Die Zuschauer-Demokratie und ihre Akteure - Gerd Weidenhausen
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16 Zeitgeschehen Gerd Weidenhausen Die Zuschauer-Demokratie und ihre Akteure Politik-Inszenierung im Wahlkampf 2021 am Beispiel der Klimarettung Eine unter den vielen Eigentümlichkeiten der tung für Demokratie und Menschenwürde« alle vier Jahre stattfindenden Bundestags- usw. firmieren dann solche als »Gesamtinteres- wahlen ist, dass die Wahlberechtigten von den se« ausgegebenen Bündel von Partikularinte- um ihre Gunst buhlenden Parteien bei ihren ressen. Der verantwortungsvolle Staatsbürger privaten Unzufriedenheiten »abgeholt« werden. soll sich so mit einer »größeren Sache«, dem Die Politiker versprechen den Wählern, diese »nationalen Interesse« oder der »westlichen Probleme im Falle ihres Wahlsieges zu beheben Wertegemeinschaft« identifizieren können. Die – insofern und insoweit die mit dem künfti- Wahlen garantieren in der repräsentativen De- gen Koalitionspartner einzugehenden Kompro- mokratie letztlich das Einvernehmen der Wahl- misse das zulassen. In den Wahlprogrammen berechtigten über die nach den Wahlen über sie werden diese Probleme nach Themengebieten verhängte Politik. aufgelis tet und Lösungskonzepte vorgestellt. Weil dem so ist, macht der Wähler in Kennt- Diese Vorstellungen über Wirtschafts-, Sozial-, nis dieses Umstands vorab Abstriche bei den an Bildungs-, Gesundheits- und Sicherheits- bis hin ihn herangetragenen Wahlversprechen. Er geht zur Außenpolitik sollen den Wahlberechtigten somit nicht demokratietheoretisch, sondern als Orientierung dienen. Die Politiker hoffen, pragmatisch ans Werk seiner Stimmabgabe. auf diese Weise die Bevölkerung so beein- Indem er seine politische Handlungsvollmacht flussen zu können, dass ihre Partei durch die an die gewählten Volksvertreter delegiert, Stimmabgabe von den Wählern zum Vollzug ih- macht er sich zum Zuschauer, Beobachter und rer Programme ermächtigt werden. Diese Form kritischem oder zustimmendem Kommentator der Ermächtigung im Sinne eines Delegierens des an ihm vollzogenen Regierungshandelns. von politischer Handlungsvollmacht an die Er wird zum Objekt der Staatsgeschäfte. gewählten Volksvertreter macht den Kern der Der allseitigen Bedienung dieser Wählerbe- repräsentativen Demokratie aus. Die allseits ge- dürfnisse sind jedoch – allein schon wegen der lobte und als beste aller Welten erachtete Staats- horrenden Staatsverschuldung – Grenzen ge- form besteht somit darin, dass Privatinteressen setzt. Genau an dieser Bruch- bzw. Baustelle der Staatsbürger als gesellschaftliches Problem entlang argumentieren über alle Legislaturpe gewürdigt und in ein ideelles Gesamtinteresse rioden hinweg jene Parteien, die sich traditi- überführt werden. Unter verschiedenen Slogans onell auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit wie: »Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes«, fokussieren und daher erhöhte Staatsausgaben »Vereinbarkeit von Klimaschutz und wirtschaft- als das kleinere Übel betrachten. Demgegenü- licher Leistungsfähigkeit«, »globale Verantwor- ber stehen jene Parteien, die den Fürsorgestaat die Drei 5/2021 www.diedrei.org
