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PER SPEK T I V E Die Wehrpflicht wurde in FR I EDEN U N D SI CH ERH EI T Frankreich Ende der 1990er Jahre im Zuge einer tiefgreifen- den Reform der Verteidigungs- DIENSTPFLICHT politik abgeschafft. STATT Mit der Abschaffung befürch- WEHRDIENST teten viele, dass sich die Ver- bindung zwischen Armee und Nation auflösen würde und die Funktion des Wehrdienstes als »sozialer Schmelztiegel« ver- loren ginge. 2018 wurde der Der service national universel in Frankreich »Service National Universel« eingeführt, der eine gemeinüt- zige Tätigkeit mit einer militäri- schen Einweisung verbindet. Renaud Bellais Juli 2020 Die neue Dienstpflicht soll eine Kultur des Engagements sowie die soziale und beruf- liche Integration junger Men- schen fördern.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Dienstpflicht statt Wehrdienst FR I EDEN U N D SI CH ERH EI T DIENSTPFLICHT STATT WEHRDIENST Der service national universel in Frankreich
Aktuelle Situation und Diskussion RÜCKBLICK Ende des Algerienkrieges tiefgreifend verändert hatte. Um erfolgreiche militärische Einsätze durchführen zu können, In Frankreich ist der Militärdienst eng mit der Revolution brauchte Frankreich qualifiziertes Personal, das in der Lage von 1789 verbunden. Die allgemeine Wehrpflicht wurde war, modernste Ausrüstung zu bedienen. Der Einsatz von 1798 durch das Loi Jourdan-Delbrel für alle Männer zwi- Wehrdienstleistenden schien hierfür ungeeignet. schen 20 und 25 Jahren eingeführt und schuf die Verbin- dung zwischen der Staatsbürgerschaft sowie dem Einsatz Die Abschaffung des Wehrdienstes war seit seiner Ankün- für die Landesverteidigung, die 1872 durch das Loi Cissey, digung jedoch heftig umstritten: Viele befürchteten, dass das jede Freistellung oder Ausnahme abschaffte, noch ein- sich damit die Verbindung zwischen Armee und Nation mal verschärft wurde. 1965 wurde der Wehrdienst durch ebenso auflösen würde wie die Nation selbst, die mit dem das Loi Messmer erneut bekräftigt und in »service national« Wehrdienst einen sozialen Schmelztiegel verlieren würde umbenannt. (zumindest für die Hälfte der Bevölkerung). Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, warum Emmanuel Macron Am 22. Februar 1996 kündigte der damalige Staatspräsi- bei seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2017 die dent Jacques Chirac in einem Fernsehinterview eine tiefgrei- Absicht erklärte, eine allgemeine Dienstpflicht für die Dauer fende Reform der Verteidigungspolitik und die Abschaffung eines Monats einzuführen. des Wehrdienstes an. Das Gesetz wurde im Oktober 1997 verabschiedet und sah eine Übergangszeit vor, die im Januar 2003 enden sollte. Sie endete faktisch aber schon im No- AKTUELLE SITUATION UND DISKUSSION vember 2001. Die Abschaffung der Wehrpflicht war das Er- gebnis einer sachlichen gesellschaftlichen und militärischen Aus dem revolutionären Ideal eines Volkes entstanden, das Analyse. sich aus »Bürgersoldaten« zusammensetzte und das sich der Drohung einer Invasion Frankreichs durch reaktionäre Nach dem Algerienkrieg, in dem zum letzten Mal Wehr- Kräfte gegenüber sah, knüpfte die Wehrpflicht nach dem pflichtige bei einer militärischen Intervention eingesetzt Loi Jourdan-Delbrel an die Idee eines bewaffneten Volkes worden waren, war das Militär extrem unbeliebt. Die Wahr- zur Verteidigung der Nation an, wie es in der französischen nehmung in der Bevölkerung ging von einer zunächst sehr Nationalhymne, der Marseillaise von Rouget de Lisle von positiven Sichtweise nach den Kolonialkriegen, wie sie in 1792, zum Ausdruck kommt.1 Nachdem die Wehrpflicht im Édith Piafs Chanson »Le Fanion de la Légion« (1937) spür- 19. und 20. Jahrhundert ein Grundpfeiler der Nation und bar ist, zu einer ablehnenden Haltung über, wie sie in wesentlicher Bestandteil des Verteidigungskonzepts gewe- Maxime Le Forestiers Lied »Parachutiste« von 1972. Der sen war, wurde sie 1997 nicht etwa abgeschafft, sondern eigentliche Sinn des Militärdienstes schien verloren: Ab den nur ausgesetzt. Diese Unterscheidung ist wichtig, da sich die 1970er-Jahren war er nicht nur immer weniger militärisch Wehrpflicht somit rechtlich relativ leicht wieder einführen ausgeprägt, sondern es wurde auch eine starke Ungleich- ließe, um z. B. auf eine aktuelle Bedrohung zu reagieren. behandlung bei der Einberufung deutlich. Zudem wurden Die Aussetzung ist vor allem eine politische Entscheidung, nach dem Ende des Kalten Krieges nur noch 50 Prozent der mit der die Verbindung zwischen Staatsbürgerschaft und Männer zum Militärdienst einberufen; Frauen waren davon Landesverteidigung aufrechterhalten werden sollte. ganz ausgenommen. Nach der Aussetzung der Wehrpflicht wollte der Staat die Darüber hinaus war der Staat in den 1990er-Jahren nicht Bürger_innen jedoch weiterhin einbinden, um einen Bruch mehr mit einer Bedrohungslage, wie im Kalten Krieg kon- zwischen der Berufsarmee und der Bevölkerung zu vermei- frontiert, als noch die Angst herrschte, die Rote Armee den. Zu diesem Zweck wurde ein »Erlebnistag« eingeführt – könnte in die »Lücke von Fulda« vorstoßen, um in West- europa einzumarschieren. Ein Massenheer erschien zuneh- mend anachronistisch, da der Soldatenberuf sich seit dem 1 Lied für die Rheinarmee, das 1795 zur Nationalhymne wurde. 