NATURGEFAHRENREPORT 2017 - DIE SCHADEN-CHRONIK DER DEUTSCHEN VERSICHERER IN ZAHLEN, STIMMEN UND EREIGNISSEN - GDV
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Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Naturgefahrenreport 2017 Die Schaden-Chronik der deutschen Versicherer in Zahlen, Stimmen und Ereignissen
NATURGEFAHRENREPORT 2017 Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Editorial 2 „Wir müssen den Menschen das Risiko bewusst machen.“ Ein Gespräch mit GDV-Präsident Dr. Wolfgang Weiler 3 Schäden durch Naturgefahren auf einen Blick Kapitel eins: Die Katastrophe – vom Umgang mit dem Unvorhersehbaren 6 Wimpernschlag für die Natur, Katastrophe für die Menschen 13 Die Gefahr aus dem Untergrund. Über Erdrutsch, Erdsenkung und Erdbeben 16 Freiräume für die Gefahr. Strategien aus Simbach und Braunsbach 20 Die Katastrophe fürs Korn. Naturgefahren in der Landwirtschaft 22 „Wir rechnen mit Jahrhundert-Hochwassern.“ Risikogerechter Versicherungsschutz und Katastrophen 24 Kontinuität im Katastrophenfall. Das Business Continuity Management Kapitel zwei: Unaufhörlich Regen. Die Schadenbilanz 2016 der Sachversicherung 28 Schlamm und Schneepflüge im Frühsommer. Der Jahresrückblick 2016 30 Zwei zerstörerische Starkregen. Die Schadenbilanz 2016 32 Mehr Wasser, mehr Landschaft in der Stadt. Eine Topografie der Klimaanpassung 35 Der schöne Schutz organischer Architektur Kapitel drei: Verheerender Hagel, zerstörerischer Starkregen. Die Schadenbilanz 2016 an Kfz 40 Fünf verheerende Unwettertage Kapitel vier: Klimaschützer, Klimastrategen 44 „In den Senken besteht größere Gefahr.“ Das Starkregen-Forschungsprojekt des GDV 46 Rundumschutz für Erneuerbare Energien 48 Naturgefahren erkennen und handeln 49 Kompass Naturgefahren – Risiken per Mausklick erkennen Anhang: Publikationen/Links
EINLEITUNG 1 Editorial In unserer Mediengesellschaft erleben wir die Wie sehen etwa die Folgen von Starkregenereig- großen und kleinen Katastrophen der Welt in ei- nissen aus – konkret im niederbayerischen Sim- ner endlosen Abfolge aus Tagesereignissen. Neu- bach, das im letzten Jahr von einer wahren Sintflut este Nachrichten von ungeheuren Schäden, die heimgesucht wurde? Was können wir tun, um den durch Wasser oder Dürre, Stürme oder Beben in Menschen eine Rückkehr in ihr Leben zu erleich- der Welt angerichtet wurden, sind nur einen Klick tern? Und welche Lehren sollten wir aus den Erfah- entfernt. Auch Deutschland ist regelmäßig be- rungen der letzten Jahre ziehen? Auf diese Fragen troffen – sei es durch Sturzfluten, Tornados oder können auch wir in unserem Naturgefahrenreport Erdrutsche –, oft mit katastrophalen Folgen für keine abschließenden Antworten geben. Aus unse- die Menschen. rer Sicht aber haben wir alle wichtigen Hinweise und Erkenntnisse für Sie zusammengefasst. Doch so schnell wir die Nachrichten aufrufen, so schnell vergessen und verdrängen wir sie auch. Einen Schwerpunkt möchten wir dabei schon hier Und die Öffentlichkeit wendet ihre Aufmerksam- herausgreifen: die Notwendigkeit der Prävention keit wieder anderen Dingen zu. sowie des nachhaltigen Planens und Handelns. Denn extreme Wetterereignisse werden zuneh- Für die Betroffenen sind solche Ereignisse da- men. Damit die Schäden nicht in gleichem Aus- gegen weit mehr als eine flüchtige Schlagzeile. maß ansteigen, müssen wir jetzt die richtigen Sondern sie sind, ganz im ursprünglichen Sinne Weichen stellen. Für mehr Schutz der Bevölkerung, des Wortes Katastrophe, oft ein Wendepunkt in für eine bessere Schadenprävention, für mehr ihrem Leben. Haus, Wohnung oder Eigentum sind Aufklärung und verständlichere Information über beschädigt oder zerstört. Die Arbeit von Jahren Gefährdungslagen. und Jahrzehnten wurde zunichtegemacht. Das Leben ist auf den Kopf gestellt. Für diese Men- Denn wir Versicherer sind eben nicht nur Exper- schen endet die Katastrophe nicht, wenn die ten in der Absicherung von Risiken. Sondern wir Naturgewalten vorübergezogen sind. Sondern es verfügen auch über viel Wissen und Erfahrung, beginnt damit erst eine lange, anstrengende Zeit wenn es darum geht, Gefahren zu erkennen und des Wiederaufbaus. Mit unserem diesjährigen ihnen vorzubeugen. Diese Kompetenz wollen wir Naturgefahrenreport wollen wir Versicherer da- in die gesellschaftliche Debatte einbringen und her die Aufmerksamkeit auf die Menschen rich- konkrete Projekte vorantreiben. Um auch in einer ten und berichten, wie Katastrophen ihr Leben Zeit wachsender Gefahren mehr Sicherheit zu verändert haben. schaffen. Dr. Wolfgang Weiler Dr. Jörg von Fürstenwerth Präsident Vorsitzender der Geschäftsführung
