Doppelter Druck auf Iran Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie - BAND 56 Eine Studie von David Jalilvand - Heinrich-Böll-Stiftung

 
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Doppelter Druck auf Iran Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie - BAND 56 Eine Studie von David Jalilvand - Heinrich-Böll-Stiftung
BAND 56

Doppelter Druck auf Iran
Die US-Sanktionen in den Zeiten
der Corona-Pandemie

Eine Studie von David Jalilvand
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       DOPPELTER DRUCK AUF IRAN
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       SCHRIFTEN ZUR DEMOKRATIE
       BAND 56

       Doppelter Druck auf Iran
       Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
       Eine Studie von David Jalilvand

       Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung
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       Der Autor

       Dr. David Jalilvand arbeitet als Analyst und Berater zu den Dynamiken von Politik, Wirtschaft und
       Energie im Mittleren Osten, besonders im Iran. In diesem Zusammenhang reist er regelmäßig in die
       Region. Er ist Geschäftsführer der Orient Matters GmbH in Berlin. Zwischen 2015 und Anfang 2018
       war David Jalilvand für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, wo er u.a. das Iran-Projekt leitete. Er promo-
       vierte an der Freien Universität Berlin. Sein Studium führte ihn zuvor von der Universität Erfurt zum
       Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und zur London School of Economics.

                       Diese Publikation wird unter den Bedingungen einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht:
                       http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de   Eine elek­tro­nische Fassung kann her-
       untergeladen werden. Sie dürfen das Werk vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen. Es gelten
       folgende Bedingungen: Namensnennung: Sie müssen den Namen des Autors / Rechteinhabers in der von ihm
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       verwendet werden. Keine Bearbeitung: Dieses Werk darf nicht bearbeitet oder in anderer Weise verändert werden.

       Doppelter Druck auf Iran
       Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
       Eine Studie von David Jalilvand
       Band 56 der Schriftenreihe Demokratie
       Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung
       Gestaltung: feinkost Designnetzwerk, S. Langer (basierend auf Entwürfen von State Design)
       Druck: ARNOLD group, Großbeeren
       Titelphoto: imago images/Xinhua
       ISBN 978-3-86928-219-0
       Bestelladresse: Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, 10117 Berlin
       T +49 30 28534-0  F +49 30 28534-109  E buchversand@boell.de  W www.boell.de
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       INHALT

       Vorwort                                                                          7
       Zusammenfassung                                                                  9
       Einführung                                                                      12

       1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise                                   14
         1.1 Sanktionen und Washingtons Politik des «maximalen Drucks»                 16
         1.2 Europa und die US-Sanktionen: zögerliche Opposition                       19
         1.3 Irans Wirtschaft: zwischen Rezession und Resilienz                        24
       2 Sanktionen und das iranische Gesundheitswesen                                 36
         Sanktionen und Einschränkungen beim humanitären Handel                        37
       3 Corona-Krise im Iran                                                          42
         3.1 Sanktionen und die Pandemie                                               46
         3.2 Sanktionen und internationale Corona-Hilfe                                49

       Bibliographie                                                                   51
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            VORWORT

            Wirtschaftliche Sanktionen können ungewünschte Effekte hervorbringen, wenn sie
            nicht in eine kluge diplomatische Gesamtstrategie eingebettet sind. So dienen im Iran
            die aktuellen US-Sanktionen im Zuge der Corona-Krise den autoritären Machtha-
            bern als Möglichkeit, das eigene Steuerungsversagen zu verschleiern. Die vorliegende
            Studie von David Jalilvand hat das untersucht und beantwortet die Frage: Wie beein-
            flussen die seit 2018 wieder aktiven US-Sanktionen die sozio-ökonomische Lage und
            medizinische Versorgung im Iran vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie? Wo
            es die Datenlage erlaubt, untersucht sie auch, wie und ob marginalisierte Gruppen
            (beispielsweise Frauen) davon anders betroffen sind.
                Das Kalkül hinter den US-Sanktionen folgt einer altbekannten Logik, der zufolge
            die Zivilbevölkerung aufbegehrt, wenn das Leid nur groß genug ist und das unlieb-
            same Regime letztlich stürzt. Doch, wie in anderen autoritären Regimen auch,
            unterdrückt die iranische Führung die massive Unzufriedenheit der Bevölkerung
            mit rücksichtsloser Repression und brutaler Gewalt. Solange Sanktionen nicht die
            persönlichen Macht- und Wirtschaftsinteressen der Machthabenden treffen, wie es
            «gezielte» («targeted») oder «kluge» («smart») Sanktionen tun, bewirken sie keine
            Verhaltensänderung.
                Die iranische Führung fordert ein sofortiges Ende der US-Sanktionen, und der
            iranische Außenmister Mohammad Sarif brandmarkt diese gar als «Gesundheitster-
            rorismus» gegen das iranische Volk, während Iran innerhalb kürzester Zeit zu einem
            Brandherd der Pandemie in der Region wurde – und zwar nicht zuletzt aufgrund
            des miserablen Managements der iranischen Führung. Diese spielte die Gefahr des
            Coronavirus zu Beginn herunter und versäumte, die Bevölkerung angemessen zu
            schützen.
                Wir präsentieren diese Studie als wichtigen, aktuellen Debatten-Beitrag um die
            mit Sanktionen verbundenen humanitären Fragen im Zeitalter der Pandemie – sie
            könnten bald weiter an Relevanz gewinnen. Denn sollte das Atomabkommen schei-
            tern, wird die Frage nach der richtigen Strategie dem Iran gegenüber auch für die
            deutsche und europäische Politik wieder offen im Raum stehen. Ob und wie Sank-
            tionen hierbei eine konstruktive Rolle spielen können, wird bei den diskutierten
            Policy-Optionen für die künftige Kontrolle des iranischen Atomprogramms zentral
            sein.
                Seit gut zwanzig Jahren beschäftigt sich die Heinrich-Böll-Stiftung mit ihrem
            Iran-Programm in verschiedenen Formaten mit dem iranischen Atomprogramm und
            hat in dieser polarisierten Debatte den Anspruch, kontinuierlich differenzierte und
            fundierte inhaltliche Angebote bereit zu stellen: u.a. den monatlich erscheinenden
  Vorwort

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       Iran-Report, öffentliche Veranstaltungen oder Fachgespräche im Sinne einer
       Track-II-Diplomatie etc.
            Unser großer Dank gilt dem Autor Dr. David Jalilvand, der in dieser Studie seine
       umfassende Expertise zu sozio-ökonomischen Fragestellungen im Iran eindrücklich,
       treffsicher und politisch abwägend präsentiert.

       Berlin, im August 2020

       Dr. Anja Hoffmann
       Referentin der Heinrich-Böll-Stiftung
       im Referat Mittlerer Osten und Nordafrika

                                                                                                    Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie

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                    Zusammenfassung

                    1 ) Mit ihrer Politik des maximalen Drucks zielt die Trump-Administration aktuell auf
                        zwei Zwischenziele: die größtmögliche Schwächung Irans sowie die Verhinderung
                        einer Rückkehr zum Atomabkommen durch eine Nachfolger-Regierung.
                    			      Nach dem Rückzug aus dem Atomabkommen im Mai 2018 belegten die Ver-
                        einigten Staaten von Amerika nahezu alle Sektoren der iranischen Wirtschaft
                        mit Sanktionen. Die Sanktionen zielen nicht nur darauf, Teheran Außenhandel
                        und Deviseneinnahmen zu versagen. Stärker als in der Vergangenheit versucht
                        Washington auch, den inländischen Wirtschaftskreislauf Irans zum Erliegen
                        zu bringen. Hierzu wurde das US-Sanktionsregime deutlich erweitert. Über die
                        abschließenden Ziele der Trump-Administration gegenüber Iran herrscht dabei
                        Ungewissheit, sowohl ein Regimewechsel als auch ein neues Abkommen mit
                        Teheran erscheinen im Bereich des Möglichen.

