Ausnahmezustand. Zur Politischen Ökonomie einer Seuche - spw

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26   Schwerpunkt                                                                                                                                          spw 2 | 2020

     Ausnahmezustand. Zur Politischen Ökonomie einer Seuche
     von Klaus Dörre

         Die Welt ist im Ausnahmezustand. Ursache                                          Bei so viel Einigkeit und der verständlichen
     ist Covid-19 – eine Krankheit, für die es noch                                     Sehnsucht nach positiven Botschaften in dun-
     keine Therapie gibt. Das Virus Sars-CoV-2                                          klen Zeiten fällt Widerspruch schwer. Ich wage
     wirkt antisozial. Einziger Schutz ist Social Dis-                                  ihn dennoch. Den Optimismus des Willens in
     tancing. Hält man Abstand und bleibt zuhau-                                        Ehren, wäre es doch fahrlässig, ihm die gebo-
     se, bedeutet das radikale Entgesellschaftung,                                      tene Skepsis präziser Analyse zu opfern. Kein
     ja Entgemeinschaftung menschlichen Lebens.                                         Zweifel, Debatten über eine bessere Gesellschaft
     Jede andere Person kann Viren übertragen.                                          jenseits des Beschleunigungskapitalismus wer-
     Deshalb muss digitalisierte Kommunikation                                          den dringend benötigt, doch warum bedarf es
     einstweilen ersetzen, was sonst Direktkontakte                                     dazu erst einer Pandemie? Und weshalb sollte
     zwischen Menschen leisten. Steckt in der Co-                                       ausgerechnet eine Seuche, die Zehntausende
     rona-Krise dennoch eine Chance? Manch öf-                                          tötet, Millionen arm und arbeitslos macht und
     fentlich geführte Debatte legt das nahe. „Jetzt                                    Milliarden Menschen mit dem Verlust von
     oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance                                       Grundrechten konfrontiert, den Weg in eine
     auf eine bessere Welt“, titelt beispielsweise der                                  Gesellschaft ebnen, die sich von Wachstums-
     Spiegel. Er trifft damit den Grundton eines                                       und Beschleunigungszwängen befreit?
     Krisendiskurses, der bis weit ins Lager der po-
     litischen Linken reicht. Unterstützung erhält                                          Ich halte solche Visionen eher für das Er-
     er auch aus den sich als kritisch verstehenden                                     zeugnis einer neuen Deutschen Ideologie, für
     Sozialwissenschaften. „Wir können das Hams-                                        die der Kapitalismus in erster Linie eine Menta-
     terrad anhalten“, verkündet mein Freund und                                        lität darstellt. Mentalitäten lassen sich trotz aller
     Kollege Hartmut Rosa. Die Krise habe gigan-                                        Beharrungskraft überwinden, wenn man es nur
     tische Bremsen an die Beschleunigungsgesell-                                       genügend will. Wer so denkt, kann den Lock-
     schaft gelegt. Nicht das Virus, „wir selbst“ täten                                 down ernsthaft als „Moratorium“ begreifen, das
     dies, „im Modus politischen Handelns. Dem                                         die Menschen unverhofft mit Zeitwohlstand be-
     vereinnahmenden Wir können sich auch linke                                         lohnt und uns lehrt, das Dringliche vom Wich-
     Politiker nur schwer entziehen. Er habe dem                                        tigen zu unterscheiden.
     Optimismus des Willens den Vorzug vor dem
     Pessimismus des Verstandes gegeben, schrieb                                           Trotz allem, was an solch idealistischen Ein-
     mir ein links orientiertes Nationalratsmit-                                        lassungen auch richtig ist, kommt es darauf an,
     glied, das der Sozialdemokratischen Partei der                                     sie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Um es klar
     Schweiz angehört. Selbst das Institut der Rosa-                                    zu sagen: Die Pandemie und die von ihr verur-
     Luxemburg-Stiftung möchte ein wenig Hartmut                                        sachte globale Gesellschaftskrise sind nicht in
     Rosa nicht missen.                                                                erster Linie Chance. Die Seuche, so meine The-
                                                                                        se, ist ein externer Schock, der Gesellschaften
                                                                                        jedweden Typs hart trifft. Wir kennen dies un-
     	 Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssozio-
                                                                                        ter anderem aus den Analysen der Feministin
        logie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw..   Silvia Federici. Anhand des Übergangs vom
        Für wichtige Anregungen danke ich Peter Reif-Spirek. Der Text ist ein Aus-
        zug aus einem Buch-Beitrag, der im Juni 2020 erscheinen wird.: Christian
                                                                                        Feudalismus zum Kapitalismus hat Federici ge-
        Keitel, Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft.           zeigt, wie die schwarze Pest, ein externer Schock
        Analysen der Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: transcript
        Verlag. Jacobin Deutschland hat eine gekürzte und teilweise modifizierte
        Fassung veröffentlicht.
