Diskursivität im didaktischen Denken und Handeln - Ludwig Duncker / Christian Mathis - Ingenta ...
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 253-260 © 2021 Ludwig Duncker / Christian Mathis - DOI https://doi.org/10.3726/PR032021.0024 Ludwig Duncker / Christian Mathis Diskursivität im didaktischen Denken und Handeln Das Prinzip der Diskursivität, dies muss dabei eng mit einem Bildungsverständ- gleich zu Beginn eingeräumt werden, mar- nis, das über eine bloße Feststellung von kiert in einer zunächst noch etwas offenen Tatsachen und Informationen hinausweist Weise unterschiedliche Ansprüche, die mit und mehr einen philosophisch begründ- didaktischem Denken und Handeln verbun- baren Weg des Suchens und Findens von den sind und die an die Didaktik als Auf- Wahrheit beschreitet. Dabei wird aufgrund trag herangetragen werden. Gleichwohl seiner Vorläufigkeit und Revidierbarkeit die sind diese so wichtig, dass es nicht unan- Prozesshaftigkeit des Weltverständnisses gemessen erscheint, von der Profilierung betont. Eine Diskursive Didaktik will des- einer „Diskursiven Didaktik“ zu sprechen. halb einen Bildungshorizont erschließen, Zunächst ist mit dieser Bezeichnung ge- der das Befragen der Wirklichkeit zum meint, dass es Aufgabe des Unterrichts Kernstück einer interessierten und facet- sein muss, Themen und Inhalte zu erschlie- tenreich ausgelegten Auseinandersetzung ßen, die eine aspektreiche, von Widersprü- mit ihr erklärt und dabei die Schülerinnen chen und Spannungsfeldern durchzogene, und Schüler in die Lage versetzt, sich ar- auf unterschiedliche Perspektiven der gumentierend und differenzierend auf die Betrachtung rückführbare Auseinander- Welt einzulassen. setzung mit der Wirklichkeit ermöglichen Dennoch muss die Didaktik, die eine sollen. Dies ergibt sich schon daraus, dass solche Position vertritt, sich auch selbst die Wirklichkeit in vieler Hinsicht als kom- als diskursiv präsentieren. Als eine schul- plex, vielschichtig und uneindeutig gelten pädagogische Teildisziplin steht sie in kann und deshalb auch in ihren strittigen wissenschaftlicher Konkurrenz mit an- und in diskursiven Verfahren oft erst frei- deren Konzepten des Lehrens und Ler- zulegenden Aspekten aufgegriffen werden nens, gegen die sie sich abgrenzt oder muss. Dabei sind auch die Wege der Aus- mit denen sie in einem mehr oder weniger einandersetzung, also die Formen und Me- spannungsvollen Wechselverhältnis steht. thoden in die Diskursivität einzubeziehen, Dies gilt aber für jede didaktische Theorie, weil sie in entscheidender Weise dazu solange sie keinen alleingültigen Anspruch beitragen, den Aspektreichtum, die Un- erhebt und sich an akademischen Ge- eindeutigkeiten und Widersprüchlichkei- pflogenheiten orientiert, wie sie für jede ten aufzudecken und sichtbar zu machen. wissenschaftliche Diskussion gelten müs- Diskursivität enthält also den Anspruch, sen. Hierzu gehört auch die Einsicht, dass aufklärend zum Verständnis der Wirklich- kein didaktisches Prinzip alle Ansprüche keit beizutragen. Eine Didaktik, die sich in sich aufnehmen kann, die auf die Ein- dieser Aufgabe annimmt, korrespondiert lösung des Bildungsauftrags der Schule 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 253 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ausgerichtet sind. Insofern muss sich jede stellen. Dies betrifft nicht nur Fragen der Didaktik auch einordnen in ein Gesamtver- Organisation und des Managements ständnis von Schule und Unterricht, das – zweifellos bedeutsame Aspekte der in unserem Falle mit den großen Leitlinien Schulsteuerung –, sondern auch das Leh- der Wissenschaftsorientierung, der