DIGITAL AUFS LAND Wie kreative Menschen das Leben in Dörfern und Kleinstädten neu gestalten - Berlin-Institut für Bevölkerung und ...

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DIGITAL AUFS LAND
Wie kreative Menschen das Leben in Dörfern
und Kleinstädten neu gestalten

                                             Digital aufs Land 75
Über das Berlin-Institut                                             Wüstenrot Stiftung

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unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und glo-      gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft,
baler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut         Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Zwei Aufgaben stehen im
wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die          Mittelpunkt aller Aktivitäten der Wüstenrot Stiftung: der richtige
Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu            Umgang mit kulturellem Erbe und die Suche nach Wegen, wie
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Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer          stellen kann. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und
und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen        realisiert die Wüstenrot Stiftung selbst Projekte und fördert dar-
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Digital aufs Land
Wie kreative Menschen das Leben in Dörfern
und Kleinstädten neu gestalten

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Impressum                                                                           Die Autorinnen und Autoren:
Originalausgabe
April 2021                                                                          Susanne Dähner, Diplom in Geographie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
                                                                                    Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung & Wüstenrot Stiftung
                                                                                    Lena Reibstein, Master of Science in Economic Growth, Population and Development
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.                                            an der Universität Lund. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten.                         Bevölkerung und Entwicklung.

Herausgegeben von                                                                   Julia Amberger, Master in Journalismus an der Universität Leipzig. Freie Journalistin
Berlin-Institut für                   Wüstenrot Stiftung                            und Autorin für Deutschlandfunk, Arte, FAS und stern in Berlin.
Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59                     Hohenzollernstr. 45                           Sabine Sütterlin, Diplom in Naturwissenschaften an der ETH Zürich. Freie wissen-
10627 Berlin                          71630 Ludwigsburg                             schaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Telefon: (030) 22 32 48 45            Telefon: (07141) 16 75 65 00
Telefax: (030) 22 32 48 46                                                          Manuel Slupina, Diplom in Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Ressort-
E-Mail: info@berlin-institut.org      E-Mail: info@wuestenrot-stiftung.de           leiter Demografie Deutschland am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
www.berlin-institut.org               www.wuestenrot-stiftung.de
                                                                                    Catherina Hinz, Magisterstudium in den Fachbereichen Germanistik, Geschichte und
Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut).    Südasienwissenschaften an den Universitäten Hamburg und Heidelberg.
                                                                                    Geschäftsführende Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.
Autorinnen und Autoren: Susanne Dähner, Lena Reibstein, Julia Amberger,
Sabine Sütterlin, Manuel Slupina, Catherina Hinz

Recherche: Lena Reibstein, Emma Kunz
Lektorat: Sabine Sütterlin, Lilli Sippel

Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)
Druck: Spree Druck Berlin GmbH

Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten und Grafiken wurde
auf Grundlage des Programms Tableau Software, Seattle, USA, erstellt.

ISBN: 978-3-946332-62-6

Das Berlin-Institut und die Wüstenrot Stiftung danken allen Interviewpartnerinnen
und Interviewpartnern.

2   Digital aufs Land
INHALT
Vorwort......................................................................................................................................................4

Das Wichtigste in Kürze........................................................................................................................6

1 | Bringt die Digitalisierung neues Leben in die Dörfer?.............................................................8
1.1 Treibt der Platzmangel die Menschen aus den Städten?............................................................10
1.2 Sind die neuen digitalen Möglichkeiten im Arbeitsalltag angekommen?................................12
1.3 Neue Hoffnung für Dörfer und Kleinstädte?................................................................................. 17

Ergebnisse der Onlineumfrage......................................................................................................... 20

2 | Das Landleben verändert sich......................................................................................................23
2.1 Neue Orte des Wohnens, Arbeitens und Gestaltens auf dem Land..........................................26
         A | Coworking Spaces: Flexible gemeinschaftliche Arbeitsplätze.........................................26
         B | Coliving und Cohousing: Gemeinschaftlich wohnen, zeitweilig oder dauerhaft...........33
         C | Kreativorte: Neue Treffpunkte und kulturelle Angebote...................................................36
         D | Innovative Unternehmen: Neue Gründerzeit auf dem Land...........................................40
2.2 Welche Wirkungen entfalten diese Orte?.....................................................................................43

3 | Wie Projekte auf dem Land gelingen......................................................................................... 50
3.1 Akteure des Wandels und was sie antreibt................................................................................. 50
3.2 Wo entstehen neue ländliche Orte?..............................................................................................57
3.3 Was tun, wenn es (noch) nicht klappt?.........................................................................................62

Fazit: Das Landleben verändert sich............................................................................................... 66

Was tun?................................................................................................................................................. 68

Methodik..................................................................................................................................................71

Glossar.....................................................................................................................................................72

Quellen.....................................................................................................................................................73

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ES TUT SICH WAS AUF DEM LAND –
UND WIR SEHEN GENAUER HIN
Arbeiten, Leben und Wohnen auf dem Land           Zudem nehmen immer mehr Menschen in              Ihre Ideen setzen die Menschen flexibel und
verändern sich gerade. Noch herrscht in           ihrer eigenen Lebensplanung Stadt und Land       pragmatisch um. Als große Stärke erweist
vielen Köpfen das herkömmliche Bild vor, in       nicht mehr als gegensätzliche Pole wahr. Sie     sich häufig, dass sie urban oder ländlich
dem Dynamik und Kreativität, ökonomische          nutzen die Freiheiten, die ihnen eine moder-     geprägte Elemente miteinander verschmel-
Chancen und kulturelle Vielfalt vorwiegend in     ne Gesellschaft bietet, und wählen ihren Le-     zen. So sind ländliche Coworking Spaces
den Städten zu finden sind. Jüngere Menschen      bensmittelpunkt flexibel. Die Digitalisierung,   zwar von denen in der Stadt inspiriert – zum
ziehen für Ausbildung und Berufsstart in die      neue Mobilitätskonzepte und sich wandelnde       Beispiel in Bezug auf Abo-Modelle und
großen Zentren, genießen das urbane Leben,        Arbeitsformen ermöglichen es ihnen, ihr Le-      dem Angebot von flexiblen Arbeitsplätzen.
haben dort bessere Berufsperspektiven             ben individuell zu gestalten. Sie müssen sich    Doch die Gründer haben auch ihre ländliche
und bleiben. Auch vielen Älteren scheinen         nicht mehr notgedrungen zwischen Ruhe in         Zielgruppe im Blick. Und so arbeiten anders
Städte mehr und bessere Angebote zu               der Natur oder dem pulsierenden Stadtzent-       als in Städten neben Digitalnomaden, Frei-
bieten, so dass der Trend eindeutig wirkt:        rum entscheiden.                                 beruflern und Start-up-Gründerinnen auch
Weiter wachsende Verdichtungsräume auf                                                             Handwerkerinnen, Anwälte und Versiche-
der Gewinner-Seite und sich entleerende                                                            rungsvertreterinnen nebeneinander. Auch
ländliche Regionen auf der Verlierer-Seite der    Neue Formen des ländlichen                       die neuen Angebote wie Workation, Coliving
Entwicklung.                                      Lebens entstehen                                 oder Landleben auf Zeit sind ein Mix aus bei-
                                                                                                   den Welten und kein Versuch, eine verklärte
Blickt man etwas genauer hin, verschwimmt         Diese Möglichkeiten zeigen sich auch in          Vorstellung der Städter vom Leben auf dem
dieses Bild. Lebensqualität, Erwerbs-             der Art und Weise, wie Menschen wohnen.          Land zu realisieren.
perspektiven und Teilhabechancen sind in          Gemeinschaftliche Wohnprojekte entstehen
Deutschland viel differenzierter verteilt, eine   zunehmend auch auf dem Land. Sie sind kei-       Ein wichtiger Gelingensfaktor sind dabei die
pauschale Gegenüberstellung von Stadt und         ne Kopie und kein Gegenentwurf zum Leben         Menschen selbst mit ihrem eigenverantwort-
Land ist zu einfach gedacht. Das haben wir        in der Stadt. Stattdessen passen sie sich an     lichen, subsidiären Handeln. Sie nehmen
mit unserem Teilhabeatlas 2019 für Städte         die Gegebenheiten vor Ort an – und den Vor-      das Heft selbst in die Hand und ihre Gründe
und Ballungsräume ebenso wie für ländliche        stellungen der Gründerinnen und Gründer:         können dabei ebenso unterschiedlich sein
Regionen gezeigt.1 Weder sind die Bedingun-       Manche wollen ihre Nachbarn selbst wählen,       wie ihre berufliche und familiäre Herkunft,
gen in den Städten gleich oder gleichwertig       andere vor Ort auch coworken. So entsteht        ihre persönlichen Fähigkeiten oder ihre
noch kann man die ländlichen Regionen über        eine neue Vielfalt des Lebens auf dem Land.      finanziellen Möglichkeiten. Sie handeln
einen Kamm scheren. Denn auch jenseits der                                                         meist aus eigenem Antrieb, wenn sie neue
Metropolen finden sich mitunter florierende                                                        Angebote und Gelegenheiten schaffen, aber
Regionen.2                                                                                         die Impulse, die von ihren Ideen ausgehen,
                                                                                                   kommen nicht nur ihnen selbst, sondern auch