1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Dienstpflicht statt Wehrdienst der Journée d’Appel et de Préparation à la Défense (JAPD), deverwaltung bzw. einer öffentlichen Einrichtung oder der 2011 zum Journée Défense et Citoyenneté (JDC) wur- verrichten einen »Dienst in Uniform«. Auf freiwilliger Basis de –, an dem die Bürger_innen sich mit der Armee vertraut können sich die Jugendlichen anschließend für weitere drei machen konnten und die Armee wiederum die Möglich- Monaten bis zu einem Jahr für eine gemeinnützige Aufgabe keit haben sollte, mit jungen Franzosen und Französinnen verpflichten. in Kontakt zu treten. Im Gegensatz zum Wehrdienst, der nur von Männern geleistet wurde (Frauen durften freiwillig Der SNU ist noch im Entstehen begriffen: Ein erster Probe- Dienst leisten, was aber fast nie vorkam), war der neu ge- lauf wurde im Juni 2019 durchgeführt, bei dem 1.978 Frei- schaffene JAPD/JDC auch für Frauen verpflichtend. willige im Alter von 15 bis 16 Jahren mit unterschiedlichen sozialen und schulischen Hintergründen zusammenkamen Obwohl der JDC das Ende der Wehrpflicht gewissermaßen (Gymnasiast_innen, Schulabbrecher_innen, Auszubildende, kompensieren sollte, konnte damit keine Verbindung oder CAP-Lehrlinge). Der zweite Durchgang sollte im Juni 2020 ein gegenseitiges Verständnis zwischen der Armee und den stattfinden, konnte aber aufgrund der Corona-Pandemie Jugendlichen hergestellt werden. Die Zielsetzungen des noch nicht durchgeführt werden. Die Regierung beabsich- JDC wurden ständig überarbeitet, inhaltlich immer weiter tigt jedoch, den SNU ab 20243 für einen gesamten Jahrgang gefasst und damit zunehmend von der Wirklichkeit der verpflichtend zu machen. Armee entfernt. Obwohl die angesprochenen Themen2 vor allem aus gesellschaftlicher Perspektive wichtig sind, blieb für Fragen der nationalen Sicherheit und Verteidigung im- SICHERHEITSPOLITISCHE DIMENSION mer weniger Zeit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Wunsch nach einem weiteren Kontakt mit der Armee Als Präsident Chirac seine Absicht ankündigte, die Wehr- in Umfragen nur von wenigen Teilnehmer_innen geäußert pflicht abzuschaffen, wies er darauf hin, dass die Armee mit wurde (20 %). ihrer noch aus dem Kalten Krieg stammenden Struktur nicht mehr in der Lage sei, auf die aktuellen Herausforderungen Ohne das Ende der Wehrpflicht grundsätzlich infrage zu der internationalen Sicherheit zu reagieren: »Der Militär- stellen, wurde deutlich, dass man mehr als eine solche Not- dienst wurde, wie Sie wissen, 1905 eingeführt, zu einer Zeit, lösung schaffen musste. Das Wahlversprechen Macrons als man Soldaten brauchte, die man anderen Soldaten, also erfolgte also nach umfassenden politischen Überlegun- einer äußeren Gefahr, gegenüberstellen konnte, wenn Sie gen, wie man bei jungen Franzosen und Französinnen ein so wollen (…). Diese Epoche ist längst vorbei. Wir brauchen Bewusstsein für die Bedeutung der Landesverteidigung keine Wehrpflichtigen mehr, die ihren Militärdienst ableis- schaffen könne. Die Frage war nicht, ob sondern wie eine ten«.4 wirksame Lösung gefunden werden könne, die weder zu vergangenheitsbezogen noch zu kostenintensiv wäre. Tatsächlich war die Wehrpflicht in Bezug auf ihre militäri- sche Wirksamkeit kaum noch sinnvoll. Frankreich verfüg- Im Juni 2018 rief die Regierung die »allgemeine Dienst- te zwar über eine große Armee (1996: 550.000; 2020: pflicht« (service national universel, SNU) ins Leben, die eine 268.000 Soldat_innen), die aus operativer Sicht aber nur gemeinnützige Tätigkeit mit einer militärischen Einweisung bedingt einsatzfähig war. Seit den 1970er-Jahren ist die Ver- verbinden und zukünftig für alle jungen Menschen zwischen teidigung zunehmend von Fähigkeiten abhängig, die nicht 16 und 18 Jahren verpflichtend sein sollte. Vier Ziele werden in zehn Monaten erworben werden können, in die viel Geld dabei verfolgt: 1. die Entwicklung einer Kultur des Engage- investiert werden muss und die kontinuierlich weiterentwi- ments, um den Zusammenhalt und die Widerstandsfähig- ckelt werden müssen. Demzufolge ist nur eine Berufsarmee keit der Nation zu stärken; 2. die soziale und geografische in der Lage, die militärische Effizienz zu gewährleisten, die Durchmischung einer ganzen Altersgruppe; 3. die soziale Frankreich braucht. Das Ende der Wehrpflicht ist daher in und berufliche Integration junger Menschen, insbesondere Bezug auf die technologischen Mittel sowie die Art der mi- von Schulabbrecher_innen; sowie 4. die Wertschätzung der litärischen Einsätze, die längst nichts mehr mit der klassi- Regionen, ihrer Entwicklung und ihres kulturellen Erbes. schen Kriegsführung nach Clausewitz oder Westphalen zu tun haben, eine richtige Entscheidung. Der einmonatige SNU ist verpflichtend und in zwei Ab- schnitte von jeweils zwei Wochen unterteilt. Im Abschnitt Frankreich hat sich für eine Armee mit steigender Kapitalin- »Zusammenhalt« sind die Jugendlichen in einer Gemein- tensität entschieden. Die Investitionsausgaben pro Soldat_in schaftseinrichtung (Schule, Kaserne, Ferienzentrum etc.) sind – ähnlich dem Verteidigungsmodell Großbritanniens außerhalb ihres Heimatdepartements untergebracht und oder der USA – von 54.000 Euro in 2002 konstant auf absolvieren eine zivile und eine militärische Schulung (insbe- 89.000 Euro in 2018 angestiegen. Deutschland hat 2018 sondere Sportübungen). Im zweiten Abschnitt übernehmen im Vergleich nur 50.000 Euro je Soldat_in ausgegeben. Mi- die Jugendlichen eine gemeinnützige Aufgabe bei einem litärische Effizienz erfordert heutzutage kein großes Streit- Verein bzw. einer sozialen Einrichtung, bei einer Gemein- 3 Ursprünglich war erst 2026 geplant. 2 Verkehrssicherheit, Blut- und Thrombozytenspende, Organspende, 4 https://www.defense.gouv.fr/english/actualites/articles/fin-du-ser- Prävention von gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen usw. vice-militaire-premiers-pas-il-y-a-20-ans 2