Orien- ren und Lernen im Unterricht selbst. Wo tierung an demokratischen Grundwerten unter ökonomisch motivierten Blicken das und den Grundprinzipien einer aufgeklär- Lehren und Lernen einem Zwang zur Ver- ten Literalität auszulegen wäre. Daraus er- eindeutigung unterworfen wird, beispiels- wachsen wiederum Ansprüche, aber auch weise durch eine Output-Orientierung Grenzen für das didaktische Prinzip der des Unterrichts, durch internationale Leis- Diskursivität. tungsvergleiche, durch Messverfahren zur Gleichzeitig muss betont werden, dass Bestimmung von Schul- und Unterrichts- das, was unter dem Begriff einer Diskur- qualität, wächst die Gefahr, Unterricht ein- siven Didaktik zu verhandeln ist, nicht in zuengen auf die Produktion überprüfbarer allen Punkten als grundsätzlich neu zu be- Ergebnisse. Unterricht zielt dann allein auf werten ist. Es gibt eine bildungstheoreti- die Erzeugung evaluierbarer Resultate, die sche Tradition im allgemeindidaktischen eine Vereindeutigung von Lernergebnissen Denken und Handeln, die in fruchtbarer voraussetzen. Vereindeutigung eleminiert Weise den Bildungsanspruch des Unter- jedoch Inhalte und Formen von Diskursivi- richts dadurch aufgegriffen und ausgelegt tät. Sie engt Vielfalt ein, meidet offene Fra- hat, dass sie Schülerinnen und Schülern gen und räumt Widersprüche, die in der eine multi-, viel- oder mehrperspektivische Sache begründet liegen, aus dem Weg. Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit Die Widerständigkeit der Sache wird ge- zugemutet und ermöglicht hat.1 Auch dort, lichsam „geschliffen“. Der Unterrichts- wo in didaktischen Konzepten offene Ge- gegenstand oder die Sache, die und an sprächssituationen vorgesehen sind, sei der gelernt werden soll, ist eben oft sui ge- es durch eine geeignete Auswahl didakti- neris nicht eindeutig. Durch die Produktion scher Materialien, sei es durch besondere von überprüfbaren Ergebnissen wird die methodische Arrangements, die Anlässe Sache oft kleinschrittig und methodisch für Dialog und Diskussion bereitstellen, las- geschickt in lernbare Häppchen aufgeteilt. sen sich Spuren in die jüngere und ältere Andreas Gruschka konnte etwa zeigen, Geschichte der Didaktik zurückverfolgen. dass dabei die Unterrichtsmethodik hilft, Sie reichen zurück bis hin zu den sokrati- der Sache auszuweichen.3 Die Überwin- schen Dialogen in der Antike, die bis heute dung fragwürdiger Eindeutigkeiten wird immer wieder Beachtung finden.2 so zu einem grundlegenden Problemfeld Andererseits gibt es genügend An- einer Diskursiven Didaktik. lässe, diese Traditionslinien wieder neu Aus erkenntnistheoretischer Sicht zu beleben und auch terminologisch wie muss didaktischen Tendenzen einer Ver- konzeptionell zu schärfen, weil es inner- eindeutigung des Lehrens und Lernens halb und außerhalb der Schule Tendenzen entgegengehalten werden, dass die Wirk- gibt, die dem Anspruch der Diskursivität lichkeit voller offener Fragen und Probleme und damit auch einem Bildungsanspruch ist, die im Rahmen des Bildungsauftrags im Wege stehen. Hier sind innerhalb der auch im Unterricht aufzugreifen, aufzuklä- Schule aktuell vor allem solche Tenden- ren und zu bearbeiten sind. Eine Reduktion zen zu nennen, die die Schule unter öko- von Komplexität auf eindeutige Aussagen nomische Kategorien der Optimierung, würde eine Verkürzung und Verfälschung Effizienzsteigerung und Kontrollierbarkeit des Verständnisses von Wirklichkeit 254 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