4   Digital aufs Land
anderen zu gute. Die Politik wäre also gut         Wir gehen zwar nicht davon aus, dass sich die
beraten, diese Initiativen gezielt zu unterstüt-   Urbanisierung nun umkehrt. Bisher beobach-
zen. Denn eine Belebung demografisch wie           ten wir vor allem qualitative Veränderungen.
wirtschaftlich angeschlagener Regionen kann        Und es gibt keine Patentrezepte, die allen
nur gelingen, wenn vor Ort Menschen etwas          ländlichen Kommunen demografisches und
bewegen und die Chancen der Digitalisierung        wirtschaftliches Wachstum garantieren. Aber
für ihren Ort nutzen.                              die Beispiele in der vorliegenden Studie zei-
                                                   gen, wie auch auf dem Land neue Formen des
                                                   Arbeitens, Lebens und Wohnens entstehen,
Corona als Herausforderung                         für die sich ganz offensichtlich immer mehr
und Chance zugleich                                Menschen in Deutschland interessieren. Das
                                                   birgt ein großes Potenzial für Dörfer und
Viele dieser neuen Kreativ-, Wohn- und             Kleinstädte und zeigt, welche Chancen in der
Arbeitsorte haben unter der Pandemie               Digitalisierung und in einer neuen Interpre-
im Jahr 2020 gelitten: Die Einnahmen der           tation des „Landlebens“ für ländliche Räume
Coworking Spaces auf dem Land sanken               stecken.
und Retreats für Musiker oder Fablabs für
Jugendliche mussten zeitweise schließen.
Langfristig dürften sie aber von der Corona-       Berlin, im April 2021
krise profitieren. Denn mit der Pandemie hat
sich vor allem bei Unternehmen, aber auch          Catherina Hinz
Angestellten die Einstellung zum ortsunab-         Direktorin Berlin-Institut für Bevölkerung und
hängigen Arbeiten im Homeoffice oder auch          Entwicklung
anderen Räumen verändert. Neue Wohn- und
Arbeitsformen auf dem Land sprechen nun            Stefan Krämer
auch vermehrt Städter an. Zumal sich die           Stellvertretender Geschäftsführer Wüstenrot
Menschen nicht mehr zwangsläufig zwischen          Stiftung
den vermeintlichen Gegensätzen Stadt und
Land entscheiden müssen. Coworkation oder
Coliving-Angebote richten sich an jene, die
sich neben dem quirligen Stadtleben auch
manchmal nach Natur und Ruhe sehnen.

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DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
Neue Hoffnung für Dörfer und                       Zentrale Voraussetzung ist ein Internetan-        ländlichen Regionen ermöglichen sogenannte
Kleinstädte?                                       schluss, damit hochqualifizierte Arbeitskräfte    Coworkation-Angebote Großstädtern, Arbeit
                                                   auch fern von ihrem städtischen Arbeitge-         und Erholung in der Natur für eine begrenzte
Bislang sieht es so aus, als läge die Zukunft in   ber ihrem Broterwerb nachgehen können.            Zeit miteinander zu kombinieren.
den großen Städten. Während die urba-              Wichtig ist aber auch, wie sich das Leben auf
nen Zentren ungebrochen vor allem junge            dem Land gestalten lässt. Wo neue Begeg-              Coliving und Cohousing: Auch flexible
Menschen und Wissensarbeiter anziehen,             nungs-, Freizeit- und Arbeitsorte entstehen,      und gemeinschaftliche Wohnkonzepte sind
verlieren abgelegene und strukturschwache          wo Menschen aktiv sind, die Veränderungen         auf dem Land noch neu. Coliving steht dabei
Regionen weiterhin Einwohner. Lange galt           anstoßen und das Ländliche neu interpretie-       für Zusammenleben und -arbeiten auf Zeit,
das Leben auf dem Land gerade für diejeni-         ren, zieht es die neuen Landbewohner am           Cohousing ist längerfristig angelegt. In alten
gen, die ihre ländliche Heimat für Studium         ehesten hin – und wird das Leben auch für         Vierseithöfen oder Klöstern, aber auch in
und Jobs hinter sich gelassen haben, als           Einheimische attraktiver.                         Siedlungen mit Neubauten im Miniatur-
altbacken und rückständig. Doch ein Wandel                                                           format, sogenannten Tiny Houses, bauen
zeichnet sich ab. Seit geraumer Zeit steigt                                                          sich Gleichgesinnte ein gemeinschaftliches
das Interesse an einem Leben in Dörfern und        Digitalisierung lässt Ideen                       Lebensumfeld auf. Viele dieser Projekte
Kleinstädten wieder. Während die Städte            auf dem Land sprießen                             beherbergen einen Coworking Space, für die
immer voller und teurer werden, locken länd-                                                         eigenen Bewohner, aber auch für temporäre
liche Räume mit günstigen Preisen, Natur und       In der vorliegenden Studie haben wir uns          Besucher und Mitbewohner.
Freiräumen, die zum Gestalten einladen.            insgesamt 56 digital gestützte Arbeitsorte,
                                                   Start-ups und Gründungen, Kreativorte sowie           Kreativorte: Als Kreativorte bezeichnen
Ob Deutschland nun am Anfang einer neuen           gemeinschaftliche Wohnprojekte näher              wir ein breites Spektrum ländlicher Initiati-
Landbewegung steht, lässt sich derzeit noch        angeschaut. Es sind Projekte und Formate,         ven, die innovative Ideen umsetzen. Enga-
nicht mit letzter Sicherheit beantworten.          die sich die neuen digitalen Möglichkeiten        gierte Macher eröffnen beispielsweise einen
Einige Entwicklungen der letzten Jahre – und       zunutze machen und bisher eher in der Groß-       sogenannten Makerspace, eine Hightech-
vor allem seit Ausbruch der Coronapande-           stadt zu finden waren. In abgewandelter und       Werkstatt für Erfinderinnen und Gründer,
mie – machen eine Trendwende zumindest             angepasster Form beginnen sie nun das Land        oder schaffen Räume für Workshops aller
wahrscheinlicher: Der Drang weg von der            zu verändern. Vier Phänomene treten hervor:       Art, sie organisieren Konzerte, Festivals oder
Großstadt scheint zurzeit so groß wie lange                                                          klassische Nachbarschaftstreffen. Kreativorte
nicht mehr zu sein. Gleichzeitig verändern             Coworking Spaces: Gemeinschaftliche           sind Stätten der Begegnung, des Lernens und
sich Arbeitswelten und Arbeitskulturen auf-        Arbeitsorte sind auf dem Land erst seit jüngs-    Entwickelns neuer Ideen.
grund der Pandemie in einer Geschwindig-           ter Zeit anzutreffen. Dort wo ländliche Cowor-
keit, mit der niemand gerechnet hat. Daher         king Spaces entstehen, orientieren sie sich           Innovative Gründungen: Digitale Start-
öffnet sich gerade ein Möglichkeitsfenster, in     weniger am urbanen Vorbild, sondern richten       ups und zukunftsweisende Unternehmen
dem ein Leben auf dem Land für eine breitere       sich am lokalen Bedarf aus. So ist die Gruppe     entstehen vor allem in den Städten, der
Bevölkerungsgruppe als ernstzunehmende             der ländlichen Coworker bunter als in der         ländliche Raum profitiert von ihnen bislang
Alternative erscheint. Dies ist eine Chance        Stadt: Die Bandbreite reicht vom klassischen      kaum. Doch inzwischen wagen es manche
auch für abgelegene Dörfer und Kleinstädte         Digitalarbeiter, angestellt oder selbstständig,   Gründer, ihre neuartigen Geschäftsideen auf
außerhalb der Pendeldistanz, Menschen zu-          über den ehrenamtlichen Vorstand im örtli-        dem Land zu verwirklichen. Sie erzeugen
rückzugewinnen, die in den letzten Jahrzehn-       chen Verein und die Handwerkerin bis zum          Wertschöpfung vor Ort, schließen Lücken in
ten in die Ballungsräume gezogen sind, oder        Wirtschaftsförderer. Der gemeinschaftliche        der Versorgung oder eröffnen altem Hand-
sogar bislang überzeugte Städter anzuziehen.       Arbeitsort kann eine Alternative zur täglichen    werk mithilfe moderner, digitaler Vermark-
Und Zuzug brauchen viele ländliche Regio-          Pendelei sein. Die neuen Räumlichkeiten           tung eine Zukunft. Damit bringen sie nicht
nen, um dem demografischen Wandel etwas            bieten zusätzliche Treffpunkte und Gele-          nur die wirtschaftliche Entwicklung ländli-
entgegenzusetzen.                                  genheiten für die Dorfgemeinschaft zusam-         cher Räume voran, sondern schaffen auch
                                                   menzukommen. In touristisch attraktiven           neue Arbeitsmöglichkeiten für Einheimische,