Arbeitsmarkt und Personalbeschaffung kräfteaufgebot mehr, sondern professionelles militärisches Distanz zwischen Schulabgänger_innen und dem Arbeits- Personal, das über die technischen und operativen Fähig- markt im Verteidigungsbereich. Insbesondere mit Blick auf keiten verfügt, um komplexe militärische Ausrüstung zu die Zahl der erforderlichen Neueinstellungen, aber auch in bedienen. Bezug auf die Fähigkeiten, über welche die Streitkräfte zur Durchführung ihrer Einsätze verfügen müssen, stellt dies ein Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitwirkung junger gravierendes Problem dar. Menschen an der Verteidigung und der nationalen Sicher- heit kein Thema wäre. Nach dem psychologischen Schock Seit 2016 rekrutiert das französische Verteidigungsministe- der Terroranschläge 2015 in Frankreich5 haben sich viele rium durchschnittlich 26.000 Militär- und Zivilpersonen pro Politiker_innen öffentlich für die Wiedereinführung des Jahr, was einer jährlichen Neubesetzung von zehn Prozent Wehrdienstes ausgesprochen. Die Mobilisierung der Streit- aller Stellen entspricht. Der große Umfang der Zu- und Ab- kräfte, insbesondere der Landstreitkräfte, für die Umset- gänge spiegelt den hohen Anteil von Zeitsoldat_innen an zung der Sicherheitsmaßnahmen im Rahmen der Operation den Beschäftigten wider (66 %). Die Rekrutierten unter 30 Sentinelle (seit Januar 2015) hat zum einen die Verbindung Jahren, die mehr als 70 Prozent der Neueinstellungen aus- zwischen Armee und Bevölkerung verdeutlicht, zum ande- machen, sind mehrheitlich Männer (85 %); unter den militä- ren aber auch gezeigt, dass das Ende der Wehrpflicht ein rischen Vorgesetzten sind es sogar 90 Prozent. Vakuum hinterlassen hat. Der Militärsoziologe Sébastien Jakubowski bringt dafür zwei Argumente vor: Zum einen Junge Menschen für das Militär zu gewinnen, ist kei- sei der Wehrdienst ein wirksames Mittel der Landesvertei- ne leichte Aufgabe. Die Anwerbung von Frauen ist eine digung; zum anderen mache er jungen Französinnen und noch größere Herausforderung. Um die heterogene Be- Franzosen bewusst, dass sie einer Nation angehören, die es völkerungsgruppe junger Franzosen und Französinnen in zu verteidigen gilt. Ein solches Engagement könnte jedoch die Armee integrieren zu können, ist eine Anpassung des auch andere Formen annehmen. Arbeits- und Lebensumfelds an den Militärstandorten not- wendig. Darüber hinaus müssen die Rekrut_innen bereit Die Umstellung auf eine Berufsarmee war unumgänglich; sein, berufliche Einschränkungen in Bezug auf Arbeitszei- die Rückkehr zur Wehrpflicht ist unwahrscheinlich. Das Er- ten, Versetzungen und Standortungebundenheit in Kauf zu starken von Staatsmächten wie China oder Russland ändert nehmen. daran nichts. Ob bei klassischen Kriegen zwischen Staaten oder in asymmetrischen Konflikten mit unterschiedlichsten Zudem stellt die Auswahl der Kandidat_innen, insbesondere Gegner_innen (Taliban, Islamischer Staat, Al-Qaida etc.) – in Bezug auf die geforderten Fähigkeiten, ein Problem dar. der Einsatz von Wehrpflichtigen ist in Frankreich undenkbar Während es für jede offene Offiziersstelle noch 16 Kandi- geworden. Sie würden lediglich zu »Kanonenfutter«, ohne dat_innen gibt, sind es bei den Unteroffizier_innen nur 2,6 dass dabei sinnvolle strategische Vorteile erzielt würden. In- und bei anderen Vorgesetzten nur noch 1,6 Kandidat_in- sofern ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht eher eine nen.6 Dieses Problem der zu geringen Kandidat_innenzahl politische Idee als eine realistische militärische Option. ist nicht erst mit dem Ende der Wehrpflicht aufgetreten, sondern hängt mit dem schlechten Image der Militärberufe Dies bedeutet aber auch, dass mit der Einführung des SNU der vergangenen Jahrzehnte zusammen. Die zunehmende nicht auf heutige sicherheitspolitische Herausforderungen Distanz zwischen Militär und Bevölkerung erschwert die Re- reagiert werden soll – zumindest nicht direkt. Der SNU ist krutierung auf dem umkämpften Arbeitsmarkt für speziali- kein Ersatz für die Wehrpflicht, sondern eine neue Art der sierte und qualifizierte Arbeitskräfte zusätzlich. Interaktion zwischen Bevölkerung und Armee, die bei den Bürger_innen zum einen ein Bewusstsein für Wehrbereit- Um diese wachsende Distanz zu verringern, wurden Mög- schaft schaffen bzw. verstärken soll (Sensibilität für beste- lichkeiten zum Kennenlernen militärischer Berufe geschaf- hende Herausforderungen, Befähigung zur Krisenresistenz), fen. So wurde im Juli 2015 ein freiwilliger Militärdienst zum anderen aber auch das Interesse bei jungen Menschen (service militaire volontaire, SMV) eingeführt, der ein wirksa- wecken soll, im Laufe ihres Berufslebens in die Armee ein- mes Mittel zur Integration von benachteiligten jungen Men- zutreten. schen zu sein scheint, mit nur etwa tausend Freiwilligen pro Jahr aber von geringer Bedeutung ist. Der SMV ist somit nur ein Achtungserfolg und verdeutlicht, in welchem Maße der ARBEITSMARKT UND Wehrdienst von einem großen Teil der Betroffenen ledig- PERSONALBESCHAFFUNG lich erduldet und eher als Unterbrechung ihres Berufslebens statt als Sprungbrett betrachtet wurde. Der Wehrdienst wurde zwar vielfach kritisiert, hatte aber den Vorteil, dass junge Menschen unmittelbar mit der Ar- mee in Kontakt kamen und die Armee somit leichter neues Personal fand. Das Ende der Wehrpflicht vergrößerte die 6 Dominique de Legge (2019): Améliorer la condition militaire : une nécessité stratégique, opérationnelle et humaine, Informationsbe- 5 Terroranschläge auf die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo im richt Nr. 652 (2018–2019), erstellt im Auftrag des Finanzausschusses Januar 2015 sowie die Serie paralleler Angriffe im November 2015. des Senats, vorgelegt am 10. Juli 2019, Paris. 