Zeitgeschehen 17 als Hemmschuh der freien Marktwirtschaft und Medien inspizieren eifrig wie die römischen des Unternehmertums sehen. Eine Partei aller- Auguren Programmatik und Personal der an- dings beansprucht für sich, sowohl die Staats- geblich bunter gewordenen Parteienlandschaft als auch die Wirtschaftsseite im alle diese Teil- und unterziehen diese einer mehr oder weni- fragen überragenden Überlebensinteresse der ger kritischen Würdigung. Was sagen also die Gesamtmenschheit – Stichwort Klimakrise – Auspizien? Wie sieht unsere Zukunft in Anbe- bedienen zu können. tracht dieser politischen Vorhaben aus? Politiker erbringen keine wirtschaftlichen Leistungen. Sie müssen auf diese zurückgrei- Freier Markt oder staatlicher Interventionismus fen, wenn sie ihre Versprechungen zumindest ansatzweise umsetzen wollen. Der wirtschaft- Zunächst lassen sich holzschnittartig zwei La- lich tätige Staatsbürger muss somit dem Staat ger ausmachen, deren Antworten auf die ge- Steuern entrichten. Weil sich Steuern nicht be- nannten Fragen der Krisenbewältigung allzu liebig vermehren oder erhöhen lassen, finan- neu nicht sind: Während der marktwirtschaft- zieren Politiker ihre Wohltaten über Kredite. lich orientierte, liberal-konservative Block aus Die Staatsverschuldung Deutschland ist mitt- Freien Demokraten und Union in der von staat- lerweile auf etwa 2,3 Billionen Euro angestie- lichen Eingriffen und Restriktionen unangetas gen, die laut Haushaltsentwurf des Bundes für teten Kreativität der Wirtschaftskraft die ange- das kommende Jahr um eine Neuverschuldung messene Antwort auf die Herausforderungen von 100 Milliarden Euro ergänzt werden muss. sieht, setzt man im links-grünen Lager von Da stellt sich die Frage, wie, wann und in wel- SPD, Linken und Grünen mehr oder minder chem Ausmaß das Staatsbudget für welche auf staatlichen Interventionismus, sei es durch Interessengruppen und Sachgebiete bzw. Pro- die staatliche Gewährleistung von ideellen Rah- blemfelder verteilt werden kann – insbesonde- menbedingungen für den Umbau hin zu einer re dann, wenn eine kostenintensive Energie- ökologischen Energiewirtschaft, sei es durch ei- wende bevorsteht, eine marode Infrastruktur nen weiteren Ausbau des Sozialstaats auf dem saniert werden muss und vor allem die Folge- Wege der Umverteilung von Steuergeldern. kosten der staatlich beaufsichtigten Pandemie Bei diesen altbekannten Rezepten beider bewältigt werden müssen. Lager ist der Dreh- und Angelpunkt die Frage Das Ganze wird eingerahmt von einem de- der steuerlich Be- oder Entlastung: Während mografischen Wandel, in dessen Folge die vor allem aus den Reihen der FDP Steuersen- Rentenproblematik nur noch unter Finanzie- kungen – insbesondere für das mittelständische rungsvorbehalt diskutiert wird. Dieser Wandel Unternehmertum – das Wort geredet wird, geht mit einem Anstieg der alterungsbedingten deren Gegenfinanzierung von einem dadurch Staatsausgaben einher, sozusagen einer impli- ermöglichten Produktivitätswachstum reali- ziten Staatsverschuldung künftig anstehender siert werden soll, glauben SPD und Linke, aber Zahlungsverpflichtungen des Staates an die auch die Grünen, durch eine Erhöhung des Erb- Rentner und Pensionäre, deren Anzahl relati- schafts- und Spitzensteuersatzes sowie durch onal zu den erwerbstätigen Steuerzahlern von eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer Jahr zu Jahr wächst. Für alle Parteien stellt die Kosten einer abgestuften Umverteilung und sich daher die Frage nach der Bezahlbarkeit des Sozialstaates inklusive der anstehenden dieser Herkules-Aufgaben, zumal die gesamt- Klima- und Infrastrukturprojekte stemmen zu politische Lage als krisenhaft kommuniziert können. Wie dem auch sei: Bei der Identifi- wird. Insofern stehen wir also wieder einmal zierung der Profiteure und Verlierer der fiska- vor einer »alles entscheidenden Bundestags- lischen Wahlversprechen kommt im Rekurs auf wahl«, bei der es neben den vielen »kleineren die Ergebnisse des Mannheimer Zentrums für Zielen« insbesondere um die das Überleben der Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Rai- Menschheit bedrohende Klimakrise geht. Die ner Hank im ›Cicero‹ zum wenig überraschen- die Drei 5/2021 www.diedrei.org