6   Digital aufs Land
die auf der Suche nach einem Job sonst in           „Die Stadtflüchtigen“ sind meist Men-        Ist ein neuer Ort initiiert, gilt es erst einmal
die Stadt gehen würden, oder für potenzielle     schen in sogenannten Kreativ- und Wissens-      Interesse zu wecken und um Nutzer zu
neue Landbewohner.                               berufen, die lange in den Großstädten gelebt    werben. So müssen Betreiber von Coworking
                                                 und gearbeitet haben. Ihre städtischen          Spaces potenzielle Kunden zunächst von den
Diese neuen Phänomene beleben den                Erfahrungshorizonte prägen das Engagement       Vorzügen des gemeinschaftlichen Arbeitsorts
ländlichen Raum. Digitale und gemeinschaft-      und die Ideen, mit denen sie sich an ihren      am Wohnort überzeugen. Initiatoren von
liche Arbeitsorte schaffen Alternativen zum      neuen Lebensmittelpunkten einbringen.           Kreativorten müssen sich einiges einfallen
Pendeln. Mit der gewonnenen Zeit können                                                          lassen, um die Menschen aus der Region für
sich die Landbewohner an ihrem Wohnort               „Die Kommunalen“ sind Bürgermeister-        ihre neuartigen Kultur- und Bildungsangebote
stärker engagieren. In Gemeinden, die auch       innen, Mitarbeiter von Verwaltungen und         zu begeistern.
tagsüber mit Leben gefüllt sind, lohnen sich     Behörden oder von Wirtschaftsförderungs-
Versorgungsangebote wieder. Leerstehende         gesellschaften, die aktiv nach Innovationen
Gebäude finden eine neue Nutzung.                suchen, die ihre Gemeinden und Regionen         Potenziale für den ländlichen Raum
                                                 voranbringen und attraktiver machen
                                                 können.                                         Noch sind die ländlichen Projekte mehrheit-
Akteure des Wandels                                                                              lich zu frisch und ihre Zahl zu gering, um
                                                                                                 Aussagen über ihr Veränderungspotenzial
Ob Start-up, Kreativort oder Wohnprojekt –       Ein Leben zwischen Stadt und Land               zu erlauben. Mit der vorliegenden Untersu-
der Anstoß dazu geht sowohl von Zuzüglern                                                        chung konnten wir zumindest lokal begrenzte
aus als auch von Menschen, die in den Dör-       Zwar wächst unter Städtern das Interesse am     Wirkungen und Effekte nachweisen. Diese
fern und Kleinstädten schon lange zu Hause       ländlichen Leben, doch nicht alle wollen sich   neuen Orte können aber, wenn sie als Vorbild
oder dorthin zurückgekehrt sind. Fünf Typen      dauerhaft für den einen oder anderen Ort        und Inspiration für andere dienen, auch den
von mutigen Macherinnen und Machern sind         entscheiden. Gerade Menschen, die in Krea-      ländlichen Raum insgesamt verändern. So
uns begegnet:                                    tiv- und Wissensberufen tätig sind, schätzen    machen die Coworking Spaces, die zuneh-
                                                 die Vorteile aus beiden Welten. Die neuen       mend fern der Großstädte entstehen, neue
   „Die Landerneuerer“ sind fest verwur-         Angebote wie Workation, Coliving oder auch      Formen der Arbeitsorganisation auch in der
zelt in ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt und     das Landleben auf Zeit beim sogenannten         Fläche bekannter. Zunächst durch einzelne
betreiben Bauernhöfe, Handwerksbetriebe          Summer of Pioneers greifen diesen Trend         Enthusiasten vorangetrieben, bieten inzwi-
oder Gästehäuser. Sie sehen, dass sich das       auf und ermöglichen es Städtern, temporär       schen auch einzelne Landesverwaltungen
Landleben modernisieren muss und entwi-          in einem ländlichen Umfeld zu leben und zu      ihren Beschäftigten die Möglichkeit ortsun-
ckeln daher auch ihr eigenes Geschäftsmo-        arbeiten. Dörfer und Kleinstädte gewinnen       abhängig und flexibel zu arbeiten. Auch neue
dell weiter.                                     darüber immer wieder neue Inspiration von       Formen des gemeinschaftlichen Lebens, der
                                                 außerhalb.                                      kreativen Belebung des Umfeldes oder der
    „Die Heimatverliebten“ engagieren sich                                                       digitalen Bildung eröffnen ländlichen Gebie-
meist ehrenamtlich und mit viel Herzblut         Die neuartigen Initiativen, Arbeits- und Le-    ten neue Perspektiven und können zu deren
dafür, dass die Digitalisierung und die daraus   bensorte sind zwar von städtischen Entwick-     Modernisierung beitragen.
entstandenen neuen Möglichkeiten für ihre        lungen inspiriert, müssen aber ganz individu-
Heimatregion erkannt werden. Auch sie            elle Lösungen finden, damit sie auf dem Land
wollen den ländlichen Raum modernisieren.        funktionieren. Es gibt keinen Masterplan
Ihr Antrieb ist ein Mangel an Angeboten auch     dafür. Vielmehr muss sich jedes Vorhaben am
für ihre eigenen Ansprüche.                      Bedarf und den Potenzialen der jeweiligen
                                                 Region orientieren. So entstehen in Dörfern
    „Die Unterstützer aus der Ferne“ setzen      in Pendelnähe zur nächsten Großstadt ganz
sich mit konkreten Projekten für neue Lebens-    andere Lösungen als in abgelegenen, aber
und Arbeitsformen im ländlichen Raum ein,        touristisch attraktiven Regionen.
leben aber weiterhin in einem großstädtischen
Umfeld. Sie schätzen die Vorteile aus beiden
Welten.