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Dienstpflicht statt Wehrdienst Michèle Alliot-Marie, von 2002 bis 2007 Verteidigungs- bleiben und den Beruf an der Waffe nicht einfach als »Job« ministerin unter Präsident Chirac, engagierte sich stark für betrachten. Zugleich ist eine Verbindung zwischen Armee die Wiedereinführung der Reserve als Alternative zur Wehr- und Bevölkerung wichtig, damit die Bürger_innen ein Ver- pflicht, um junge Menschen für die Armee zu gewinnen. ständnis für Verteidigungsausgaben bekommen, die von Ihre Initiative war zwar erfolgreicher als der freiwillige Mili- ihnen als Steuerzahler_innen verlangt werden. tärdienst, spielt aber ebenfalls nur eine geringe Rolle: Der- zeit beträgt die Stärke der Reserve etwa 160.000 Personen. Mit der Umwandlung in eine Berufsarmee sind die Streit- kräfte paradoxerweise zu einer Institution geworden, in Was junge Franzosen und Französinnen eher anspricht als welche die Franzosen und Französinnen großes Vertrauen die Landesverteidigung sind Sicherheitsfragen. Fast 60.000 haben, wie Meinungsumfragen regelmäßig belegen. Diese Reservist_innen sind in der französischen Gendarmerie tätig, Wertschätzung ist zweifellos das Ergebnis ihres Einsatzes die dem Innenministerium untersteht. Zwar gibt es ebenso innerhalb Frankreichs seit der dauerhaft geltenden zweiten viele Reservist_innen bei den Landstreitkräften, diese dienen Alarmstufe des Plan Vigipirate von 19957 zur Bekämpfung aber überwiegend in der bereits erwähnten Operation Sen- terroristischer Bedrohungen und erst recht seit dem Start tinelle. Das ist nicht überraschend: Laut einer Ifop-Umfrage der Operation Sentinelle 2015. von Juli 2019 stellt das Risiko von Anschlägen auf französi- schem Boden für eine Mehrheit der französischen Bevölke- Seit elf Jahren führt das Forschungszentrum für Politik- rung (66 %) nach wie vor die größte Bedrohung dar. wissenschaften der Sciences Po (CEVIPOF) eine jährliche Vergleichsstudie8 über das Vertrauen der französischen Die allgemeine Dienstpflicht SNU soll die Attraktivität einer Bevölkerung in die Institutionen durch. Die Armee steht militärischen Laufbahn in den Augen der jungen Franzosen regelmäßig an zweiter Stelle hinter den Krankenhäusern: und Französinnen steigern, indem ihr Bewusstsein für Ver- 77 Prozent der Franzosen und Französinnen vertrauen ihr teidigungsfragen geschärft wird. Gleichzeitig ist das staats- (im Durchschnitt der Jahre 2012–2020), während nur elf bürgerliche und gesellschaftliche Engagement ein weiteres Prozent den politischen Parteien vertrauen.9 Das Ende der Ziel, insbesondere durch Praktika in einem Verein oder der Wehrpflicht hat die Meinung der französischen Bevölkerung öffentlichen Verwaltung. Der erste Abschnitt kann dazu bei- über die Armee deutlich verbessert, wie die Auswertung tragen, die jungen Menschen über Karrieremöglichkeiten in- der vom Verteidigungsministerium seit den 1990er-Jahren nerhalb des Verteidigungsministeriums zu informieren und durchgeführten Umfragen zeigt. Klarheit über die möglichen Berufe und die erforderlichen Qualifikationen zu schaffen. Ob dies wirklich gelingt, bleibt Die Situation ist also widersprüchlich: Zwar hat das Ende abzuwarten, da sich der SNU noch in der Versuchsphase der Wehrpflicht das Verhältnis der Armee zur Bevölkerung, befindet und bislang nur in einem sehr kleinen Umfang ge- insbesondere zu den jungen Menschen, verbessert, aber testet wurde. Somit ist schwer vorherzusehen, ob der SNU gleichzeitig eine Distanz geschaffen, die der Einbindung die gewünschte Wirkung hinsichtlich der Rekrutierung in des Militärs in die Gesellschaft schaden kann. Die Wieder- den Streitkräften, Verwaltungen oder Vereinen sowohl in einführung der Wehrpflicht wäre hingegen keine Lösung. qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht haben wird. Stéphane Jakubowski weist darauf hin, dass »der Wehr- dienst als ein freiheitsberaubendes Disziplinierungsmittel erlebt und gefürchtet wird und seine Wiedereinführung GESELLSCHAFTLICHE DIMENSION daher (heute fast vergessene) Proteste gegen das Militär wieder aufflammen lassen könnte«. Durch den sehr kurzen Einer der Vorteile des Wehrdienstes bestand darin, dass er Pflichtteil des SNU und die Vielfalt der behandelten Themen eine gewisse soziale, geografische und kulturelle Durch- dürfte eine solche ablehnende Reaktion durch die Jugend- mischung innerhalb der Wehrpflichtigen bewirkte, welche lichen allerdings vermieden werden. Die Kehrseite besteht die Zusammengehörigkeit förderte und zur Stärkung der jedoch darin, dass das Wissen der jungen Menschen über »Nation« beitrug. Aus dieser gesellschaftlichen Perspektive Sicherheitsfragen und die Welt des Militärs – genau wie steht der SNU in einer gewissen Kontinuität zur Wehrpflicht, beim JDC – oberflächlich bleiben wird. da er die Verbindung zwischen Armee und Nation aufrecht- erhalten soll. Dies ist jedoch nur möglich, wenn allen jungen Eine Alternative bestünde darin, eine Schnittstelle zwischen Staatsbürger_innen ein echtes Bewusstsein für die Landes- dem SNU und der Reserve zu schaffen, um die Verbindung verteidigung und ein Verständnis für die damit verbundenen zwischen den Streitkräften und der Gesellschaft zu stärken Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik vermittelt und gleichzeitig die Probleme der Rekrutierung von quali- wird. fiziertem Personal durch die Armee – zumindest punktu- Dieses Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken, ist aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen müssen die Bür- 7 Nach den Anschlägen auf die RER-Station Saint-Michel am 25. Juli ger_innen dafür sensibilisiert werden, was das Engagement 1995 und auf die Metrostation Maison blanche am 6. Oktober 1995. der Soldat_innen bedeutet und welche Gefahren sie für 8 https://www.sciencespo.fr/cevipof/fr/content/le-barometre-de-la- confiance-politique das Wohlergehen der französischen Bevölkerung eingehen. 