                                                                                        	 King, Vera/Rosa Hartmut (2020): Vom Dringlichen zum Wichtigen. In:
     	 Der Spiegel Nr. 17/18.04.2020.                                                     Frankfurter Rundschau vom 22. April 2020.
     	 Rosa, Harmut (2020): „Wir können das Hamsterrad anhalten“. https://www.         	 Externer Schock heißt nicht, das sich eine Seuche unabhängig von gesell-
        uni-jena.de/200403_Rosa_Interview.                                                 schaftlichen Verhältnissen ausbreitet. Noch ist die Entstehung des Virus
     	 Einige bedenkenswerte Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise                   nicht vollständig geklärt, doch es scheint ähnlich zu sein wie beim Sterben.
        finden sich in: Ein Gelegenheitsfenster für linke Politik? In: Luxemburg.          An dem ist alles gesellschaftlich bis auf den Tod selbst. An der Ausbreitung
        Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. https://www.zeitschrift-luxemburg.          und Bewältigung von Covid-19 ist ebenfalls alles gesellschaftlich bis auf das
        de/lux/wp-content/uploads/2020/04/rls_lux_mini_corona_final-2.pdf                  Virus Sars-CoV-2 selbst.
spw 2 | 2020                                                                                                                          Schwerpunkt               27

von entsetzlichen Ausmaßen, zu Arbeitskräfte-                                       6. April offiziell 8.656 Menschen an dem Virus
knappheit führte und Spielraum für häretische                                       gestorben. Vieles deutet darauf hin, dass die
Bewegungen schaffte, die sich vom Joch einer                                        wirkliche Todesquote weitaus höher liegt.11 Das
religiös legitimierten Kontrolle des Privatle-                                      Robert-Koch-Institut kommt angesichts der
bens und selbst der Sexualität befreien wollten.                                    unzureichenden Datenlage für Deutschland zu
Tatsächlich gelang es vorübergehend, größere                                        ähnlichen Einschätzungen. Doch unabhängig
Freiheiten für Frauen und subalterne Klassen                                        von der Ungewissheit über die Zahl der Toten
durchzusetzen. Der Gegenschlag folgte prompt.                                       gilt: Je länger die Pandemie dauert, desto gewal-
Die Repräsentationen der herrschenden Klas-                                         tiger werden sich ihre kulturellen, sozialen und
sen reagierten mit Gewalt und Repression, ur-                                       ökonomischen Destruktivkräfte entfalten.
sprüngliche Akkumulation und kapitalistische
Klassengesellschaft waren das Resultat.                                                Zweifellos steuert die Weltwirtschaft auf eine
                                                                                    tiefe Rezession zu, die laut IWF heftiger aus-
    Man muss Federicis Erzählung nicht in allem                                     fallen wird als der globale Crash von 2007-09.
folgen. Sicherlich überschätzt sie die Bedeutung,                                   Selbst wenn Shut- und Lockdown nur wenige
die der Klassenkampf von unten bei der Heraus-                                      Wochen dauern sollten, muss die Bundesre-
bildung des Kapitalismus spielte. Auch ist klar,                                    publik mit Wachstumseinbrüchen von ca. vier
dass sich Geschichte nicht wiederholt. Dennoch                                      Prozent des BIP rechnen. Ein dreimonatiger
trifft zu, was bereits Fernand Braudels Analysen                                    Shutdown könnte bis zu einem Minus von 20
des Übergangs zu neuen sozialen Formationen                                         Prozent führen, ca. 5,5 Millionen Menschen
nahelegten. Der Kapitalismus werde nicht                                            wären dann in Kurzarbeit. So sähe die Bilanz in
„durch ‚endogenen‘ Zerfall zugrunde gehen“,                                         einem reichen Land aus, das sich Instrumente
„nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit                                       wie Langzeitkurzarbeit leisten kann. Wo wohl-
im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative“                                      fahrtsstaatliche Sicherheitsnetze nicht oder nur
könne „seinen Zusammenbruch bewirken“. Ist                                         rudimentär vorhanden sind, werden die Folgen
die Corona-Pandemie ein solcher Stoß? Wir                                           ungleich härter sein. Allein in den USA haben
wissen es nicht. Offensichtlich ist jedoch, dass                                    sich binnen eines Monats 26 Millionen Men-
eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalis-                                        schen erwerbslos gemeldet. Die Arbeitslosen-
mus derzeit nur in vagen Umrissen existiert.                                       quote ist – genaue Zahlen liegen noch nicht vor
Der Gegenschlag herrschender Klassen und                                            – wahrscheinlich auf über zehn Prozent gestie-
Eliten ist hingegen bereits in vollem Gange.                                        gen. Informell Tätige und illegal lebende Mig-
                                                                                    ranten gehen in solche Statistiken gar nicht ein.