bewirken und Schülerinnen und Schülern Diskursiven Didaktik bedeutsam – ein Ver- kaum helfen, ein tragfähiges Weltbild auf- lust an Vielfalt und Ambiguität zu beklagen. zubauen. Der Rückfall in Formen eines nai- Als Ursachen führt er die Verstädterung, ven Positivismus, der vorsieht, sich auf die die größere Mobilität, die Globalisierung, Feststellung von Tatsachen zu begrenzen, Belastungen durch Verkehr, eine zuneh- würde für die Didaktik bedeuten, interpre- mend industrialisierte Landwirtschaft, den tative und nur diskursiv zu klärende Aspek- Klimawandel, die Monopolisierung der te des Weltverstehens auszuklammern. größeren Lebensmittelkonzerne bis hin Auch Sinnfragen wären dann nicht mehr zur kapitalistischen Wirtschaftsweise an.5 Gegenstand schulischen Lernens. Eine Auch in Kunst und Musik, in Religion und Orientierung im Denken, die auf einer Ein- Architektur sei dieser Verlust an Ambiguität grenzung auf instrumentelle und funktiona- zu beobachten. Zu vermissen sei „unsere le Formen des Denkens beruht, würde ein Bereitschaft oder unseren Unwillen, Viel- Verständnis von Lehren und Lernen, das falt in all ihren Erscheinungsformen zu er- sich in weitem Sinne auch als eine Form tragen“ wozu auch der „Umgang mit den praktischer Philosophie begreift, schon im vielfältigen Wahrheiten einer uneindeutigen Ansatz verfehlen. Welt“6 gehöre. Denn „die Welt“, so Bauer, Was die Beachtung und Berücksich- sei „voll von Ambiguität“.7 tigung von Diskursivität betrifft, muss je- Gerade Bedeutungsvielfalt werde zu- doch auch auf Entwicklungen außerhalb nehmend eingeschränkt. Behauptungen der Schule eingegangen werden. Auf den würden auf der einen Seite durch funk- ersten Blick sieht es so aus, als fände im tionalistische und gar fundamentalistische gesellschaftlichen Alltag eine wachsende Verengungen, auf der anderen Seite durch Diversifizierung statt. Eine unübersichtlich eine Vergleichgültigung und durch inhalt- gewordene Anzahl an TV-Programmen, liche Beliebigkeit einer kommunikativen eine zunehmende Vielfalt konsumierbarer Zugänglichkeit und diskursiven Verstän- Warenangebote, eine Pluralisierung der digung entzogen. Hierzu zähle auch ein Lebensstile und eine teilweise sich auf- „Authentizitätswahn“8, der kulturelle, politi- dringlich gebärdende Vielzahl an Identifika- sche und künstlerische Ansprüche an eine tionsangeboten scheinen zunächst darauf bedeutungsoffene Kommunikation ver- hinzudeuten, dass der gesellschaftliche wehre. Zusammenfassend mündet Bauers Alltag von einer wachsenden Vielfalt ge- Diagnose darin ein, dass er in vielen ge- kennzeichnet ist. Ein zweiter Blick lässt je- sellschaftlichen und kulturellen Bereichen doch erkennen, dass unter der Oberfläche eine starke Tendenz zur Diskursverweige- solcher Vielfalt eine bedenkliche Tendenz rung erkennt, die als Ursachen und Folgen zur Vereinheitlichung und Vereindeutigung des Verlusts an Ambiguität in Erscheinung sichtbar wird. Thomas Bauer zeigt an treten. Selbstverständlich sollte eine Dis- zahlreichen Beispielen auf, dass gegen- kursive Didaktik nicht aus einer pessimis- wärtig insgesamt eher eine „Tendenz zu tischen Verlustgeschichte heraus motiviert einem Weniger an Vielfalt, ein Rückgang bzw. begründet werden. Bauers Ausfüh- an Mannigfaltigkeit zu beobachten“4 sei. rungen sind jedoch relevant, weil er den Er führt das Aussterben von Sprachen und Blick hinter die vermeintliche Diversität der Dialekten an, er nennt die inhaltlich gleich- Welt und auf die Tendenz zur Diskursver- förmigen Angebote der verschiedenen TV- weigerung und Vereindeutigung richtet. Sender, auch den Rückgang biologischer Die Entwicklungen innerhalb und Vielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt. Es sei außerhalb der Schule scheinen sich an insgesamt – und das ist hinsichtlich einer vielen Stellen zu berühren. Sie liefern 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 255 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
