Die Zuschauer-Demokratie und ihre Akteure - Gerd Weidenhausen

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Gerd Weidenhausen

Die Zuschauer-Demokratie und ihre Akteure
Politik-Inszenierung im Wahlkampf 2021 am Beispiel der Klimarettung

Eine unter den vielen Eigentümlichkeiten der         tung für Demokratie und Menschenwürde«
alle vier Jahre stattfindenden Bundestags-           usw. firmieren dann solche als »Gesamtinteres-
wahlen ist, dass die Wahlberechtigten von den        se« ausgegebenen Bündel von Partikularinte-
um ihre Gunst buhlenden Parteien bei ihren           ressen. Der verantwortungsvolle Staatsbürger
privaten Unzufriedenheiten »abgeholt« werden.        soll sich so mit einer »größeren Sache«, dem
Die Politiker versprechen den Wählern, diese         »nationalen Interesse« oder der »westlichen
Probleme im Falle ihres Wahlsieges zu beheben        Wertegemeinschaft« identifizieren können. Die
– insofern und insoweit die mit dem künfti-          Wahlen garantieren in der repräsentativen De-
gen Koalitionspartner einzugehenden Kompro-          mokratie letztlich das Einvernehmen der Wahl-
misse das zulassen. In den Wahlprogrammen            berechtigten über die nach den Wahlen über sie
werden diese Probleme nach Themengebieten            verhängte Politik.
aufgelis­
        tet und Lösungskonzepte vorgestellt.           Weil dem so ist, macht der Wähler in Kennt-
Diese Vorstellungen über Wirtschafts-, Sozial-,      nis dieses Umstands vorab Abstriche bei den an
Bildungs-, Gesundheits- und Sicherheits- bis hin     ihn herangetragenen Wahlversprechen. Er geht
zur Außenpolitik sollen den Wahlberechtigten         somit nicht demokratietheoretisch, sondern
als Orientierung dienen. Die Politiker hoffen,       pragmatisch ans Werk seiner Stimmabgabe.
auf diese Weise die Bevölkerung so beein-            Indem er seine politische Handlungsvollmacht
flussen zu können, dass ihre Partei durch die        an die gewählten Volksvertreter delegiert,
Stimm­abgabe von den Wählern zum Vollzug ih-         macht er sich zum Zuschauer, Beobachter und
rer Programme ermächtigt werden. Diese Form          kritischem oder zustimmendem Kommentator
der Ermächtigung im Sinne eines Delegierens          des an ihm vollzogenen Regierungshandelns.
von politischer Handlungsvollmacht an die            Er wird zum Objekt der Staatsgeschäfte.
gewählten Volksvertreter macht den Kern der            Der allseitigen Bedienung dieser Wählerbe-
repräsentativen Demokratie aus. Die allseits ge-     dürfnisse sind jedoch – allein schon wegen der
lobte und als beste aller Welten erachtete Staats-   horrenden Staatsverschuldung – Grenzen ge-
form besteht somit darin, dass Privatinteressen      setzt. Genau an dieser Bruch- bzw. Baustelle
der Staatsbürger als gesellschaftliches Problem      entlang argumentieren über alle Legislaturpe­
gewürdigt und in ein ideelles Gesamtinteresse        rioden hinweg jene Parteien, die sich traditi-
überführt werden. Unter verschiedenen Slogans        onell auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit
wie: »Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes«,          fokussieren und daher erhöhte Staatsausgaben
»Vereinbarkeit von Klimaschutz und wirtschaft-       als das kleinere Übel betrachten. Demgegenü-
licher Leistungsfähigkeit«, »globale Verantwor-      ber stehen jene Parteien, die den Fürsorgestaat

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Zeitgeschehen                                                                                         17

