Ausnahmezustand. Zur Politischen Ökonomie einer Seuche - spw
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
26 Schwerpunkt spw 2 | 2020 Ausnahmezustand. Zur Politischen Ökonomie einer Seuche von Klaus Dörre Die Welt ist im Ausnahmezustand. Ursache Bei so viel Einigkeit und der verständlichen ist Covid-19 – eine Krankheit, für die es noch Sehnsucht nach positiven Botschaften in dun- keine Therapie gibt. Das Virus Sars-CoV-2 klen Zeiten fällt Widerspruch schwer. Ich wage wirkt antisozial. Einziger Schutz ist Social Dis- ihn dennoch. Den Optimismus des Willens in tancing. Hält man Abstand und bleibt zuhau- Ehren, wäre es doch fahrlässig, ihm die gebo- se, bedeutet das radikale Entgesellschaftung, tene Skepsis präziser Analyse zu opfern. Kein ja Entgemeinschaftung menschlichen Lebens. Zweifel, Debatten über eine bessere Gesellschaft Jede andere Person kann Viren übertragen. jenseits des Beschleunigungskapitalismus wer- Deshalb muss digitalisierte Kommunikation den dringend benötigt, doch warum bedarf es einstweilen ersetzen, was sonst Direktkontakte dazu erst einer Pandemie? Und weshalb sollte zwischen Menschen leisten. Steckt in der Co- ausgerechnet eine Seuche, die Zehntausende rona-Krise dennoch eine Chance? Manch öf- tötet, Millionen arm und arbeitslos macht und fentlich geführte Debatte legt das nahe. „Jetzt Milliarden Menschen mit dem Verlust von oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance Grundrechten konfrontiert, den Weg in eine auf eine bessere Welt“, titelt beispielsweise der Gesellschaft ebnen, die sich von Wachstums- Spiegel. Er trifft damit den Grundton eines und Beschleunigungszwängen befreit? Krisendiskurses, der bis weit ins Lager der po- litischen Linken reicht. Unterstützung erhält Ich halte solche Visionen eher für das Er- er auch aus den sich als kritisch verstehenden zeugnis einer neuen Deutschen Ideologie, für Sozialwissenschaften. „Wir können das Hams- die der Kapitalismus in erster Linie eine Menta- terrad anhalten“, verkündet mein Freund und lität darstellt. Mentalitäten lassen sich trotz aller Kollege Hartmut Rosa. Die Krise habe gigan- Beharrungskraft überwinden, wenn man es nur tische Bremsen an die Beschleunigungsgesell- genügend will. Wer so denkt, kann den Lock- schaft gelegt. Nicht das Virus, „wir selbst“ täten down ernsthaft als „Moratorium“ begreifen, das dies, „im Modus politischen Handelns. Dem die Menschen unverhofft mit Zeitwohlstand be- vereinnahmenden Wir können sich auch linke lohnt und uns lehrt, das Dringliche vom Wich- Politiker nur schwer entziehen. Er habe dem tigen zu unterscheiden. Optimismus des Willens den Vorzug vor dem Pessimismus des Verstandes gegeben, schrieb Trotz allem, was an solch idealistischen Ein- mir ein links orientiertes Nationalratsmit- lassungen auch richtig ist, kommt es darauf an, glied, das der Sozialdemokratischen Partei der sie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Um es klar Schweiz angehört. Selbst das Institut der Rosa- zu sagen: Die Pandemie und die von ihr verur- Luxemburg-Stiftung möchte ein wenig Hartmut sachte globale Gesellschaftskrise sind nicht in Rosa nicht missen. erster Linie Chance. Die Seuche, so meine The- se, ist ein externer Schock, der Gesellschaften jedweden Typs hart trifft. Wir kennen dies un- Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssozio- ter anderem aus den Analysen der Feministin logie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw.. Silvia Federici. Anhand des Übergangs vom Für wichtige Anregungen danke ich Peter Reif-Spirek. Der Text ist ein Aus- zug aus einem Buch-Beitrag, der im Juni 2020 erscheinen wird.: Christian Feudalismus zum Kapitalismus hat Federici ge- Keitel, Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. zeigt, wie die schwarze Pest, ein externer Schock Analysen der Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: transcript Verlag. Jacobin Deutschland hat eine gekürzte und teilweise modifizierte Fassung veröffentlicht. King, Vera/Rosa Hartmut (2020): Vom Dringlichen zum Wichtigen. In: Der Spiegel Nr. 17/18.04.2020. Frankfurter Rundschau vom 22. April 2020. Rosa, Harmut (2020): „Wir können das Hamsterrad anhalten“. https://www. Externer Schock heißt nicht, das sich eine Seuche unabhängig von gesell- uni-jena.de/200403_Rosa_Interview. schaftlichen Verhältnissen ausbreitet. Noch ist die Entstehung des Virus Einige bedenkenswerte Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise nicht vollständig geklärt, doch es scheint ähnlich zu sein wie beim Sterben. finden sich in: Ein Gelegenheitsfenster für linke Politik? In: Luxemburg. An dem ist alles gesellschaftlich bis auf den Tod selbst. An der Ausbreitung Gesellschaftsanalyse und linke Praxis. https://www.zeitschrift-luxemburg. und Bewältigung von Covid-19 ist ebenfalls alles gesellschaftlich bis auf das de/lux/wp-content/uploads/2020/04/rls_lux_mini_corona_final-2.pdf Virus Sars-CoV-2 selbst.