9 https://www.opinion-way.com/fr/sondage-d-opinion/sondages-pu- Zum anderen ist die Anbindung der Armee an die Zivilbevöl- blies/opinionway-pour-le-cevipof-sowell-barometre-de-la-confiance- kerung wichtig, damit die Soldat_innen Teil der Bevölkerung en-politique-vague-11-avril-2020/download.html. 4
Politik und Positionen ell – zu lösen. Natürlich ist die militärische Laufbahn nicht wurden bereits im November 2001 entlassen. Diese Bewe- jedermanns Sache, aber viele junge Bürger_innen wollen gung spiegelte die Unbeliebtheit der Wehrpflicht und das sich in gewissem Maße an der Verteidigung Frankreichs be- damit verbundene Gefühl der Ungerechtigkeit wider. teiligen und seine Widerstandsfähigkeit stärken. So haben die Armee und die Gendarmerie nach den Anschlägen vom Da man sich in Frankreich nunmehr für ein technologie- November 2015 zahlreiche Anträge auf Aufnahme in die basiertes Verteidigungskonzept entschieden hat, wäre eine Reserve erhalten. Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht nur kostspielig, da mindestens drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr erforderlich wären (zzgl. der materiellen Mittel für Unterbringung und RECHTLICHE DIMENSION Ausbildung, die für etwa 800.000 junge Frauen und Män- ner pro Jahr aufgebracht werden müssten), sondern auch In den 1980er- und 1990er-Jahren standen junge Französ_ ineffektiv, da die Wehrpflichtigen nicht über die notwendi- innen dem Militärdienst zunehmend kritisch gegenüber. Der gen Fähigkeiten verfügen und ihre militärische Ausbildung Wehrdienst rief damals starken Antimilitarismus und Feind- angesichts der kurzen Armeezeit vergeudet wäre. Darüber bilder hervor, die von der Entkolonialisierung und den unter- hinaus müssten für die Betreuung der Wehrpflichtigen vie- drückten sozialen Bewegungen geprägt waren (wodurch le Soldat_innen von ihren operativen Einsätzen im In- und Polizei- und Militärkräfte ab Mai 1968 häufig gleichgesetzt Ausland abgezogen werden. wurden). Der Wehrdienst wurde bestenfalls als Übergangs- ritus erlebt – vor allem von den Bürger_innen, die wenig Die Entscheidung für den SNU, in dem Männer und Frau- religiös waren – und als Sozialisierung mittels eingeschärfter en einer gesamten Altersstufe teilnehmen (soziale und Disziplin. In den letzten Jahrzehnten hat sich aber ein be- geschlechtliche Gleichbehandlung), sollte vermeiden, dass trächtlicher Wandel vollzogen: in der französischen Gesell- eine patriotische Pflicht als Form der Nötigung auf Grundla- schaft wurde das Bedürfnis nach kollektiven Bindungen und ge von sozialen, geografischen oder geschlechtsbezogenen Strukturen immer stärker. Vor diesem Hintergrund hat der Ungleichheiten empfunden wird. Der SNU ist in keiner Wei- vermeintlich positive Sozialisierungsaspekt des Wehrdiens- se vergleichbar mit den Verpflichtungen des Wehrdienstes, tes im kollektiven Bewusstsein der Französ_innen stark an der auf der Konditionierung der Wehrpflichtigen, auf star- Bedeutung gewonnen. Dies erklärt sicherlich, warum sich ken persönlichen Einschränkungen (Leben in der Kaserne, heute anders alsfrüher in Umfragen wiederholt zwischen Freiheitsbeschränkungen, längere Trennung von der Familie 65 und 75 Prozent der französischen Bevölkerung für die usw.) sowie auf der gesetzlichen Verpflichtung beruhte, Wiedereinführung des Wehrdienstes aussprechen. dem Staat ein Jahr seines Berufslebens zu »schenken« – im Prinzip eine Form der Zwangsarbeit. Der SNU ist viel weni- Zu den politischen kamen mit der Zeit auch gesellschaftliche ger einschränkend, er ist kürzer (nur ein Pflichtmonat) und Bedenken hinzu. Angesichts der Verlängerung der Schulzeit ähnelt eher einem Ferienlager. So appelliert der SNU an das und des Ansturms junger Franzosen und Französinnen auf staatsbürgerliche Verantwortungsbewusstsein junger Men- die Universitäten in den 1980er-Jahren erschien die Wehr- schen, um die gewünschten Ziele zu erreichen, statt wie pflicht zunehmend als ein verlorenes Jahr, wodurch das beim Wehrdienst auf Zwang zu setzen. Hochschulstudium oder der Einstieg in den Arbeitsmarkt behindert wurden. Da die Wehrpflicht zudem nur Männer betraf, wurde sie als ungerecht und in stark umkämpften POLITIK UND POSITIONEN Bereichen des Arbeitsmarktes sogar als diskriminierend empfunden. Die Aussetzung der Wehrpflicht wurde daher Seit dem Ende des Algerienkrieges 1962 ist die Wehrpflicht von den jungen Franzosen als Befreiung von einer großen kein politisches oder gesellschaftliches Thema von Bedeu- Bürde angesehen. tung mehr. Abgesehen von der individuellen Verweigerung des Wehrdienstes durch Jugendliche und junge Erwachsene Schließlich hat auch das Ende des Kalten Krieges das Ge- bis in die 2000er-Jahre hinein, hat die Gesellschaft dieses fühl der Sinnlosigkeit der Wehrpflicht