   Begünstigt wird dies durch den Verlauf und
das Ausmaß der Katastrophe. Noch immer ist                                              Absehbar ist, dass jene Staaten am besten
das Wissen um die genaue Wirkung des Virus                                          durch die Krise kommen werden, die über ein
ein sehr begrenztes.10 Das Virus tötet, es kann                                     robustes Gesundheitssystem und einen halb-
aber auch bei jenen, die genesen, bleibende ge-                                     wegs krisenfesten Wohlfahrtsstaat verfügen.
sundheitliche Schäden verursachen. Allein in                                        Damit ist auch klar, wer die Krisenfolgen be-
der norditalienischen Lombardei, dem europä-                                        sonders hart zu spüren bekommt – in Europa
ischen Epizentrum der Seuche, waren bis zum                                         zweifellos die süd- und südosteuropäischen Ge-
                                                                                    sellschaften, die schon unter der europäischen
                                                                                    Austeritätspolitik am stärksten gelitten haben.
	 Federici, Silvia (2015) Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ur-
   sprüngliche Akkumulation. Budapest: Mandelbaum, 3. Aufl.
                                                                                    Die hohen Todesraten bei Corona-Infizierten
	 Braudel, Fernand (1986 [1979]: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts.        hängen zumindest in Spanien und Italien zwei-
   Aufbruch zur Weltwirtschaft. München: Kindler Verlag, S. 720.                    fellos mit Einsparungen im Gesundheitswesen
	 Schon vor der Pandemie wurde über eine neo- oder ökosozialistische Option
   wieder diskutiert. Vgl.: Dörre, Klaus/Schickert, Christine (Hrsg.) (2019): Ne-
                                                                                    zusammen, die von der europäischen Austeritä-
   osozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. Mün-        tspolitik erzwungen wurden. Auch in Großbri-
   chen: Oekom. Bezeichnend ist, dass diese Debatte in der Corona-Krise selbst
   von manchen ihrer Protagonist*innen nicht mehr aufgegriffen wird.                tannien ist ein ausgeblutetes Gesundheitssystem
10 Eines der Grundprobleme der aktuellen Debatte ist, dass die Zahlen ungenau
   sind. Bei den gezählten Toten ist unklar, ob sie wirklich am Virus gestorben
   sind. Wird mehr getestet, steigt die Zahl der Infizierten. Umgekehrt heißt       11 ntv (2020): Massensterben in Salvinis Heimat. Warum das Virus die Lom-
   das, wo wenig getestet wird, erscheint die Gefahr gering.                           bardei so befällt. ntv Politik von Montag, 06.04.2020
28   Schwerpunkt                                                                                                                                   spw 2 | 2020

     für die hohe Mortalitätsrate mitverantwortlich.                                 wird man solche Ereignisse künftig sicher nicht
     In diesen Staaten und selbst in den USA ist die                                 mehr abtun können. Dennoch hoffen politische
     Lage aber noch ungleich besser als in den meis-                                 und Wirtschaftseliten in erster Linie auf einen
     ten Ländern des globalen Südens, in denen die                                   raschen Wachstumsschub nach der Pandemie.
     Pandemie häufig noch als „Krankheit der Rei-                                    Für Deutschland prognostizieren die Wirt-
     chen“ gilt. Das dürfte sich schon bald ändern.                                  schaftsweisen mehr als fünf Prozent Wachstum
     Laut ILO sind 81 Prozent (2,7 Milliarden) der                                   für 2021.