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 27 von entsetzlichen Ausmaßen, zu Arbeitskräfte- 6. April offiziell 8.656 Menschen an dem Virus knappheit führte und Spielraum für häretische gestorben. Vieles deutet darauf hin, dass die Bewegungen schaffte, die sich vom Joch einer wirkliche Todesquote weitaus höher liegt.11 Das religiös legitimierten Kontrolle des Privatle- Robert-Koch-Institut kommt angesichts der bens und selbst der Sexualität befreien wollten. unzureichenden Datenlage für Deutschland zu Tatsächlich gelang es vorübergehend, größere ähnlichen Einschätzungen. Doch unabhängig Freiheiten für Frauen und subalterne Klassen von der Ungewissheit über die Zahl der Toten durchzusetzen. Der Gegenschlag folgte prompt. gilt: Je länger die Pandemie dauert, desto gewal- Die Repräsentationen der herrschenden Klas- tiger werden sich ihre kulturellen, sozialen und sen reagierten mit Gewalt und Repression, ur- ökonomischen Destruktivkräfte entfalten. sprüngliche Akkumulation und kapitalistische Klassengesellschaft waren das Resultat. Zweifellos steuert die Weltwirtschaft auf eine tiefe Rezession zu, die laut IWF heftiger aus- Man muss Federicis Erzählung nicht in allem fallen wird als der globale Crash von 2007-09. folgen. Sicherlich überschätzt sie die Bedeutung, Selbst wenn Shut- und Lockdown nur wenige die der Klassenkampf von unten bei der Heraus- Wochen dauern sollten, muss die Bundesre- bildung des Kapitalismus spielte. Auch ist klar, publik mit Wachstumseinbrüchen von ca. vier dass sich Geschichte nicht wiederholt. Dennoch Prozent des BIP rechnen. Ein dreimonatiger trifft zu, was bereits Fernand Braudels Analysen Shutdown könnte bis zu einem Minus von 20 des Übergangs zu neuen sozialen Formationen Prozent führen, ca. 5,5 Millionen Menschen nahelegten. Der Kapitalismus werde nicht wären dann in Kurzarbeit. So sähe die Bilanz in „durch ‚endogenen‘ Zerfall zugrunde gehen“, einem reichen Land aus, das sich Instrumente „nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit wie Langzeitkurzarbeit leisten kann. Wo wohl- im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative“ fahrtsstaatliche Sicherheitsnetze nicht oder nur könne „seinen Zusammenbruch bewirken“. Ist rudimentär vorhanden sind, werden die Folgen die Corona-Pandemie ein solcher Stoß? Wir ungleich härter sein. Allein in den USA haben wissen es nicht. Offensichtlich ist jedoch, dass sich binnen eines Monats 26 Millionen Men- eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalis- schen erwerbslos gemeldet. Die Arbeitslosen- mus derzeit nur in vagen Umrissen existiert. quote ist – genaue Zahlen liegen noch nicht vor Der Gegenschlag herrschender Klassen und – wahrscheinlich auf über zehn Prozent gestie- Eliten ist hingegen bereits in vollem Gange. gen. Informell Tätige und illegal lebende Mig- ranten gehen in solche Statistiken gar nicht ein. Begünstigt wird dies durch den Verlauf und das Ausmaß der Katastrophe. Noch immer ist Absehbar ist, dass jene Staaten am besten das Wissen um die genaue Wirkung des Virus durch die Krise kommen werden, die über ein ein sehr begrenztes.10 Das Virus tötet, es kann robustes Gesundheitssystem und einen halb- aber auch bei jenen, die genesen, bleibende ge- wegs krisenfesten Wohlfahrtsstaat verfügen. sundheitliche Schäden