18 Zeitgeschehen den Befund: »Die von der Union und FDP ver- dem Klimaschutz oberste Priorität eingeräumt sprochenen Steuerentlastungen bedeuten deut- werden muss. Das ist angesichts des in den liche finanzielle Vorteile für Besserverdiener. letzten Jahrzehnten gehäuften Auftretens von Die Programme von SPD, Linken und Grünen Dürreperioden, Waldbränden, Hitzerekorden, bringen hingegen für untere und mittlere Ein- Überschwemmungen, Sturmfluten und wegen kommen einen Zuwachs bei verfügbaren Ein- des zunehmenden CO2-Ausstoßes als angeblich kommen aus Nettolohn und Sozialtransfers.«1 maßgeblichem Antreiber der Klimakrise auch Nirgendwo, so scheint es, sind die Unter- naheliegend. Hier hat sich mit der 1980 gegrün- schiede in der politischen Parteienlandschaft so deten westdeutschen Partei ›Die Grünen‹, die groß wie in Fragen der Steuerpolitik. Je nach 1990 mit dem ostdeutschen ›Bündnis 90‹ fusi- Steuerplänen von Union, FDP, Linken, SPD onierte, eine aus ›Fundis‹ und ›Realos‹ zusam- und Grünen geht es um Be- und Entlastungen mengesetzte ›Protestpartei‹ etabliert, die sich der verschiedenen Einkommensklassen in einer in Sachen Klimawandel als prononcierter Sach- Spanne von 40.000 bis 300.000 Euro Bruttoein- verwalter dieser Überlebensfrage der Mensch- kommen jährlich. Im links-grünen Lager wird heit inszeniert, der zu wissen vorgibt, wie »die die Entlastung der Ärmeren auf Kosten einer Welt gerettet werden« könne.4 stärkeren Besteuerung der Reichen ermöglicht. Die Umsetzung des FDP-Programms würde den Ein Führungsduo für klimagerechten Wohlstand Staatshaushalt mit 88 Milliarden Euro belasten, während im Falle der Union mit 33 Milliarden Da bei der Weltrettung keine Zeit zu verlieren Euro gerechnet wird. Das Ganze mit Verzicht ist, formuliert ›Bündnis 90/Die Grünen‹ auch auf Steuererhöhungen unter Beibehaltung der die ambitioniertesten Klimaziele. Denn wäh- Schuldenbremse. Rainer Hank kommentiert rend die Unionsparteien und die FDP durch daher: »Das wird ökonomisch nur dann gut ge- technische Innovationen sowie den Ausbau hen, wenn das Wirtschaftswachstum derart an- erneuerbarer Energien unter Wahrung markt- springt, dass die Steuern von allein sprudeln.«2 wirtschaftlicher Prinzipien erst bis 2045 eine Mit Verweis auf Ralf Dahrendorfs Warnung, CO2-Neutralität erreichen wollen und ›Die Lin- dass »›die Suche nach Gleichheit der Bedin- ke‹ dasselbe fünf Jahre früher durch eine (Teil-) gungen und Resultate […] in der Tyrannei Verstaatlichung der Energiekonzerne sowie ei- enden‹ müsse«, argumentiert hingegen in Be- nen 20 Milliarden Euro schweren Transforma- zug auf die Folgen eines Umverteilungs-Für- tionsfonds, beabsichtigen die Grünen, in einem sorgestaates die FDP-Bundestagsabgeordnete Sofortprogramm schon bis 2030 den Emissi- Linda Teuteberg, dass »Volkswirtschaft kein ons-Ausstoß um 70% zu reduzieren. Um flotte Nullsummenspiel« ist, »dessen Ergebnis nur Sprüche waren sie dabei nicht verlegen. Nicht gerechter zu verteilen sei«.3 Diese Gefahr be- etwa von der AfD, sondern von den Grünen steht nicht nur dann, wenn mit Flug- und stammten der Wahlkampfslogan »Deutschland. Verbrennungsmotor-Verboten der CO2-Ausstoß Alles ist drin« und das Optimismus und Tat- reduziert werden soll, sondern wenn der Staat kraft verströmende Versprechen »Deutschland darüber hinaus in Belange eingreift, die außer- kann so viel mehr«. Ebenso verkündete Anna- halb seines Zuständigkeitsbereichs liegen. lena Baerbock voller Elan bei der Vorstellung Neben diesem Feld staatlich beaufsichtigter des Bundeswahlprogramms am 18. März 2021: Fiskalpolitik bietet auch der Themenschlager »Dies kann ein Jahrzehnt des mutigen Machens Klimapolitik Anlass für unterschiedliche Ge- und des Gelingens werden. Jetzt ist es Zeit für wichtungen in der Frage, ob der interventio- eine Politik, die über sich hinauswächst.