                    2 ) Für legale Wirtschaftsbeziehungen Europas mit Iran fehlen bis heute ein verlässli-
                        cher Rechtsrahmen und geeignete Instrumente. Betroffen ist auch der Handel mit
                        humanitären Gütern.
                    			       Im August 2018 reaktivierte die EU ihre Blocking-Verordnung, die in der Pra-
                        xis jedoch kein effektives Mittel zur Aufrechterhaltung des europäisch-iranischen
                        Handels ist. Da sich europäische Unternehmen im großen Stil aus Iran zurückzo-
                        gen, gründeten Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich im Januar
                        2019 die Zweckgesellschaft INSTEX. Über die Organisation eines Ringhandels soll
                        diese europäischen Unternehmen am US-Finanzsystem vorbei eine Möglichkeit
                        bieten, Handel mit Iran zu betreiben. Durch die einstweilige Beschränkung auf
                        humanitären Handel dient INSTEX bis auf Weiteres dezidiert nicht der Umgehung
                        der US-Sanktionen. Die Aufnahme eines regulären Geschäftsbetriebs steht aller-
                        dings weiter aus. Iran versucht nunmehr durch Verletzung des Atomabkommens
                        und durch Forcierung regionaler Spannungen den Preis für die US-Sanktionen
                        in die Höhe zu treiben. Europa fehlt es an Einflussmöglichkeiten zur Durchbre-
                        chung der Eskalationsspirale zwischen Teheran und Washington.

                    3 ) Iran hat durch die US-Sanktionen einen enormen ökonomischen Schaden erlit-
                        ten. In ihrer Gesamtheit zeigt sich die iranische Wirtschaft jedoch vergleichsweise
                        resilient.
  Zusammenfassung

                    			       Abgelöst wurden zwei Jahre deutlichen Wachstums (2016-17) durch eine
                        längere Phase der Rezession. Diese ging einher mit einem Einbruch von Außen-
                        handel und speziell Erdölexporten, wachsenden Defiziten bei der Handels- und
                        Zahlungsbilanz, einer Abwertung des Rials und einem erheblichen Anstieg der

                                                                                                         9
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            Inflation. Für Irans Bevölkerung resultierten diese Entwicklungen in einem dra-
            matischen Verlust an Kaufkraft. Die Resilienz der iranischen Wirtschaft ist in einer
            vergleichsweise fortgeschrittenen Diversifizierung begründet. Diese findet auch
            Ausdruck durch gestiegene Exporte im Land gefertigter Produkte.

       4 ) US-Sanktionen beschränken Irans Zugang zu komplexen Arzneimitteln und Arz-
           neistoffen. Neben einer Verknappung haben Sanktionen zu einer erheblichen Ver-
           teuerung von Pharma-Importen geführt: aufgrund gestiegener Transaktionskosten
           sowie durch den dramatischen Wertverlust des Rials.
       			 Irans Importabhängigkeit bei bestimmten komplexen Medikamenten ist
           die Achillesferse des iranischen Gesundheitssystems. Dieses ist im regionalen
           Kontext vergleichsweise weit entwickelt und kann sich auf eine breit aufgestellte
           pharmazeutische Industrie stützen. Die Arzneimittel-Grundversorgung konnte
           trotz Sanktionen aufrechterhalten werden. Bei einer Reihe lebenswichtiger
           komplexerer Medikamente, etwa zur Behandlung von Epilepsie oder Leukämie,
           führten die Sanktionen jedoch zu teilweise erheblicher Verknappung und Verteu-
           erung mit fatalen Folgen in Iran. Die US-Regierung räumt mittlerweile Defizite
           bei der Rechtssicherheit für den – nominell vom Sanktionsregime ausgenom-
           menen – humanitären Handel ein, ohne dass dies jedoch in der Praxis zu effek-
           tiven Maßnahmen geführt hätte. Da Iran vier Fünftel seiner Pharma-Importe aus
           dem europäischen Wirtschaftsraum und der Schweiz bezieht, ist Europa hiervon
           besonders betroffen.

       5 ) Iran ist eines der am meisten vom Coronavirus betroffenen Länder, auch bedingt
           durch eklatantes Missmanagement staatlicher Stellen. Die Pandemie wirft Iran bei
           der Überwindung der sanktionsbedingten Rezession erheblich zurück.
       			      Binnen weniger Tage avancierte Iran zum «Epizentrum» der Corona-Pan-

                                                                                                       Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
           demie im Mittleren Osten und ist nunmehr mit einer zweiten Infektionswelle
           konfrontiert. Das Land verlor wertvolle Zeit bei der Eindämmung des Virus.
           Über Wochen wurden die Gefahren der Pandemie von der politischen Führung
           in Teheran heruntergespielt. Führende Politiker brachten sogar Verschwörungs-
           theorien in Umlauf. Nach einem temporären landesweiten «Lockdown» im
           März zielt die Regierung nunmehr auf begrenzte Einschränkungen nach Bedarf.
           Aufgrund der Corona-Krise wird Iran 2020 ein weiteres Rezessionsjahr erleben
           (Rückgang des BIP um 6 Prozent). Das Coronavirus schaffte, woran die US-Sank-
           tionen weitgehend scheiterten: Irans inländischen Wirtschaftskreislauf empfind-
           lich zu schwächen.

       6 ) Die US-Sanktionen beeinflussen den Verlauf der Corona-Pandemie in Iran: durch
           eine unzureichende Versorgung mit Gütern für den medizinischen Einsatz, durch
           Beeinträchtigungen bei der Abwägung von Corona-Maßnahmen sowie durch eine
           Schwächung Irans bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Corona-Folgen.
       			      In den ersten Wochen der Pandemie litt Iran unter einem erklärten Man-
           gel an Gütern zur medizinischen Bewältigung der Corona-Krise. Sanktionen

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                        potenzierten dabei Schwierigkeiten bei der Beschaffung. Nach Umstellung der
                        heimischen Industrie erklärte Iran im Mai die vollständige Selbstversorgung.
                        Bei der Abwägung der Corona-Maßnahmen kam zum Tragen, dass die iranische
                        Wirtschaft nach zwei Jahren der Sanktionen erheblich geschwächt war. Weitere
                        sozio-ökonomische Härten und politische Spannungen versuchte die Staatsfüh-
                        rung in Teheran zu vermeiden. Auch verfügt Iran durch die sanktionsbeding-
                        ten Rezessionsjahre über weniger Ressourcen, um Konjunkturmaßnahmen zur
                        Bewältigung der wirtschaftlichen Corona-Folgen auf den Weg zu bringen.

                    7 ) Internationale Unterstützung bei der Bewältigung der Corona-Pandemie bleibt
                        eine brisante Angelegenheit. Sanktionen behindern Iran hierbei. Die Frage interna-
                        tionaler Hilfe ist aber auch Gegenstand innenpolitischer Machtkämpfe in Teheran.
                    			      Iran nahm die Corona-Krise zum Anlass, um international für eine Locke-
                        rung des US-Sanktionsregimes zu werben. Derweil erreichten Iran verschiedene
                        bi- und multilaterale Hilfslieferungen. Zweifelsfrei negative Auswirkungen der
                        US-Sanktionspolitik lassen sich allerdings bei der Frage eines IWF-Nothilfekredits
                        für Teheran erkennen, den die Vereinigten Staaten aus offenkundig politischen
                        Gründen blockieren. Die Fortsetzung des Machtkampfs auf dem Feld der huma-
                        nitären Nothilfe zwischen der Regierung Rohani und seinen Widersachern aus
                        dem Umfeld der Revolutionsgarde lässt potenzielle internationale Geber mit Fra-
                        gen ob der Ernsthaftigkeit iranischer Anfragen zurück.
  Zusammenfassung