jedenfalls zahlreiche Argumente, den An- Prozesse des Lehrens und Lernens in der spruch der Diskursivität in der Didaktik Schule bedeutsam sind. Dies schließt trotz neu zu thematisieren und ihn in seiner Not- aller Diskursivität, die auch den wissen- wendigkeit, aber auch in seinen möglichen schaftlichen Umgang mit diesem Prinzip Grenzen auszuleuchten. Weil Schule und prägen muss, ein, dass auch Positionen Unterricht keinen gesellschaftlich und kul- vertreten werden dürfen, die Gültigkeit turell ausgegrenzten Raum bilden, stehen beanspruchen und keiner Relativierung didaktische Prinzipien immer auch in einem unterworfen werden. Auch dies soll den Kontext außerschulischer Entwicklungen, Umgang mit diesem Prinzip im Rahmen auf die die Schule Bezug nehmen muss. einer wissenschaftlichen didaktischen Dis- Insofern muss auch der Bildungsauftrag kussion kennzeichnen. immer wieder neu interpretiert und jus- Der Aufbau und die Abfolge der Bei- tiert werden. Dabei kann es nicht Aufga- träge in diesem Heft ist so gestaltet, be der Schule sein, den außerschulischen dass verschiedene Texte das Prinzip der Trends nur hinterherzulaufen und ihnen Diskursivität in seiner Bedeutung für die unkritisch zu folgen. Die Schule muss in Allgemeine Didaktik wie für einzelne Fach- relativer Eigenständigkeit und in Wahrneh- didaktiken erörtern. Als Bindeglied tritt mung pädagogischer Verantwortung auch dabei nicht nur das Prinzip der Diskur- überlegen, wo sie Anforderungen, die von sivität selbst in Erscheinung, sondern in außen an sie herangetragen werden, an- Verbindung mit ihm der Anspruch, einen nimmt und wo sie zumindest partiell gesell- Bildungshorizont auszuleuchten, der not- schaftlichen und kulturellen Entwicklungen wendig das Prinzip der Diskursivität ein- mit eigenen Konzepten gegensteuert. Dies schließen muss. Dabei wird deutlich, dass führt, auf Prozesse der Vereindeutigung fachdidaktische Diskussionen nicht isoliert bezogen, zwingend zur Aufgabe, Bildung voneinander stehen, sondern vielfältig mit- und Diskursivität zusammenzuführen und einander vernetzt sind, auch wenn dies auch in produktiven didaktischen Konzep- andernorts oft zu wenig angesprochen ten auszulegen. und aufgezeigt wird. Schulfächer sind dort Die Beiträge in dieser Ausgabe der von einem fließenden Übergang und einer Pädagogischen Rundschau reflektieren wechselseitigen Verbindung gekennzeich- das Prinzip der Diskursivität im Kontext net, wo sie sich auf gemeinsame Grund- didaktischer Theorie und Praxis. Dabei ist lagen stützen und Bildungsprozesse der Blick auch über die Schule hinaus zu anregen wollen. Dies stärkt den Bildungs- richten. Nicht zuletzt ist auch der Begriff auftrag auch dann, wenn nicht spezielle der Diskursivität selbst in seinen Bedin- Verfahren eines fächerübergreifenden Ler- gungen, Möglichkeiten und Grenzen zu nens berücksichtigt werden9. reflektieren. Es versteht sich von selbst, Gleichsam eingerahmt werden diese dass es hier nicht darum gehen kann, eine Texte zur allgemein-didaktischen und fach in sich geschlossene Theorie einer Didak- didaktischen Diskussion durch zwei Bei- tik der Diskursivität vorzustellen. Ebenso träge, die sich sehr grundsätzlich mit dem wäre es fahrlässig, den grundsätzlichen Begriff der Diskursivität, seinen Möglich- Verzicht auf Eindeutigkeit und das Lernen keiten und Grenzen befassen. Dabei wird von belastbarem Wissen zu propagieren. auf wissenschaftliche Positionen in Philo- Vielmehr geht es darum, in