verursachen. Allein in Damit ist auch klar, wer die Krisenfolgen be- der norditalienischen Lombardei, dem europä- sonders hart zu spüren bekommt – in Europa ischen Epizentrum der Seuche, waren bis zum zweifellos die süd- und südosteuropäischen Ge- sellschaften, die schon unter der europäischen Austeritätspolitik am stärksten gelitten haben. Federici, Silvia (2015) Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ur- sprüngliche Akkumulation. Budapest: Mandelbaum, 3. Aufl. Die hohen Todesraten bei Corona-Infizierten Braudel, Fernand (1986 [1979]: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. hängen zumindest in Spanien und Italien zwei- Aufbruch zur Weltwirtschaft. München: Kindler Verlag, S. 720. fellos mit Einsparungen im Gesundheitswesen Schon vor der Pandemie wurde über eine neo- oder ökosozialistische Option wieder diskutiert. Vgl.: Dörre, Klaus/Schickert, Christine (Hrsg.) (2019): Ne- zusammen, die von der europäischen Austeritä- osozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. Mün- tspolitik erzwungen wurden. Auch in Großbri- chen: Oekom. Bezeichnend ist, dass diese Debatte in der Corona-Krise selbst von manchen ihrer Protagonist*innen nicht mehr aufgegriffen wird. tannien ist ein ausgeblutetes Gesundheitssystem 10 Eines der Grundprobleme der aktuellen Debatte ist, dass die Zahlen ungenau sind. Bei den gezählten Toten ist unklar, ob sie wirklich am Virus gestorben sind. Wird mehr getestet, steigt die Zahl der Infizierten. Umgekehrt heißt 11 ntv (2020): Massensterben in Salvinis Heimat. Warum das Virus die Lom- das, wo wenig getestet wird, erscheint die Gefahr gering. bardei so befällt. ntv Politik von Montag, 06.04.2020
28 Schwerpunkt spw 2 | 2020 für die hohe Mortalitätsrate mitverantwortlich. wird man solche Ereignisse künftig sicher nicht In diesen Staaten und selbst in den USA ist die mehr abtun können. Dennoch hoffen politische Lage aber noch ungleich besser als in den meis- und Wirtschaftseliten in erster Linie auf einen ten Ländern des globalen Südens, in denen die raschen Wachstumsschub nach der Pandemie. Pandemie häufig noch als „Krankheit der Rei- Für Deutschland prognostizieren die Wirt- chen“ gilt. Das dürfte sich schon bald ändern. schaftsweisen mehr als fünf Prozent Wachstum Laut ILO sind 81 Prozent (2,7 Milliarden) der für 2021. Arbeitskräfte, die zur global workforce zählen, vom Lockdown betroffen. Am verwundbars- Ob es dazu kommt, ist völlig ungewiss. Für ten sind – wenig überraschend – informell und den Exportweltmeister Deutschland hängt prekär Beschäftigte sowie die Belegschaften vieles davon ab, wie rasch sich neben China die kleiner und mittlerer Unternehmen. In low- europäischen Nachbarn erholen. Gerade die und middle-income countries sind Jobverlust europäische Binnenökonomie bietet Anlass zu oder auch nur die Reduktion von Arbeitszeit größter Sorge. Eigentlich müsste die Bundesre- gleichbedeutend mit Existenzgefährdung.12 Be- gierung an raschen Hilfen für die am stärksten sonders verwundbar ist wohl der afrikanische gebeutelten Länder der EU hochgradig interes- Kontinent. Sollte sich die Pandemie in den 54 siert sein. Stattdessen blockiert sie im Bündnis afrikanischen Staaten rasch ausbreiten, könnte mit den Niederlanden Corona-Bonds. Dieses sie im schlimmsten Fall Millionen Menschen Instrument