verstärkt. Das Fehlen Thema allenfalls als Teil einer viel breiteren Debatte über einer größeren Bedrohung und das wachsende Missver- die Verteidigungspolitik zwischen Antimilitarismus (Linke/ hältnis zwischen den Tätigkeiten der Rekruten und einer extreme Linke) und übertriebenem Patriotismus (Rechte/ wirksamen Landesverteidigung haben die gesellschaftliche extreme Rechte) diskutiert. Diese beiden Extrempositionen Legitimation der Wehrpflicht infrage gestellt. Am deutlichs- wurden jedoch immer nur von Minderheiten innerhalb der ten brachte diese geänderte Wahrnehmung das Kollektiv französischen Gesellschaft vertreten. Die Tatsache, dass die Sans Nous zum Ausdruck. Nach der Verabschiedung der Wehrpflichtigen nach 1962 an keinem Militäreinsatz mehr Aussetzung der Wehrpflicht war zunächst noch eine Über- teilnahmen, war sicher einer der Hauptgründe dafür, dass gangszeit vorgesehen, in der Tausende junge Männer, die der Wehrdienst in den politischen und gesellschaftlichen vor 1979 geboren waren, ihren Militärdienst noch ableisten Debatten lange Zeit nicht thematisiert wurde. Die Ankün- mussten. Die letzten Wehrpflichtigen sollten ihren Dienst digung von Präsident Chirac hatte daher viele Menschen am 1. Januar 2003 beenden. Einige vor der Einberufung ste- völlig überrascht. hende Wehrpflichtige schlossen sich daraufhin im Kollektiv Sans Nous zusammen und forderten ein vorzeitiges Ende der Wehrpflicht. Mit Erfolg: Die letzten Wehrpflichtigen 5
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Dienstpflicht statt Wehrdienst In der französischen Gesellschaft herrscht ein Konsens über sprüchlich, wenn man sich die Akzeptanz der Wehrpflicht die Notwendigkeit von Verteidigungsmaßnahmen sowie in der französischen Gesellschaft vor Augen führt. Gerade über die Rolle der Streitkräfte als Mittel zur Behauptung der ein konservativer Politiker, der die staatliche Souveränität nationalen Souveränität und zur Verteidigung der mit den verteidigte und für Frankreich eine führende Rolle in der Menschenrechten verbundenen Werte. Als François Mitter- Gemeinschaft der Nationen forderte, konnte dafür sorgen, rand 1981 nach einem Jahrzehnt, das von linkem Antimili- dass diese symbolträchtige Entscheidung auf Akzeptanz tarismus geprägt war, an die Macht kam, stellte er weder stieß, indem er sie mit Kriterien der militärischen Wirksam- die Wehrpflicht noch die Rolle des Militärs in den internatio- keit begründete. nalen Beziehungen infrage. Gegen eine Berufsarmee hatte er – wohl aus Angst vor einem Staatsstreich des Militärs, der Die Idee, die Wehrpflicht wieder einzuführen, ist heute übrigens ganz in der Tradition der Dritten Republik gestan- in Frankreich kein Thema in politischen oder öffentlichen den hätte10 – stets Vorbehalte. Die Wehrpflicht war also eine Debatten. Ohnehin wäre die Wiedereinführung der Wehr- Art Absicherung für die Demokratie durch die Einbindung pflicht nur dann sinnvoll, wenn sie anhand des Bedarfs der Bürger_innen in die Streitkräfte. der Armee gezielt qualifiziertes Personal auswählen würde (dann wäre sie allerdings hochgradig ungerecht) und eng Obwohl die Kirchen militärische Aktivitäten oft kritisierten mit der Reserve verbunden wäre, um gleichzeitig die mili- und vor allem Atomwaffen entschieden ablehnten, war die tärische Einsatzfähigkeit ehemaliger Wehrpflichtiger zu ge- Wehrpflicht auch dort kein bedeutendes Thema. In Frank- währleisten. Der Sozialwissenschaftler Julien Damon stellt reich verstehen sich die großen Religionsgemeinschaften fest: »Im Kontext erhöhter sicherheitspolitischer Herausfor- mehr als geistliche Unterstützer_innen der Truppen. So gibt derungen wäre der Wehrdienst eine Zeit des Erwerbs und es katholische, jüdische, protestantische und (seit 2005) der Umsetzung von Grundkenntnissen in den Bereichen muslimische Militärseelsorger_innen. Sicherheit und Verteidigung. Er wäre eine Ressource für die vorhandenen Truppen, um in Frankreich oder vielleicht Dazu muss betont werden, dass es in Frankreich nur sehr auch im Ausland Einsätze durchzuführen.« Allerdings wären wenige praktizierende Gläubige gibt und Religion und Staat diese Bedingungen in der Umsetzung sehr ungerecht und seit 1905 strikt voneinander getrennt sind. Historisch ge- daher kaum akzeptabel. sehen ist Frankreich ein katholisches Land. Eine relative Mehrheit (32 %) der französischen Bevölkerung bezeichnet Was hingegen in der Vergangenheit Fragen aufgeworfen sich als katholisch, aber kaum ein Fünftel besucht wenigs- hatte, war weniger die Militarisierung der Gesellschaft als tens einmal im Monat einen Gottesdienst.11 Drei Fünftel vielmehr die soziale Funktion der Wehrpflicht. Denn als betrachten sich als »nicht praktizierend«, d. h. sie nehmen verpflichtende Etappe für alle jungen Franzosen hatte der nie am Gottesdienst teil. Zudem sind viele mit den Positio- Wehrdienst bestimmten Bevölkerungsgruppen neue Mög- nen der katholischen Kirche nicht einverstanden, wodurch lichkeiten eröffnet. Insbesondere für sozial benachteiligte sich deren Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes deutlich junge Menschen spielte er eine wichtige positive Rolle. Viele verringert hat. Zehn Prozent der Franzosen und Französin- Jugendliche aus ländlichen Gebieten oder benachteiligten nen bekennen sich zu anderen Religionen, meist dem Islam Stadtvierteln sowie Schulabbrecher_innen fanden durch (6 %). 