als Hemmschuh der freien Marktwirtschaft und        Medien inspizieren eifrig wie die römischen
des Unternehmertums sehen. Eine Partei aller-       Auguren Programmatik und Personal der an-
dings beansprucht für sich, sowohl die Staats-      geblich bunter gewordenen Parteienlandschaft
als auch die Wirtschaftsseite im alle diese Teil-   und unterziehen diese einer mehr oder weni-
fragen überragenden Überlebensinteresse der         ger kritischen Würdigung. Was sagen also die
Gesamtmenschheit – Stichwort Klimakrise –           Auspizien? Wie sieht unsere Zukunft in Anbe-
bedienen zu können.                                 tracht dieser politischen Vorhaben aus?
   Politiker erbringen keine wirtschaftlichen
Leistungen. Sie müssen auf diese zurückgrei-
                                                    Freier Markt oder staatlicher Interventionismus
fen, wenn sie ihre Versprechungen zumindest
ansatzweise umsetzen wollen. Der wirtschaft-        Zunächst lassen sich holzschnittartig zwei La-
lich tätige Staatsbürger muss somit dem Staat       ger ausmachen, deren Antworten auf die ge-
Steuern entrichten. Weil sich Steuern nicht be-     nannten Fragen der Krisenbewältigung allzu
liebig vermehren oder erhöhen lassen, finan-        neu nicht sind: Während der marktwirtschaft-
zieren Politiker ihre Wohltaten über Kredite.       lich orientierte, liberal-konservative Block aus
Die Staatsverschuldung Deutschland ist mitt-        Freien Demokraten und Union in der von staat-
lerweile auf etwa 2,3 Billionen Euro angestie-      lichen Eingriffen und Restriktionen unangetas­
gen, die laut Haushaltsentwurf des Bundes für       teten Kreativität der Wirtschaftskraft die ange-
das kommende Jahr um eine Neuverschuldung           messene Antwort auf die Herausforderungen
von 100 Milliarden Euro ergänzt werden muss.        sieht, setzt man im links-grünen Lager von
Da stellt sich die Frage, wie, wann und in wel-     SPD, Linken und Grünen mehr oder minder
chem Ausmaß das Staatsbudget für welche             auf staatlichen Interventionismus, sei es durch
Interessengruppen und Sachgebiete bzw. Pro-         die staatliche Gewährleistung von ideellen Rah-
blemfelder verteilt werden kann – insbesonde-       menbedingungen für den Umbau hin zu einer
re dann, wenn eine kostenintensive Energie-         ökologischen Energiewirtschaft, sei es durch ei-
wende bevorsteht, eine marode Infrastruktur         nen weiteren Ausbau des Sozialstaats auf dem
saniert werden muss und vor allem die Folge-        Wege der Umverteilung von Steuergeldern.
kosten der staatlich beaufsichtigten Pandemie          Bei diesen altbekannten Rezepten beider
bewältigt werden müssen.                            Lager ist der Dreh- und Angelpunkt die Frage
   Das Ganze wird eingerahmt von einem de-          der steuerlich Be- oder Entlastung: Während
mografischen Wandel, in dessen Folge die            vor allem aus den Reihen der FDP Steuersen-
Rentenproblematik nur noch unter Finanzie-          kungen – insbesondere für das mittelständische
rungsvorbehalt diskutiert wird. Dieser Wandel       Unternehmertum – das Wort geredet wird,
geht mit einem Anstieg der alterungsbedingten       deren Gegenfinanzierung von einem dadurch
Staatsausgaben einher, sozusagen einer impli-       ermöglichten Produktivitätswachstum reali-
ziten Staatsverschuldung künftig anstehender        siert werden soll, glauben SPD und Linke, aber
Zahlungsverpflichtungen des Staates an die          auch die Grünen, durch eine Erhöhung des Erb-
Rentner und Pensionäre, deren Anzahl relati-        schafts- und Spitzensteuersatzes sowie durch
onal zu den erwerbstätigen Steuerzahlern von        eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer
Jahr zu Jahr wächst. Für alle Parteien stellt       die Kosten einer abgestuften Umverteilung und
sich daher die Frage nach der Bezahlbarkeit         des Sozialstaates inklusive der anstehenden
dieser Herkules-Aufgaben, zumal die gesamt-         Klima- und Infrastrukturprojekte stemmen zu
politische Lage als krisenhaft kommuniziert         können. Wie dem auch sei: Bei der Identifi-
wird. Insofern stehen wir also wieder einmal        zierung der Profiteure und Verlierer der fiska-
vor einer »alles entscheidenden Bundestags-         lischen Wahlversprechen kommt im Rekurs auf
wahl«, bei der es neben den vielen »kleineren       die Ergebnisse des Mannheimer Zentrums für
Zielen« insbesondere um die das Überleben der       Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Rai-
Menschheit bedrohende Klimakrise geht. Die          ner Hank im ›Cicero‹ zum wenig überraschen-