«5 nistische Staat oder die freien Marktkräfte die Die Grünen traten mit der Doppelspitze An- Klimakrise am wirkungsvollsten »bekämpfen« nalena Baerbock und Robert Habeck und dem könnten. Mit Ausnahme der AfD scheint es eine Versprechen an, alle dringlich zu bewälti- parteiübergreifende Übereinstimmung, dass genden Modernisierungsaufgaben mit besseren die Drei 5/2021 www.diedrei.org
Zeitgeschehen 19 Konzepten zu begegnen als ihre Konkurrenz. den heraufbeschworenen Untergangsszenarien Dabei verstanden sie es in den Anfangszeiten selbst nicht so sehr, wie man vorgibt. des Wahlkampfes meisterhaft, sich selbst in Träfe dies zu, so dienten diese, als Mittel der Gestalt ihres stets bemüht locker-lasziv und ei- angsterzeugenden Übertreibung, dem wohl- nen hippen Unterhaltungswert ausstrahlenden feilen Zweck, für unumgänglich befundene Führungsduos zu inszenieren. Jeder Auf- Veränderungen durchzusetzen, bei denen man tritt garantierte eine postmodern grundierte, die Leute zu ihrem Glück tragen muss. Mit die- quasi-familiäre Partystimmung mit zwei sich sem Politik- bzw. Strategiemuster wäre man verständnisvoll zuzwinkernden, um Achtsam- vollends da angekommen, von wo man einst keit und Fairness bemühten Darstellern eines als »alternative Protestpartei« weg wollte: beim Leichtigkeit, Zuversichtlichkeit und Weltoffen- wohlkalkulierten Geschäft der Instrumentali- heit verkörpernden, neuen Politikertypus. sierung und einer Denkweise, bei der letztlich Diesen neuen Politik-Ikonen war die eupho- die hehren Ziele und Zwecke alle Mittel heili- risch-begeisterte Aufnahme eines Großteils der gen. Diese Denkweise würde aber »die Natur«, veröffentlichten Meinung gewiss, verkörperten zu deren Rettung sie vorgeblich antritt, genau- sie doch den herbeigesehnten Aufbruch ins so zum Objekt und Mittel degradieren. Neue, ausgestattet mit unverbrauchten intellek- tuellen Ressourcen und unerschöpflichen alter- Wolken am »grünen« Hoffnungshorizont nativen Energien. Die Grünen legten mit diesem Duo und ihrem Programm »eine Vitaminspritze Schnell verblasste die Anfangseuphorie um die für dieses Land vor«, einen »Aufschwung, der Grünen und deren Spitzenduo, besonders als über das rein Ökonomische hinausgeht«, in- die zur Kanzlerkandidatin gekürte Annalena dem er »für klimagerechten Wohlstand sorgt.«6 Baerbock sich eine Reihe misslicher Fehltritte Mit diesen begriffsakrobatischen Bemühungen, in Sachen Schönung der eigenen Biografie, zu durch die anscheinend der Eindruck einer den spät gemeldeter Sondereinkünfte usw. leistete. Wohlstand einschränkenden Klimapolitik ver- Für den Beobachter war auffällig, wie dünnhäu- mieden werden sollte, füllte man inhaltlich die tig und zum Teil verbal übergriffig Vertreter der Begeisterung auslösende Ausgangshymne, laut Grünen, die ansonsten in Sachen moralischer der »Deutschland viel mehr kann«, weil – dank Entrüstung alles andere als Zurückhaltung den Grünen – »Alles drin« ist. üben, auf diese »Enthüllungen« reagierten.7 In Angesichts eines rücksichtslos ausgeplün- gewohnter Oberlehrer-Manier, ausgestattet