     Arbeitskräfte, die zur global workforce zählen,
     vom Lockdown betroffen. Am verwundbars-                                            Ob es dazu kommt, ist völlig ungewiss. Für
     ten sind – wenig überraschend – informell und                                   den Exportweltmeister Deutschland hängt
     prekär Beschäftigte sowie die Belegschaften                                     vieles davon ab, wie rasch sich neben China die
     kleiner und mittlerer Unternehmen. In low-                                      europäischen Nachbarn erholen. Gerade die
     und middle-income countries sind Jobverlust                                     europäische Binnenökonomie bietet Anlass zu
     oder auch nur die Reduktion von Arbeitszeit                                     größter Sorge. Eigentlich müsste die Bundesre-
     gleichbedeutend mit Existenzgefährdung.12 Be-                                   gierung an raschen Hilfen für die am stärksten
     sonders verwundbar ist wohl der afrikanische                                    gebeutelten Länder der EU hochgradig interes-
     Kontinent. Sollte sich die Pandemie in den 54                                   siert sein. Stattdessen blockiert sie im Bündnis
     afrikanischen Staaten rasch ausbreiten, könnte                                  mit den Niederlanden Corona-Bonds. Dieses
     sie im schlimmsten Fall Millionen Menschen                                      Instrument würde eine gemeinsame Kreditauf-
     das Leben kosten.13                                                             nahme der EU-Staaten an den Finanzmärkten
                                                                                     als solidarisches Mittel der Krisenbewältigung
        Solche Katastrophenszenarien vor Augen                                       ermöglichen. Dass sich der italienische Premi-
     wird klar, weshalb Staaten, die es sich leisten                                 er Giuseppe Conte in Sachen Corona-Bonds
     können, alles daransetzen, die wirtschaftlichen                                 quasi als Bittsteller per TV und in Zeitungs-In-
     Folgen des Shutdown mit Hilfe öffentlicher Fi-                                  terviews an die deutsche Bevölkerung wenden
     nanzmittel zu überbrücken. Vieles, was lange                                    musste, während in der Merkel-Regierung vor
     als unumstößliche ökonomische Wahrheit galt,                                    allem über das Tragen von Mundschutz disku-
     wird nun über Bord geworfen: Schuldenbrem-                                      tiert wurde, ist ein Skandal, der seinesgleichen
     se: passé! Schwarze Null in öffentlichen Haus-                                  sucht. Dass weite Teile der deutschen Linken
     halten: war gestern, Staatsschulden: absolut                                    in dieser Sache schweigen, ist deshalb unver-
     angesagt! Vorerst jedenfalls. Die US-Regierung                                  zeihlich.14
     investiert mehr als zwei Billionen Dollar, um
     ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Auch Deutsch-                                    Contes symbolischer Kniefall zeigt exemp-
     land und die EU legen Rekordprogramme auf.                                      larisch, wie die Bewältigung der Seuche im in-
     Doch ist dies bereits ein Indiz für einen nach-                                 ternationalen Staatensystem zum Gegenstand
     haltigen wirtschaftspolitischen Paradigmen-                                     eines Ringens um künftige Vormachtstellungen
     wechsel? Ein Blick auf die europäische Realität                                 geworden ist. Chinesische und russische Hilfs-
     weckt Zweifel. Zwar fragen sich viele, wie es zu                                sendungen für Italien konnten nur deshalb zu
     bewerten ist, dass die kapitalistische Weltwirt-                                einem Propaganda-Coup werden, weil die Re-
     schaft zum zweiten Mal binnen zehn Jahren                                       gierungen der EU-Mitgliedsstaaten zu Beginn
     mit nicht-marktwirtschaftlichen Mitteln ge-                                     der Pandemie ausschließlich innerhalb des
     rettet werden muss. Als „schwarzen Schwan“                                      nationalen Containers agierten. Das Versagen
                                                                                     gegenüber Italien hat dazu beigetragen, dass
     12 ILO Monitor 2nd edition: Covid-19 and the world of work. Updated esti-
                                                                                     China und Russland aus der inneren Zerrissen-
        mates and analysis. 7 April 2020. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/pu-      heit der EU politisches Kapital schlagen konn-
        blic/---dgreports/---dcomm/documents/briefingnote/wcms_740877.pdf
                                                                                     ten. Tatsächlich gleicht die EU-Politik auch auf
     13 Afrika drohen Millionen Tote, in: Frankfurter Rundschau, 76. Jahrgang, Nr.
        82 vom 06.04.2020, S. 7. Während das Verhältnis von Ärzten zu Menschen in
        Europa durchschnittlich bei 1:300 liegt, kommen in Subsahara-Afrika etwa
        5.000 Menschen auf einen Arzt. Nur Südafrika verfügt über ein halbwegs       14 Immerhin hat sich der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke klar zugunsten der
        ausgebautes Gesundheitswesen mit 3.000 Intensivbetten. Die Millionen            Corona-Bonds positioniert. Ob der von den EU-Regierungschefs mittler-
        Menschen, die in Elendsquartieren hausen, teilweise an Unterernährung           weile gefundene Kompromiss einen guten Ersatz für Corona-Bonds bietet,
        leiden und Social Distancing nicht praktizieren können, haben dem Virus         wird man erst beurteilen können, wenn die Kompromissformeln inhaltlich
        wenig entgegenzusetzten.                                                        gefüllt sind. Das kann noch lange dauern.
