen Fremdenführern mit Kutschen zu den bekanntesten Attraktionen der Stadt
gebracht wie dem griechischen Theater, den Katakomben und dem Dom. Dass diese ge-
führten Besichtigungstouren dem Abarbeiten einer Liste gleichen, spricht die Äußerung
eines Mitreisenden aus: „Das hätt ma nu also ooch jesehn!“,82 zitiert Bierbaum einen Pas-
sagier nach dem Besuch der Latomien mit ihrem Ohr des Dionysos, über das auch Johann
Gottfried Seume in seinem Spaziergang nach Syrakus (1802) berichtet hatte.83
   Bierbaum konsultiert während der Reise immer wieder einen Baedeker-Reiseführer.
Wie zuvor die Apodemiken katalogisiert und kanonisiert der Baedeker seit Mitte des
19. Jahrhunderts die Sehenswürdigkeiten, die nun durch das Sternesystem zusätzlich
kategorisiert werden.84 Damit gewinnt der prospektive Aspekt an Gewicht und macht den
Reiseführer zu einem quasi-präskriptiven Katalog. Bierbaum kritisiert am Baedeker, dass
dieser nichts zu einer „lebendige[n] Bildung“ beitrage.85 Verärgert äußert er sich über die
darin enthaltenen Erläuterungen zum Dom von Syrakus:
        Wenn der Professor in Rotleinen aber seine Gelehrsamkeit weiterhin auspackt und verkündet, daß
        dieser Tempel der Minerva ein Hexastylos Peripteros war, so und so lang, so und so breit, usw., so
        empfinden wir nicht Dank, sondern Aerger. […] Die ewigen archäologischen und kunsthistori-
        schen Fachsimpeleien in den Baedekerbüchern müssen endlich einmal mit aller Rücksichtslosigkeit
        als das gekennzeichnet werden, was sie sind: schädliche Ueberflüssigkeiten […]. Schädlich sind
        sie, weil sie den Blick vom Ganzen ablenken, indem sie spezialisieren, wo groß zusammengefaßt
        werden sollte. Überflüssig, weil sie damit nicht einmal wirkliche Spezialkenntnisse vermitteln,
        sondern nur termini technici verbreiten […].86

Bierbaum fordert damit eine Betrachtung, die wie bei Goethe aufs ‚Ganze‘ gerichtet ist und
nicht auf auflistbare Details. Dennoch fügt er selbst eine Aufzählung in seinen Reisebericht
ein und benennt, „was alles auf einem modernen Dampfer man […] finden“ kann:

79   Bierbaum (1911, 107).
80   Bierbaum (1911, 110).
81   Bierbaum (1911, 190).
82   Bierbaum (1911, 190).
83   Seume (2010, 204 f.).
84   Zum Baedeker vgl. Müller (2012).
85   Bierbaum (1911, 194).
86   Bierbaum (1911, 194 f.).

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       elektrische Haarbrennmaschinen, Telegraphie ohne Draht, Dunkelkammer zur Entwicklung von
       photographischen Platten, Lese- und Rauchsalons, einen Grillroom, einen Turnsaal mit Zanderap-
       paraten, einen Barbierladen, eine Buchdruckerei, eine Buchhandlung, eine Dampfwäscherei, warme
       Seewasserbäder, eine Leihbibliothek, ein Hospital mit Arzt und Heilgehilfen, einen Photographen,
       einen Zauberkünstler, einen Hühneraugenoperateur, eine Klapperschlange, einen dritten Mann
       zum Skat, amerikanisches Kauzuckerzeug, Schweizer Schokolade, Hamburger und Havanna-Zi-
       garren, vielleicht auch eine Braut und eine Schwiegermutter – eines findet man nicht: Ruhe.87

Wenn Bierbaum ausgerechnet die ärztlich verordnete Ruhe auf dem Kreuzfahrtschiff
nicht findet, so doch immerhin einigen Komfort (dessen enumerative Fülle wiederholt
durch die Nennung unpassender Elemente ad absurdum geführt wird). Die Aufzählung
findet ihre kulturgeschichtliche Entsprechung in den zeitgenössischen Beschreibungen
der Warenhäuser, die seit der Jahrhundertwende entstehen. Im gleichen Jahr, in dem sich
Bierbaum auf Kreuzfahrt begibt, widmet Paul Göhre dem Warenhaus eine Studie, in der er
die Verkaufsabteilungen des Berliner Warenhauses Wertheim in Berlin aufzählt, um einen
Eindruck von der Vielfalt der erhältlichen Waren zu geben:

       Was für Waren verkauft nun Wertheim? Sie hier aufzuzählen, wäre natürlich Wahnsinn, unmöglich
       und ist auch absolut unnötig. Es genügt, die Anzahl der Verkaufsabteilungen, Läger genannt, hier
       aufzuführen. Schon diese bilden eine sehr stattliche Liste. Es gibt fünfundsechzig solcher Läger. In
       der Reihenfolge einer gewissen sachlichen Zusammengehörigkeit sind es folgende: Damenkonfekti-
       on, Trikotagen, Handschuhe, Weißwaren, Kleiderstoffe, Pelzwaren, Damenhüte und Putz, Herren-
       artikel, Leinenwaren, Futterstoffe, Seidenstoffe, Schuhwaren, Tischzeug, Wäsche, Taschentücher,
       Hemdenblusen, Herrenkonfektion, Korsetts, Jupons, Schirme, Posamenterie, Liberty, Kissen,
       Gardinen, Teppiche, Lederwaren, Möbelstoffe, Tapisseriewaren, Tapeten, Lampen, Japanwaren,
       Korbwaren, Möbel, Kunstmöbel, Kunstgewerbe, Bilder, Antiquitäten, Uhren, Silberwaren, versil-
       berte Waren, Galanteriewaren, Holzgalanterie, Bijouterie, Nippes, Kurzwaren, Kämme, Parfümerie
       und Seifenartikel, Drogerie, photographisches Atelier, Malerartikel, Schreibwaren, Bücher, optische
       Instrumente, Nähmaschinen, Musikwerke, Noten, Ansichtskarten, Sportwaren, Spielwaren, Glas
       und Porzellan, Wirtschaftsartikel, Lebensmittel, Zigarren, zoologische Abteilung, Bankabteilung.88

Ein Jahr später übertrifft Leo Colze diese „sehr stattliche Liste“ in seinem Buch Berliner
Warenhäuser mit einer 190 Einträge umfassenden Auflistung erhältlicher Waren.89
Warenhäuser wie A. Wertheim präsentieren ihr Angebot jährlich in Warenkatalogen, wobei
Damen-, Herren- und Kindermode neben Leseausgaben von Nietzsches Werken sowie
Regenschirme und Korbmöbel neben dem Brockhaus Konversationslexikon stehen (vgl. Abb.
2–3). Indem die Kataloge Dinge aus unterschiedlich valorisierten Bereichen wie Kleidung,
Literatur und Möbel gleichwertig nebeneinanderstellen, bewirken sie eine semantische Ei-
nebnung des tradierten Wertesystems mit seiner Höhen- und Tiefenmetaphorik, der zufolge
Werke der Literatur und Philosophie ihren Ort ‚über‘ den profanen Alltagsdingen haben.90

87   Bierbaum (1911, 171 f.).
88   Göhre (1907, 67), Herv. B. W.
89   Vgl. Colze (1908, 78 f.).
90   Zu den Warenhäusern und ihren Katalogen um 1900 vgl. Weyand (2013, 78–92).

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                         Abb. 2: Aus dem Mode-Katalog Warenhaus Wertheim (1903/04).

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Björn Weyand: Die Welt als zu bereisender Katalog. Enumerative Verfahren der Reiseliteratur | 77

                  Abb. 3: Aus dem Mode-Katalog Warenhaus Wertheim (1903/04).

Peter Lang                                                   Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
78 | Björn Weyand: Die Welt als zu bereisender Katalog. Enumerative Verfahren der Reiseliteratur

Mit dem Tourismus wird das Reisen Teil der Konsumkultur. Dementsprechend präsentiert
auch die Hamburg-Amerika Linie ihre Schiffe und die angefahrenen Reiseziele in einem
opulent gestalteten Katalog. Der Katalog für Mittelmeerfahrten, der zur Zeit von Bier-
baums Kreuzfahrt in den Reisebüros der Hamburg-Amerika Linie ausliegt, enthält mehr als
zweihundert Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen die Schiffe und der Komfort an Bord
sowie die Sehenswürdigkeiten der Reiseziele zu sehen sind, darunter etwa die Pyramide von
Gizeh (vgl. Abb. 4–5). Damit treten im Reisekatalog Komfort und Sehenswürdigkeiten als
gleichwertige Bestandteile der Reise nebeneinander. Bierbaums Zeitgenosse Georg Simmel
hat aus soziologischer Sicht diese Veränderung des Reisens vom Bildungszweck hin zum
Komfort am Beispiel des Alpentourismus beschrieben.91

                        Abb. 4: Aus dem Katalog der Hamburg-Amerika Linie (um 1906).

91 Vgl. Simmel (1992).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                     Peter Lang
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