würde eine gemeinsame Kreditauf- das Leben kosten.13 nahme der EU-Staaten an den Finanzmärkten als solidarisches Mittel der Krisenbewältigung Solche Katastrophenszenarien vor Augen ermöglichen. Dass sich der italienische Premi- wird klar, weshalb Staaten, die es sich leisten er Giuseppe Conte in Sachen Corona-Bonds können, alles daransetzen, die wirtschaftlichen quasi als Bittsteller per TV und in Zeitungs-In- Folgen des Shutdown mit Hilfe öffentlicher Fi- terviews an die deutsche Bevölkerung wenden nanzmittel zu überbrücken. Vieles, was lange musste, während in der Merkel-Regierung vor als unumstößliche ökonomische Wahrheit galt, allem über das Tragen von Mundschutz disku- wird nun über Bord geworfen: Schuldenbrem- tiert wurde, ist ein Skandal, der seinesgleichen se: passé! Schwarze Null in öffentlichen Haus- sucht. Dass weite Teile der deutschen Linken halten: war gestern, Staatsschulden: absolut in dieser Sache schweigen, ist deshalb unver- angesagt! Vorerst jedenfalls. Die US-Regierung zeihlich.14 investiert mehr als zwei Billionen Dollar, um ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Auch Deutsch- Contes symbolischer Kniefall zeigt exemp- land und die EU legen Rekordprogramme auf. larisch, wie die Bewältigung der Seuche im in- Doch ist dies bereits ein Indiz für einen nach- ternationalen Staatensystem zum Gegenstand haltigen wirtschaftspolitischen Paradigmen- eines Ringens um künftige Vormachtstellungen wechsel? Ein Blick auf die europäische Realität geworden ist. Chinesische und russische Hilfs- weckt Zweifel. Zwar fragen sich viele, wie es zu sendungen für Italien konnten nur deshalb zu bewerten ist, dass die kapitalistische Weltwirt- einem Propaganda-Coup werden, weil die Re- schaft zum zweiten Mal binnen zehn Jahren gierungen der EU-Mitgliedsstaaten zu Beginn mit nicht-marktwirtschaftlichen Mitteln ge- der Pandemie ausschließlich innerhalb des rettet werden muss. Als „schwarzen Schwan“ nationalen Containers agierten. Das Versagen gegenüber Italien hat dazu beigetragen, dass 12 ILO Monitor 2nd edition: Covid-19 and the world of work. Updated esti- China und Russland aus der inneren Zerrissen- mates and analysis. 7 April 2020. https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/pu- heit der EU politisches Kapital schlagen konn- blic/---dgreports/---dcomm/documents/briefingnote/wcms_740877.pdf ten. Tatsächlich gleicht die EU-Politik auch auf 13 Afrika drohen Millionen Tote, in: Frankfurter Rundschau, 76. Jahrgang, Nr. 82 vom 06.04.2020, S. 7. Während das Verhältnis von Ärzten zu Menschen in Europa durchschnittlich bei 1:300 liegt, kommen in Subsahara-Afrika etwa 5.000 Menschen auf einen Arzt. Nur Südafrika verfügt über ein halbwegs 14 Immerhin hat sich der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke klar zugunsten der ausgebautes Gesundheitswesen mit 3.000 Intensivbetten. Die Millionen Corona-Bonds positioniert. Ob der von den EU-Regierungschefs mittler- Menschen, die in Elendsquartieren hausen, teilweise an Unterernährung weile gefundene Kompromiss einen guten Ersatz für Corona-Bonds bietet, leiden und Social Distancing nicht praktizieren können, haben dem Virus wird man erst beurteilen können, wenn die Kompromissformeln inhaltlich wenig entgegenzusetzten. gefüllt sind. Das kann noch lange dauern.