spw 2 | 2020                                                                           Schwerpunkt       29

anderen Feldern einem Trauerspiel. Die Migra-         die USA zum Weltzentrum der Pandemie ge-
tionspolitik liefert Anschauungsunterricht. In        worden. China – wegen intransparenter Infor-
den Flüchtlingslagern auf den griechischen In-        mationspolitik auch selbstverschuldet – und die
seln vegetieren Zehntausende unter hygienisch         WHO müssen als Sündenböcke herhalten, um
katastrophalen Bedingungen vor sich hin. Die          vom eigenen Versagen abzulenken. Die Staaten
wenigen unbegleiteten Jugendlichen, die der           der EU hätten allen Grund, sich glaubhaft von
Zwergstaat Luxemburg und mit Verzögerung              einem derart desaströsen Krisenmanagement
auch die Bundesrepublik aufgenommen haben,            abzusetzen. Dazu müssten sie allerdings vor
sind nicht mehr als der berüchtigte Tropfen auf       der eigenen Haustüre kehren. Die Lombardei
den heißen Stein. Derweil stehen in Deutsch-          ist Hochburg der „Lega Salvini Premier“ – ei-
land die 2015 geschaffenen Flüchtlingsunter-          ner rechtsradikalen Organisation, die mit der
künfte leer. Der Arbeitsmarkt wird nach der           Privatisierung des Gesundheitssystems und
Pandemie in den reichen europäischen Staaten          der Verharmlosung von Covid-19 als grippa-
wieder unter Fach- und Arbeitskräfteengpässen         lem Effekt für die hohe Sterberate zumindest
leiden. Dies vor Augen, gleicht der Umgang mit        mitverantwortlich ist. Als die Pandemie längst
den Fluchtmigranten einer moralischen Bank-           ausgebrochen war, drängten führende Lega-
rotterklärung der Europäischen Union.                 Politiker Verantwortliche in Pflege- und Alten-
                                                      heimen, um die wirklichen Todeszahlen zu ver-
    Die europäische Abschottungspolitik ver-          schweigen. Wer Mundschutz für das Personal
dankt sich wesentlich der Angst vor der an-           forderte, wurde wegen angeblicher Panikmache
haltenden rechtspopulistischen Revolte. Diese         mit Entlassung bedroht. Von den 5.060 gemel-
Ängste sind nachvollziehbar, politisch aber völ-      deten Intensivbetten stellt der seitens der Lega
lig dysfunktional. Überall dort, wo Rechtspo-         gehätschelte Privatsektor nicht einmal acht Pro-
pulisten wie Trump oder Rechtsradikale wie            zent. Das ist einer der Gründe, weshalb Ärzte
Bolsonaro regieren, versagt das Krisenmanage-         entscheiden müssen, welche Notfälle sie nicht
ment. Wegen Trumps zögerlicher Haltung sind           behandeln, um die Betroffenen sodann dem

                PROKLA.                     Seit 1971
                ZEITSCHRIFT FÜR KRITISCHE SOZIALWISSENSCHAFT
                Schwerpunktthemen
                „ Nr. 195: Umkämpfte Arbeit –
                   reloaded (2/2019)
                „ Nr: 196: Krise der (europäischen)
                   Sozialdemokratie (3/2019)
                „ Nr. 197: Krisen der
                  Reproduktion (4/2019)
                „ Nr. 198: Globale Stoffströme und
                  internationale Arbeitsteilung (1/2020)
                „ Nr. 199: Politische Ökonomie
                  des Eigentums (2/2020)
                                                                    Einzelheft: 192 S., € 15,–
                Probeheft anfordern!                                ISBN 978-3-86505-899-7
                PROKLA I redaktion@prokla.de I www.prokla.de
                Bertz + Fischer I prokla@bertz-fischer.de I www.bertz-fischer.de
30   Schwerpunkt                                                                                                                                      spw 2 | 2020

     sicheren Tod zu überlassen.15 Das Schicksal                                     aber nichts mit jener sozialen und ökologischen
     der Lombardei zeigt: In Zeiten der Pandemie                                     Nachhaltigkeitsrevolution gemein, die wir welt-
     ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des                                    weit so dringend benötigen.
     Wortes lebensgefährlich. Trotz mancher Ver-
     schwörungstheorien im Netz und der Kons-                                           Im Gegenteil, die Krise dürfte jene sozialen
     truktion von Sündenböcken werden viele Men-                                     Disparitäten weiter verstärken, die seit langem
     schen das registrieren. Die Seuche könnte daher                                 eine ökologische Wende blockieren. Wäh-
     zu einer schweren Niederlage der radikalen                                      rend das oberste Einkommensdezil weltweit
     Rechten führen. Dies setzte jedoch voraus, dass                                 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen
     es eine offensive politische Auseinandersetzung                                 verursacht, sind die untersten 50 Prozent ku-
     mit den Rechtspopulisten und Radikalnationa-                                    muliert gerade einmal für 10 Prozent verant-
     listen gibt. Statt sich, wie die Bundesregierung,                               wortlich.18 Das wohlhabendste Prozent in den
     aus Angst vor der AfD gegen Corona-Bonds                                        USA, Luxemburg, Singapur und Saudi-Arabien
     und damit auch gegen eine italienische Regie-                                   produziert jährlich 200 Tonnen CO2 pro Kopf
     rung zu positionieren, der die Salvini-Rechte                                   und damit zweitausendmal mehr als die unters-
     vorwirft, vor Deutschland und der EU zu kapi-                                   ten Einkommensgruppen in Honduras, Ruanda
     tulieren, braucht es eine europäische Allianz für                               und Malawi (0,1 Tonnen pro Person jährlich).