                                                                                                       11
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       Einführung

       Als die Corona-Pandemie Iran erreichte, traf sie auf ein ohnehin schon angeschlage-
       nes Land. US-Sanktionen hatten der Wirtschaft bereits empfindlich zugesetzt und die
       sozio-ökonomische Krise verschärft. Im Fahrwasser der Sanktionen traten die politi-
       schen Spannungen der Islamischen Republik wieder stärker in den Vordergrund.
           Lange Zeit unterschätzte Irans politische Führung das Virus und reagierte erst, als
       der Notstand im Land weitreichende Maßnahmen unvermeidlich machte. Iran avan-
       cierte so binnen weniger Tage zum Epizentrum der Pandemie im Mittleren Osten.
           Nachdem die staatlichen Autoritäten schließlich handelten, zeigten die Sanktio-
       nen abermals ihre Wirkung. Denn aufgrund der US-Politik des «maximalen Drucks»
       sind Teherans Möglichkeiten zur Bewältigung der Pandemie beeinträchtigt. So ist
       Irans Zugang zu Gütern wie etwa medizinischer Schutzkleidung, Medikamenten oder
       Rohstoffen für die Pharmaindustrie durch die US-Sanktionen stark eingeschränkt. Bei
       der Abwägung der Corona-Maßnahmen wiederum war die sanktionsbedingt prekäre
       ökonomische Situation des Landes ein wichtiger Faktor dafür, dass der Staat erst spät
       ins öffentliche Leben eingriff; die Sorge vor den ökonomischen Folgen weitreichender
       Kontaktsperren war groß. Von den Sanktionen geschwächt, kann Iran weniger Res-
       sourcen einsetzen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bewältigen.
           Daher unterscheiden sich die Rahmenbedingungen Irans entscheidend von
       denen anderer Länder. Zusätzlich zu den ohnehin großen Herausforderungen und
       Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit der Pandemie kommen die mit dem Sankti-

                                                                                                     Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
       onsregime einhergehenden Beschränkungen erschwerend hinzu.
           Im Folgenden werden Art und Weise, wie Sanktionen Iran beim Umgang mit der
       Corona-Pandemie beeinträchtigen, analysiert. Hierzu werden zunächst die Auswir-
       kungen der US-Sanktionspolitik für Politik und Wirtschaft Irans ebenso wie für das
       iranische Gesundheitswesen erörtert. Auf dieser Grundlage erfolgt schließlich eine
       Einordnung der Bedeutung von Sanktionen im Kontext Corona-Krise in Iran.
           Die Studie versucht dezidiert nicht, von der Verantwortung der iranischen Politik
       abzulenken oder diese zu relativieren. Für die rasante Ausbreitung des Corona-Virus
       im Land tragen in erster Linie die staatlichen Autoritäten Verantwortung. Ihre dra-
       matische Unterschätzung der Gefahren der Pandemie sowie die Verbreitung von
       Verschwörungstheorien durch hohe Politiker führten dazu, dass wichtige Zeit für die
       Eindämmung von Infektionsketten verloren ging.
           Hiervon unberührt, ist jedoch festzustellen, dass Sanktionen zu einer erheblichen
       Verschärfung der humanitären Notlage im Iran geführt haben. Bereits vor Ausbruch
       der Corona-Krise war dies der Fall. Durch die Pandemie hat sich die Dimension nun
       erheblich vergrößert. Eine Analyse der Dynamiken und Auswirkungen der US-Sank-
       tionspolitik gegen Iran mit Blick auf humanitäre Aspekte ist daher wichtig: zum

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               besseren Verständnis der Verhältnisse im Land sowie als Ausgangspunkt für die Ent-
               wicklung politischer Maßnahmen zur Linderung der Not der Iranerinnen und Iraner.
  Einführung

                                                                                                13
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       1 Iran vor der Pandemie:
         Sanktionen und Krise

       Am Vorabend der Corona-Pandemie war Iran bereits im Krisenmodus. Weitreichende
       Sanktionen, die von den Vereinigten Staaten seit 2018 erneut gegen das Land verhängt
       wurden, stürzten die Wirtschaft in eine schwere Rezession. Diese ging unter anderem
       einher mit einem großen Handelsbilanzdefizit, einer Abwertung des iranischen Rials
       und einem rasanten Anstieg der Inflationsrate. Auf diese Weise hatte sich die ökono-
       mische Situation vieler iranischer Haushalte, deren Kaufkraft rapide sank, erheblich
       verschlechtert.
            Die sozio-ökonomische Situation verschärfte sich, Proteste nahmen zu, zumeist
       getragen von jeweils spezifischen Gesellschaftsgruppen, etwa Händlern, Lehrern
       oder Lastwagenfahrern. In ihrer Gesamtheit brachten die Proteste eine weitrei-
       chende Unzufriedenheit über die ökonomische Lage des Landes sowie Korruption
       und Missmanagement staatlicher Stellen zum Ausdruck. Nach einer Kürzung von
       Energie-Subventionen im November 2019 mündeten die zunächst noch vereinzelt
       aufgekommenen Proteste schließlich in landesweiten Demonstrationen. Der Staat
       begegnete ihnen mit extremer Härte, selbst nach den Maßstäben der Islamischen
       Republik. Sicherheitskräfte töteten hunderte Iranerinnen und Iraner, während durch
       die Abschaltung des Internets die Bevölkerung für mehrere Tage in weiten Teilen von
       der Außenwelt abgeschnitten wurde.

                                                                                                                   Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
            Im Zusammenspiel mit zunehmender staatlicher Repression vertiefte der wirt-
       schaftliche Abschwung die politische Legitimitätskrise Irans.1 Diese wog umso schwe-
       rer, als nunmehr auch Teile der Kernklientel der Islamischen Republik – gebildet aus
       Milieus des religiös-konservativen Kleinbürgertums – ihren Unmut über die Verhält-
       nisse im Land offen auf die Straße trugen. Verstärkt wurde die Krise des Politischen
       durch zunehmende Machtkämpfe zwischen den politischen Lagern und Institutionen
       des Staats. Die radikaleren Kräfte, die angesichts der gescheiterten Engagement-Poli-
       tik von Präsident Hassan Rohani das politische Momentum auf ihrer Seite wussten,
       machten sich daran, ihre Macht weiter auszubauen. Abermals verschärft wurde die
       Legitimitätskrise im Januar. Schien, nach der Tötung des iranischen Generals Qasem
       Soleimani durch die Vereinigten Staaten, zunächst ein kurzer Moment der nationa-
       len Einheit möglich, stiegen die Spannungen erneut an: Im Zusammenhang mit einer
       iranischen Vergeltungsmaßnahme schossen die Revolutionsgarden ein ukrainisches

       1    Ausdruck fand die Legitimitätskrise schließlich in der – selbst nach offiziellen Zahlen – niedrigs-
            ten jemals in der Islamischen Republik registrierten Beteiligung bei Wahlen zum Parlament im
            Februar 2020.

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                                                  Passagierflugzeug bei Teheran ab, was 167 Todesopfer forderte. Es folgte eine mehrtä-
                                                  gige staatliche Vertuschungskampagne. Erneut kam es zu Protesten, wenngleich diese
                                                  geringer ausfielen als im November.
                                                      Die Ursachen für die Krise Irans finden sich zuvörderst im Land selbst. Zu ihnen
                                                  zählen ein autoritäres politisches System, eine von neoliberalen Erwägungen getra-
                                                  gene, soziale Fragen weitgehend außer Acht lassende Wirtschaftspolitik der Regie-
                                                  rung Rohani, Missmanagement, Korruption und Inkompetenz bei der Leitung der
                                                  zahlreichen staatlichen und halbstaatlichen Unternehmen, eine defizitäre Gesetzes-
                                                  lage hinsichtlich international etablierter Normen und Verfahren (etwa mit Blick auf
                                                  Standards im Bankenwesen oder Maßnahmen gegen Geldwäsche und Korruption)
                                                  sowie die fortdauernde strukturelle Diskriminierung von Frauen und – besonders
                                                  afghanischen – Migrantinnen und Migranten.