unterschied- sophie, Soziologie und Pädagogik aus lichen Facetten und Perspektiven Fragen Geschichte und Gegenwart rekurriert, und Probleme aufzugreifen, die für eine die es verbieten, im Bezug auf Diskur- Diskursive Didaktik relevant und die für sivität voreilig eine schnelle Lösung aller 256 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Bildungsprobleme zu suchen. Sie mahnen Dreßler, bedarf einer „Anthropologie der deshalb auch zu einer umsichtigen Praxis Selbstbestimmung, die dem Menschen zu- im Umgang mit Diskursivität. traut, mittels Vernunftgebrach verantwort- Jens Dreßler nimmt im Rückgriff auf lich zu handeln.“ geisteswissenschaftliche und philoso- Der Beitrag von Ludwig Duncker und phisch-pädagogische Traditionen eine Katja Siepmann stellt das didaktische Prin- grundbegriffliche Standortbestimmung vor, zip der Diskursivität in einen bildungstheo- in denen der Begriff der Diskursivität ver- retischen Zusammenhang. Dies erscheint ankert ist und in der er auch seine Bedeu- schon deshalb angebracht, weil in aktuel- tung für didaktisches Handeln gewinnt. Im len Entwicklungen Schule und Unterricht Verweis auf Wilhelm Dilthey wird deutlich, eher vom Verlust eines Bildungsanspruchs dass Diskursivität in enger Verbindung zu betroffen sind. Dies lässt sich mit Bezügen Denkleistungen steht, die als „prüfendes zu ausgewählten Analysen des gegenwär- Umherlaufen“ bei der Suche nach Wahr- tigen Bildungsgeschehens aufzeigen und heit in Erscheinung treten. Dabei wird nachweisen. Zur näheren Bestimmung auch ein normativer Anspruch sichtbar, der des didaktischen Prinzips der Diskursivi- eine fragend-suchende Grundhaltung mit tät kann auf die Diskussion um das Prinzip einem methodisch geordneten Vorgehen der Perspektivenvielfalt zurückgegriffen verbindet. Mit Rousseau kann dann auf äs- werden, auf dem Diskursivität aufbauen thetische Implikationen und die Klärungs- kann. Dabei werden jedoch einige Aspek- bedürftigkeit sinnlicher Wahrnehmungen te weitergeführt und ausdifferenziert, die verwiesen werden, die ein Nachdenken im Prinzip der Perspektivenvielfalt noch erfordern und damit ein diskursives Den- nicht expliziert sind. Es sind vor allem die ken im Zusammenhang von Erkenntnispro- Bezüge zur Kontroversität sowie der Posi- zessen herausfordern. In einem weiteren tionalität, die als mögliches Resultat einer Schritt wird Diskursivität im Kontext der diskursiven Auseinandersetzung in Er- Theorie kommunikativen Handelns bei scheinung treten und ein bloß auf Addition Jürgen Habermas angesprochen und als und Pluralität beruhendes Verständnis von reflexive, verständigungsorientierte und Viel- bzw. Multiperspektivität überschrei- auf intersubjektive Gültigkeit ausgerichtete ten. An exemplarisch ausgewählten didak- Tätigkeit des Vernunftgebrauchs erörtert, tischen Feldern kann diese Erweiterung die es ermöglicht, Diskursivität als Weg und Ausdifferenzierung in ihrer Bedeutung der Begründung von Weltbezügen zu be- für Lehr- und Lernprozesse im Unterricht greifen, die ein verantwortliches Handeln aufgezeigt und als Ertrag für eine bildungs- ermöglichen. Die Fragilität diskursiver Pro- theoretisch profilierte Didaktik kenntlich zesse kann schließlich mit Bezügen auf gemacht werden. Martin Buber und Marian Heitger sicht- Wolfgang Sander weist in seinem bar werden, weil hier Diskursivität auf die Beitrag darauf hin, dass Diskursivität und Grundbedingung einer dialogischen Hal- Kontroversität in der Politischen Bildung tung verweist, die die Anerkennung des seit langem etablierte Prinzipien sind, wo- jeweils anderen voraussetzt. Damit sind durch Schülerinnen und Schüler in der Implikationen