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 29 anderen Feldern einem Trauerspiel. Die Migra- die USA zum Weltzentrum der Pandemie ge- tionspolitik liefert Anschauungsunterricht. In worden. China – wegen intransparenter Infor- den Flüchtlingslagern auf den griechischen In- mationspolitik auch selbstverschuldet – und die seln vegetieren Zehntausende unter hygienisch WHO müssen als Sündenböcke herhalten, um katastrophalen Bedingungen vor sich hin. Die vom eigenen Versagen abzulenken. Die Staaten wenigen unbegleiteten Jugendlichen, die der der EU hätten allen Grund, sich glaubhaft von Zwergstaat Luxemburg und mit Verzögerung einem derart desaströsen Krisenmanagement auch die Bundesrepublik aufgenommen haben, abzusetzen. Dazu müssten sie allerdings vor sind nicht mehr als der berüchtigte Tropfen auf der eigenen Haustüre kehren. Die Lombardei den heißen Stein. Derweil stehen in Deutsch- ist Hochburg der „Lega Salvini Premier“ – ei- land die 2015 geschaffenen Flüchtlingsunter- ner rechtsradikalen Organisation, die mit der künfte leer. Der Arbeitsmarkt wird nach der Privatisierung des Gesundheitssystems und Pandemie in den reichen europäischen Staaten der Verharmlosung von Covid-19 als grippa- wieder unter Fach- und Arbeitskräfteengpässen lem Effekt für die hohe Sterberate zumindest leiden. Dies vor Augen, gleicht der Umgang mit mitverantwortlich ist. Als die Pandemie längst den Fluchtmigranten einer moralischen Bank- ausgebrochen war, drängten führende Lega- rotterklärung der Europäischen Union. Politiker Verantwortliche in Pflege- und Alten- heimen, um die wirklichen Todeszahlen zu ver- Die europäische Abschottungspolitik ver- schweigen. Wer Mundschutz für das Personal dankt sich wesentlich der Angst vor der an- forderte, wurde wegen angeblicher Panikmache haltenden rechtspopulistischen Revolte. Diese mit Entlassung bedroht. Von den 5.060 gemel- Ängste sind nachvollziehbar, politisch aber völ- deten Intensivbetten stellt der seitens der Lega lig dysfunktional. Überall dort, wo Rechtspo- gehätschelte Privatsektor nicht einmal acht Pro- pulisten wie Trump oder Rechtsradikale wie zent. Das ist einer der Gründe, weshalb Ärzte Bolsonaro regieren, versagt das Krisenmanage- entscheiden müssen, welche Notfälle sie nicht ment. Wegen Trumps zögerlicher Haltung sind behandeln, um die Betroffenen sodann dem PROKLA. Seit 1971 ZEITSCHRIFT FÜR KRITISCHE SOZIALWISSENSCHAFT Schwerpunktthemen Nr. 195: Umkämpfte Arbeit – reloaded (2/2019) Nr: 196: Krise der (europäischen) Sozialdemokratie (3/2019) Nr. 197: Krisen der Reproduktion (4/2019) Nr. 198: Globale Stoffströme und internationale Arbeitsteilung (1/2020) Nr. 199: Politische Ökonomie des Eigentums (2/2020) Einzelheft: 192 S., € 15,– Probeheft anfordern! ISBN 978-3-86505-899-7 PROKLA I redaktion@prokla.de I www.prokla.de Bertz + Fischer I prokla@bertz-fischer.de I www.bertz-fischer.de
30 Schwerpunkt spw 2 | 2020 sicheren Tod zu überlassen.15 Das Schicksal aber nichts mit jener sozialen und ökologischen der Lombardei zeigt: In Zeiten der Pandemie Nachhaltigkeitsrevolution gemein, die wir welt- ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des weit so dringend benötigen. Wortes lebensgefährlich. Trotz mancher Ver- schwörungstheorien im Netz und der Kons- Im Gegenteil, die Krise dürfte jene sozialen truktion von Sündenböcken werden viele Men- Disparitäten weiter verstärken, die seit langem schen das registrieren. Die Seuche könnte daher eine ökologische Wende blockieren. Wäh- zu einer schweren Niederlage der radikalen rend das oberste Einkommensdezil weltweit Rechten führen. Dies setzte jedoch voraus, dass 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen es eine offensive politische Auseinandersetzung verursacht, sind die untersten 50 Prozent ku- mit den Rechtspopulisten und Radikalnationa- muliert gerade einmal für 10 Prozent