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den Befund: »Die von der Union und FDP ver-        dem Klimaschutz oberste Priorität eingeräumt
sprochenen Steuerentlastungen bedeuten deut-       werden muss. Das ist angesichts des in den
liche finanzielle Vorteile für Besserverdiener.    letzten Jahrzehnten gehäuften Auftretens von
Die Programme von SPD, Linken und Grünen           Dürreperioden, Waldbränden, Hitzerekorden,
bringen hingegen für untere und mittlere Ein-      Überschwemmungen, Sturmfluten und wegen
kommen einen Zuwachs bei verfügbaren Ein-          des zunehmenden CO2-Ausstoßes als angeblich
kommen aus Nettolohn und Sozialtransfers.«1        maßgeblichem Antreiber der Klimakrise auch
   Nirgendwo, so scheint es, sind die Unter-       naheliegend. Hier hat sich mit der 1980 gegrün-
schiede in der politischen Parteienlandschaft so   deten westdeutschen Partei ›Die Grünen‹, die
groß wie in Fragen der Steuerpolitik. Je nach      1990 mit dem ostdeutschen ›Bündnis 90‹ fusi-
Steuerplänen von Union, FDP, Linken, SPD           onierte, eine aus ›Fundis‹ und ›Realos‹ zusam-
und Grünen geht es um Be- und Entlastungen         mengesetzte ›Protestpartei‹ etabliert, die sich
der verschiedenen Einkommensklassen in einer       in Sachen Klimawandel als prononcierter Sach-
Spanne von 40.000 bis 300.000 Euro Bruttoein-      verwalter dieser Überlebensfrage der Mensch-
kommen jährlich. Im links-grünen Lager wird        heit inszeniert, der zu wissen vorgibt, wie »die
die Entlastung der Ärmeren auf Kosten einer        Welt gerettet werden« könne.4
stärkeren Besteuerung der Reichen ermöglicht.
Die Umsetzung des FDP-Programms würde den
                                                   Ein Führungsduo für klimagerechten Wohlstand
Staatshaushalt mit 88 Milliarden Euro belasten,
während im Falle der Union mit 33 Milliarden       Da bei der Weltrettung keine Zeit zu verlieren
Euro gerechnet wird. Das Ganze mit Verzicht        ist, formuliert ›Bündnis 90/Die Grünen‹ auch
auf Steuererhöhungen unter Beibehaltung der        die ambitioniertesten Klimaziele. Denn wäh-
Schuldenbremse. Rainer Hank kommentiert            rend die Unionsparteien und die FDP durch
daher: »Das wird ökonomisch nur dann gut ge-       technische Innovationen sowie den Ausbau
hen, wenn das Wirtschaftswachstum derart an-       erneuerbarer Energien unter Wahrung markt-
springt, dass die Steuern von allein sprudeln.«2   wirtschaftlicher Prinzipien erst bis 2045 eine
   Mit Verweis auf Ralf Dahrendorfs Warnung,       CO2-Neutralität erreichen wollen und ›Die Lin-
dass »›die Suche nach Gleichheit der Bedin-        ke‹ dasselbe fünf Jahre früher durch eine (Teil-)
gungen und Resultate […] in der Tyrannei           Verstaatlichung der Energiekonzerne sowie ei-
enden‹ müsse«, argumentiert hingegen in Be-        nen 20 Milliarden Euro schweren Transforma-
zug auf die Folgen eines Umverteilungs-Für-        tionsfonds, beabsichtigen die Grünen, in einem
sorgestaates die FDP-Bundestagsabgeordnete         Sofortprogramm schon bis 2030 den Emissi-
Linda Teuteberg, dass »Volkswirtschaft kein        ons-Ausstoß um 70% zu reduzieren. Um flotte
Nullsummenspiel« ist, »dessen Ergebnis nur         Sprüche waren sie dabei nicht verlegen. Nicht
gerechter zu verteilen sei«.3 Diese Gefahr be-     etwa von der AfD, sondern von den Grünen
steht nicht nur dann, wenn mit Flug- und           stammten der Wahlkampfslogan »Deutschland.
Verbrennungsmotor-Verboten der CO2-Ausstoß         Alles ist drin« und das Optimismus und Tat-
reduziert werden soll, sondern wenn der Staat      kraft verströmende Versprechen »Deutschland
darüber hinaus in Belange eingreift, die außer-    kann so viel mehr«. Ebenso verkündete Anna-
halb seines Zuständigkeitsbereichs liegen.         lena Baerbock voller Elan bei der Vorstellung
   Neben diesem Feld staatlich beaufsichtigter     des Bundeswahlprogramms am 18. März 2021:
Fiskalpolitik bietet auch der Themenschlager       »Dies kann ein Jahrzehnt des mutigen Machens
Klimapolitik Anlass für unterschiedliche Ge-       und des Gelingens werden. Jetzt ist es Zeit für
wichtungen in der Frage, ob der interventio-       eine Politik, die über sich hinauswächst.«5
nistische Staat oder die freien Marktkräfte die       Die Grünen traten mit der Doppelspitze An-
Klimakrise am wirkungsvollsten »bekämpfen«         nalena Baerbock und Robert Habeck und dem
könnten. Mit Ausnahme der AfD scheint es eine      Versprechen an, alle dringlich zu bewälti-
parteiübergreifende Übereinstimmung, dass          genden Modernisierungsaufgaben mit besseren