     eine progressive Anti-Krisenpolitik. Auf Mittel                                 Im mittleren Bereich mit ca. sechs bis sieben
     aus dem in Südeuropa vollständig diskredi-                                      Tonnen CO2 bewegen sich u. a. das reichste
     tierten Europäischen Rettungsschirm (ESM)                                       Prozent der Tansanier, das siebte chinesische,
     lässt sich eine solche Allianz nicht gründen.                                   das zweite französische und das dritte deutsche
                                                                                     Einkommensdezil. Durchschnittlich ist jede
         Käme es zu einem solchen Bündnis, wäre die                                  und jeder Deutsche jährlich für 11,5 Tonnen
     Corona-Krise aber noch immer nicht in ers-                                      Treibhausgase verantwortlich; der Weltdurch-
     ter Linie eine Chance. Denn es gibt keine Ge-                                   schnitt liegt bei ca. sieben Tonnen, jener der EU
     währ, dass es bei Covid-19 als „äußerem Stoß“                                   bei 8,5 Tonnen.19
     bleibt. Der vorerst etwas in den Hintergrund
     gedrängte Klimawandel wird möglicherwei-                                            Solche Daten signalisieren, dass ökologische
     se eine Reihe externer Schocks auslösen, die                                    Großrisiken keineswegs in weltweite, klassen-
     ebenfalls ein großangelegtes staatliches Krisen-                                übergreifende „Allbetroffenheit“ münden, wie
     management erfordern. Denkbar ist, dass der                                     Ulrich Beck fälschlicherweise annahm20. Im Ge-
     Ausnahmezustand allmählich zum Normalfall                                       genteil: Je dringlicher die Umsetzung von Nach-
     wird. Dergleichen hatte der Soziologe Ulrich                                    haltigkeitszielen wird, desto heftiger könnten
     Beck bereits vor Jahrzehnten vorausgesagt. Die                                  die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe aus-
     Risikogesellschaft sei „eine Katastrophengesell-                                fallen, die spätestens nach der Corona-Krise zu
     schaft“, denn in ihr „drohe der Ausnahme- zum                                   führen sind. Schon jetzt mehren sich Stimmen,
     Normalzustand zu werden“.16 Nun gibt die Pan-                                   die dafür plädieren, die Realisierung von De-
     demie Beck in diesem Punkt recht. Die Seuche                                    karbonisierungszielen weiter in die Zukunft zu
     ist auch ökologisch ein Desaster, genauer: sie                                  verschieben. Dafür haben es Bewegungen wie
     bewirkt degrowth by disaster17. Wie schon 2009                                  Fridays for Future gegenwärtig schwer, öffent-
     werden klimaschädliche Emissionen und viel-                                     lich Gehör zu finden.
     leicht auch der Ressourcenverbrauch sinken. Es
     könnte sogar sein, dass Deutschland und andere
     europäische Staaten ihre Klimaziele wegen des
     Kriseneinbruchs doch noch erreichen. Das hat                                    18 Gallagher, Kevin P./Kozul-Wright, Richard (2019): A New Multilateralism
                                                                                        for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global Green New Deal, Ge-
                                                                                        neva, S. 22.
                                                                                     19 Chancel, Lucas/Piketty, Thomas (2015): Carbon and inequality: From Kyoto
     15 Vgl. ntv 2020, a.a. O.; zum italienischen Gesundheitssystem allgemein: Su-      to Paris, S. 9, 10.
        sanne Böhme-Kuby (2020): SOS Italien. In: Ossietzky 7/20, S. 220-223.
                                                                                     20 „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“, argumentierte Beck. Ders.
     16 Beck, Ulrich (1984): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moder-      (1986), S. 48. Diese Formel geht nicht auf und sie ist auch für das Corona
        ne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 105.                                          Virus ungültig. Bei der Verteilung der Gesundheitsrisiken lässt die Pandemie
     17 Victor, Peter A. (2008): Managing Without Growth – Slower by Design, Not        schon jetzt Klassenunterschiede stärker hervortreten. Sobald das Ringen um
        Disaster. Cheltenham: Edward Elgar.                                             die Kosten der Krise einsetzt, wird sich dieser Trend noch verstärken.
spw 2 | 2020                                                                                                                     Schwerpunkt                31

    Staatliche Politik könnte gegensteuern. Die                               tiefgreifende Eingriffe in die bestehende Wirt-
Krise belegt, dass Staaten trotz Globalisierung                               schaftsordnung wird sich Nachhaltigkeit weder
in der Lage sind, verbindliche Regeln zu set-                                 in der ökologischen, noch in der sozialen Di-
zen. „Wir“ sind aber nicht der Staat. Der Staat                               mension realisieren lassen.
ist, um es mit dem bekannten marxistischen
Denker Nicos Poulantzas zu sagen, ein sozi-                                      Gibt es Anzeichen dafür, dass die politischen
ales Verhältnis. Er beruht auf der materiellen                                Eliten einen solch radikalen Wandel anstreben?