                                                                                                                             Digital aufs Land   7
1                BRINGT DIE DIGITALISIERUNG
                 NEUES LEBEN IN DIE DÖRFER?
Bislang sieht es so aus, als läge die Zukunft in
den großen Städten. Hier gründen sich täglich
                                                   in direkter Nachbarschaft.1 Und nicht nur
                                                   im Umland stark wachsender Metropolen,
                                                                                                    novative, digitale Ansätze ländlichen Lebens
                                                                                                    und Arbeitens aus dem ganzen Land und
neue Start-ups, entstehen die Produkte und         sondern auch in der Peripherie prosperieren      stellt die Menschen hinter diesen Entwicklun-
Dienstleistungen von morgen und sammeln            manche ländliche Gemeinden. Die Gründe           gen vor. Sie führt vor Augen, welche Wirkung
sich die jungen und klugen Köpfe des Landes.       dafür sind vielfältig. In Studien zeigt sich     die einzelnen Initiativen für ländliche Gebiete
Ein Blick auf die demografischen Landkarten        indessen immer wieder ein gemeinsamer            erzielen können, aber auch welche Hürden
verdeutlicht die Folgen: Die Großstädte samt       Garant für Stabilität: Es sind tatkräftige       die Landerneuerer überwinden müssen.
Umland erleben seit Jahren einen steigenden        Bürgerinnen und Bürger, Unternehmerinnen         Letztendlich haben wir gefragt, was ländliche
Wachstumsdruck, während ländliche und              oder Kommunalpolitiker, die lokale Potenzi-      Regionen bieten müssen, um von diesen Ent-
entlegene Regionen immer leerer werden.            ale erkennen, Ideen entwickeln und andere        wicklungen profitieren und perspektivisch
                                                   mitreißen.2                                      neue Bewohner anziehen zu können.
Das Stadt-Land-Gefälle kommt nicht von un-
gefähr. Viele Städte haben sich in den letzten     Diese Ideen fehlen in vielen anderen entle-
Jahrzehnten neu erfunden. Auf alten Brachen        genen Landstrichen bislang noch. Für die         Land-Stadt-Land –
sind neue Wohngebiete und Parkanlagen ent-         Wiederbelebung dieser strukturschwachen          wo wollen die Menschen leben?
standen, innovative Mobilitätsangebote wie         Gebiete wäre ein Modernisierungsschub
Car- und Ridesharing-Dienste oder E-Roller         dringend nötig – ein Landleben 4.0. Ein          Die Möglichkeiten des digitalen Arbeitens
ermöglichen es Städtern, die ohnehin kurzen        reines Kopieren des urbanen Erfolgsmodells       machen es leichter, den Wohnort nach den
Wege noch schneller zurückzulegen, und ein         dürfte dabei keine Lösung sein. Vielmehr         eigenen Vorlieben zu wählen. Wer nicht
üppiges Freizeit- und Kulturangebot sorgt für      müssen ländliche Regionen ihre eigenen Po-       täglich ins Büro muss, kann bei der Suche
reichlich Abwechslung.                             tenziale wie Natur und Freiräume mit neuen       nach seinem Wunschort freier entscheiden
                                                   digitalen Möglichkeiten kombinieren. Sie         und muss nicht immer mitdenken, wie sie
Eine gegensätzliche Entwicklung erleben hin-       müssen bislang urbane Formen des Wohnens         oder er am schnellsten in die Firma kommt.
gegen gerade abgelegene und strukturschwa-         und Arbeitens auf die ländliche Wirklichkeit     Laut einer aktuellen Umfrage des Digitalver-
che Regionen: Hier sprießen selten neue            übersetzen.                                      bands Bitkom würde tatsächlich jeder fünfte
Angebote aus dem Boden, schon eher zieht                                                            Beschäftigte umziehen, wenn er weiterhin
sich die vorhandene Infrastruktur immer            Wo die klaren Grenzen verschwimmen,              uneingeschränkt im Homeoffice arbeiten
mehr zurück. Cafés, Schulen und Supermärk-         schwappen immer mehr urbane Ideen aufs           kann. Am häufigsten würden junge Erwerbs-
te schließen und der Bus fährt vielerorts nur      Land. Wie so oft entstehen diese Innovatio-      tätige zwischen 16 und 34 Jahren gern ihren
noch zweimal täglich im Schülerverkehr.            nen zunächst in Nischen, angeschoben von         Wohnort wechseln, wenn sie regelmäßig
Betroffene Dörfer und Kleinstädte behelfen         einigen Enthusiasten und kreativen Köpfen.       auch von zu Hause arbeiten können.3
sich damit, provisorisch einige Lücken in der      Die Begrenzungen infolge der aktuelle Coro-
bröckelnden Versorgungslandschaft zu füllen.       napandemie könnte nun den neuen digitalen        Daher steht die Frage im Raum, ob mit
                                                   Formen des Arbeitens den Weg in die Fläche       zunehmendem ortsunabhängigen Arbei-
Doch diese klare Trennung zwischen Stadt           ebnen und eine alte Hoffnung ländlicher          ten nun die Menschen ihren tatsächlichen
und Land verwischt umso mehr, je kleinräu-         Regionen wiederbeleben: Mit dem ortsun-          Bedürfnissen folgen und die Großstadt hinter
miger die Entwicklung betrachtet wird. Denn        abhängigen Arbeiten in jedem Winkel der          sich lassen. Denn eine Mehrheit will dort gar
nicht überall fügen sich die Gemeinden in das      Republik kommen auch die Menschen zurück.        nicht sein. Die Menschen wollen lieber auf
Bild vom demografischen Niedergang dünn                                                             dem Land als in der Stadt wohnen. Diverse
besiedelter Regionen und dem Boomen der            Welche neuartigen Projekte, Initiativen und      Umfragen der letzten Jahre bestätigen immer
Großstädte. Wachsende und demografisch             Netzwerke in Dörfern und Kleinstädten ent-       wieder diese Aussage. Noch kurz bevor die
angeschlagene Dörfer finden sich zuweilen          stehen, zeigt diese Studie. Sie beschreibt in-   Coronapandemie unser alltägliches Leben