                                                    Abbildung 1: Aktuelle Ergebnisse von Meinungsumfragen im Iran (Oktober 2019)

                                                    100%

                                                     90%

                                                     80%
                                                                                                     74%
                                                                                                                                        72%

                                                     70%

                                                     60%

                                                     50%
                                                                       42%

                                                     40%

                                                     30%

                                                     20%

                                                     10%
  1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise

                                                      0%
                                                                 Unterstützung des         Unterstützung der neuen,         Konzessionen würden sich
                                                                 Atomabkommens            konfrontativen Außenpolitik         für Iran nicht lohnen

                                                                                                           Quelle: University of Maryland (Gallagher et al.)

                                                  Im Zusammenspiel mit diesen internen Faktoren kommt den US-Sanktionen eine
                                                  entscheidende Rolle zu: Sie brachten eine Kehrtwende, die das Schicksal Irans ver-
                                                  mutlich auf längere Sicht prägen wird. Ökonomisch setzten die Sanktionen den Jahren

                                                                                                                                                               15
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       des Aufschwungs, die mit dem Abschluss des Atomabkommens einhergingen, ein
       jähes Ende. Politisch wurde der iranische Versuch einer auf Verständigung zielen-
       den Außenpolitik zum Scheitern verurteilt. Die moderateren Kräfte der Islamischen
       Republik gerieten hierdurch ins Hintertreffen, vermutlich auf Jahre.2 Gesellschaft-
       lich brachten die Sanktionen nicht nur, wie oben skizziert, eine Verschärfung der
       sozio-ökonomischen Lage. Sie führten auch dazu, dass die iranische Bevölkerung in
       diplomatischen Arrangements zunehmend weniger Nutzen sieht. Parallel hierzu fin-
       den die Positionen der Radikalen vermehrt Anklang. So sprach sich 2019, erstmals
       überhaupt, eine Mehrheit der Iranerinnen und Iraner gegen das Atomabkommen
       aus. Sieben von zehn Iranerinnen und Iranern sind mittlerweile der Überzeugung, die
       Erfahrungen rund um das Atomabkommen hätten gezeigt, Konzessionen würden sich
       für das Land nicht lohnen. Ebenfalls sieben von zehn ziehen wirtschaftliche Autarkie
       einem verstärkten internationalen Handel vor. Dreiviertel der Bevölkerung unterstüt-
       zen derweil die neue konfrontativere Außenpolitik des Landes, die Teheran seit Mai
       2019 forciert (siehe Abbildung 1).3
           Vor diesem Hintergrund folgt eine Einordnung der US-Sanktionspolitik sowie der
       europäischen Reaktion auf sie, bevor die Auswirkungen der Sanktionen auf die irani-
       sche Wirtschaft analysiert werden.

       1.1 Sanktionen und Washingtons Politik des «maximalen Drucks»
       Am 8. Mai 2018 verkündete US-Präsident Donald Trump den einseitigen Rückzug sei-
       nes Landes aus der Wiener Nuklearvereinbarung von 2015, dem Joint Comprehensive
       Plan of Action (JCPOA). Der Ausstieg markierte den Auftakt einer Politik des «maxi-
       malen Drucks» gegen Iran, deren erster Schritt die sukzessive Wiedereinführung aller
       unilateralen US-Nuklearsanktionen war.4 Es folgten zahlreiche weitere Sanktionen,
       die sich schließlich sogar gegen den iranischen Außenminister Mohammed Dscha-

                                                                                                           Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
       wad Sarif richteten, dem Washington die Unterstützung von Terrorismus vorwirft.
           Aktuell haben die Vereinigten Staaten nahezu alle Sektoren der iranischen Wirt-
       schaft mit Sanktionen belegt. Die Trump-Administration versucht nicht nur, Iran
       Deviseneinnahmen zu verwehren, die Teheran primär über den Export von Erdöl
       generiert hat. Sie versucht auch – wesentlich stärker als die Obama-Administration
       vor dem Atomabkommen – die inländische Wirtschaft auszubremsen.
           Erweitert wurden hierzu die Sanktionen der Vorgängerregierungen, die sich
       bereits gegen die Automobilindustrie, die Edelsteinindustrie, die Energieindustrie,
       den Finanzsektor, die Seefahrt und den Schiffbau sowie den (internationalen) Han-
       del mit der iranischen Währung Rial richteten. So sind nunmehr das Baugewerbe,
       der Bergbau, die IT-Industrie, die Metallindustrie, die Mineralindustrie, die Textil-
       industrie sowie die verarbeitende Industrie Irans ebenfalls sanktioniert. Untersagt

       2    Vgl. Zamirirad 2019.
       3    Vgl. Gallagher et al. 2019.
       4    Neben Nuklearsanktionen wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte, vom JCPOA unberührt, auf-
            grund von Menschenrechtsverletzungen und Anti-Terrormaßnahmen verschiedene multi- und
            unilaterale Sanktionen gegen Iran verhängt.

       16
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                                                  sind auch Logistik- und Versicherungs-Dienstleistungen in diesen Bereichen. Unab-
                                                  hängig vom JCPOA – weniger auf die Wirtschaft als auf Irans militärische Fähigkei-
                                                  ten zielend – sind weiterhin verschiedene Sanktionen im Rahmen eines unilateralen
                                                  US-Waffen­embargos in Kraft. Jenseits branchenspezifischer Designationen belegten
                                                  die Vereinigten Staaten darüber hinaus zahlreiche iranische Entitäten auf Grundlage
                                                  von Menschrechtsverletzungen und Terrorismus mit Sanktionen, darunter auch der
                                                  Revolutionsführer des Landes, Ali Chamenei. Im April 2019 bezeichnete die US-Re-
                                                  gierung ferner die Iranische Revolutionsgarde als Terrororganisation, womit erstmals
                                                  überhaupt Teile von Streitkräften einer völkerrechtlich anerkannten Nation so einge-
                                                  stuft wurden.5
                                                      Landwirtschaft und Pharmaindustrie sind die einzigen Sektoren, die nominell
                                                  vom US-Sanktionsregime ausgenommen sind.6 Auf diese Weise soll die humani-
                                                  täre Versorgung Irans ermöglicht werden. Gleichzeitig besteht hier kein belastbarer
                                                  Rechtsrahmen, weswegen de facto auch diese Sektoren durch das US-Sanktionsre-
                                                  gime beeinträchtigt werden (siehe unten). Leitende US-Beamte drohen öffentlich mit
                                                  einem «wirtschaftlichen Kollaps»7, was unweigerlich Konsequenzen für die humani-
                                                  täre Versorgungslage im Iran hätte.
                                                      Die meisten US-Sanktionen sind sogenannte Sekundärsanktionen, die sich pri-
                                                  mär an Bürger und Organisationen aus Drittstaaten richten. Auf diese Weise ver-
                                                  sucht Washington, die iranischen Außenwirtschaftsbeziehungen in ihrer Gesamtheit
                                                  zu beeinträchtigen. Der US-amerikanische Handel mit Iran ist ohnehin marginal,
                                                  da US-Bürger/innen und Organisationen Handel mit und Investitionen in der Isla-
                                                  mischen Republik weitgehend verboten sind. Die Durchsetzung der Sekundärsank-
                                                  tionen forcieren die Vereinigten Staaten über die Androhung harter Strafen. In der
                                                  Vergangenheit wurden Banken bereits zu erheblichen Strafzahlungen verurteilt, teils
                                                  in Höhe mehrerer Milliarden US-Dollar.8
                                                      Unternehmen sehen sich daher häufig gezwungen, sich entweder für den
                                                  US-amerikanischen oder den iranischen Markt zu entscheiden. Doch auch Unter-
                                                  nehmen ohne Geschäft in den Vereinigten Staaten sind oftmals für US-Sanktionen
                                                  anfällig, da sie von Banken und Versicherungen abhängig sind, für die wiederum der
                                                  Zugang zum US-Finanzsystem essentiell ist.
                                                      Über die Ziele der US-Regierung mit Blick auf die umfassenden Sanktionen gegen
                                                  Iran herrscht bemerkenswerterweise Ungewissheit. US-Außenminister Mike Pompeo
                                                  präsentierte noch im Mai 2018 einen Katalog mit zwölf Forderungen an die Adresse
                                                  Teherans. Zum Gegenstand hatten diese unter anderem, jeweils bedingungslos, die
  1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise

                                                  vollständige Aufgabe jeglicher Uran-Anreicherung, die Schließung des Schwerwas-
                                                  serreaktors in Arak, uneingeschränkte internationale Inspektionen im gesamten Land
                                                  (also auch in sämtlichen nicht für das Atomprogramm genutzten Militäranlagen)

                                                  5   Vgl. Katzman 2020.
                                                  6   Auf individueller Basis sind auch Personen und Organisationen dieser Sektoren mit Sanktionen
                                                      belegt, etwa aufgrund von Verbindungen zu den Revolutionsgarden.
                                                  7   Vgl. US Department of State, 5. Juni 2020.
                                                  8   Vgl. Katzman 2020, S. 30.

                                                                                                                                               17
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       sowie die Einstellung des ballistischen Raketenprogramms. Iran solle sich insgesamt
       wie eine «normale Nation» verhalten.9
           Viel spricht dafür, dass diese Forderungen lediglich ein Vorwand waren, um den
       JCPOA-Rückzug und die Politik des maximalen Drucks nach außen zu rechtfertigen.
       Denn eine Erfüllung der Punkte durch Iran käme der Aufgabe staatlicher Souveränität
       in zahlreichen sensiblen Bereichen gleich (etwa Inspektionen militärischer Anlagen
       oder die Einstellung des Raketenprogramms).
           Die abschließenden Ziele der Vereinigten Staaten sind daher unklar, nicht zuletzt
       aufgrund widersprüchlicher Signale aus der Trump-Regierung. Im Zusammenhang
       mit den weitreichenden Forderungen seines Ministeriums für die Einstellung der
       «Maximum Pressure»-Politik werden Außenminister Pompeo Ambitionen mit Blick
       auf einen Regimewechsel in Teheran nachgesagt.10 Offen zur Schau gestellt hat diese
       stets John Bolton, der im September 2019 entlassene, in der Iran-Politik bis dahin aber
       sehr einflussreiche Nationale Sicherheitsberater. «The declared policy of the United
       States should be the overthrow of the mullahs› regime in Tehran», betonte Bolton
       im Juli 2017, acht Monate bevor er Trumps Sicherheitsberater wurde. Diese Worte
       sprach Bolton bezeichnenderweise auf einer Tagung der Volksmudschahedin, einer
       militanten exil-oppositionellen Gruppe mit sektenartigem Charakter, die bis 2012 von
       den Vereinigten Staaten als Terrororganisation gelistet war. Seit März 2019 führt das
       US-Außenministerium die Volksmudschahedin nunmehr jedoch als «sinnvolle Alter-
       native» zur Islamischen Republik.11
           Donald Trump hingegen erklärte öffentlich, sein Land strebe keinen Regime-
       wechsel an.12 Vielmehr scheint der US-Präsident primär auf die Verhinderung einer
       iranischen Atombombe aus zu sein.13 Mit Teheran möchte er hierzu einen – in der
       Sache nicht näher umrissenen – «Deal», am liebsten noch vor den US-Präsident-
       schaftswahlen im November.14 Tatsächlich gaben hohe US-Regierungsvertreter in
       jüngerer Vergangenheit vermehrt an, Iran mittels maximalen Drucks lediglich zu Ver-

                                                                                                             Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
       handlungen bewegen zu wollen, zu denen die Trump-Regierung jedoch «ohne Vor-
       bedingungen» bereit sei.15
           Für weitere Konfusion in der Iran-Politik der Trump-Administration sorgt die
       hohe Fluktuation des leitenden Personals. Innerhalb einer Amtszeit gehörtem dem
       Kabinett zwei Außenminister, drei Verteidigungsminister und vier Nationale Sicher-
       heitsberater an.16
           Während die strategischen Ziele der US-Politik unklar bleiben, wurde in den ver-
       gangenen Monaten ein wichtiges Etappenziel deutlich. Mit allen Mitteln versucht die

       9    Vgl. US Department of State, 21. Mai 2018.
       10   Vgl. Washington Post, 30. Juli 2019.
       11   Engl.: «viable alternative». Vgl. Slavin 2019b.
       12   Vgl. Washington Post, 27. Mai 2019.
       13   In der Sache wirft dies die Frage auf, warum Präsident Trump die Vereinigten Staaten aus dem
            JCPOA, der genau diesem Aspekt Rechnung trägt, zurückgezogen hat und er das Abkommen als
            «schlechtesten Deal aller Zeiten» bezeichnet.
       14   Vgl. Twitter, 5. Juni 2020.
       15   Vgl. New York Times, 2. Juni 2019.
       16   Vgl. Slavin 2019a.

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                                                  Trump-Administration, einer potenziellen Nachfolger-Regierung die Rückkehr zum
                                                  JCPOA so schwer wie möglich zu machen. Errichtet werden solle eine «Mauer aus
                                                  Sanktionen».17 Sie besteht aus einer Vielzahl möglichst komplexer Sanktionen, ver-
                                                  hängt aufgrund von zahlreichen unterschiedlichen Anlässen wie Terrorunterstützung,
                                                  Raketenprogramm, Verletzungen von Menschenrechten oder Korruption. Auf diese
                                                  Weise soll eine Rückabwicklung des Sanktionsregimes maximal erschwert werden.
                                                      Die Trump-Administration ist bereit, hierzu auf internationaler Bühne auf
                                                  Konfrontationskurs zu gehen. So streben die Vereinigten Staaten danach, das
                                                  UN-Waffenembargo gegen Iran unbegrenzt zu verlängern, das gemäß des Sicher-
                                                  heitsratsbeschlusses zum JCPOA im Oktober regulär auslaufen soll. Außenminister
                                                  Pompeo drohte unverhohlen mit dem Einsatz der US-amerikanischen Vetomacht, um
                                                  die Wiedereinführung sämtlicher bis 2015 geltenden und international verpflichten-
                                                  den UN-Nuklearsanktionen gegen Iran zu erzwingen.18 Dieser sogenannte «Snap-
                                                  back» würde nicht nur das faktische Ende des JCPOA bedeuten, sondern auch die
                                                  Autorität des UN-Sicherheitsrats stark untergraben – vermutlich mit weitreichenden
                                                  Konsequenzen für multilaterale diplomatische Arrangements weit über den Fall Irans
                                                  hinaus.
                                                      Zwei Zwischenziele können festgehalten werden: Einerseits streben die Vereinig-
                                                  ten Staaten die größtmögliche Schwächung Irans an, zunächst ökonomisch, schließ-
                                                  lich auch gesellschaftlich und politisch. Andererseits soll eine Rückkehr zum JCPOA
                                                  verhindert und so einer Nachfolger-Regierung diplomatische Arrangements mit Iran
                                                  weitgehend unmöglich gemacht werden. Diese Etappenziele definieren die Heraus-
                                                  forderungen für die europäische Iran-Politik hinsichtlich der US-Sanktionen.