mit derten und zerstörten Ökosystems müssten einer seinen Kollegen und Kolleginnen eigenen alle »Kosten« zur Rettung des Planeten rela- Selbstgerechtigkeit, bügelte der Grünen-Politi- tive Größen und somit unumgänglich sein. Ein ker Jürgen Trittin in einem ›Spiegel‹-Interview zeitliches Hinausschieben notwendiger Maß- sämtliche Vorwürfe an Baerbock und an dem nahmen im Rahmen kleinlichen Taktierens um eigenartigen Auftritt seines Parteivorsitzenden Pfründe und diverse Besitztümer, deren Ver- Habeck in der Ukraine ab, bei dem letzterer gänglichkeit – vom Ende her gedacht – eine gegen die viel beschworene russische Aggres- ausgemachte Sache ist, erscheint unverant- sion Waffenlieferungen an die Ukraine das wortlich und gefährdet unserer aller Existenz. Wort sprach – ganz gegen den Geist der dies- Aus dieser Perspektive wirkt das den Zeitdruck bezüglichen EU-Beschlüsse und dem Grünen- anzeigende »Jetzt«, das zum festen Bestandteil Versprechen, keine Waffen in Kriegs- und Kri- der politischen Grammatik der Grünen gehört, sengebiete zu exportieren.8 unausweichlich. Umso unverständlicher mutet Allmählich entdeckte auch der ›Spiegel‹, an- aber aus dieser Perspektive die vorweggenom- sonsten den Grünen im Chor mit ›Stern‹, ›Süd- mene programmatische Kompromissformel ei- deutscher Zeitung‹, ›Frankfurter Rundschau‹ ner Vereinbarkeit von Wohlstand und klimage- und den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und rechten Handeln an – es sei denn, man glaubt Rundfunk-Anstalten sehr zugetan, dass dort, die Drei 5/2021 www.diedrei.org
20 Zeitgeschehen wo die Grünen auf Landesebene mitregieren, die dem Establishment den Kampf ansagte, sich eine Kluft zwischen Macht und Moral auf- nicht verwundern, gehört doch zum Erwach- tut, meist auf Kosten der »grünen Ideale«. Der senwerden die desillusionierende Einsicht, dass mehr einfühlende als kritische Artikel zieht ein die Jugend-Ideale sich an den Sachzwängen Fazit, das Aufhorchen lässt: »Paradoxerweise der Lebenswirklichkeiten abschleifen und letzt- waren die Grünen bis dato gerade dort erfolg- lich verbrauchen, bis sie verstummen – wenn reich, wo die Widersprüche zwischen den ei- nicht aus eigener innerer Gedankenkraft selbst genen Grundwerten und der Realpolitik beson- anerzogene Ideale an ihre Stelle gesetzt wer- ders offensichtlich wurden.«9 den können. So gesehen reihen sich die Grünen Hätte der ›Spiegel‹ hier nachgehakt, so wäre nahtlos in den Reigen der Parteienlandschaft er wohl auf die spezifische Bewusstseinsverfas- mit all ihren Ecken und Kanten und ihren gele- sung eines erklecklichen Teils des Grünen-af- gentlich zutage geförderten Korruptionsaffären finen, gutverdienenden, akademisch-urbanen, und anderen Unregelmäßigkeiten ein, wäre da mit postmodernen Werten liebäugelnden Mili- nicht das hohe moralische Ross, auf dem die eus aufmerksam geworden, für das ein gewisses grüne Epigonen-Schar durch die Niederungen Maß an Doppelmoral und die Kluft zwischen der bundesdeutschen Politik dahinreitet und obligatorischen Klima- und Weltrettungsver- sich selbst als Lehrmeister in Sachen Demokra- lautbarungen einerseits und der eigenen Le- tie, Transparenz und Menschenrechte feiert. benswirklichkeit mitsamt privilegierten (post-) materiellen Selbstverwirklichungsansprüchen Grüne Außen- und Sicherheitspolitik andererseits kein Problem zu sein scheint.10 All das wären Lappalien, tönte aus diesem Milieu In besonderer Schärfe tut sich hier das regel- nicht penetrant das Loblied auf eine moralisie- mäßig vernachlässigte Feld außen- und si- rende Art der Politik, die