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Konzepten zu begegnen als ihre Konkurrenz.         den heraufbeschworenen Untergangsszenarien
Dabei verstanden sie es in den Anfangszeiten       selbst nicht so sehr, wie man vorgibt.
des Wahlkampfes meisterhaft, sich selbst in          Träfe dies zu, so dienten diese, als Mittel der
Gestalt ihres stets bemüht locker-lasziv und ei-   angsterzeugenden Übertreibung, dem wohl-
nen hippen Unterhaltungswert ausstrahlenden        feilen Zweck, für unumgänglich befundene
Führungsduos zu inszenieren. Jeder Auf-            Veränderungen durchzusetzen, bei denen man
tritt garantierte eine postmodern grundierte,      die Leute zu ihrem Glück tragen muss. Mit die-
quasi-familiäre Partystimmung mit zwei sich        sem Politik- bzw. Strategiemuster wäre man
verständnisvoll zuzwinkernden, um Achtsam-         vollends da angekommen, von wo man einst
keit und Fairness bemühten Darstellern eines       als »alternative Protestpartei« weg wollte: beim
Leichtigkeit, Zuversichtlichkeit und Weltoffen-    wohlkalkulierten Geschäft der Instrumentali-
heit verkörpernden, neuen Politikertypus.          sierung und einer Denkweise, bei der letztlich
   Diesen neuen Politik-Ikonen war die eupho-      die hehren Ziele und Zwecke alle Mittel heili-
risch-begeisterte Aufnahme eines Großteils der     gen. Diese Denkweise würde aber »die Natur«,
veröffentlichten Meinung gewiss, verkörperten      zu deren Rettung sie vorgeblich antritt, genau-
sie doch den herbeigesehnten Aufbruch ins          so zum Objekt und Mittel degradieren.
Neue, ausgestattet mit unverbrauchten intellek-
tuellen Ressourcen und unerschöpflichen alter-
                                                   Wolken am »grünen« Hoffnungshorizont
nativen Energien. Die Grünen legten mit diesem
Duo und ihrem Programm »eine Vitaminspritze        Schnell verblasste die Anfangseuphorie um die
für dieses Land vor«, einen »Aufschwung, der       Grünen und deren Spitzenduo, besonders als
über das rein Ökonomische hinausgeht«, in-         die zur Kanzlerkandidatin gekürte Annalena
dem er »für klimagerechten Wohlstand sorgt.«6      Baerbock sich eine Reihe misslicher Fehltritte
Mit diesen begriffsakrobatischen Bemühungen,       in Sachen Schönung der eigenen Biografie, zu
durch die anscheinend der Eindruck einer den       spät gemeldeter Sondereinkünfte usw. leis­tete.
Wohlstand einschränkenden Klimapolitik ver-        Für den Beobachter war auffällig, wie dünnhäu-
mieden werden sollte, füllte man inhaltlich die    tig und zum Teil verbal übergriffig Vertreter der
Begeisterung auslösende Ausgangshymne, laut        Grünen, die ansonsten in Sachen moralischer
der »Deutschland viel mehr kann«, weil – dank      Entrüstung alles andere als Zurückhaltung
den Grünen – »Alles drin« ist.                     üben, auf diese »Enthüllungen« reagierten.7 In
   Angesichts eines rücksichtslos ausgeplün-       gewohnter Oberlehrer-Manier, ausgestattet mit
derten und zerstörten Ökosystems müssten           einer seinen Kollegen und Kolleginnen eigenen
alle »Kosten« zur Rettung des Planeten rela-       Selbstgerechtigkeit, bügelte der Grünen-Politi-
tive Größen und somit unumgänglich sein. Ein       ker Jürgen Trittin in einem ›Spiegel‹-Interview
zeitliches Hinausschieben notwendiger Maß-         sämtliche Vorwürfe an Baerbock und an dem
nahmen im Rahmen kleinlichen Taktierens um         eigenartigen Auftritt seines Parteivorsitzenden
Pfründe und diverse Besitztümer, deren Ver-        Habeck in der Ukraine ab, bei dem letzterer
gänglichkeit – vom Ende her gedacht – eine         gegen die viel beschworene russische Aggres-
ausgemachte Sache ist, erscheint unverant-         sion Waffenlieferungen an die Ukraine das
wortlich und gefährdet unserer aller Existenz.     Wort sprach – ganz gegen den Geist der dies-
Aus dieser Perspektive wirkt das den Zeitdruck     bezüglichen EU-Beschlüsse und dem Grünen-
anzeigende »Jetzt«, das zum festen Bestandteil     Versprechen, keine Waffen in Kriegs- und Kri-
der politischen Grammatik der Grünen gehört,       sengebiete zu exportieren.8
unausweichlich. Umso unverständlicher mutet           Allmählich entdeckte auch der ›Spiegel‹, an-
aber aus dieser Perspektive die vorweggenom-       sonsten den Grünen im Chor mit ›Stern‹, ›Süd-
mene programmatische Kompromissformel ei-          deutscher Zeitung‹, ›Frankfurter Rundschau‹
ner Vereinbarkeit von Wohlstand und klimage-       und den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und
rechten Handeln an – es sei denn, man glaubt       Rundfunk-Anstalten sehr zugetan, dass dort,