verant- listen gibt. Statt sich, wie die Bundesregierung, wortlich.18 Das wohlhabendste Prozent in den aus Angst vor der AfD gegen Corona-Bonds USA, Luxemburg, Singapur und Saudi-Arabien und damit auch gegen eine italienische Regie- produziert jährlich 200 Tonnen CO2 pro Kopf rung zu positionieren, der die Salvini-Rechte und damit zweitausendmal mehr als die unters- vorwirft, vor Deutschland und der EU zu kapi- ten Einkommensgruppen in Honduras, Ruanda tulieren, braucht es eine europäische Allianz für und Malawi (0,1 Tonnen pro Person jährlich). eine progressive Anti-Krisenpolitik. Auf Mittel Im mittleren Bereich mit ca. sechs bis sieben aus dem in Südeuropa vollständig diskredi- Tonnen CO2 bewegen sich u. a. das reichste tierten Europäischen Rettungsschirm (ESM) Prozent der Tansanier, das siebte chinesische, lässt sich eine solche Allianz nicht gründen. das zweite französische und das dritte deutsche Einkommensdezil. Durchschnittlich ist jede Käme es zu einem solchen Bündnis, wäre die und jeder Deutsche jährlich für 11,5 Tonnen Corona-Krise aber noch immer nicht in ers- Treibhausgase verantwortlich; der Weltdurch- ter Linie eine Chance. Denn es gibt keine Ge- schnitt liegt bei ca. sieben Tonnen, jener der EU währ, dass es bei Covid-19 als „äußerem Stoß“ bei 8,5 Tonnen.19 bleibt. Der vorerst etwas in den Hintergrund gedrängte Klimawandel wird möglicherwei- Solche Daten signalisieren, dass ökologische se eine Reihe externer Schocks auslösen, die Großrisiken keineswegs in weltweite, klassen- ebenfalls ein großangelegtes staatliches Krisen- übergreifende „Allbetroffenheit“ münden, wie management erfordern. Denkbar ist, dass der Ulrich Beck fälschlicherweise annahm20. Im Ge- Ausnahmezustand allmählich zum Normalfall genteil: Je dringlicher die Umsetzung von Nach- wird. Dergleichen hatte der Soziologe Ulrich haltigkeitszielen wird, desto heftiger könnten Beck bereits vor Jahrzehnten vorausgesagt. Die die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe aus- Risikogesellschaft sei „eine Katastrophengesell- fallen, die spätestens nach der Corona-Krise zu schaft“, denn in ihr „drohe der Ausnahme- zum führen sind. Schon jetzt mehren sich Stimmen, Normalzustand zu werden“.16 Nun gibt die Pan- die dafür plädieren, die Realisierung von De- demie Beck in diesem Punkt recht. Die Seuche karbonisierungszielen weiter in die Zukunft zu ist auch ökologisch ein Desaster, genauer: sie verschieben. Dafür haben es Bewegungen wie bewirkt degrowth by disaster17. Wie schon 2009 Fridays for Future gegenwärtig schwer, öffent- werden klimaschädliche Emissionen und viel- lich Gehör zu finden. leicht auch der Ressourcenverbrauch sinken. Es könnte sogar sein, dass Deutschland und andere europäische Staaten ihre Klimaziele wegen des Kriseneinbruchs doch noch erreichen. Das hat 18 Gallagher, Kevin P./Kozul-Wright, Richard (2019): A New Multilateralism for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global Green New Deal, Ge- neva, S. 22. 19 Chancel, Lucas/Piketty, Thomas (2015): Carbon and inequality: From Kyoto 15 Vgl. ntv 2020, a.a. O.; zum italienischen Gesundheitssystem allgemein: Su- to Paris, S. 9, 10. sanne Böhme-Kuby (2020): SOS Italien. In: Ossietzky 7/20, S. 220-223. 20 „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“, argumentierte Beck. Ders. 16 Beck, Ulrich (1984): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moder- (1986), S. 48. Diese Formel geht nicht auf und sie ist auch für das Corona ne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 105. Virus ungültig. Bei der Verteilung der Gesundheitsrisiken lässt die Pandemie 17 Victor, Peter A. (2008): Managing Without Growth – Slower by Design, Not schon jetzt Klassenunterschiede stärker hervortreten. Sobald das Ringen um Disaster. Cheltenham: Edward Elgar. die Kosten der Krise einsetzt, wird sich dieser Trend noch verstärken.