8   Digital aufs Land
gründlich durcheinanderbrachte, wollten           Die Coronapandemie scheint den Wunsch,            Berlin dagegen verzeichnete im dritten
laut einer Umfrage von Kantar 34 Prozent          die Stadt hinter sich zu lassen, nun zu ver-      Quartal 2020 nur einen kleinen Wanderungs-
der Deutschen gern auf dem Dorf leben und         stärken. Laut einer Civey-Umfrage im Auftrag      gewinn, da noch immer weniger Menschen
27 Prozent in einer Kleinstadt im ländlichen      der ZEIT aus dem Sommer 2020 wünschten            als im Vorjahr aus dem Ausland zuzogen,
Raum. 26 Prozent bevorzugten demnach den          sich ein Drittel der befragten Stadtbewohner      dagegen tatsächlich mehr als im Vorjahr ins
Stadtrand und nur 13 Prozent die Stadt.4 Die      einen Umzug aufs Land oder in eine kleinere       Umland abwanderten.15 Ein genereller Trend
Realität sieht dagegen etwas anders aus:          Stadt. Immerhin ein Viertel der Befragten         ist daran aber noch nicht abzulesen.
2019 lebten in der Bundesrepublik 32 Pro-         hegte diesen Wunsch schon länger, bei knapp
zent der Menschen in Großstädten mit mehr         einem Zehntel war Corona der Grund, dass          Einem tatsächlichen Umzug geht meist die
als 100.000 Einwohnern, gerade einmal 14          dieser Wunsch entstand oder sich verstärk-        Suche nach einer Wohnung oder einem Haus
Prozent in einer kleinen Gemeinde mit we-         te.11 In unserer eigenen, nicht repräsentativen   voraus. Daher können Daten von Immobilien-
niger als 5.000 Einwohnern.5 In den letzten       Onlineumfrage ( Kasten S. 20) nannte ein          plattformen einen Hinweis darauf geben, wo
150 Jahren ist laut Forschern des ifo Dresden     Viertel derjenigen, die über einen Umzug          Menschen gern wohnen möchten. Die Platt-
der Anteil der Stadtbevölkerung immer weiter      hinaus aufs Land nachdenken, Corona als           form ImmoScout24 hat die Suchanfragen
gewachsen.6 Die Hoffnung, dass die neue           Grund. Beide Umfrageergebnisse zeigen,            nach Häusern und Wohnungen in der Pande-
digitale Arbeitswelt dem Landleben neuen          dass Corona nicht unbedingt die Ursache           mie ausgewertet und kommt zu dem Schluss,
Aufschwung verleiht, erfüllte sich bis kurz vor   einer „neuen“ Stadtflucht ist. Für einen          dass es bis Herbst 2020 keine coronabe-
Ausbruch der Coronapandemie nicht.                weitaus größeren Anteil der jeweils Befragten     dingte Stadtflucht gibt. Die Nachfrage nach
                                                  lockten auch vorher schon Platz, Naturnähe        Wohnungen und Häusern war zwar im März
                                                  und Ruhe. Mit geschlossenen Restaurants,          2020 insgesamt stark eingebrochen, aber die
Bringt Corona nun mehr Menschen                   Kinos, Theatern und Museen sind scheinbar         Menschen holten ein paar Monate später ihre
aufs Land?                                        auch die letzten Vorteile des Stadtlebens         Suche nach einer neuen Bleibe nach. Und
                                                  dahin. Wenn die Menschen sich wochenlang          zwar gleichermaßen in der Stadt wie auf dem
Verfolgt man die mediale Berichterstattung        in die eigenen vier Wände verbannt sehen,         Land. Eine Verschiebung in Richtung ländli-
der letzten Monate, so erfährt nicht nur          wünschen sich viele mehr Bewegungsfreiheit        che Immobilien beobachteten die Betreiber
Homeoffice, sondern auch das Landleben            und ein naturnahes Umfeld.                        der Suchplattform nicht. Was die Menschen
mit Corona einen richtigen Schub. In den                                                            jedoch häufiger noch als vor einem Jahr
Monaten nach dem ersten Lockdown häuften                                                            suchen, sind größere Wohnungen und Häuser
sich Artikel, Reportagen und Debattenbei-         Die Umzüge lassen noch auf sich                   sowie Wohneigentum.16 Wenn das ganze Le-
träge mit Titeln wie „Sehnsucht nach Land         warten                                            ben nur noch zu Hause stattfindet, ist gerade
und Laptop“7, „Komm, wir zieh’n aufs Land!“8                                                        Platz ein großer Luxus. Aufgrund der immer
oder auch „Mehr Homeoffice, Flucht aus der        Zum bisherigen Zeitpunkt ist kaum verläss-        weiter steigenden Wohnpreise in den Städten
Stadt: Wie sich das Wohnen nach Corona            lich zu sagen, ob tatsächlich mehr Menschen       könnte dies wiederum dazu führen, dass
verändern wird“.9                                 infolge der Coronapandemie die Städte             mehr Menschen doch die Stadt für ein Leben
                                                  verlassen. Für mehrere Großstädte, neben          jenseits der Metropolen verlassen.
Die Debatte um eine neue Landlust, die            Berlin etwa auch Frankfurt, München oder
sich gerade in einem urbanen Milieu von           Hamburg, zeigte sich im ersten Lockdown im        Ob Deutschland nun am Anfang einer neuen
hochgebildeten Digital- und Wissensarbei-         Frühjahr 2020, dass vor allem der Zuzug aus       Landlust steht, lässt sich derzeit noch nicht
tern ausbreitet, begann jedoch schon vor der      dem Ausland abebbte und dadurch die schon         mit letzter Sicherheit beantworten. Einige
Pandemie. Die Studie „Urbane Dörfer“ vom          vorher gestiegenen Wegzüge ins Umland in          Entwicklungen der letzten Jahre – und vor
Berlin-Institut für Bevölkerung und Ent-          der Bevölkerungsbilanz mehr Gewicht erhiel-       allem seit Ausbruch der Coronapandemie im
wicklung und Neuland21, die kurz vor dem          ten. Erstmals seit vielen Jahren schrumpften      Frühling 2020 – machen eine Trendwende
Ausbruch erschien und sich (ehemaligen)           Großstädte.12, 13 Als der Bewegungsradius         zumindest wahrscheinlicher. Welche das
Städtern widmete, die gemeinschaftliche           der Menschen wieder größer wurde, ver-            sind, diskutieren wir im Folgenden.
Wohn- und Arbeitsprojekte auf dem Land            zeichneten die Städte auch wieder positive
gründen, erlangte eine enorme mediale             Wanderungssalden, die unterschiedlich stark
Aufmerksamkeit.10                                 ausfielen. Der Wanderungsgewinn Hamburgs
                                                  war in den Sommermonaten 2020 höher als
                                                  in den Vorjahren, Menschen schienen ihre
                                                  Umzugspläne einfach verschoben zu haben.14