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wo die Grünen auf Landesebene mitregieren,          die dem Establishment den Kampf ansagte,
sich eine Kluft zwischen Macht und Moral auf-       nicht verwundern, gehört doch zum Erwach-
tut, meist auf Kosten der »grünen Ideale«. Der      senwerden die desillusionierende Einsicht, dass
mehr einfühlende als kritische Artikel zieht ein    die Jugend-Ideale sich an den Sachzwängen
Fazit, das Aufhorchen lässt: »Paradoxerweise        der Lebenswirklichkeiten abschleifen und letzt-
waren die Grünen bis dato gerade dort erfolg-       lich verbrauchen, bis sie verstummen – wenn
reich, wo die Widersprüche zwischen den ei-         nicht aus eigener innerer Gedankenkraft selbst
genen Grundwerten und der Realpolitik beson-        anerzogene Ideale an ihre Stelle gesetzt wer-
ders offensichtlich wurden.«9                       den können. So gesehen reihen sich die Grünen
   Hätte der ›Spiegel‹ hier nachgehakt, so wäre     nahtlos in den Reigen der Parteienlandschaft
er wohl auf die spezifische Bewusstseinsverfas-     mit all ihren Ecken und Kanten und ihren gele-
sung eines erklecklichen Teils des Grünen-af-       gentlich zutage geförderten Korruptionsaffären
finen, gutverdienenden, akademisch-urbanen,         und anderen Unregelmäßigkeiten ein, wäre da
mit postmodernen Werten liebäugelnden Mili-         nicht das hohe moralische Ross, auf dem die
eus aufmerksam geworden, für das ein gewisses       grüne Epigonen-Schar durch die Niederungen
Maß an Doppelmoral und die Kluft zwischen           der bundesdeutschen Politik dahinreitet und
obligatorischen Klima- und Weltrettungsver-         sich selbst als Lehrmeister in Sachen Demokra-
lautbarungen einerseits und der eigenen Le-         tie, Transparenz und Menschenrechte feiert.
benswirklichkeit mitsamt privilegierten (post-)
materiellen Selbstverwirklichungsansprüchen
                                                    Grüne Außen- und Sicherheitspolitik
andererseits kein Problem zu sein scheint.10 All
das wären Lappalien, tönte aus diesem Milieu        In besonderer Schärfe tut sich hier das regel-
nicht penetrant das Loblied auf eine moralisie-     mäßig vernachlässigte Feld außen- und si-
rende Art der Politik, die Forderungen stets nur    cherheitspolitischer Themen auf, in dem die
an die Anderen adressiert – also an Menschen,       Grünen einst – lang ist’s her – als friedens-
die einfach »noch nicht so weit« sind, oder an      politische Kraft par excellence reüssierten, bis
den Staat, noch besser internationale Instituti-    dann der Entschluss des damaligen grünen Au-
onen, die es richten sollen.                        ßenministers Joschka Fischer 1999 beim völ-
   Dazu kann man mit Rüdiger Safranski schlicht     kerrechtswidrigen Krieg gegen Ex-Jugoslawien
konstatieren: »Aber vergessen wir nicht: Wer        mitzuwirken, diesem Traum ein jähes Ende
moralisch argumentiert, ist deshalb noch nicht      bereitete. Die Häutung begann. Heute ist sie
moralisch.«11 Und man darf sich dann auch           in folgendem Stadium angelangt: Zur Begrün-
selbst an moralischen Maßstäben messen las-         dung ihrer Ablehnung der Gas-Pipeline ›Nord-
sen. So heißt es in einem Beitrag in der ›Welt‹     Stream 2‹, welche die USA sowohl unter Do-
vom 26. August 2021: »Der Leiter von Anna-          nald Trump als auch aktuell unter Joe Biden
lena Baerbocks Wahlkampftour kommt von              mit allen Mitteln verhindern wollten, erklärte
einer Agentur, die auch PR für Saudi-Arabien        Baerbock: »Ich halte diese Pipeline nach wie
organisierte. Flexibel bei Partnern aus der Wirt-   vor für falsch, aus klimapolitischen Gründen,
schaft war auch Baerbocks Mann. Kaum eine           aber vor allem auch geostrategisch.«13
Partei hat sich in den vergangenen Jahren so           Dieses Statement ist nun im Kontext eines
gegen intransparente Lobbypraktiken engagiert       Aufrufs der Parteistiftung von ›Bündnis 90/Die
wie die Grünen. Gemessen daran ist zumindest        Grünen‹, der Heinrich-Böll-Stiftung zu lesen, in
auffällig, wie eng ausgerechnet einige Leute        dem für eine »substanzielle Erhöhung« des deut-
aus dem Umfeld von Spitzenkandidatin Anna-          schen Militäretats, für ein Fortbestehen der Sta-
lena Baerbock in die Berliner PR- und Lobby-        tionierung von US-Atomwaffen in Deutschland
szene eingebunden sind.«12                          als Bestandteil der »nuklearen Teilhabe« gewor-
   Nun mag dieser Gang in die Niederungen der       ben wird. Dass dieser Aufruf keine zu vernach-
Realpolitik einer ehemaligen Alternativ-Partei,     lässigende Randerscheinung im Stiftungs- und