Verdichtung von Kräfteverhältnissen zwischen                                  Ich gestehe, dass diese Frage eine rhetorische ist.
Klassen und Klassenfraktionen, die sich in un-                                Man schaue nur auf die Akademie Leopoldina,
terschiedlichen Staatsformen ausdrücken kön-                                  deren Expertise die Kanzlerin vertraut. Die
nen.21 Wahrscheinlich müssen wir in Zukunft                                   marktwirtschaftliche Ordnung müsse erhalten
mit einem Staatsinterventionismus neuen Typs                                  bleiben, heißt es. Für die Bewältigung des Kli-
rechnen. Dazu tragen neben der Pandemie                                       mawandels sollen allein marktwirtschaftliche
auch die langfristigen Herausforderungen bei,                                 Instrumente wie ein CO2-Preis sorgen. Immer-
die Digitalisierung und Klimawandel mit sich                                  hin, im Gesundheitssektor seien, man höre und
bringen. Gleich ob Reorganisation von Wert-                                   staune, dem Wettbewerb Grenzen zu setzen.22
schöpfungsketten, Sicherung „systemrelevanter                                 All das klingt eher nach einem modifizierten
Produktion“ oder Schaffung von Infrastruktur                                  Weiter-so als nach radikalem Wandel. Politische
für Elektromobilität und Digitalisierung – der                                Gegenkräfte, die dies ändern könnten, sind
Staat wird künftig mitmischen, sonst drohen                                   vorerst nicht in Sicht. Vom Krisenmanagement
Niederlagen in der neuen imperialen Rivalität.                                profitiert in Wahlumfragen die Union. Die SPD
                                                                              legt zwar leicht zu, dafür hat die Linkspartei,
   Doch selbst wenn der Marktradikalismus                                     den Schwung, der von Thüringen ausging, of-
ideologisch wie politisch weiter an Bedeutung                                 fenbar schon wieder verspielt. Radikaler Wan-
verlieren sollte – Staatsintervention als solche                              del mit GroKo oder Schwarz-Grün?
ist keineswegs immer progressiv. Entschei-
dend bleibt, ob und in welchem Maße staatli-                                      Das mag glauben, wer will. Machen wir
ches Handeln an die demokratische Willens-                                    es deshalb ein paar Nummern kleiner. Wenn
bildung rückgebunden bleibt. Demokratie                                       schon der Formationswandel ausbleibt – gibt es
benötigt Gegenöffentlichkeit, Streit, Disput,                                 dann zumindest Chancen für einen politischen
Versammlungen, Demonstrationen, Streiks.                                      Pfadwechsel? Mag sein, doch auch hier ist Re-
Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesi-                                      alismus angesagt. Aus dem Kontaktverbot und
chert bleiben – trotz Krisen jeglicher Art. De-                               der Beschränkung auf digitale Kommunikation
mokratie verkörpert daher das Gegenteil eines                                 lernen gegenwärtig viele, wie wichtig Sozialkon-
Ausnahmezustands, und Freiheit besitzt stets                                  takte am Arbeitsplatz und in der Privatsphäre
eine soziale Dimension. Das gilt besonders für                                sind. Handy, Videokonferenz und Chatroom
unternehmerische Freiheiten. Nur wenn diese                                   können solche Kontakte nicht ersetzen. Das gilt
Freiheiten künftig strikt an Nachhaltigkeitsziele                             für die Arbeitsprozesse insgesamt. Selbst eine
rückgebunden werden, besteht überhaupt eine                                   schwere, monotone Tätigkeit lässt sich besser
Chance, den menschengemachten Klimawan-                                       ertragen, wenn die Chemie unter den Arbei-
del noch in halbwegs kontrollierbaren Grenzen                                 tenden stimmt. Der Zusammenhalt am Arbeits-
zu halten. Das heißt konkret: Die Zivilgesell-                                platz fällt in der Corona-Krise weitgehend weg.
schaften müssen in demokratischer Weise di-                                   Allerdings erhalten Busfahrer, Kassiererinnen,
rekt darauf Einfluss nehmen, was wie und zu                                   Altenpfleger oder Krankenschwestern endlich
welchem Zweck produziert und reproduziert                                     mehr Anerkennung in der gesellschaftlichen
wird. Es geht um eine Umverteilung von Ent-                                   Öffentlichkeit.
scheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig
ohnmächtigen Mehrheiten, denn ohne solch
                                                                              22 Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften (2020): Coronavirus-
                                                                                 Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden. 13. April 2020; siehe auch:
21 Poulantzas, Nicos (1978[2002]: Der Staat, die Macht und der Sozialismus.      Dies. (2019): Klimaziele 20230. Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der
   Hamburg: VSA                                                                  CO-Emmissionen.