                                                                                                                               Digital aufs Land    9
1.1 TREIBT DER PLATZMANGEL DIE MENSCHEN AUS
DEN STÄDTEN?
Seit geraumer Zeit scheinen sich die             Dies verändert den Blick vieler, die einst die    neue Ideen anzulocken. Wenn dies gelingt,
Vorlieben für städtisches Leben in einigen       Stadt bevorzugt haben. Nun suchen sie fern        könnten die demografischen Entwicklungen
Milieus zu verändern. Das Land ist wieder in     des hektischen Großstadtlebens mehr Platz         zwar nicht komplett gestoppt, aber zumin-
den Blick von Menschen gerückt, die in den       für sich und ihre Kinder, neue Räume und          dest abgemildert werden. Denn diejenigen,
letzten Jahren in die Metropolen gezogen         Orte zum Leben, Arbeiten und Gestalten.           die darüber nachdenken oder auch schon
sind. Seinerzeit wollten sie die Dörfer und      Dabei wollen sie jedoch selten alles Urbane       dabei sind, sich ein neues Leben abseits der
Kleinstädte ihrer Kindheit hinter sich lassen.   hinter sich lassen, sondern so manches,           Großstadt aufzubauen, gehören genau der
Ein Leben zwischen Wäldern und Feldern,          was sie daran geschätzt haben, mitnehmen.         Gruppe an, die vielerorts am spürbarsten
zwischen Schützenverein und Freiwilliger         Dies ist eine Chance für ländliche Gebiete,       fehlt: Menschen im Erwerbsalter.
Feuerwehr war für die meisten nicht mehr         neue Bewohner und mit ihnen gleichzeitig
vorstellbar. Zu wenig Angebote, zu wenig An-
regungen, aber auch kaum Jobs, die zu ihren
beruflichen Interessen und akademischen
Qualifikationen passten. In den Städten, in         Zwischen Schrumpfung und Wachstum –
denen sich viele junge gut Ausgebildete tref-       die demografische Entwicklung der Regionen
fen, fanden sie dies dagegen alles vor: Orte
der Begegnungen und Inspiration, ein krea-
tives soziales Umfeld und einen Austausch           Ende 2019 lebten rund 83,2 Millionen Men-       fen: Weil in vielen Dörfern und Kleinstädten
mit Gleichgesinnten. Gleichzeitig siedeln sich      schen in Deutschland – mehr als jemals          die Bevölkerung schon merklich gealtert ist,
Unternehmen auf der Suche nach diesen jun-          zuvor. Vor allem die starke Zuwanderung         verstärkt dies den Bevölkerungsrückgang.
gen, kreativen Köpfen in den Metropolen an          aus dem Ausland ab 2012 hat die Bevölke-        Besonders deutlich zeigt sich das in der
und lassen dort immer mehr Jobs entstehen.          rungszahlen steigen lassen. Daher erlebte       ostdeutschen Peripherie. Zahlreiche Land-
Doch die hohe Anziehungskraft der urba-             Deutschland ein demografisches Zwischen-        kreise an den Rändern Brandenburgs, im
nen Zentren hat die Städte auch verändert.          hoch, das sich im Zuge der wieder sinken-       Norden und Osten Sachsen-Anhalts oder in
Die Straßen sind voller und der Platz wird          den Zuwanderungszahlen aber bereits             den entlegenen Landstrichen in Thüringen
zunehmend beengter. Das lässt die Preise für        abschwächt. Dann kam die Coronapande-           und Sachsen dürften laut der Prognose des
Wohnräume, aber auch für Arbeitsräume und           mie, in deren Folge noch weniger Menschen       Berlin-Instituts und der cima GmbH bis
Orte für kreativen Austausch steigen. Da der        nach Deutschland zogen. Im Jahr 2020 ist        2035 mehr als ein Fünftel ihrer Einwohner
Platz begehrt, aber begrenzt ist und immer          die Bevölkerung erstmalig seit 2011 nicht       einbüßen.18
teurer wird, verschwinden gleichzeitig immer        mehr gewachsen, schätzt das Statistische
mehr Freiräume.                                     Bundesamt.17 Profitieren von dem jüngsten       Besonders dramatisch ist der Verlust an
                                                    Wachstum konnten vor allem die großen           Menschen im typischen Erwerbsalter.
                                                    Städte und ihr ländliches Umland. In vielen     Bewohner zwischen 20 und 64 Jahren sind
                                                    ländlichen Gebieten fern der Metropolen,        es, die den Wohlstand einer Region sichern,
                                                    in den ostdeutschen Bundesländern, aber         die kommunalen Kassen mit ihren Steuern
                                                    auch im Westen entlang der ehemaligen           füllen und in jüngeren Jahren Familien
                                                    innerdeutschen Grenze, im nördlichen Hes-       gründen. Immer mehr haben dies in den
                                                    sen oder in der Südwestpfalz sind die Ein-      letzten Jahrzehnten aber in den prosperie-
                                                    wohnerzahlen dagegen weiter geschrumpft.        renden Städten getan. Dies könnte auch die
                                                    Diese peripheren Regionen brauchen also         zukünftige Entwicklung der Regionen wei-
                                                    dringend neue Bewohner. Doch was heute          ter prägen. Bis 2035 dürften laut unserer
                                                    schon vielerorts spürbar ist, dürfte sich in    Bevölkerungsprognose nur in 31 von 401
                                                    den nächsten Jahrzehnten weiter verschär-       Kreisen und kreisfreien Städten ähnlich

10 Digital aufs Land
Der Wunsch nach mehr Grün und Platz, wenn                 Keine neue Landlust ohne                       adäquate, zu ihrer Ausbildung passende
Kinder ins eigene Leben treten, ist nicht neu.            digitalen Anschluss                            Jobangebote zu erhalten. Um neue Bewohner
Junge Familien hat es in den letzten Jahrzehn-                                                           anzulocken, brauchen ländliche Gemeinden
ten immer wieder an den Rand der Städte                   Ein zentrales Kriterium ist dabei die          daher zumindest eine Grundausstattung an
oder in die Vororte gezogen. Die Vorstellung              zunehmende Digitalisierung. Vor allem die      digitaler Infrastruktur, ein Kabel mit einer
vom Eigenheim mit Garten in einer Gegend,                 neuartigen Möglichkeiten des Arbeitens         Datengeschwindigkeit, die das Arbeiten im
in der es etwas geruhsamer als in der Innen-              machen für viele den Schritt weiter hinaus     Homeoffice möglich macht.
stadt zugeht, hält sich seit Generationen.                aus der Stadt denkbar. Wenn Menschen
Doch die „neuen“ Stadtflüchtigen zieht es                 wenigstens temporär ihre Arbeit an einen
nicht nur hinter die Stadtgrenze. Suburbia                anderen Ort mitnehmen können, steigt die
entspricht nicht unbedingt dem Landleben,                 Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Idee vom
das sie sich vorstellen. Entferntere Orte,                ländlichen Leben realisieren. Denn ihre
Dörfer und Kleinstädte auch außerhalb des                 Arbeitsplätze sind weiterhin in den Städten
Speckgürtels stoßen als neue Wohnorte auf                 zu finden. Auf dem Land haben es kreative
Interesse.                                                Digital- und Wissensarbeiter noch schwer,

viele oder mehr 20- bis 64-Jährige leben als              in vielen ostdeutschen Regionen, wo bis        Immer wieder lockt das (Um)Land
2017. Vor allem größeren Städten und einigen              2035 über ein Drittel der Bewohner im
Umlandkreisen Münchens dürfte es gelingen,                Arbeitsalter des Jahres 2017 fehlen dürfte.    Nach Jahren, in denen die städtischen Zen-
ihr Arbeitskräftepotenzial in den nächsten                Aber auch das nördliche Hessen, das südliche   tren Menschen angezogen haben und stark
15 Jahren stabil zu halten. Dagegen müssen                Westfalen, Teile von Rheinland-Pfalz sowie     gewachsen sind, zeichnet sich tatsächlich
die meisten Gebiete damit rechnen, dass die               Oberfranken und die Oberpfalz im nördlichen    auch bei den Umzugsbewegungen seit gerau-
Zahl jener Menschen stark zurückgeht, die                 Bayern dürften in diesem Zeitraum durch den    mer Zeit ein Wandel ab. Noch immer wachsen
für die wirtschaftliche und demografische                 demografischen Wandel mehr als jede fünfte     die Städte. Dies verdanken sie zum einen
Entwicklung einer Region so wichtig sind.                 Arbeitskraft verlieren.                        jungen Menschen, die für ein Studium oder
Die Situation verschärft sich insbesondere                                                               den ersten Job in die Zentren ziehen.

Die demografische Kluft wird größer                                1995-2017                                 2017-2035
Auch wenn sich bis zum Jahr 2035 die Gesamtbevölkerungs-
zahl Deutschlands kaum verändern dürfte, weiten sich die
regionalen Unterschiede aus. Rund 60 Prozent der Kreise
und kreisfreien Städte werden der Prognose des Berlin-Ins-
tituts zufolge bis 2035 an Bevölkerung verlieren. Besonders
hart trifft es Ostdeutschland, wo neben Berlin lediglich
acht weitere Großstädte mit Wachstum zu rechnen haben,
ländliche Kreise aber durchgängig verlieren.