angesprochen, die auch in multiperspektiven Auseinandersetzung mit weiteren pädagogischen Kontexten ihre politischen Problemen und Konflikten zur Risiken entfalten und Diskursivität in ihrer reflektierten politischen Urteilsbildung Angewiesenheit auf eine wechselseitige befähigt werden sollen. Sander fragt in Offenheit und einen vertrauensvoll ge- seinem Beitrag nach Grenzen von Kontro- führten Dialog ausweisen. Diskursivität, so versität und Diskursivität und verweist auf 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 257 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
zwei bedeutsame Problemfelder: 1) Politi- von politischer Mündigkeit und Urteils- scher Extremismus: Sander betont, dass fähigkeit der Schülerinnen und Schüler die Kontroversen, um die es in der schu- dürfen Lehrpersonen extremistischen und lischen politischen Bildung gehe, sich im identitätspolitisch begründeten Versuchen, Rahmen des demokratischen Spektrums Tabus zu errichten und Diskursräume ein- befinden müssen, denn nur demokratisch zuengen, nicht nachgeben. Lehrpersonen verfasste Gesellschaften können die päd- haben als „Wächter über Diskursivität im agogisch intendierte Mündigkeit der Schü- Unterricht“ die Aufgabe, Angriffen auf sie lerinnen und Schüler akzeptieren. Sander entschieden entgegenzutreten. erläutert, wo hinsichtlich Rechtsextremis- Christian Mathis fordert in seinem Bei- mus, Linksextremismus, Islamismus sowie trag, Geschichte als Denkfach zu konzi- Antisemitismus und Rassismus eine „sym- pieren. Dabei kommen der Perspektivität, bolische ‚rote Linie’“ gezogen werden Kontroversität und Pluralität sowie der muss und legitimiert diese auf dem Hinter- Urteilsbildung eine zentrale Rolle zu. Histo- grund einer Diskursiven Didaktik gerade risches Denken ist ein diskursives Ringen durch die Verteidigung von Diskursivität. um einen rationalen Umgang mit subjek- Denn der freie Meinungsstreit ist nur mög- tiven Wahrnehmungen, Wertungen und lich, wenn die durch die Grundprinzipien Urteilen, bei dem ständig eine reflexive freiheitlicher Verfassungen garantierte Distanz zu sich und zur Sache erarbeitet gleiche Freiheit aller an ihm Beteiligten von werden muss. Dem subjektivistischen Zu- allen anerkannt wird. 2) Identitätspolitische griff fehlt das reflektierte epistemologische Positionen: Sander erklärt, dass derzeit Verstehen von Geschichte. Folglich muss eine Vielzahl von Gruppen und Minder- im Geschichtsunterricht bewusst eine wis- heiten, die sich als diskriminiert betrachten senschaftsorientierte Sprache eingefordert oder denen ein solches Selbstverständ- und geschichtswissenschaftliches Denken nis von identitätspolitischen Akteuren gelernt werden. Diskursivität, Auseinander- zugeschrieben wird, versuchen ihre Inte- setzung, Argumentation, Widerlegung und ressen durchzusetzen. Dabei wird diesen Streit um Positionen sind konstituierend Gruppen einerseits eine kollektive Identität für die Geschichtswissenschaft. Schuli- unterstellt, andererseits dürfen deren Au- sche Geschichte nimmt genau diese Idee thentizität und die damit begründeten An- auf. Nach dem Zusammentragen eines sprüche nicht in Frage gestellt werden. Mit Sachverhalts erfolgt das Erarbeiten eines Ansprüchen auf Authentizität, Identität und Sachurteils in einem diskursiven Prozess, Verletzlichkeit wird versucht, offene Dis- worauf schließlich ein Werturteil begründet kursräume einzuschränken, Rederechte und eine Position bezogen wird. Das Ziel zu vergeben und dabei Deutungshoheiten eines solchen Geschichtsunterrichts ist durchzusetzen. Für die politische Öffent- es, die Fähigkeiten der Schülerinnen und lichkeit in der Demokratie