Forderungen stets nur cherheitspolitischer Themen auf, in dem die an die Anderen adressiert – also an Menschen, Grünen einst – lang ist’s her – als friedens- die einfach »noch nicht so weit« sind, oder an politische Kraft par excellence reüssierten, bis den Staat, noch besser internationale Instituti- dann der Entschluss des damaligen grünen Au- onen, die es richten sollen. ßenministers Joschka Fischer 1999 beim völ- Dazu kann man mit Rüdiger Safranski schlicht kerrechtswidrigen Krieg gegen Ex-Jugoslawien konstatieren: »Aber vergessen wir nicht: Wer mitzuwirken, diesem Traum ein jähes Ende moralisch argumentiert, ist deshalb noch nicht bereitete. Die Häutung begann. Heute ist sie moralisch.«11 Und man darf sich dann auch in folgendem Stadium angelangt: Zur Begrün- selbst an moralischen Maßstäben messen las- dung ihrer Ablehnung der Gas-Pipeline ›Nord- sen. So heißt es in einem Beitrag in der ›Welt‹ Stream 2‹, welche die USA sowohl unter Do- vom 26. August 2021: »Der Leiter von Anna- nald Trump als auch aktuell unter Joe Biden lena Baerbocks Wahlkampftour kommt von mit allen Mitteln verhindern wollten, erklärte einer Agentur, die auch PR für Saudi-Arabien Baerbock: »Ich halte diese Pipeline nach wie organisierte. Flexibel bei Partnern aus der Wirt- vor für falsch, aus klimapolitischen Gründen, schaft war auch Baerbocks Mann. Kaum eine aber vor allem auch geostrategisch.«13 Partei hat sich in den vergangenen Jahren so Dieses Statement ist nun im Kontext eines gegen intransparente Lobbypraktiken engagiert Aufrufs der Parteistiftung von ›Bündnis 90/Die wie die Grünen. Gemessen daran ist zumindest Grünen‹, der Heinrich-Böll-Stiftung zu lesen, in auffällig, wie eng ausgerechnet einige Leute dem für eine »substanzielle Erhöhung« des deut- aus dem Umfeld von Spitzenkandidatin Anna- schen Militäretats, für ein Fortbestehen der Sta- lena Baerbock in die Berliner PR- und Lobby- tionierung von US-Atomwaffen in Deutschland szene eingebunden sind.«12 als Bestandteil der »nuklearen Teilhabe« gewor- Nun mag dieser Gang in die Niederungen der ben wird. Dass dieser Aufruf keine zu vernach- Realpolitik einer ehemaligen Alternativ-Partei, lässigende Randerscheinung im Stiftungs- und die Drei 5/2021 www.diedrei.org
Zeitgeschehen 21 Politikgefüge der bundesdeutschen Parteien ist, als Methode unscheinbaren, dabei in kalku- zeigt folgende prominente Schar von Förderern lierender Abwägung von Interessenlagen sich und Unterstützern desselben. Neben den Auto- geschickt durchschlängelnden Regierens ist in ren und Unterzeichnern in Gestalt des Vorsit- Anbetracht dessen, was grünes Machtkalkül an zenden der Grünen-Stiftung sowie eines »Ge- ungemütlichen Überraschungen bereithält, im neralleutnant a.D. der Bundeswehr genannt, Grunde ein indirektes Lob. Der ökologische Re- der 2014 als hochrangiger NATO-Funktionär duktionismus der Grünen ist nur das eine Pro- federführend mit der NATO-Neuausrichtung blem. Jochen Bittner hat in der ›Zeit‹ detailliert gegen Russland befasst war«, finden sich als dargelegt, inwiefern hier »in Wahrheit wenig Unterzeichner Mitarbeiter folgender transat- Zukunftsweisendes«16 kommt. lantischer Außenpolitik-Think-Tanks: ›Atlan- Die angedeutete außen- und sicherheitspoli- tik-Brücke‹, ›German Marshall Fund of the tische Stoßrichtung der Grünen entspricht den United States‹, ›Aspen Institute Deutschland‹, Träumen jener Hardliner, denen Kooperation außerdem Patrick Keller, Vizepräsident der ein Gräuel ist. Hier geht es immerhin um die Bundesakademie für Sicherheitspolitik und an- Frage von Krieg und Frieden. Es macht schon dere ranghohe Militärs. Dazu heißt es in dem stutzig, mit welch demonstrativer Selbstver- Portal ›German Foreign Policy‹ weiter: »Die of- ständlichkeit man sich anschickte, zum Partei- fen zur Schau gestellte programmatische Nähe tag von ›Bündnis 90/Die Grünen‹ die frühere der grünen Parteistiftung zu hochrangigen Ex- US-Außenministerin Madeleine Albright als NATO-Militärs ist in dieser Form neu.