Zensusbereinigte Bevölkerungsent-             unter -20
wicklung (1995 bis 2017) und prog-            -20 bis unter -15
nostizierte Bevölkerungsentwicklung
                                              -15 bis unter -10
(2017 bis 2035) in den Kreisen und
kreisfreien Städten, in Prozent               -10 bis unter -5
(Datengrundlage: Statistische Ämter des       -5 bis unter 0
Bundes und der Länder19, Berlin-Institut20)   0 bis unter 5
                                              5 bis unter 10
                                              10 und mehr

                                                                                                                                   Digital aufs Land 11
1.2 SIND DIE NEUEN DIGITALEN MÖGLICHKEITEN
IM ARBEITSALLTAG ANGEKOMMEN?
Nicht mehr ganz neu sind die Technologien,      Vorausgesetzt, es gibt eine Datenverbindung.    Argumentation. In einer Veröffentlichung von
die es Menschen ermöglichen, über eine          Als vor bald 30 Jahren die E-Mail Einzug in     1995 sah der Autor einen Boom der Telear-
Internetverbindung auch vom heimischen          den Büroalltag hielt, wurde der Telearbeit –    beit kurz bevorstehen.30 Doch in der Realität
Schreibtisch aus zu arbeiten. Für eine          also der Arbeit fern des klassischen Büros      blieb bis zum Ausbruch der Coronapandemie
wachsende Zahl von Tätigkeiten ist nicht viel   im Unternehmen – ein rasantes Wachstum          2020 die Revolution des ortsunabhängigen
mehr als ein Computer, ein Telefon und ein      vorausgesagt, auch aus Kostengründen. Den       Arbeitens aus, jedenfalls in Deutschland.
Internetzugang notwendig. Auch die Compu-       teuren Mieten für Büros und den wachsenden      2019 arbeiteten laut European Labour Survey
tertechnologie ist immer mobiler geworden.      Kosten für das Pendeln zwischen Wohn- und       gerade einmal 12,6 Prozent der Angestellten
Mit Laptop, Smartphone und Tablet ist es        Arbeitsort stünden immer billiger werden-       in Deutschland zu Hause, europaweit waren
heute möglich, an fast jedem Ort zu arbeiten.   de Informationsdienste entgegen, so die         es 16 Prozent.31

Zum anderen lassen sich Zuwanderer aus          besiedelte ländliche Kreise ihre Einwohner      sozialistischer Städtebaupolitik. Altbauwoh-
dem Ausland vor allem in den urbanen            davonziehen sahen. Neu ist das Phänomen         nungen boten mit Ofenheizung und Toilette
Räumen nieder. Das zeigt sich im Coronajahr     der Wanderungen von der Stadt aufs Land         auf halber Treppe wenig Komfort, Neubau-
2020 sehr deutlich. So verlor beispielsweise    nicht. Phasen der Suburbanisierung, in denen    wohnungen wenig Platz. Wer es sich leisten
Berlin im ersten Halbjahr 2020 erstmalig        vor allem die Umlandregionen der Städte         konnte, baute sich nun ein Eigenheim auf der
seit 2003 wieder Einwohner, weil in diesem      Einwohner hinzugewinnen, haben sich in den      grünen Wiese. Das hinterließ Spuren und ließ
Zeitraum kaum Menschen aus dem Ausland          letzten Jahrzehnten immer wieder mit Phasen     Großstädte wie Leipzig schrumpfen.26
in die deutsche Hauptstadt zogen.21             der Reurbanisierung abgewechselt.23
                                                                                                Mit Förderprogrammen wie „Stadtumbau
Dadurch dominierte erstmalig der Wegzug         In den 1990er Jahren waren es die Städte, vor   Ost“ gelang es in den folgenden Jahrzehnten
von Menschen aus der Stadt die Bevölkerungs-    allem in den ostdeutschen Ländern, die durch    vielerorts Menschen in die Stadtzentren
entwicklung, denn Menschen mit deutschem        Abwanderung massiv an Einwohnern verlo-         zurück zu locken, durch Abriss leerstehender
Pass verlassen schon seit einigen Jahren im     ren. Das Eigenheim im Grünen, das für viele     Wohnungen, die Sanierung von Altbauten und
Saldo die Spreemetropole in wachsender          Menschen zwischen Sylt und Alpenrand schon      eine Aufwertung der Stadtkerne. Während
Zahl. War im Jahr 2010 der Verlust von Berli-   lange vor dem Mauerfall der Wohntraum war,      die Städte immer mehr zu den Wanderungs-
nerinnen und Berlinern an das Brandenbur-       wollten mit den neu gewonnenen Freiheiten       gewinnern aufstiegen, gerieten ländliche
ger Umland mit unter 2.000 Menschen noch        nun auch viele Menschen zwischen Rügen          Gebiete zusehends ins Hintertreffen. Der
überschaubar, waren es 2019 im Saldo schon      und Erzgebirge haben. Eine nachholende Sub-     Grund dafür waren jedoch nicht nur die aufge-
fast 17.000 Menschen, die Berlin in Richtung    urbanisierung setzte ein. Mitte der 1990er      hübschten Innenstädte. Eine höhere Bildung
Mark den Rücken kehrten.22                      Jahre verloren Städte wie Halle, Magdeburg      lockte immer mehr junge Menschen an die
                                                oder Schwerin durch Wegzug mehr als 20          Universitäten und Hochschulen der urbanen
Dieses Muster zeigt sich auch bundesweit.       Bewohner pro 1.000 Einwohner im Jahr. Zu        Zentren. Dort finden sich auch die Jobs für die
Laut einer Untersuchung des Bundesinstituts     den größten Wanderungsgewinnern zählten         Wissensgesellschaft. Eine stetig wachsende
für Bevölkerungsforschung sind es die Groß-     Umlandkreise, etwa die Landkreise Rostock,      Erwerbsbeteiligung von Frauen, vor allem in
städte mit mehr als 100.000 Einwohnern,         Leipzig oder Potsdam-Mittelmark, die durch      den westdeutschen Ländern, machte zudem
die immer mehr ihrer Bewohner durch Um-         Zuzug pro 1.000 Einwohner mehr als 23 neue      das Vorstadtleben für Familien zunehmend
züge verlieren. In den 2010er Jahren sah dies   Bewohner hinzugewannen.25 Damals waren          unattraktiv. Ein Familienleben lässt sich
noch ganz anders aus. Damals waren es die       die ostdeutschen Städte vielerorts noch durch   schwer mit zwei berufstätigen Eltern verein-
urbanen Zentren, in welche die Möbelautos       verfallene Innenstädte und Plattenbausied-      baren, die lange Wege zur Arbeit in die Stadt
unterwegs waren, während vor allem dünn         lungen geprägt, ein Ergebnis jahrzehntelanger   pendeln.

