Die Zukunft gehört den neuen Risk-free-Rates - Martin Aehling

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13. Juni 2019 | Referenzzinssätze - mit Listicle

Die Zukunft gehört den neuen Risk-free-Rates
Martin Aehling

Seit Anfang 2018 ist die EU-Benchmark-Verordnung, die zu
einem Ersatz bestehender kurzfristiger Referenzzinssätze führt, in
weiten Teilen anwendbar. Kreditinstitute sind mit umfangreichen
Anpassungen konfrontiert, deren Auswirkungen vielfach noch
nicht erkannt sind.
Man kann es sich am besten wie eine umgekehrte Pyramide vorstellen: Unten an der
Spitze tragen die Benchmarks den gesamten Markt. Diese Referenzzinssätze sind
zentraler Indikator für Bewegungen am Zinsmarkt und daher in ihrer Bedeutung
gar nicht zu unterschätzen. Nicht unterschätzen sollten auch Sparkassen die
Umstellungen, die mit dem Übergang von den bisherigen Benchmarks auf neue
Referenzzinssätze verbunden sind. Das gilt sowohl für Finanzprodukte und
Darlehen als auch für das Liquiditäts-, Collateral- und Risikomanagement. Denn
die Landschaft bestehender Referenzzinssätze wird mit der 2016 verabschiedeten
europäischen Benchmarkverordnung grundlegend verändert.

Demnach dürfen nach einer Übergangszeit ab Anfang Januar 2022 nur noch solche
Referenzsätze bei zinsabhängigen Produkten und Finanzinstrumenten unterlegt
werden, die den Anforderungen der Benchmarkverordnung entsprechen: robust,
zuverlässig, repräsentativ und nicht manipulierbar zu sein. Weder Eonia noch Euribor
erfüllen derzeit die Voraussetzungen der Verordnung. Dies liegt an der bisherigen
Berechnungsweise, die zum Großteil auf kaum überprüfbaren Einschätzungen
von wenigen Panel-Banken basiert. Die künftige Methodik der Berechnung von
Referenzzinssätzen soll dagegen primär auf echten Transaktionsdaten beruhen, und
damit nicht mehr so manipulationsanfällig sein.

Eonia schrittweise ersetzen

Die EZB hatte hierzu 2018 mit der belgischen Finanzaufsichtsbehörde FSMA,
der Esma und der Europäischen Kommission eine von Marktteilnehmern geführte
Arbeitsgruppe zu risikofreien Zinssätzen ins Leben gerufen. Ihre Aufgabe:
alternative risikofreie Zinssätze sowie entsprechende Umstellungsmöglichkeiten zu
identifizieren und zu empfehlen. Die Arbeitsgruppe schlug im September 2018 die
Euro Short-Term Rate (ESTR) als neuen Euro-Tagesreferenzzinssatz vor. Darauf
folgte im März 2019 die Empfehlung, dass Marktteilnehmer bei allen Produkten und
Kontrakten den Eonia schrittweise durch ESTR ersetzen, indem sie ESTR zu ihrem
gängigen Referenzzinssatz machen und entsprechende Anpassungen in ihren IT-
Systemen vornehmen. Der neue Satz wird ab 2. Oktober 2019 täglich von der EZB
bereitgestellt. Bis dahin gibt es nur den sogenannten pre-ESTR, für den seit März
2017 Daten bereitgestellt werden. Dieser soll erste Modellrechnungen erlauben, um
die Unterschiede zwischen ESTR und Eonia besser ermitteln zu können.

Parallel wird die Eonia-Methodik übergangsweise umgestellt. Er soll mit Beginn
der Veröffentlichung des ESTR am 2. Oktober aus dem neuen Referenzzinssatz
plus einem festen Zinsaufschlag berechnet werden. Grund für den Spread sind erste
Testberechnungen, nach denen der ESTR im Durchschnitt 8,5 Basispunkte niedriger
ausfällt als der Eonia. Diese Übergangslösung soll Marktteilnehmern die Umstellung
auf den neuen Zinssatz erleichtern, die bis spätestens Ende 2021 abgeschlossen sein
muss. Der Eonia wird Anfang 2022 eingestellt.