« Und zur Gastrednerin einzuladen, eine Person, die Erklärung dieser Besonderheit wird angeführt: durch folgenden »Offenbarungseid« Eingang »Der Vorstoß der Grünen-Parteistiftung in Sa- in die Geschichtsbücher finden dürfte: Lesley chen Militarisierung und Nukleare Teilhabe Stahl vom amerikanischen Fernsehmagazin ›60 erfolgt parallel zu einer Zuspitzung der Außen- Minutes‹ stellte Albright, damals US-Botschaf- politik der Partei, die immer aggressiver gegen terin bei der UNO, am 12. Mai 1996 folgende China und gegen Russland mobilisiert – und Frage: »›Wir haben gehört, dass eine halb sich damit als Speerspitze im Kampf um die Million Kinder im Irak gestorben ist. Das sind Festigung der im Niedergang begriffenen globa- mehr als in Hiroshima starben. Ist das den Preis len Hegemonie des Westens profiliert. ›Putins wert?‹ Madelaine Albright antwortete: ›Ich fin- Russland ist kein Partner für uns, sondern ein de, dies ist eine sehr schwierige Wahl, aber der Gegner‹, erklärte unlängst der Grünen-Bundes- Preis … Wir meinen, es ist den Preis wert.‹«17 tagsabgeordnete Cem Özdemir. Bündnis 90/ Wie steht es da mit der Moral der Grünen? Die Grünen gilt schon seit Jahren als ›Partei der Besserverdienenden, die bei einem globa- Ein Plädoyer gegen Bevormundung len Abstieg mehr als andere zu verlieren haben. Bereits 2004 zeigten Umfragen, dass Mitglieder Aber jenseits von Ökologie und Außenpolitik der Grünen beim Durchschnittseinkommen die wäre auch die Frage nach dem Fortbestand Mitglieder der FDP – zuvor die Nummer eins – und Erhalt einer offenen, durch Toleranz und klar überholt hatten.«14 geistige Freiheit charakterisierten Gesellschaft Angesichts solch angedeuteter Aussichten zu stellen. Angeregt durch bestimmte Milieus, im Falle einer mit ziemlicher Sicherheit ein- so Jens Jessens Beobachtung in der ›Zeit‹ vom tretenden Regierungsbeteiligung der Grünen 26. August 2021, droht das gesellschaftliche erscheint deren Klage über die alternativlose Miteinander in eine (Un-)Kultur des Verdachts, Konzept- und Ideenlosigkeit der »Alt-Parteien« der Beaufsichtigung und Bevor mundung von Union, SPD und FDP geradezu als un- umzuschlagen. Es seien im Folgenden einige freiwilliges Lob. Auch die ironisierende Rede- Passagen aus seinem lesenswerten Artikel ›Ne- wendung vom alle Zeiten überdauernden, alle benan lauert der Nachbar‹ zitiert: »Ob es ums Parteien durchdringenden »Merkelismus«15 Impfen, die Klimarettung oder den Genderstern die Drei 5/2021 www.diedrei.org
22 Zeitgeschehen geht – die Politik dringt zunehmend in das kratischen Staat bisher nicht zugebilligt […] Privatleben vor und sät Misstrauen. [...] Sind hat. Es war eine Sache sozialistischer und an- die Nachbarn womöglich Impfverweigerer und derer Diktaturen, dem Bürger einen bestimm- insofern für die nicht endenden Corona-Be- ten Lebensstil vorzuschreiben, bestimmte schränkungen meines All tags mitverantwort- sprachliche Ausdrucksformen zu fordern, Bü- lich? Fahren sie mit dem schweren SUV und cher zu verbieten oder umzuschreiben. […] ruinieren damit das Weltklima, oder gehören Jetzt sieht es so aus, als könne es auch in der sie umgekehrt zu den grünen Fanatikern, die