12 Digital aufs Land
Bei der Nutzung von Homeoffice bewegt sich            Zahl der Heimarbeiter hierzulande über die         Die flexiblen Jobs ballen sich in den
Deutschland im europäischen Mittelfeld, weit          letzten 15 Jahre.32 Als zentraler Grund dafür      Zentren
hinter den Ländern des Nordens, wo auch               galt bislang die verbreitete Präsenzkultur
ohne Lockdown und Kontaktbeschränkungen               in Deutschland. Führungskräfte sehen ihre          Doch diese Jobs sind nicht gleichmäßig übers
immerhin fast jeder Dritte von zu Hause               Mitarbeiter lieber vor Ort im Unternehmen.33       Land verteilt. Es sind die wissensintensiven,
tätig ist. Europäischer Spitzenreiter sind die        Das Potenzial des Arbeitens von zu Hause           computerbasierten Tätigkeiten für Hochqua-
Niederlande, in denen knapp 40 Prozent der            ist indessen um ein Vielfaches höher. Laut         lifizierte, die sich am ehesten unabhängig
Angestellten ihrer Berufstätigkeit ganz oder          einer aktuellen Berechnung des ifo München,        vom Büro erledigen lassen. Sie konzentrieren
teilweise in den eigenen vier Wänden nachge-          die auf der Befragung von Angestellten             sich in den urbanen Zentren. In Erlangen,
hen. Noch 2005 hatten gerade einmal sieben            beruht, könnten mehr als die Hälfte der Jobs       München, Stuttgart oder Darmstadt haben
Prozent der niederländischen Angestellten             in Deutschland zumindest teilweise von zu          zwei Drittel der Angestellten eine Arbeit, die
ihre Arbeit am heimischen Schreibtisch                Hause aus erledigt werden.34                       sie theoretisch auch von zu Hause erledi-
erbracht. Seitdem hat sich in der dortigen                                                               gen könnten. Im thüringischen Landkreis
Arbeitswelt einiges bewegt, im Gegensatz zur                                                             Sonneberg, im brandenburgischen Landkreis
deutschen. Allen weiteren technologischen                                                                Spree-Neiße oder im niedersächsischen Clop-
Entwicklungen zum Trotz stagnierte die                                                                   penburg ist dagegen weniger als die Hälfte

                                                                               Gesamt
  Familien zieht es aufs Land                                                  2004-2009                             2014-2019

  Während Bildungswanderer weiterhin ungebremst in die urbanen Zentren
  ziehen, hat sich im letzten Jahrzehnt vor allem das Umzugsverhalten von
  Familien verändert. Überall im Land erzielen ländliche Gebiete auch fern
  der Metropolen Wanderungsgewinne von 30- bis 49-Jährigen und ihren
  Kindern. Das führt in Summe dazu, dass zwischen 2014 und 2019 kaum
  noch Landkreise Einwohner durch Binnenmigration verloren haben.

  Durchschnittlicher jährlicher Binnenwanderungssaldo je 1.000 Einwohner,
  verschiedene Altersgruppen, in den Kreisen und kreisfreien Städten, 2004
  bis 2009 und 2014 bis 2019
  (Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder29)

  unter -15                 über 15

  Bildungswanderer (18- bis 24-Jährige)                                         Familienwanderer (30- bis 49-Jährige sowie unter 18-Jährige)
  2004-2009                               2014-2019                             2004-2009                             2014-2019

                                                                                                                                        Digital aufs Land 13
der Jobs dafür geeignet, fern vom Standort           Homeoffice gearbeitet haben, überwiegend             Landkreisen Hildburghausen und Wartburg-
des Unternehmens erledigt zu werden. Dies            in den Ballungsräumen wohnen. Immerhin               kreis oder im niederbayerischen Dingolfing-
offenbart eine Kluft zwischen den digitalen          jeder dritte Angestellte, der in Heidelberg,         Landau arbeitet dagegen gerade einmal jeder
Möglichkeiten und ihrer Verteilung in den            Erlangen oder Darmstadt zu Hause ist, hat            Fünfte zumindest gelegentlich im Home-
Regionen. Arbeit auf dem Land ist bislang            damals regelmäßig den heimischen Schreib-            office.36
weniger mobil.35                                     tisch genutzt. In den Landkreisen München,
                                                     Starnberg oder Ebersberg, vor den Toren der
Auf der anderen Seite sind es gerade Städter         bayerischen Landeshauptstadt gelegen, oder           Die Pendelwege werden länger
mit flexiblen Jobs, die sich neuerdings              im Umland der hessischen Finanzmetropole
verstärkt für das Landleben interessieren.           Frankfurt arbeitete ein ähnlich hoher Anteil         Viele ländliche Regionen bleiben bislang
Tätigkeiten mit einem hohen Homeoffice-              der dort wohnhaften Angestellten zumindest           sogenannte Auspendel-Regionen. Trotz aller
Potenzial eignen sich in besonderem Maße             gelegentlich von zu Hause wie in den Metro-          digitalen Möglichkeiten fahren die Menschen
für einen Umzug aufs Land. Doch der Blick            polen. Denn dort leben zahlreiche Menschen           Tag für Tag in die Städte zu den Jobs, die viele
auf die Karte ( S. 15) zeigt, dass bislang           mit hochqualifizierten Tätigkeiten, die auch         von ihnen theoretisch auch von zu Hause
diejenigen, die schon 2018 – also vor dem            vom heimischen Schreibtisch erledigt werden          erledigen könnten.
Ausbruch der Coronapandemie – verstärkt im           können. In den abgelegenen thüringischen

Mitte der 2000er Jahre waren die bundes-             teilen. Auf der Suche nach ausreichendem             und Bahnstrecken. Denn viele Menschen
weiten Wanderungsgewinner Städte wie                 Wohnraum für die wachsende Familie, der              bleiben weiterhin über ihre Arbeit eng mit
Magdeburg, Köln oder Dresden. Sie alle hat-          auch bezahlbar ist, zieht es seit einigen Jah-       der Stadt verbunden und pendeln täglich mit
ten zehn Jahre zuvor noch Einwohner durch            ren nun vor allem Menschen in der Familien-          dem Auto oder Zug. Verkehrsgünstig gelege-
Wegzüge verloren.27                                  phase wieder heraus aus der Stadt. Jedenfalls        ne Kommunen verspüren teilweise ähnliche
                                                     dort, wo die Preise fürs Wohnen besonders            Wachstumsschmerzen wie die Großstädte:
Der Zuzug in die urbanen Zentren hat diese           stark gestiegen sind. Bislang profitieren vor        steigende Immobilienpreise oder fehlen-
im letzten Jahrzehnt rasch wachsen lassen.           allem die Umlandgemeinden und Speck-                 de Kita- und Schulplätze für all die neuen
Mieten und Immobilienpreise stiegen rasant           gürtel von dieser neuen „Entdeckung“ des             Bewohner. Um besonders stark wachsende
und immer mehr Menschen mussten sich den             ländlichen Raumes.28 Begehrt sind dabei vor          Metropolen herum dehnen sich diese Stadt-
gleichbleibenden Platz in den Metropolen             allem Wohnlagen entlang der Autobahnen               Land-Übergangsräume immer weiter aus.

                                                     Ost                                                  West
Die Wohnvorlieben ändern sich                            8                                                    8
                                                         6                                                    6
Sowohl in Ost- als auch Westdeutschland schwan-
                                                         4                                                    4
ken die Vorlieben für bestimmte Wohnorte und das
daraus resultierende Umzugsgeschehen. Bis zum            2                                                    2
Ende der 1990er Jahre bevorzugten die Menschen           0                                                    0
Wohnorte außerhalb der Städte, während in den           -2                                                   -2
2000er Jahren die urbanen Zentren beliebter waren.      -4                                                   -4
Inzwischen sind es vor allem die westdeutschen          -6
Großstädte, die wieder Bewohner durch Wegzug                                                                 -6
verlieren. Im Osten hält sich das Umzugsverhalten       -8                                                   -8
zwischen den verschiedenen Typen von Regionen         -10                                                  -10
die Waage.                                             -12                                                  -12
                                                      -14                                                  -14
   kreisfreie Großstädte
                                                                               2007
                                                                      2002
                                                             1997

                                                                                                  2017
                                                                                         2012

                                                                                                                                    2007
                                                                                                                          2002
                                                                                                                  1997

                                                                                                                                                       2017
                                                                                                                                             2012

   städtische Kreise
   ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
                                                     Binnenwanderungssaldo je 1.000 Einwohner nach Kreistypen in Ost- und Westdeutschland, 1995 bis 2017
   dünn besiedelte ländliche Kreise                  (Datengrundlage: BBSR24)

14 Digital aufs Land
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