Der Euribor soll hingegen reformiert statt ersetzt werden. Er soll durch eine
Hybridmethode konform zur Benchmarkverordnung gestaltet werden. Die Ermittlung
soll zukünftig vorrangig auf Basis von tatsächlichen Transaktionen erfolgen.
Nur wenn diese nicht vorliegen, kann auf interpolierte Daten vergleichbarer
Transaktionen oder in letzter Konsequenz auf Modellwerte zurückgegriffen werden.
Zwei 2018 durchgeführte Testphasen zeigten allerdings, dass es außer für die kurzen
Laufzeitbänder kaum ausreichend Transaktionen gab, um den Euribor primär auf
Basis von tatsächlichen Transaktionen zu ermitteln, und zudem auch ein Hybrid-
Euribor einen Spread zum Euribor nach bisheriger Methodik aufweist, wenngleich
dieser geringer als beim Eonia ausfiel. Auch wenn die Umstellung genehmigt wird,
ist entsprechend der Benchmarkverordnung eine sogenannte Fallback-Lösung
notwendig, also ein Ersatzzins, falls auch der neue hybride Euribor nicht mehr zur
Verfügung stehen sollte.

Die von der EZB eingerichtete Arbeitsgruppe arbeitet daher auch an ESTR-basierten
Rückfalllösungen für den Euribor. Allerdings ist die Umstellung zum Beispiel eines
3-Monats-Euribors auf den Tageszins ESTR mit zusätzlichen Herausforderungen
verbunden. Die Arbeitsgruppe schlägt dafür eine Systematik zur Berechnung einer
zukunftsgerichteten Termin-Zinsstrukturkurve vor, die auf ESTR-Derivatemärkten
basiert und als Rückfalllösung für Euribor-bezogene Kontrakte verwendet werden
könnte. Die Arbeitsgruppe werde aber auch vergangenheitsbezogene Ansätze als
mögliche Rückfalllösungen für den Euribor weiter analysieren, teilt die EZB mit.

Handlungsbedarf an mehreren Stellen

Registriert Unsicherheit über aufsichtsrechtliche Anforderungen: Rechtsanwalt Lutz Tiedemann.
Der Übergang zu neuen Referenzzinssätzen wirft viele Fragen auf, wie mit
der Umstellung umzugehen ist. Handlungs- und Anpassungsbedarf besteht an
mehreren Stellen. Wie ist jetzt mit Eonia-bezogenen Geschäften umzugehen,
und wir sollten Neugeschäfte ausgestaltet werden, sind Fragestellungen, die es
zu beantworten gilt. Hinzu kommt, dass die Benchmark-Verordnung bestimmte
Marktteilnehmer, wie Kreditinstitute, verpflichtet, sogenannte Notfallpläne für den
Umgang mit Referenzsätzen bei bestimmten Finanzinstrumenten und -kontrakten
zu erstellen. Notfallpläne sind robuste schriftliche Pläne mit zu ergreifenden
Maßnahmen, wenn sich ein Referenzwert wesentlich ändert oder nicht mehr
bereitgestellt wird. „In der Praxis besteht derzeit allerdings noch viel Unsicherheit
über die konkreten aufsichtsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich eines solchen
Notfallplans“, sagte Rechtsanwalt Lutz Tiedemann, Partner bei Groenewold
Tiedemann Griffel Rechtsanwälte, im Mai auf einer Veranstaltung in Hamburg.
Insbesondere sei nicht konkret klar, was inhaltlich gefordert werde. Aus Artikel 28
der Benchmarkverordnung sei lediglich zu erkennen, dass Marktteilnehmer sich bei
der Aufstellung eines Notfallplans an die Vertragsbeziehungen mit ihren Kunden
orientieren müssen, so Tiedemann.