58 Prozent bezeichnen sich als konfessionslos. Dies den Militärdienst eine Möglichkeit, um einen Neuanfang in erklärt, warum Religionsbewegungen in der Diskussion um ihrem Leben zu wagen – entweder durch die dort absol- den SNU keine Rolle spielen, mit Ausnahme folgender Punk- vierten Ausbildungen oder durch die Gelegenheit, sich beim te, die Katholik_innen12 und Muslim_innen13 in den Medien Militär zu verpflichten, und sei es nur für kurze Zeit – und gleichermaßen kritisieren: das Verbot, religiöse Symbole zu das Risiko eines Lebens in der Kriminalität oder am Rande tragen (außerhalb von Privaträumen wie Schlafzimmern), der Gesellschaft zu vermeiden. Es ist eine offene Frage, ob das Fehlen von Ausnahmeregelungen im Alltag (Ernährung, der SNU den Wegfall dieser sozialen Funktion des Wehr- Ausgangsverbot für Besuche in Gotteshäusern) sowie die dienstes wird auffangen können. Förderung der Trennung von Kirche und Staat während des SNU. Immerhin könnte der SNU einen positiven Effekt auf bür- gerschaftliches und gesellschaftliches Engagement haben. Zwar erscheint es paradox, dass der erste linke Staatprä- Schon 2010 wurde ein freiwilliger Zivildienst eingeführt. sident die Wehrpflicht beibehalten hat, während Jacques 435.000 junge Menschen haben diesen absolviert. 44 Pro- Chirac, der sich als Erbe von General de Gaulle sah, ihre zent von ihnen sind der Ansicht, dass dieser Zivildienst einen Aussetzung veranlasste. Doch ist dies keineswegs wider- positiven Einfluss auf ihren Wunsch hatte, sich ehrenamtlich zu engagieren. Ebenso zeigen Umfragen seit dem Ende der Wehrpflicht, dass junge Menschen eine positive Meinung 10 In der Soldaten bis 1945 kein Wahlrecht hatten. von der Armee haben, sogar mehr als im Bevölkerungs- 11 https://www.lepoint.fr/debats/de-plus-en-plus-de-francais-ne-croi- ent-plus-en-dieu-23-05-2019-2314705_2.php durchschnitt (91 % vs. 85 %). Darüber hinaus verbinden 12 http://www.lavie.fr/actualite/france/les-jeunes-croyants-oublies-du- die jungen Franzosen und Französinnen mit der Armee an service-national-universel-24-06-2019-98913_4.php erster Stelle die Werte Mut (50 %), Disziplin (49 %) und En- 13 https://www.aa.com.tr/fr/monde/france-musulmans-inquiets-du- gagement (47 %). projet-du-service-national-universel/1365340 ou https://www.mi- zane.info/service-national-universel-les-positions-laiquesdu-ministre- blanquer-suscitent-lincomprehension/ 6
Politik und Positionen Der SNU scheint in der französischen Gesellschaft große LITERATUR Zustimmung zu finden. Laut einer vom Meinungsfor- schungsinstitut Ifop im April 2019 durchgeführten Umfrage Asoni Andrea, Gilli Andrea, Gilli Mauro, Sanandaji Tino (2020): »A mercenary army of the poor? Technological change and the demographic befürworten 67 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 composition of the post-9/11 U.S. military«, Journal of Strategic Studies, und 24 Jahren die Einführung des SNU; etwas weniger als DOI: 10.1080/01402390.2019.1692660. bei den 25–34-Jährigen, die nicht zum SNU verpflichtet sind Bellais Renaud (2017): Service national universel : de vrais enjeux pour la (76 %), oder bei den über 65-Jährigen (83 %). Dabei wird défense, Fondation Jean Jaurès, Paris, 22. Dezember. er gleichermaßen von Männern (76 %) wie Frauen (72 %) befürwortet. Die jeweilige politische Einstellung wirkt sich Bellais Renaud (2019): Service universel, La défense de la France comme vecteur de cohésion nationale, Fondation Jean Jaurès, Paris, Februar. zwar auf den Grad der Befürwortung, nicht aber auf die prinzipielle Zustimmung zum SNU aus. Die Zustimmungs- Boëne Bernard (2003): « La professionnalisation des armées : contexte rate der Anhänger_innen von La France Insoumise (links) et raisons, impact fonctionnel et sociopolitique », Revue française de so- ciologie, Nr. 44, S. 647–693. erreicht 60 Prozent, die der Sozialistischen Partei Mitte links von Les Républicains (Mitte rechts) und des Rassemblement Damon Julien (2017): « Pour un service national obligatoire », Cahiers National (extreme Rechte) beträgt rund 70 Prozent und die français, Nr. 396, Januar/Februar, S. 73–76. von La République En Marche, der Partei von Emmanuel Hatto, Ronald, Tomescu-Hatto Odette, Muxel Anne (2011): Enquête Macron (Mitte rechts), 91 Prozent. sur les jeunes et les armées : images, intérêt et attentes, étude Nr. 10, Ins- titut de recherche stratégique de l’École militaire, Paris. Unter den Gewerkschaften haben die Confédération Gé- Jakubowski Sébastien (2017): « Faut-il rétablir un service national obli- nérale du Travail (CGT), die früher mit der Kommunisti- gatoire ? », Cahiers français, Nr. 396, Januar/Februar, S. 68–72. schen Partei verbunden war, ebenso wie die linksorientierte Gewerkschaftsgruppe SUD ihre entschiedene und um- fassende Ablehnung der Umsetzung des SNU« erklärt. In Übereinstimmung mit der antimilitaristischen Tradition der Linken und extremen Linken lehnt die CGT den militärischen Pflichtabschnitt des SNU mit seinen »unmittelbar kriegerisch geprägten Riten und Handlungen« ab. Die CGT zeigte sich besorgt über den hohen Anteil von Militärs unter den Be- treuer_innen in der Testphase 2019 sowie in der Ausbildung der Betreuer_innen ab dem Start des für alle verpflichten- den SNU. CGT und SUD sind der Ansicht, dass der gegen- wärtig festgelegte Rahmen »unvereinbar mit den Zielen der persönlichen Selbstbestimmung und der Erziehung zum Frieden« sei. Andere Gewerkschaften wie die mitte links stehende Con- fédération Française Démocratique du Travail (CFDT) sind zurückhaltender, beobachten die Umsetzung des SNU auf- merksam und fordern, stärker in seine Ausgestaltung einbe- zogen zu werden.14 Ihre Kritik richtet sich vor allem darauf, dass die Umsetzung des SNU Ressourcen bindet, die besser für pädagogische oder soziale Zwecke eingesetzt werden könnten.15 Die Gewerkschaften unterstützen zwar traditio- nell Wehrdienstverweigerer, allerdings wird es die geringe militärische Ausrichtung des SNU natürlich erschweren, diesen aus Gewissensgründen zu verweigern, vor allem solange weder das endgültige Format des SNU noch der tatsächliche militärische Inhalt feststehen (bestimmte soge- nannte militärische Aktivitäten ähneln eher dem Pfadfinder- tum als einer echten Militärausbildung). 14 https://ile-de-france.cfdt.fr/upload/docs/application/pdf/2019-01/ communique_service_national_universel_des_interrogations_sur_ sa_mise_en_oeuvre.pdf 15 https://www.force-ouvriere.fr/declaration-de-l-intersyndicale-du- 30-aout-2018 7