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 31 Staatliche Politik könnte gegensteuern. Die tiefgreifende Eingriffe in die bestehende Wirt- Krise belegt, dass Staaten trotz Globalisierung schaftsordnung wird sich Nachhaltigkeit weder in der Lage sind, verbindliche Regeln zu set- in der ökologischen, noch in der sozialen Di- zen. „Wir“ sind aber nicht der Staat. Der Staat mension realisieren lassen. ist, um es mit dem bekannten marxistischen Denker Nicos Poulantzas zu sagen, ein sozi- Gibt es Anzeichen dafür, dass die politischen ales Verhältnis. Er beruht auf der materiellen Eliten einen solch radikalen Wandel anstreben? Verdichtung von Kräfteverhältnissen zwischen Ich gestehe, dass diese Frage eine rhetorische ist. Klassen und Klassenfraktionen, die sich in un- Man schaue nur auf die Akademie Leopoldina, terschiedlichen Staatsformen ausdrücken kön- deren Expertise die Kanzlerin vertraut. Die nen.21 Wahrscheinlich müssen wir in Zukunft marktwirtschaftliche Ordnung müsse erhalten mit einem Staatsinterventionismus neuen Typs bleiben, heißt es. Für die Bewältigung des Kli- rechnen. Dazu tragen neben der Pandemie mawandels sollen allein marktwirtschaftliche auch die langfristigen Herausforderungen bei, Instrumente wie ein CO2-Preis sorgen. Immer- die Digitalisierung und Klimawandel mit sich hin, im Gesundheitssektor seien, man höre und bringen. Gleich ob Reorganisation von Wert- staune, dem Wettbewerb Grenzen zu setzen.22 schöpfungsketten, Sicherung „systemrelevanter All das klingt eher nach einem modifizierten Produktion“ oder Schaffung von Infrastruktur Weiter-so als nach radikalem Wandel. Politische für Elektromobilität und Digitalisierung – der Gegenkräfte, die dies ändern könnten, sind Staat wird künftig mitmischen, sonst drohen vorerst nicht in Sicht. Vom Krisenmanagement Niederlagen in der neuen imperialen Rivalität. profitiert in Wahlumfragen die Union. Die SPD legt zwar leicht zu, dafür hat die Linkspartei, Doch selbst wenn der Marktradikalismus den Schwung, der von Thüringen ausging, of- ideologisch wie politisch weiter an Bedeutung fenbar schon wieder verspielt. Radikaler Wan- verlieren sollte – Staatsintervention als solche del mit GroKo oder Schwarz-Grün? ist keineswegs immer progressiv. Entschei- dend bleibt, ob und in welchem Maße staatli- Das mag glauben, wer will. Machen wir ches Handeln an die demokratische Willens- es deshalb ein paar Nummern kleiner. Wenn bildung rückgebunden bleibt. Demokratie schon der Formationswandel ausbleibt – gibt es benötigt Gegenöffentlichkeit, Streit, Disput, dann zumindest Chancen für einen politischen Versammlungen, Demonstrationen, Streiks. Pfadwechsel? Mag sein, doch auch hier ist Re- Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesi- alismus angesagt. Aus dem Kontaktverbot und chert bleiben – trotz Krisen jeglicher Art. De- der Beschränkung auf digitale Kommunikation mokratie verkörpert daher das Gegenteil eines lernen gegenwärtig viele, wie wichtig Sozialkon- Ausnahmezustands, und Freiheit besitzt stets takte am Arbeitsplatz und in der Privatsphäre eine soziale Dimension. Das gilt besonders für sind. Handy, Videokonferenz und Chatroom unternehmerische Freiheiten. Nur wenn diese können solche Kontakte nicht ersetzen. Das gilt Freiheiten künftig strikt an Nachhaltigkeitsziele für die Arbeitsprozesse insgesamt. Selbst eine rückgebunden werden, besteht überhaupt eine schwere, monotone Tätigkeit lässt sich besser Chance, den menschengemachten Klimawan- ertragen, wenn die Chemie unter den Arbei- del noch in halbwegs kontrollierbaren Grenzen tenden stimmt. Der Zusammenhalt am Arbeits- zu halten. Das heißt konkret: Die Zivilgesell- platz fällt in der Corona-Krise weitgehend weg. schaften müssen in demokratischer Weise di- Allerdings erhalten Busfahrer, Kassiererinnen, rekt darauf Einfluss nehmen, was wie und zu Altenpfleger oder Krankenschwestern endlich welchem Zweck produziert und reproduziert mehr Anerkennung in der gesellschaftlichen wird. Es geht um eine Umverteilung von Ent- Öffentlichkeit. scheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, denn ohne solch 22 Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften (2020): Coronavirus- Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden. 13. April 2020; siehe auch: 21 Poulantzas, Nicos (1978[2002]: Der Staat, die Macht und der Sozialismus. Dies. (2019): Klimaziele 20230. Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der Hamburg: VSA CO-Emmissionen.