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Politikgefüge der bundesdeutschen Parteien ist,   als Methode unscheinbaren, dabei in kalku-
zeigt folgende prominente Schar von Förderern     lierender Abwägung von Interessenlagen sich
und Unterstützern desselben. Neben den Auto-      geschickt durchschlängelnden Regierens ist in
ren und Unterzeichnern in Gestalt des Vorsit-     Anbetracht dessen, was grünes Machtkalkül an
zenden der Grünen-Stiftung sowie eines »Ge-       ungemütlichen Überraschungen bereithält, im
neralleutnant a.D. der Bundeswehr genannt,        Grunde ein indirektes Lob. Der ökologische Re-
der 2014 als hochrangiger NATO-Funktionär         duktionismus der Grünen ist nur das eine Pro-
federführend mit der NATO-Neuausrichtung          blem. Jochen Bittner hat in der ›Zeit‹ detailliert
gegen Russland befasst war«, finden sich als      dargelegt, inwiefern hier »in Wahrheit wenig
Unterzeichner Mitarbeiter folgender transat-      Zukunftsweisendes«16 kommt.
lantischer Außenpolitik-Think-Tanks: ›Atlan-         Die angedeutete außen- und sicherheitspoli-
tik-Brücke‹, ›German Marshall Fund of the         tische Stoßrichtung der Grünen entspricht den
United States‹, ›Aspen Institute Deutschland‹,    Träumen jener Hardliner, denen Kooperation
außerdem Patrick Keller, Vizepräsident der        ein Gräuel ist. Hier geht es immerhin um die
Bundesakademie für Sicherheitspolitik und an-     Frage von Krieg und Frieden. Es macht schon
dere ranghohe Militärs. Dazu heißt es in dem      stutzig, mit welch demonstrativer Selbstver-
Portal ›German Foreign Policy‹ weiter: »Die of-   ständlichkeit man sich anschickte, zum Partei-
fen zur Schau gestellte programmatische Nähe      tag von ›Bündnis 90/Die Grünen‹ die frühere
der grünen Parteistiftung zu hochrangigen Ex-     US-Außenministerin Madeleine Albright als
NATO-Militärs ist in dieser Form neu.« Und zur    Gastrednerin einzuladen, eine Person, die
Erklärung dieser Besonderheit wird angeführt:     durch folgenden »Offenbarungseid« Eingang
»Der Vorstoß der Grünen-Parteistiftung in Sa-     in die Geschichtsbücher finden dürfte: Lesley
chen Militarisierung und Nukleare Teilhabe        Stahl vom amerikanischen Fernsehmagazin ›60
erfolgt parallel zu einer Zuspitzung der Außen-   Minutes‹ stellte Albright, damals US-Botschaf-
politik der Partei, die immer aggressiver gegen   terin bei der UNO, am 12. Mai 1996 folgende
China und gegen Russland mobilisiert – und        Frage: »›Wir haben gehört, dass eine halb
sich damit als Speerspitze im Kampf um die        Million Kinder im Irak gestorben ist. Das sind
Festigung der im Niedergang begriffenen globa-    mehr als in Hiroshima starben. Ist das den Preis
len Hegemonie des Westens profiliert. ›Putins     wert?‹ Madelaine Albright antwortete: ›Ich fin-
Russland ist kein Partner für uns, sondern ein    de, dies ist eine sehr schwierige Wahl, aber der
Gegner‹, erklärte unlängst der Grünen-Bundes-     Preis … Wir meinen, es ist den Preis wert.‹«17
tagsabgeordnete Cem Özdemir. Bündnis 90/          Wie steht es da mit der Moral der Grünen?
Die Grünen gilt schon seit Jahren als ›Partei
der Besserverdienenden, die bei einem globa-
                                                  Ein Plädoyer gegen Bevormundung
len Abstieg mehr als andere zu verlieren haben.
Bereits 2004 zeigten Umfragen, dass Mitglieder    Aber jenseits von Ökologie und Außenpolitik
der Grünen beim Durchschnittseinkommen die        wäre auch die Frage nach dem Fortbestand
Mitglieder der FDP – zuvor die Nummer eins –      und Erhalt einer offenen, durch Toleranz und
klar überholt hatten.«14                          geistige Freiheit charakterisierten Gesellschaft
   Angesichts solch angedeuteter Aussichten       zu stellen. Angeregt durch bestimmte ­Milieus,
im Falle einer mit ziemlicher Sicherheit ein-       so Jens Jessens Beobachtung in der ›Zeit‹ vom
tretenden Regierungsbeteiligung der Grünen          26. August 2021, droht das gesellschaftliche
erscheint deren Klage über die alternativlose     ­Miteinander in eine (Un-)Kultur des Verdachts,
Konzept- und Ideenlosigkeit der »Alt-Parteien«     der Beaufsichtigung und Bevor­        mundung
von Union, SPD und FDP geradezu als un-            ­um­­zuschlagen. Es seien im Folgenden einige
freiwilliges Lob. Auch die ironisierende Rede-      Passagen aus seinem lesenswerten Artikel ›Ne-
wendung vom alle Zeiten überdauernden, alle         benan lauert der Nachbar‹ zitiert: »Ob es ums
Parteien durchdringenden »Merkelismus«15            Impfen, die Klimarettung oder den Genderstern