                                                  1.2 Europa und die US-Sanktionen: zögerliche Opposition
                                                  Die europäische Reaktion auf den Rückzug der USA vom JCPOA fiel deutlich aus: Die
                                                  EU und ihre Mitgliedsstaaten blieben der «vollständigen und wirksamen Umsetzung»
                                                  der Übereinkunft verpflichtet, vorausgesetzt, dass Iran das Abkommen weiterhin
                                                  umsetze. Dezidiert betonte die damalige Hohe Vertreterin für Außen- und Sicher-
                                                  heitspolitik der EU, Federica Mogherini, dass die Aufhebung der Nuklearsanktionen
                                                  ein «essentieller» Teil des Atomabkommens sei. Europa würde sich dafür verwenden,
                                                  dass Handel und Investitionen mit Iran weiterhin möglich seien.19 Dies versprachen
                                                  gleichermaßen Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die als «E3» maßgeb-
                                                  lich an den Verhandlungen zum JCPOA mitwirkten.20
  1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise

                                                       Zunächst forderten die Europäer öffentlichkeitswirksam von der Trump-Admi-
                                                  nistration eine Befreiung von den US-Sanktionen für europäische Unternehmen, die
                                                  den europäisch-iranischen Handel weiterhin ermöglichen sollte.21 Diesem Ansin-
                                                  nen erteilten die Vereinigten Staaten, wie zuvor den Appellen, sich nicht vom JCPOA

                                                  17   So ein einflussreicher Lobbyist. Vgl. Wall Street Journal, 2. April 2019.
                                                  18   Vgl. Radio Farda, 29. April 2020.
                                                  19   Vgl. Council of the EU, 8. Mai 2018.
                                                  20   Vgl. UK Prime Minister's Office, 8. Mai 2018.
                                                  21   Vgl. BMWi, 4. Juni 2018.

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       zurückzuziehen, eine klare Absage. Abschließend untermauert wurde hierdurch das
       Zerwürfnis im transatlantischen Verhältnis mit Blick auf die Iran-Politik.
           Indem es vitale, mit dem JCPOA verbundene europäische Sicherheitsinteressen
       missachtete, brüskierte Washington Europa, das bis zuletzt um eine einvernehmliche
       Lösung bemüht war. Für die Europäer markierte dies den Auftakt, nach Alternativen
       ohne die Vereinigten Staaten zu suchen.
           Im August 2018 reaktivierte die EU ihre sogenannte Blocking-Verordnung, die
       im Kern europäischen Unternehmen verbietet, die sekundären US-Nuklearsanktio-
       nen gegen Iran zu befolgen. Die Blocking-Verordnung ist ein bedeutendes politisches
       Symbol, da es auf juristischem Weg Europas Ablehnung der US-Sanktionen zum Aus-
       druck bringt und sie im Rechtsbereich der EU für ungültig erklärt. Für die europä-
       ischen Geschäfte mit Iran hat die Verordnung jedoch kaum praktische Bedeutung.
       Unternehmen können weitgehend problemlos andere Gründe als die US-Sanktio-
       nen angeben, um den Rückzug aus dem iranischen Markt zu rechtfertigen. Selbst bei
       einer Abwägung potenzieller Strafen wiegen die US-Sanktionen gegenüber der Blo-
       cking-Verordnung schwerer. Denn die Strafzahlungen, die von US-Gerichten verhängt
       werden, übersteigen die für Verletzungen der Blocking-Verordnung festgelegte Ober-
       grenze von EUR 500.000 um ein Vielfaches. Eine schlichte Kostenrechnung dürfte die
       meisten Unternehmen dazu bewegen, im Zweifelsfall die US-Sanktionen zu befolgen.
           Spätestens im Herbst 2018 wurde in der Praxis deutlich, dass die Blocking-Verord-
       nung kein effektives Mittel zur Aufrechterhaltung des europäisch-iranischen Handels
       bietet. Im großen Stil begannen europäische Unternehmen, sich aus Iran zurückzu-
       ziehen. Die E3 brachten daher eine neue Maßnahme auf den Weg, das Instrument in
       Support of Trade Exchanges (INSTEX, siehe Infobox 1).

            Infobox 1: Instrument in Support of Trade Exchanges (INSTEX)

                                                                                                        Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
            Im Januar 2019 registrierten Deutschland, Frankreich und das Vereinigte
            König­reich in Paris das sogenannte Instrument in Support of Trade Exchanges,
            bekannt unter dem Akronym INSTEX. INSTEX will Abhilfe schaffen bei einer
            der Achillesversen des Außenhandels, der Abhängigkeit vom US-Finanzsystem
            beim internationalen Zahlungsverkehr. Diese gilt als entscheidender Faktor
            dafür, dass Unternehmen, die weiterhin gewillt sind, im Iran aktiv zu sein, häufig
            keine Banken für die Abwicklung von Zahlungen finden. INSTEX strebt einen
            europäisch-iranischen Ringhandel an und möchte dabei als Clearing-House
            agieren. Europäische und iranische Importeure können Verbindlichkeiten
            jeweils bei Exporteuren im eigenen Wirtschaftsraum ausgleichen. Auf diese
            Weise sollen Zahlungen zwischen Europa und Iran auf ein Minimum reduziert
            werden. Dezidiert strebt INSTEX dabei nicht die Etablierung eines Kanals für
            Zahlungen mit Iran an. Auf unbestimmte Zeit soll sich INSTEX auf den Handel

       20
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                                                       mit humanitären Gütern wie Medikamente oder Lebensmittel beschränken.22
                                                       Die Inbetriebnahme von INSTEX dauerte über ein Jahr. Erst im März 2020 wurde
                                                       eine erste Transaktion durchgeführt, zuvor traten Ende 2019 sechs weitere
                                                       EU-Staaten INSTEX als Gesellschafter bei.23 Dieser Pilot-Überweisung für die
                                                       Lieferung medizinischer Güter nach Iran folgten bislang keine weiteren. INSTEX
                                                       hat somit noch keinen regulären Geschäftsbetrieb aufgenommen.24

                                                  Auf operativer Ebene sieht sich INSTEX weiterhin mit einer Reihe von Herausforde-
                                                  rungen konfrontiert. In erster Linie25 stellt dabei der europäischer Handelsüberschuss
                                                  bei humanitären Gütern ein Problem dar. Um effektiv zu funktionieren, benötigt INS-
                                                  TEX eine relativ ausgeglichene Handelsbilanz, schließlich möchte das Instrument
                                                  Verbindlichkeiten jeweils im eigenen Wirtschaftsraum ausgleichen. Hierzu müssten
                                                  sich die Volumina der Verbindlichkeiten auf ähnlichem Niveau bewegen. In den ver-
                                                  gangenen Jahren hatten jedoch Produkte aus Europa konstant einen Anteil von über
                                                  75 Prozent am europäisch-iranischen Handel mit landwirtschaftlichen und pharma-
                                                  zeutischen Gütern (also mithin am von INSTEX derzeit nominell abgedeckten huma-
                                                  nitären Handel).26 Durch die Beschränkung auf humanitäre Güter fehlt dem System
                                                  daher die Liquidität, um dessen volles Potenzial abzurufen.
                                                      Die Entwicklungen rund um INSTEX offenbaren schließlich ein Dilemma der
                                                  europäischen Iran-Politik. Während Europa zwecks Rettung des JCPOA genuin am
                                                  Fortbestand des europäisch-iranischen Handels interessiert ist, wollen die EU und
                                                  ihre Mitgliedsstaaten hierüber keinen handelspolitischen Konflikt mit den Vereinigten
                                                  Staaten riskieren. In seiner aktuellen Form stellt INSTEX daher einen Mittelweg dar.
                                                  Er zielt auf die Etablierung eines alternativen Instruments für die Abwicklung interna-
                                                  tionalen Zahlungsverkehrs im Grundsatz. Dessen Einsatz bleibt vorerst allerdings auf
                                                  den vom US-Sanktionsregime nominell ausgenommenen Bereich des humanitären
                                                  Handels beschränkt.
                                                      Auf diese Weise soll eine neue wirtschaftspolitische Dynamik mit Iran initiiert
                                                  werden, ohne dass hierdurch US-Strafmaßnahmen gegen europäische Wirtschaftsin-
                                                  teressen provoziert werden. Bis auf Weiteres dient INSTEX daher dezidiert nicht der
                                                  Umgehung der US-Sanktionen.
                                                      In seiner aktuellen Form vermag INSTEX dem Einbruch des europäisch-irani-
                                                  schen Handels und dem weitreichenden Rückzug europäischer Unternehmen aus
  1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise

                                                  dem Land nicht nennenswert etwas entgegenzusetzen. Zwar bietet das Instrument

                                                  22    Ebd.
                                                  23    Belgien, Dänemark, Finnland, die Niederlande, Norwegen und Schweden.
                                                  24    Ein INSTEX-ähnliches Instrument der Schweiz, das Swiss Humanitarian Trade Arrangement
                                                        (SHTA), führte bislang ebenfalls nur eine Pilot-Transaktion durch.
                                                  25    Weitere Hürden sind u.a. der Umgang mit dem mehrstufigen Wechselkurssystem Irans (bislang
                                                        ist noch nicht bekannt, wie ein transparenter Mechanismus aussehen könnte) sowie der Schutz
                                                        europäischer Banken, die INSTEX-Zahlungen abwickeln.
                                                  26    Vgl. European Commission 2020.

                                                                                                                                                21
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       einen Ansatzpunkt für die Abwicklung von Zahlungsverkehr ohne Rückgriff auf das
       US-Finanzsystem. Es kann weiterentwickelt und auf diese Weise tatsächlich zu mehr
       strategischer Autonomie Europas beitragen, auch über den Fall Iran hinaus. In der
       Praxis bietet es hingegen noch keine belastbare Alternative für den europäisch-irani-
       schen Handel.
           Infolgedessen fehlen bis heute ein verlässlicher Rechtsrahmen und geeignete Ins-
       trumente zur Ermöglichung von – aus europäischer Perspektive – legalen Wirtschafts-
       beziehungen mit Iran, inklusive des von den US-Sanktionen offiziell ausgenommenen
       humanitären Handels.
           Diese Umstände führten im Iran zu einem Strategiewechsel. Im Mai 2019, nach
       einem Jahr des Ausharrens in der Hoffnung auf Milderung der wirtschaftlichen Folgen
       des US-Sanktionsregimes durch Europa, änderte Teheran sein Vorgehen. Seither zielt
       Iran darauf, den Preis für die US-Politik des maximalen Drucks in die Höhe zu treiben.
       Hierzu forcierte die Islamische Republik die Spannungen rund um den Persischen
       Golf und begann, schrittweise die vom JCPOA auferlegten Grenzen zu missachten
       (siehe Infobox 2).27

            Infobox 2: Irans neue konfrontative Außenpolitik

            Seit Mai 2019 verfolgt Iran eine konfrontative außenpolitische Strategie, die im
            Wesentlichen auf den folgenden Elementen fußt. Durch sie möchte Teheran sich
            demonstrativ von den US-Sanktionen unbeeindruckt zeigen, die Kosten für die
            US-Sanktionspolitik in die Höhe treiben (sowohl für die Vereinigten Staaten als
            auch deren regionale Verbündete), die eigenen Fähigkeiten zur asymmetrischen
            Kriegsführung deutlich machen sowie Verhandlungsmasse für künftige Ver-
            handlungen mit Washington aufbauen.

                                                                                                      Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
            Schrittweise Verletzungen des JCPOAs
                Juli 2019: Überschreitung der 300 Kilogramm-Grenze für schwach angerei-
                chertes Uran
                Juli 2019: Überschreitung der 3,67 Prozent-Grenze für die Anreicherung von
                Uran durch Anreicherung auf 4,5 Prozent
                September 2019: Aufkündigung der Anerkennung sämtlicher Beschränkun-
                gen für Nuklearforschung und -entwicklung sowie in den folgenden Wochen
                vermehrt Einsatz von fortschrittlicheren, vom Abkommen nicht erlaubter
                Zentrifugen für die Urananreicherung
                November 2019: Wiederaufnahme der Uran-Anreicherung in der unterirdi-
                schen Militäranlage in Fordo
                Januar 2020: Aufkündigung der Anerkennung sämtlicher Beschränkungen
                für die Urananreicherung und den Einsatz von Zentrifugen

       27    Vgl. Jalilvand 2020.

       22
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                                                    Forcierung von Spannungen am Persischen Golf
                                                    Iran wird u.a. für die folgenden Vorfälle verantwortlich gemacht:
                                                        Mai 2019: Angriffe auf Öl-Tanker im Golf von Oman, nahe Straße von
                                                        Hormus
                                                        Mai 2019: Houthi-Drohnenangriffe auf Flughäfen in Saudi-Arabien
                                                        Juni 2019: Angriffe auf Öl-Tanker (erneut) im Golf von Oman, nahe Straße
                                                        von Hormus
                                                        Juni 2019: Houthi-Raketenangriff auf ein Umspannwerk in Saudi-Arabien
                                                        Juni 2019: Abschuss einer US-Drohne (RQ-4 Global Hawk)
                                                        Juni 2019: Houthi-Drohnenangriff auf Flughafen im südlichen Saudi-Arabien
                                                        Juli 2019: Bedrängung eines britischen Tankers im Persischen Golf durch
                                                        Kampfboote (nach britischer Beschlagnahme eines iranischen Öl-Tankers
                                                        bei Gibraltar)
                                                        Juli: Beschlagnahme eines britischen Öl-Tankers im Persischen Golf
                                                        September: Houthi-Drohnenangriff auf «Abqaiq»-Raffinerie «Churais»-Öl-
                                                        feld in Saudi-Arabien
                                                        Seit Oktober: mehr als ein Dutzend Angriffe auf US-Truppen im Irak durch
                                                        mit Iran verbündete Milizen

                                                  Die europäische Politik stellt dieser Strategiewechsel vor große Herausforderungen.
                                                  Irans nukleare Aktivitäten jenseits der JCPOA-Grenzen haben überwunden geglaubte
                                                  Sorgen über die nukleare Nichtverbreitung wieder akut gemacht. Konkret nehmen
                                                  die Bedenken über die iranische Breakout-Zeit zu, jenem Zeitraum zwischen einer
                                                  Entscheidung für den Bau einer Atombombe und dem Ansammeln von genügend
                                                  spaltbaren Material hierfür. Die E3 lösten aus Sorge um Irans nukleare Aktivitäten im
                                                  Januar 2020 den formellen Streitschlichtungsmechanismus des JCPOA aus, bislang
                                                  jedoch ohne Fortschritte in der Sache. Parallel dazu nehmen die ohnehin schon gro-
                                                  ßen geopolitischen Spannungen rund um den Persischen Golf weiter zu. Damit steigt
                                                  das Risiko für Fehlkalkulationen und eine Eskalation.
                                                      Irans konfrontative Politik erschwert die europäischen Bemühungen zur Rettung
                                                  des JCPOAs erheblich. Denn in dem Maße, in dem Teherans Nuklearaktivitäten die
                                                  iranische Breakout-Zeit verringern, versagt das JCPOA, Europas mit dem Abkommen
                                                  verknüpfte Sicherheitsinteressen zu garantieren. Auf diese Weise verliert das JCPOA
  1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise

                                                  an Bedeutung. Zwar könnte ein Ausweg in der Formel «Mehr europäischer Handel im
                                                  Gegenzug für eine vollständige iranische JCPOA-Umsetzung» liegen. Die politischen
                                                  Rahmenbedingungen für eine solche Lösung hingegen haben sich allerdings deutlich
                                                  verschlechtert.
                                                      Während sowohl Teheran als auch Washington an ihren jeweils konfrontativen
                                                  Ansätzen festhalten, fehlt es Europa an Einflussmöglichkeiten, um die Eskalations-
                                                  spirale zu durchbrechen. Weder im Iran noch in den Vereinigten Staaten finden euro-
                                                  päische Belange Gehör, und so wirkt Europa mit seinen Appellen für diplomatische

                                                                                                                                     23
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       Lösungen zunehmend hilflos.28 Ungebremst wirken währenddessen die US-Sanktio-
       nen auf die iranische Wirtschaft.