32   Schwerpunkt                                                                                                                   spw 2 | 2020

        Arbeitsminister Heil hat immerhin ent-                                           ziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt,
     deckt, was die Debatte um die Krise sozialer                                        zu streiten, wäre ein erster kleiner Schritt, um
     Reproduktion seit Jahren thematisiert. Pfle-                                        trotz der verheerenden Katastrophe, die Covid-
     gende, sorgende, erziehende und bildende                                            19 für Milliarden von Menschen darstellt, doch
     Tätigkeiten sind ebenso unterbezahlt wie Jobs                                       noch Weichenstellungen zugunsten einer bes-
     in der Logistik oder dem Verkehrswesen. Sie                                         seren Gesellschaft vorzunehmen.
     werden häufig in prekärer Beschäftigung aus-
     geübt, als Frauenarbeit abgewertet und sind in                                         Für allzu großen Optimismus gibt es indes
     der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide                                         keinen Anlass, denn schon bald dürften die
     weit unten platziert. 1.500 Euro Prämie, wie                                        wirtschaftlichen Schäden des Lockdowns ge-
     sie der Arbeitsminister auslobt, sind mehr als                                      gen die Zahl der Pandemie-Toten aufgerech-
     nichts. Das Versprechen wöge schwerer, wenn                                         net werden. „Durchkommen!“ wird dann die
     in den zuständigen Einrichtungen klar wäre,                                         Devise vieler sein. „Die Alternativlose. Was
     wovon die Prämie zu bezahlen ist und wer sie                                        Merkel zum Krisenprofi macht“, heißt es pas-
     bekommen soll. Letztendlich sind 1.500 Euro                                         send dazu auf dem gleichen Spiegel-Titel, der
     nur ein wenig Anerkennung für besondere Be-                                         den „Aufbruch“ wegen des Corona-Schocks
     lastungen. Gesellschaftlich benötigt wird sehr                                      prophezeit. Auch Hartmut Rosa lässt uns wis-
     viel mehr – eine Care-Revolution, die als un-                                       sen, dass es mit der Muße vorbei ist, weil sich
     abdingbarer Bestandteil einer Wende zu Nach-                                        sein Terminkalender – nun wegen Covid-19
     haltigkeit ebenfalls schon lange überfällig ist.23                                  – bereits wieder füllt. Ein Schuft, wer Böses da-
                                                                                         bei denkt! Angesichts von so viel Kontinuität
        Dergleichen ist derzeit nicht einmal ansatz-                                     halte ich es für grundfalsch, dem Wünschbaren
     weise in Sicht. Selbst dafür, dass der Anerken-                                     den Rang eines wahrscheinlichen Zukunftssze-
     nungszuwachs für Sorgetätigkeiten nach der                                          narios zu verleihen. Nur Realitätssinn, gepaart
     Pandemie anhält und sich für die Beschäftigten                                      mit der Skepsis des Verstandes und der solida-
     auch materiell niederschlägt, gibt es keine Ge-                                     rischen Anteilnahme am Schicksal all derer, die
     währ. Im Grunde müsste man den Pflegerinnen,                                        in große Not geraten, werden der politischen
     Krankenschwestern, Busfahrern, Bäckern, Arzt-                                       Linken zu Handlungsfähigkeit in und nach der
     helferinnen und nicht zuletzt den Landwirten                                        Krise verhelfen. Ein Verzicht auf das vereinnah-
     deshalb raten, etwas lebensbedrohliches zu tun.                                     mende Wir, das, zumal wenn es um den Staat
     Sie müssten jetzt streiken, denn erst die Krise                                     geht, völlig fehl am Platze ist, wäre dazu ein ers-
     verhilft ihnen zu maximaler (Gegen-)Macht.24                                        ter kleiner Schritt.                             ó

        Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht
     geschehen, wenngleich in Italien und anderen
     Ländern – etwa beim Krisengewinner Ama-
     zon – auch mit dem Mittel des Arbeitskampfs
     darum gerungen wird, dass die Folgen der Pan-
     demie nicht primär auf den Schultern derer
     abgeladen werden, die arbeitsbedingt ohnehin
     das höchste Risiko zu tragen haben. Die Prämi-
     enidee signalisiert aber: Gesellschaften funktio-
     nieren am besten mit einer gut ausgebauten so-
     zialen Infrastruktur. Diese Infrastruktur muss
     zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen
     Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern
     überall in Europa und auf der Welt. Für eine so-

     23 Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Ge-
        sellschaft. Bielefeld: transcript Verlag.
     24 Die Idee verdanke ich Sigrun Matthiesen, die als Redakteurin bei OXI arbeitet.
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