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Dienstpflicht statt Wehrdienst 8
IMPRESSUM ÜBER DEN AUTOR IMPRESSUM Renaud Bellais ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Be- Friedrich-Ebert-Stiftung Paris reich Wirtschaftswissenschaften, ENSTA Bretagne und 41 bis, bd. de la Tour-Maubourg | 75007 Paris | France Université Grenoble Alpes, Mitglied des Observatoire de la Défense Orion der Stiftung Jean Jaurès www.fesparis.org Kontakt: fes@fesparis.org Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert- Stiftung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schrift- liche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. Das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankreich wurde Le Bras, Hervé und Warnant, Achille 1985 in Paris eröffnet. Seine Tätigkeit zielt darauf ab, unter- Ungleiches Frankreich halb der Ebene des Austauschs und der Zusammenarbeit zwi- Radiografie der sozioökonomischen schen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs eine und regionalen Disparitäten Vermittlerfunktion im deutsch-französischen Verhältnis zu erfüllen. Dabei steht im Mittelpunkt, Entscheidungsträgern Laurent, Éloi aus Politik und Verwaltung sowie Akteuren der Zivilgesell- Kommunen und sozial-ökologische Wende schaft Gelegenheit zu geben, sich zu Themen von beidersei- Erfahrungen aus Frankreich tigem Belang auszutauschen und die Probleme und Heraus- forderungen, die die jeweils andere Seite zu bewältigen hat, Bréchon, Pierre kennenzulernen. Deutsche und französische Partner der FES Die Werte der Franzosen können dadurch zu gemeinsamen Positionen insbesondere Entwicklungen, die Anlass zu Optimismus geben zur europäischen Integration gelangen und bei der Formu- Paris, 2020 lierung von Lösungen für die jeweils eigenen Probleme auf vorhandene Kenntnisse und Erfahrungen des Nachbarlandes Rossignol, Laurence; Fourtic, Yseline zurückgreifen. Langjährige Veranstaltungsreihen sind die Politische Parität in Frankreich Deutsch-französischen Strategiegespräche (« Cercle straté- Was ein Gesetz kann – und was nicht gique ») über aktuelle außen- und sicherheitspolitischen The- Paris, 2020 men, Jahreskonferenzen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen (»Deutsch-Französischer Wirtschaftsdialog«) und das Guillou, Antoine Deutsch-französische Gewerkschaftsforum. Eine wirksame und gerechte CO2-Steuer Paris, 2020 Gliniasty, Jean de Die Russlandpolitik Präsident Macrons Paris, 2020 Rémi Lefebvre Gelbwesten und politische Repräsentation Paris, 2019 Fourquet, Jérôme; Manternach, Sylvain Die »Gelbwesten« Ein Zeichen der gesellschaftlichen Spaltung Frankreichs Paris, 2019 Finchelstein, Gilles Profil der Anhänger von La République en Marche Paris, 2019 Finchelstein, Gilles Profil der Anhänger der Sozialistischen Partei Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sindnicht Paris, 2019 notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
DIENSTPFLICHT STATT WEHRDIENST Der service national universel in Frankreich Die Wehrpflicht wurde in Frankreich En- Dennoch blieb die Abschaffung der Mit der neuen Dienstpflicht soll sowohl de der 1990er Jahre im Zuge einer tief- Wehrpflicht nicht unumstritten. Viele eine Kultur des Engagements gefördert greifenden Reform der Verteidigungs- befürchteten, dass sich damit die Ver- werden als auch ein Beitrag zur sozialen politik abgeschafft. Dieser Entschei- bindung zwischen Armee und Nation und geografischen Durchmischung der dung ging eine umfassende gesell- auflösen würde und die Funktion des Altersgruppen sowie zur sozialen und schaftliche und militärische Analyse Wehrdienstes als »sozialer Schmelztie- beruflichen Integration junger Men- voraus, die sowohl auf die extreme Un- gel« verloren ginge. schen. In der französischen Gesellschaft beliebheit des Militärdienstes als auch Vor diesem Hintergrund wurde im Juni scheint er große Zustimmung zu finden auf die veränderte Verteidigungsvor- 2018 auf Initiative von Präsident Eman- und dies auch – anders als der frühere aussetzungen reagierte. nuel Macron die »allgemeine Dienst- ungeliebte Wehrdienst – bei jungen Für den Ernstfall Verteidigung schien pflicht«, der »Service National Univer- Menschen. nicht länger ein Massenheer aus Wehr- sel« eingeführt. Diese neue Dientspflicht pflichtigen angemessen, sondern ein von einem Monat Dauer verbindet eine Berufsheer mit qualifiziertem Personal, gemeinützige Tätigkeit mit einer militä- das in der Lage ist, modernste Ausrüs- rischen Einweisung und soll nach einer tung zu bedienen. Aufbau- und Erprobungsphase ab 2024 für alle junge Menschen zwischen 16 und 18 Jahren verpflichtend sein. Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier: www.fesparis.org
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