die Drei 5/2021

                                       www.diedrei.org
22                                                                                             Zeitgeschehen

geht – die Politik dringt zunehmend in das               kratischen Staat bisher nicht zugebilligt […]
Privat­leben vor und sät Misstrauen. [...] Sind          hat. Es war eine Sache sozialistischer und an-
die Nach­barn womöglich Impfverweigerer und              derer Diktaturen, dem Bürger einen bestimm-
insofern für die nicht endenden Corona-Be-               ten Lebensstil vorzuschreiben, bestimmte
schränkungen meines All­     tags mitverantwort-         sprachliche Ausdrucksformen zu fordern, Bü-
lich? Fahren sie mit dem schweren SUV und                cher zu verbieten oder umzuschreiben. […]
ruinieren damit das Weltklima, oder gehören              Jetzt sieht es so aus, als könne es auch in der
sie umgekehrt zu den grünen Fanatikern, die              parlamentarischen Demokratie zu weitgehen-
mir die Freude am Autofahren verderben? [...]            der Bevormundung und Gängelung kommen:
Die Gesinnung hat das Private […] und darum              Wenn die Regierungsbildung durch Milieus
Tolerierbare ­ver­loren. […] Und diese Aussicht          bestimmt wird, die sich oder die ganze Welt
eröffnen beileibe nicht nur die grüne Partei             in einem Not-und Ausnahmezustand wähnen,
und ihre vielleicht sogar überlebensnotwen-              der geradezu danach schreit, die Minderheiten,
dige Umweltpolitik. Es sind auch andere Par-             die sie für den Notstand verantwortlich ma-
teien, die mit einer rigo­rosen Wohnungspolitik          chen (Klimasünder, Impfverweigerer, ›alte wei-
(durch ausufernden Bau, Mie­       tendeckelung,         ße Männer‹) zu gängeln und umzuerziehen.«
Enteignungsdrohung) oder mit einer moralisch
zensierenden Sprachpolitik tief in das Leben,            Gerd Weidenhausen, geb. 1955, studierte Erzie-
sogar in das Gewissen der Bürger eingreifen              hungswissenschaften und Kunsttherapie/Kunst-
wollen. Es ist eine Rolle, die man dem demo-             pädagogik, tätig als Waldorflehrer und Autor.