ist dies eine Schüler zur reflektierten Prüfung ihrer eige- gefährliche Entwicklung, denn es werden nen perspektivischen Voraussetzungen unverhandelbare Sichtweisen postuliert, sowie ihr selbstreflexives Denken über die was zu einer Diskursverweigerung führen Geschichte und Vergangenheit mit Blick kann. Sander sieht in beiden Problemfel- auf ihr künftiges, selbständiges Handeln in dern interessante Gegenstände für politi- der Welt zu fördern. sche Bildung, die jedoch mit erheblichen Katja Siepmann widmet sich in ihrem Herausforderungen für die Professionalität Beitrag dem Literaturunterricht, in dem von Lehrerinnen und Lehrer verbunden sich junge Menschen mit Werken der Li- sind. Doch gerade im Sinne der Förderung teratur aus Geschichte und Gegenwart 258 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
auseinandersetzen sollen. Literaturunter- Lernen als „Grundkonzept einer diskursi- richt will Gesprächsanlässe ermöglichen, ven Didaktik“ zurück. die das Denken anregen, neue Perspek- Abschließend greift der Text von Roland tiven aufzeigen sowie Irritationen von Ver- Reichenbach grundsätzliche Fragen auf, trautem hervorrufen. Im Gespräch werden die die Begründung des didaktischen unterschiedliche Bedeutungen und das Prinzips der Diskursivität relativieren. Er gemeinsame Bemühen um ein Verständnis weist auf Probleme und Grenzen hin, des Textes sichtbar. Siepmann fokussiert die bedacht werden müssen, wenn die auf das didaktische Verfahren des litera- Potentiale, die in einer diskursiven Ausge- rischen Gesprächs und betont, dass sich staltung von Lehr- und Lernprozessen ge- literarische Texte einem unmittelbaren Ver- borgen liegen, nicht überschätzt werden stehen und einer eindeutigen Auslegung sollen. Gerade in der deutschsprachigen entziehen. Im Literaturunterricht existiert Bildungstradition könnten solche Über- folglich ein Spannungsfeld zwischen Ein- schätzungen vielfach erkannt werden. deutigkeit und Offenheit – sowohl im Er führt aus, dass diskursive Tugenden, Unterrichtsprozess als auch auf der Ebene die eigentlich Voraussetzung für rational der Texte. Besonders relevant sind daher geführte Diskurse seien, sich als nicht das In-Frage-stellen von Scheinklarheiten, selbstverständlich erweisen könnten, weil das Aushalten offener Fragen und das Fin- sie die Bereitschaft einschlössen, sich den verschiedener Wahrheiten, das Prü- kraft besserer Argumente überzeugen fen von Weltdeutungen sowie der Umgang zu lassen. Verstehen und Einverstanden mit Pluralität, Fremdheit und Dissens. Im sein seien nicht identisch. Dies hat auch literarischen Unterrichtsgespräch wird das mit der ambivalenten Bedeutung von Ver- literarische Lernen durch Erfahrung von stehensprozessen zu tun, die einerseits Pluralität, Widersprüchlichkeit, Ambiva- auf die Herstellung eines Einverständnis- lenz und Alterität im Zuge eigener Identi- ses zielen und damit eine potentielle Ver- tätsentwicklung möglich. schmelzung von Perspektiven anstreben. Philippe Wampfler verweist aus me- Andererseits müssten sie strukturell als diendidaktischer Perspektive auf die Kampfansage begriffen werden, weil man doppelte Positionalität in Bezug auf eine im Diskurs eben gegeneinander und nicht Kultur der Digitalität. Einerseits ist die miteinander argumentiere. Im Grunde Positionalität durch Algorithmen gegeben sei das Ideal einer symmetrischen Kom- und bestimmt die Position des Users. An- munikation im Diskurs gekennzeichnet dererseits ist die argumentative Positio- durch ein zu hohes Vertrauen in die Er- nalität ein Bildungsziel und erfordert eine reichbarkeit eines Konsenses, weshalb, didaktische Inszenierung. Folglich