parlamentarischen Demokratie zu weitgehen- mir die Freude am Autofahren verderben? [...] der Bevormundung und Gängelung kommen: Die Gesinnung hat das Private […] und darum Wenn die Regierungsbildung durch Milieus Tolerierbare verloren. […] Und diese Aussicht bestimmt wird, die sich oder die ganze Welt eröffnen beileibe nicht nur die grüne Partei in einem Not-und Ausnahmezustand wähnen, und ihre vielleicht sogar überlebensnotwen- der geradezu danach schreit, die Minderheiten, dige Umweltpolitik. Es sind auch andere Par- die sie für den Notstand verantwortlich ma- teien, die mit einer rigorosen Wohnungspolitik chen (Klimasünder, Impfverweigerer, ›alte wei- (durch ausufernden Bau, Mie tendeckelung, ße Männer‹) zu gängeln und umzuerziehen.« Enteignungsdrohung) oder mit einer moralisch zensierenden Sprachpolitik tief in das Leben, Gerd Weidenhausen, geb. 1955, studierte Erzie- sogar in das Gewissen der Bürger eingreifen hungswissenschaften und Kunsttherapie/Kunst- wollen. Es ist eine Rolle, die man dem demo- pädagogik, tätig als Waldorflehrer und Autor. 1 Rainer Hank: ›Wettbewerb für ein besseres richtende Repressionen bei gleichzeitigem Einsatz Deutschland‹, in ›Cicero – Sonderheft Bundestags- für symbolpolitische und finanzielle Anerkennung wahl 2021‹, August 2021, S. 61. ihrer Klientel. Wagenknecht weist auch inhaltlich 2 A.a.O., S. 63. das Begriffspaar »linksliberal« als unzutreffend aus, 3 Linda Teuteberg: ›Wir sind für alle, die Fortschritt denn als Linker müsste man sich für die Verbesse- wollen‹, in: ›Die Zeit‹ vom 19. August 2021. rung der Lebensbedingungen ökonomisch Benach- 4 Vgl. Ullrich Fichtner: ›Fundis, Realos, Hedonisten teiligter einsetzen, als Liberaler für bedingungslose – Das grüne Dilemma‹, in: ›Der Spiegel‹ Nr. 22 vom Denk- und Redefreiheit statt einer Praxis der Cancel 29. Mai 2021. Culture. Das Vorhalten dieses Spiegels hat einige Ge- 5 www.facebook.com/B90DieGruenen/vi- nossen in der ›Linken‹ dazu bewogen, gegen die Au- deos/die-pr%C3%A4sentation-des-entwurfs- torin ein Parteiausschlussverfahren anzustrengen. f%C3%BCr-unser-wahlprogramm-zur-bundestags- 11 www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Inter- wahl-2021/823509218245005/ view-Safranski-Die-politische-Kultur-wirkt-fast-wie- 6 A.a.O. ein-schlechter-Witz-id60369366.html 7 Lucien Scherrer: ›Autoritäre Reflexe – Wenn Grü- 12 Uwe Müller & Hans-Martin Tillack: ›Der erstaun- ne in den Trump-Modus verfallen‹ – www.nzz.ch/ liche Pragmatismus der Baerbock-Vertrauten‹, in: feuilleton/autoritaere-reflexe-wenn-gruene-in-den- ›Die Welt‹ vom 26. August 2021. trump-modus-verfallen-ld.1635177 13 www.heise.de/tp/features/Nord-Stream-2-Die- 8 ›»Wir werden angegriffen, da passieren Fehler«‹, Suche-nach-dem-Hebel-gegen-Russland-und-das- in: ›Der Spiegel‹ Nr. 22 vom 29. Mai 2021. Klima-6146878.html 9 Matthias Bartsch u.a.: ›Gegenwind für Baerbock 14 www.german-foreign-policy.com/news/de- und Habeck: Die Grünen zwischen Macht und Mo- tail/8504/ ral‹, in: a.a.O., S. xy. 15 www.freitag.de/autoren/der-freitag/merkel- 10 Vgl Sahra Wagenknecht: ›Die Selbstgerechten‹, tritt-ab-der-merkelismus-lebt-weiter Frankfurt a.M. 2021. In diesem lesenswerten Buch 16 Jochen Bittner: ›Land der Amateure‹, in ›Die desavouiert die Autorin nicht nur das »links-libe- Zeit‹ Nr. 34 vom 19. August 2021. rale« Selbstverständnis identitätspolitischer Strei- 17 Zitiert nach Karl Ove Knausgard: ›Das Amerika ter im Kampf gegen allerlei sich gegen Minoritäten der Seele‹, München 2016, S. 387. die Drei 5/2021 www.diedrei.org
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