Im Bereich der betroffenen Darlehensverträge seien die Auswirkungen eines
drohenden Wegfalls des Referenzwertes auf die Vertragsgestaltung relevant. Für
Kreditinstitute stelle sich unter anderem im Hinblick auf Darlehensverträge mit
Verbrauchern die Frage, wie mit dem Wegfall eines Referenzwertes im Rahmen
der Vertragsgestaltung umzugehen sei, erläutert der Fachanwalt für Bank- und
Kapitalmarktrecht. Fragen würde sich sowohl bezüglich bestehender langfristiger
Verträge, deren Laufzeit den Zeitpunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage
überdauern, als auch für Neuverträge ergeben. Bei neu abzuschließenden Verträgen
bestehe das Problem, dass ein Referenzwert vereinbart werde, der mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit in Zukunft nicht mehr dauerhaft zur Verfügung stehen werde.
„Auf diesen Umstand ist der Kunde hinzuweisen“, hebt Tiedemann hervor. Ferner
bestehen erhebliche AGB-rechtliche Probleme, so Tiedemann. Als Grundlage hatte
die von der EZB eingesetzte Arbeitsgruppe im Januar Leitlinien zu Ausweichplänen
für Eonia und Euribor als Orientierungshilfe veröffentlicht.

Empfiehlt Kreditinstituten, sich intensiv auf die Umstellung der Referenzzinssätze vorzubereiten: Jan Hartlieb,
Geschäftsführer der SAM Sachsen Asset Management.

Jan Hartlieb, Geschäftsführer der SAM Sachsen Asset Management, gibt ganz
grundsätzlich zu bedenken: „Beachtlich ist, dass trotz jahrelanger Bemühungen
um eine Reform der Referenzzinssätze viele Marktteilnehmer bis heute kaum
Kenntnis von den bevorstehenden Veränderungen und den damit einhergehenden
Auswirkungen haben.“ Dies ist deshalb problematisch, weil bisherige Benchmark-
basierte Finanzprodukte und Finanzinstrumente zumeist keine Regelungen für
den dauerhaften Wegfall ihrer Benchmark vorsehen. Eine Verpflichtung zur
Aufnahme von Ausweichregelungen in Verträge bestand bis zum Inkrafttreten der
neuen Benchmarkverordnung Anfang 2018 nicht. Sparkassen kommen also nicht
umhin, entsprechende Vertragsbeziehungen sowohl mit Kunden – insbesondere
bei Verbraucher- und Immobiliendarlehen –, aber aus faktischen Gründen auch
mit allen anderen Kontraktpartnern, zum Beispiel bei Absicherungs- und Swap-
Geschäften, sowie im Depot A, zu prüfen und entsprechende Maßnahmen zu
ergreifen. Hier besteht zumindest ein Rechtsrisiko, gegebenenfalls jedoch auch
erhöhter Handlungsbedarf im Risiko-, Besicherungs- und Liquiditätsmanagement.

Kreditinstituten sei daher empfohlen, sich intensiv auf die Umstellung der
Referenzzinssätze vorzubereiten, um einen reibungslosen Übergang zum neuen
Benchmarkumfeld zu gewährleisten. Denn eine sorgfältige Übergangsplanung ist
erforderlich, um Störungen für Kunden und das eigene Institut zu minimieren und
die Kontinuität von Verträgen so weit wie möglich zu gewährleisten. „Dazu gehört
zunächst, sich einen Überblick zu verschaffen, in welchen Verträgen mit einer
Laufzeit über 2021 hinaus auf künftig wegfallende Benchmarks Bezug genommen
wird. Zudem ist zu berücksichtigen, dass auch Libor und andere internationale
Referenzzinssätze derzeit umgestellt beziehungsweise perspektivisch durch andere
Konzepte ersetzt werden“, erläutert Hartlieb.

Alle Verträge mit Benchmarkbezug sollten genau geprüft werden, um festzustellen,
welche Risiken sich beim Wegfall der Benchmark ergeben. Bei Verträgen,
die neu abgeschlossen werden, sei ebenfalls Sorgfalt geboten, denn diese
müssen entsprechende Ausweichregelungen enthalten, so Hartlieb. Neben der
Vertragsthematik seien aktive Schritte zur Anpassung von Systemen, Prozessen und
IT zu unternehmen. Abzuwarten und auf Marktstandards zu hoffen, stelle jedenfalls
keine empfehlenswerte Alternative dar. Hartlieb weist zudem darauf hin, dass die
sogenannten Ibors, also die Interbank Offered Rates, wie zum Beispiel Euribor und
Libor, trotz Reformbemühungen mittelfristig der Vergangenheit angehören dürften.
Die Zukunft gehört den für Tagesgelder neu geschaffenen Risk-free-Rates, wie
ESTR, Sofr und Sonia, aus denen sich mittels neuer Konzepte auch Zinsen für die
typischen Euribor-Laufzeiten ableiten lassen. Sparkassen sollten prüfen, welche
Änderungen das auf ihre Verträge, Prozesse und IT-Systeme hat.