32 Schwerpunkt spw 2 | 2020 Arbeitsminister Heil hat immerhin ent- ziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt, deckt, was die Debatte um die Krise sozialer zu streiten, wäre ein erster kleiner Schritt, um Reproduktion seit Jahren thematisiert. Pfle- trotz der verheerenden Katastrophe, die Covid- gende, sorgende, erziehende und bildende 19 für Milliarden von Menschen darstellt, doch Tätigkeiten sind ebenso unterbezahlt wie Jobs noch Weichenstellungen zugunsten einer bes- in der Logistik oder dem Verkehrswesen. Sie seren Gesellschaft vorzunehmen. werden häufig in prekärer Beschäftigung aus- geübt, als Frauenarbeit abgewertet und sind in Für allzu großen Optimismus gibt es indes der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide keinen Anlass, denn schon bald dürften die weit unten platziert. 1.500 Euro Prämie, wie wirtschaftlichen Schäden des Lockdowns ge- sie der Arbeitsminister auslobt, sind mehr als gen die Zahl der Pandemie-Toten aufgerech- nichts. Das Versprechen wöge schwerer, wenn net werden. „Durchkommen!“ wird dann die in den zuständigen Einrichtungen klar wäre, Devise vieler sein. „Die Alternativlose. Was wovon die Prämie zu bezahlen ist und wer sie Merkel zum Krisenprofi macht“, heißt es pas- bekommen soll. Letztendlich sind 1.500 Euro send dazu auf dem gleichen Spiegel-Titel, der nur ein wenig Anerkennung für besondere Be- den „Aufbruch“ wegen des Corona-Schocks lastungen. Gesellschaftlich benötigt wird sehr prophezeit. Auch Hartmut Rosa lässt uns wis- viel mehr – eine Care-Revolution, die als un- sen, dass es mit der Muße vorbei ist, weil sich abdingbarer Bestandteil einer Wende zu Nach- sein Terminkalender – nun wegen Covid-19 haltigkeit ebenfalls schon lange überfällig ist.23 – bereits wieder füllt. Ein Schuft, wer Böses da- bei denkt! Angesichts von so viel Kontinuität Dergleichen ist derzeit nicht einmal ansatz- halte ich es für grundfalsch, dem Wünschbaren weise in Sicht. Selbst dafür, dass der Anerken- den Rang eines wahrscheinlichen Zukunftssze- nungszuwachs für Sorgetätigkeiten nach der narios zu verleihen. Nur Realitätssinn, gepaart Pandemie anhält und sich für die Beschäftigten mit der Skepsis des Verstandes und der solida- auch materiell niederschlägt, gibt es keine Ge- rischen Anteilnahme am Schicksal all derer, die währ. Im Grunde müsste man den Pflegerinnen, in große Not geraten, werden der politischen Krankenschwestern, Busfahrern, Bäckern, Arzt- Linken zu Handlungsfähigkeit in und nach der helferinnen und nicht zuletzt den Landwirten Krise verhelfen. Ein Verzicht auf das vereinnah- deshalb raten, etwas lebensbedrohliches zu tun. mende Wir, das, zumal wenn es um den Staat Sie müssten jetzt streiken, denn erst die Krise geht, völlig fehl am Platze ist, wäre dazu ein ers- verhilft ihnen zu maximaler (Gegen-)Macht.24 ter kleiner Schritt. ó Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geschehen, wenngleich in Italien und anderen Ländern – etwa beim Krisengewinner Ama- zon – auch mit dem Mittel des Arbeitskampfs darum gerungen wird, dass die Folgen der Pan- demie nicht primär auf den Schultern derer abgeladen werden, die arbeitsbedingt ohnehin das höchste Risiko zu tragen haben. Die Prämi- enidee signalisiert aber: Gesellschaften funktio- nieren am besten mit einer gut ausgebauten so- zialen Infrastruktur. Diese Infrastruktur muss zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und auf der Welt. Für eine so- 23 Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Ge- sellschaft. Bielefeld: transcript Verlag. 24 Die Idee verdanke ich Sigrun Matthiesen, die als Redakteurin bei OXI arbeitet.
Sie können auch lesen