       1.3 Irans Wirtschaft: zwischen Rezession und Resilienz
       Sanktionen haben Iran enormen ökonomischen Schaden zugefügt. Der Erholung
       nach Abschluss des JCPOA – Irans Wirtschaft war zwischenzeitlich die am schnellsten
       wachsende der MENA-Region – wurde ein jähes Ende gesetzt, Iran in eine schwere,
       mehrjährige Rezession gestürzt. Die wirtschaftlichen Folgen stellen sich jedoch kom-
       plexer und widersprüchlicher dar, als es der Blick auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP)
       zunächst vermuten lassen könnte. Selbst unter dem US-Sanktionsregime bleibt die
       iranische Wirtschaft aufgrund vergleichsweise fortgeschrittener Diversifizierung und
       Industrialisierung im Kern resilient. Vor Ausbruch des Coronavirus schien das Land
       bereits den Tiefpunkt der Rezession erreicht zu haben, bevor die Pandemie einen
       erneuten Konjunkturrückgang bewirkte.
           In der iranischen Wirtschaftspolitik führten die Sanktionen zu einer Renaissance
       der «Widerstandswirtschaft», dem Schlagwort aus den frühen Jahren des vergange-
       nen Jahrzehnts. Irans Oberster Führer Ali Chamenei führte es 2010 in Reaktion auf die
       damaligen EU- und US-Sanktionen ein. Nominell war «Widerstandswirtschaft» fortan
       das Leitmotiv der iranischen Wirtschaftspolitik, wurde jedoch durch die Entwicklun-
       gen rund um den Abschluss des JCPOA de facto in den Hintergrund gedrängt.
           Obwohl alle politischen Lager auf den Begriff der Widerstandswirtschaft rekur-
       rieren, steht dieser bis heute nicht für ein umfassendes Politikkonzept. Chamenei
       selbst definierte 2014 eine Liste an Maßnahmen, die den Kern der Widerstandswirt-
       schaft ausmachen sollten.29 Diese lassen jedoch Raum für Interpretationen, und in
       der Praxis versuchen die unterschiedlichen Faktionen, den Begriff jeweils im Sinne
       ihrer politischen Vorhaben zu interpretieren. Nicht nur die radikal-konservativen

                                                                                                   Doppelter Druck auf Iran  Die US-Sanktionen in den Zeiten der Corona-Pandemie
       Kräfte begründen ihre Forderung nach weitgehender wirtschaftlicher Autarkie auf
       diese Weise. Auch Präsident Rohani stellte seinen Versuch der (Re-)Integration Irans
       in die Weltwirtschaft unter das Banner der Widerstandswirtschaft. Rufe, Importe zu
       reduzieren, mehr oder minder im Sinne einer importsubstituierenden Industriali-
       sierung, werden ebenso mit der Widerstandswirtschaft begründet wie Forderungen
       nach Kooperationen zur Förderung von Technologietransfers.
           Trotz Unterschiede bei der politischen Interpretation können die groben Kon-
       turen der Widerstandswirtschaft benannt werden. Sie fußt im Wesentlichen auf drei
       Säulen:

            Der Verringerung internationaler Vulnerabilitäten: Aufgrund jahrzehntelanger
            Erfahrungen mit unterschiedlichen Sanktionsregimen soll die Anfälligkeit im
            Außenhandel so weit wie möglich reduziert werden. Für den Wirtschaftskreislauf
            essentielle Fähigkeiten sollen im Land selbst vorbehalten werden.

       28   Vgl. Adebahr/Jalilvand 2020.
       29   Vgl. ISNA, 19. Februar 2014.

       24
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                                                       Der Stärkung inländischer Kapazitäten: Der vor der Revolution 1979 begonnene
                                                       Prozess der Diversifizierung und Industrialisierung soll fortgeführt und ausgewei-
                                                       tet werden. Auf diese Weise soll einerseits die Abhängigkeit von den Einnahmen
                                                       aus Erdölexporten weiter verringert werden, die ein vergleichsweise leichtes Ziel
                                                       für Sanktionen darstellen. Andererseits sollen die Wertschöpfung im Inland und
                                                       die Schaffung von Arbeitsplätzen vorangetrieben werden.
                                                       Der Förderung von Wirtschaftswachstum durch Exporte: Die Wertschöpfung im
                                                       Inland soll über die Konsumbedarfe der iranischen Bevölkerung hinaus ausge-
                                                       weitet werden. Neben der Mehrung von Wohlstand sollen über den Export harte
                                                       Devisen zur Finanzierung der weiterhin benötigten Importe generiert werden.

                                                  Auf dieser Grundlage, im Zusammenspiel mit den mehr als ein halbes Jahrhundert
                                                  zurückgehenden Bemühungen um wirtschaftliche Diversifizierung, zeigt sich die
                                                  iranische Wirtschaft heute vergleichsweise breit aufgestellt und resilient. Dass sie
                                                  aufgrund zahlreicher hausgemachter Probleme30 weit hinter ihren Möglichkeiten
                                                  zurückbleibt, ist hiervon unberührt.

                                                  Rezession

                                                  In der Gesamtschau ist der Schaden, den Washingtons Sanktionen für die iranische
                                                  Wirtschaft brachten, erheblich. Zwei Jahre des Wachstums wurden abgelöst durch eine
                                                  längere Phase der Rezession. Irans BIP ging 2018 um 5,4 und 2019 gar um 7,6 Prozent
                                                  zurück. Die Rezession ist länger und fällt insgesamt größer aus als unter den Sanktio-
                                                  nen der Obama-Administration vor Abschluss des JCPOA (siehe Abbildung 2).
                                                       Die meisten internationalen Firmen zogen sich vom iranischen Markt zurück, und
                                                  der iranische Außenhandel erlebte einen deutlichen Einbruch. Mit 10,7 Mrd. US-Dol-
                                                  lar fiel Irans Außenhandel im 4. Quartal 2019 über Zweidrittel kleiner aus als im glei-
                                                  chen Zeitraum 2017. Damals betrug er noch 32,6 Mrd. US-Dollar (siehe Abbildung 3).
                                                  Bezeichnenderweise betrifft dies nicht nur den europäisch-iranischen Handel, der
                                                  zwischen 2017 und 2019 von 21 auf 5 Mrd. Euro pro Jahr sank (siehe Abbildung 4).
                                                  Auch der Handel mit China, Indien und der Türkei ging 2019 erheblich zurück, die
                                                  Wirtschaftsbeziehungen mit Russland sind ohnehin nur schwach ausgeprägt (siehe
                                                  Abbildung 5). Konterkariert wird damit die vermehrt von iranischen Politikern ver-
                                                  breitete These einer wirtschaftlichen und politischen «Alternative im Osten».31 Viel-
                                                  mehr verursachten die Sanktionen in ihrer Gesamtheit einen Rückgang der iranischen
  1 Iran vor der Pandemie: Sanktionen und Krise

                                                  Außenwirtschaftsbeziehungen. Auch Staaten wie China und Indien offenbaren eine
                                                  große Sensibilität gegenüber potenziellen Strafmaßnahmen der Vereinigten Staaten.
                                                  Für Iran kommt erschwerend hinzu, dass bei seinem mit Abstand größten Exportgut,
                                                  Erdöl, in jüngerer Vergangenheit ein starkes Überangebot existierte. Dies ermöglichte
                                                  den Abnehmern Teherans, vergleichsweise leicht Substitute für iranisches Erdöl zu
                                                  finden.

                                                  30   Siehe oben im Text.
                                                  31   Vgl. zur Debatte hierzu Zamirirad 2020.

                                                                                                                                          25
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