1 Rainer Hank: ›Wettbewerb für ein besseres              richtende Repressionen bei gleichzeitigem Einsatz
Deutschland‹, in ›Cicero – Sonderheft Bundestags-        für symbolpolitische und finanzielle Anerkennung
wahl 2021‹, August 2021, S. 61.                          ihrer Klientel. Wagenknecht weist auch inhaltlich
2 A.a.O., S. 63.                                         das Begriffspaar »linksliberal« als unzutreffend aus,
3 Linda Teuteberg: ›Wir sind für alle, die Fortschritt   denn als Linker müsste man sich für die Verbesse-
wollen‹, in: ›Die Zeit‹ vom 19. August 2021.             rung der Lebensbedingungen ökonomisch Benach-
4 Vgl. Ullrich Fichtner: ›Fundis, Realos, Hedonisten     teiligter einsetzen, als Liberaler für bedingungslose
– Das grüne Dilemma‹, in: ›Der Spiegel‹ Nr. 22 vom       Denk- und Redefreiheit statt einer Praxis der Cancel
29. Mai 2021.                                            Culture. Das Vorhalten dieses Spiegels hat einige Ge-
5 www.facebook.com/B90DieGruenen/vi-                     nossen in der ›Linken‹ dazu bewogen, gegen die Au-
deos/die-pr%C3%A4sentation-des-entwurfs-                 torin ein Parteiausschlussverfahren anzustrengen.
f%C3%BCr-unser-wahlprogramm-zur-bundestags-              11 www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Inter-
wahl-2021/823509218245005/                               view-Safranski-Die-politische-Kultur-wirkt-fast-wie-
6 A.a.O.                                                 ein-schlechter-Witz-id60369366.html
7 Lucien Scherrer: ›Autoritäre Reflexe – Wenn Grü-       12 Uwe Müller & Hans-Martin Tillack: ›Der erstaun-
ne in den Trump-Modus verfallen‹ – www.nzz.ch/           liche Pragmatismus der Baerbock-Vertrauten‹, in:
feuilleton/autoritaere-reflexe-wenn-gruene-in-den-       ›Die Welt‹ vom 26. August 2021.
trump-modus-verfallen-ld.1635177                         13 www.heise.de/tp/features/Nord-Stream-2-Die-
8 ›»Wir werden angegriffen, da passieren Fehler«‹,       Suche-nach-dem-Hebel-gegen-Russland-und-das-
in: ›Der Spiegel‹ Nr. 22 vom 29. Mai 2021.               Klima-6146878.html
9 Matthias Bartsch u.a.: ›Gegenwind für Baerbock         14 www.german-foreign-policy.com/news/de-
und Habeck: Die Grünen zwischen Macht und Mo-            tail/8504/
ral‹, in: a.a.O., S. xy.                                 15 www.freitag.de/autoren/der-freitag/merkel-
10 Vgl Sahra Wagenknecht: ›Die Selbstgerechten‹,         tritt-ab-der-merkelismus-lebt-weiter
Frankfurt a.M. 2021. In diesem lesenswerten Buch         16 Jochen Bittner: ›Land der Amateure‹, in ›Die
desavouiert die Autorin nicht nur das »links-libe-       Zeit‹ Nr. 34 vom 19. August 2021.
rale« Selbstverständnis identitätspolitischer Strei-     17 Zitiert nach Karl Ove Knausgard: ›Das Amerika
ter im Kampf gegen allerlei sich gegen Minoritäten       der Seele‹, München 2016, S. 387.

                                                                                              die Drei 5/2021

                                                  www.diedrei.org
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