bezieht so Reichenbach, Diskursfähigkeit eine sich eine diskursive Didaktik in einer Kultur „Dissenstauglichkeit“ einschließen müsse. der Digitalität stets auf beide Dimensionen Die Ausführungen Reichenbachs, die weit und auf deren Zusammenspiel. Wampf- über pädagogische Kontexte hinaus be- ler optiert für einen handlungsorientierten deutsam sind, werfen deshalb Fragen auf, Umgang mit dieser doppelten Positionali- die auch für eine Diskursive Didaktik hoch tät und fordert: Nur wer unterschiedliche relevant sind und die verdeutlichen, dass Verhaltensweisen im Netz erprobt, Reak- auch in Schule und Unterricht eine Streit- tionen darauf wahrnimmt und Zusammen- kultur vonnöten ist, die die wechselseitige hänge reflektiert, kann nachhaltig digitale Dynamik der Erarbeitung von Konsens und Anwendungen nutzen. Dabei greift er auf Dissens als konstitutiven Bestandteil von Urs Rufs und Peter Gallins Dialogisches Bildungsprozessen begreift. 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 259 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Anmerkungen 2/2009; Bergmann, Klaus (2008): Multi- perspektivität. Geschichte selber denken 1 Vgl. z.B. Giel, Klaus / Hiller, Gotthilf G. u.a. (2. Aufl.). Schwalbach/Ts: Wochenschau; (1974ff): Stücke zu einem mehrperspekti- Urs Ruf und Peter Gallin (1999): Dialogi- vischen Unterricht. 10 Bde. Stuttgart: Klett; sches Lernen in Sprache und Mathematik. Köhnlein, Walter / Marquardt-Mau, Brunhilde / Band I. Seelze: Klett/Kallmeyer; Zabka, Tho- Schreier, Helmut (Hrsg.) (1999): Vielperspek- mas (2020): Gespräche über Literatur. In: tivisches Denken im Sachunterricht. Bad Heil- Praxis Deutsch, H. 280, S. 4-11. brunn: Klinkhardt; Duncker, Ludwig / Sander, 3 Gruschka, Andreas (2011). Verstehen leh- Wolfgang / Surkamp, Carola (Hrsg.) (2005): ren: Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stutt- Perspektivenvielfalt im Unterricht. Stuttgart: gart: Reclam, S. 155f. Kohlhammer; Sander, Wolfgang (2009): 4 Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung Bildung und Perspektivität. Kontroversität der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Indoktrinationsverbot als Grundsätze und Vielfalt. Ditzingen: Reclam, Sonderaus- von Bildung und Wissenschaft. In: Erwä- gabe S. 13. gen – Wissen – Ethik, 20. Jahrgang, H. 2, 5 Vgl. Bauer 2018, ebd. S. 239-248; Mathis, Christian / Duncker, Lud- 6 Vgl. Bauer 2018, S. 13f. wig (2017): Perspektivenwechsel als didakti- 7 Vgl. Bauer 2018, S.14. sche Kategorie. Zur Qualität von Lehrwerken 8 Vgl. Bauer 2018, S. 82. für den Sachunterricht. In: Giest, Hartmut / 9 Vgl. hierzu Duncker, Ludwig / Popp, Walter Hartinger, Andreas / Tänzer, Sandra (Hrsg.): (1998) (Hrsg.): Fächerübergreifender Unter- Vielperspektivität im Sachunterricht. Bad richt in der Sekundarstufe I und II. Prinzipi- Heilbrunn: Klinkhardt, S. 66-73. en, Perspektiven, Beispiele. Bad Heilbrunn: 2 Vgl. z.B. Martens, Ekkehard / Schreier, Hel- Klinkhardt; Duncker, Ludwig / Popp, Walter mut (1994) (Hrsg.): Philosophieren mit Schul- (1997) (Hrsg.): Über Fachgrenzen hinaus. kindern. Philosophie und Ethik in Grundschule Chancen und Schwierigkeiten des fächer- und Sekundarstufe I. Heinsberg: Dieck; vgl. übergreifenden Lehrens und Lernens. Band u.a. die Diskussion zum Thema „Bildung und 1: Grundlagen und Begründungen; Band 2 Perspektivität – Kontroversität und Indoktrina- (1998): Anregungen und Beispiele für die tionsverbot als Grundsätze von Bildung und Grundschule. Heinsberg: Dieck. Wissenschaft“ in Erwägen – Wissen – Ethik 260 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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