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Die sechs wichtigsten Punkte auf einen Blick

• Ab 2022 dürfen nur noch solche Referenzsätze bei zinsabhängigen Produkten
  und Finanzinstrumenten unterlegt werden, die den Anforderungen der EU
  Benchmarkverordnung entsprechen: robust, zuverlässig, repräsentativ und
nicht manipulierbar zu sein. Weder Eonia noch Euribor erfüllen derzeit die
 Voraussetzungen der Verordnung.

• Der neue Euro-Tagesreferenzzinssatz ESTR wird ab 2. Oktober täglich von der
  EZB bereitgestellt. Parallel wird die Eonia-Methodik übergangsweise umgestellt.
  Er soll mit Beginn der Veröffentlichung des ESTR am 2. Oktober aus dem neuen
  Referenzzinssatz plus einem Spread berechnet werden. Marktteilnehmern wird
  empfohlen, bei allen Produkten und Kontrakten den Eonia schrittweise durch ESTR
  ersetzen und STR zum gängigen Referenzzinssatz machen. Der Eonia wird Anfang
  2022 eingestellt.

• Der Euribor soll durch eine Hybridmethode konform zur Benchmarkverordnung
  gestaltet werden. Die Ermittlung soll zukünftig vorrangig auf Basis von
  tatsächlichen Transaktionen erfolgen. Auch wenn die Umstellung genehmigt wird,
  ist entsprechend der Benchmarkverordnung eine sogenannte Fallback-Lösung
  notwendig, also ein Ersatzzins, falls auch der neue hybride Euribor nicht mehr zur
  Verfügung stehen sollte.

• Nach Artikel 28 Absatz 2 der Benchmarkverordnung sollen beaufsichtigte
  Unternehmen robuste schriftliche Pläne erarbeiten. Diese Notfallpläne müssen
  Maßnahmen für den Fall enthalten, wenn sich ein Referenzwert wesentlich ändert
  oder nicht mehr bereitgestellt wird. Eine Definition des Begriffs Notfallplan
  fehlt. Aus Artikel 28 ist lediglich zu erkennen, dass die Verpflichteten sich bei
  der Aufstellung eines Notfallplans an die Vertragsbeziehungen mit ihren Kunden
  orientieren müssen. Klar ist dabei, dass das Erfordernis für sämtliche Neuverträge,
  die ab dem 1. Januar 2018 abgeschlossen wurden, gilt.

• Vor 2018 bereitgestellte Benchmark-basierte Finanzprodukte und
  Finanzinstrumente sehen zumeist keine Regelungen für den dauerhaften Wegfall
  ihrer Benchmark vor. Eine Verpflichtung zur Aufnahme von Ausweichregelungen
  in Verträge bestand bis zum Inkrafttreten der EU Benchmark-Verordnung nicht.
  Sparkassen kommen also nicht umhin, entsprechende Vertragsbeziehungen sowohl
  mit Kunden aber aus faktischen Gründen auch mit allen anderen Kontraktpartnern
  sowie im Depot A zu prüfen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

• Bei aktuell abzuschließenden Verträgen besteht das Problem, dass ein Referenzwert
  vereinbart wird, der mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Zukunft nicht
  mehr dauerhaft zur Verfügung stehen wird. Insofern müssen diese entsprechende
  Fallback- beziehungsweise Ausweichregelungen enthalten.

Martin Aehling: Die Zukunft gehört den neuen Risk-free-Rates, in
SparkassenZeitung (13. Juni 2019). URL: https://www.sparkassenzeitung.de/betrieb-
%26-banksteuerung/die-zukunft-gehoert-den-neuen-risk-free-rates.html. Abgerufen
am: 18. Juni 2019

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