2 INTERVIEW „Wir müssen den Menschen das Risiko bewusst machen.“ Naturgewalten können jeden treffen. Katastrophen wie in Simbach und Braunsbach machen das erschreckend deutlich. Wie die Anpassung an den fortschreitenden Klimawandel gelingen kann, erklärt GDV-Präsident Dr. Wolfgang Weiler. Herr Dr. Weiler, in diesem Sommer hatte man das Wir können uns also an den Klimawandel anpassen? Gefühl, dass eine Katastrophe die nächste jagte – Nicht unbegrenzt. Daher stand das Ziel einer Be- Starkregen in Deutschland, Hurrikane in den USA, grenzung der Erderwärmung auf zwei Grad im Mit- Waldbrände und Dürre in Südeuropa –, ist das jetzt telpunkt des Klimagipfels von Paris. Aber wenn der schon der Klimawandel? Klimawandel ungebremst weitergeht, lassen sich die Für einzelne Wetterereignisse lässt sich das nie ge- Folgen kaum mehr kompensieren. Dann wird es im- nau sagen. Aber wir sehen natürlich, dass extreme mer schwerer, erforderliche Anpassungsmaßnahmen Wetterlagen sich häufen. Und durchzuführen und zu bezahlen. das wird mit einem fortschrei- tenden Klimawandel noch zu- Und was kann jeder für sich tun, um sich besser zu nehmen. schützen? Jeder sollte mit kritischem Blick sein Haus bzw. seine Gibt es Regionen in Deutsch Wohnlage betrachten. Hanglagen, Senken oder Öl- land, die besonders gefährdet tanks im Keller, die bei einer Überschwemmung auf- sind? schwimmen und platzen, sind klassische Schadentrei- Jede Region in Deutschland ist ber. Hier kann man Gefahren entschärfen. Und für das durch Naturgewalten gefähr- unvermeidliche Restrisiko gibt es Versicherungsschutz. det. Natürlich ist die Gefahr Aktuell sind vier von zehn Gebäuden gegen Natur eines klassischen Hochwassers gefahren versichert. Das ist noch zu wenig. Zumal die regional begrenzt. Sturm, Ha- Politik angekündigt hat, dass es künftig nur noch in Dr. Wolfgang Weiler gel, Schneedruck oder Stark Ausnahmefällen staatliche Nothilfen geben soll. regen können dagegen jeden treffen. Starkregenereignisse etwa hatten wir in Aber gibt es überhaupt für jeden Versicherungs den letzten Jahren vielerorts. Auf Simbach am schutz? Inn in Niederbayern sind beispielsweise in sieben Im Jahr 2002 glaubten wir noch, dass gut zehn Pro- Stunden fünf Milliarden Liter Regen gefallen, das zent der Fläche nicht gegen Naturgefahren wie Hoch- entspricht der Menge, die in einer halben Stunde wasser versicherbar seien. Inzwischen können wir für die Niagarafälle hinunterrauscht. So etwas kann 99 von 100 Gebäuden Versicherungsschutz anbieten. sich überall in Deutschland wiederholen. Die bessere Datenlage und verstärkte Prävention sind dabei die entscheidenden Faktoren. Leider denken Kann man sich darauf vorbereiten? viele Menschen immer noch irrtümlich, ihr Haus sei Das müssen wir sogar! Denn so wie wir heute rundum gegen alle Naturgefahren versichert. Dabei Häuser und Städte bauen, laufen wir sehenden ist in vielen alten Wohngebäudeversicherungen nur Auges in den Schaden hinein. Böden werden wei- Sturm und Hagel abgesichert. Wieder andere unter- ter versiegelt und Überschwemmungsflächen be- schätzen das Risiko. baut. Eingänge und Lichtschächte auf Bodenhöhe lassen schon kleinste Mengen Wasser ungehin- Und wie wollen Sie dieses Problem lösen? dert in Häuser fließen. Hier müssen wir dringend Wichtig ist es vor allem, den Menschen das Risiko umsteuern. Hier ist auch die Politik gefordert: Es bewusst zu machen. Die Ministerpräsidenten haben ist vollkommen unverständlich, dass (hoch-)was- darum im Juni 2017 beschlossen, eine bundesweite sersicheres Bauen 15 Jahre nach den verheeren- Informationskampagne und ein bundesweites Natur- den Elbe-Fluten noch immer kein Bestandteil der gefahrenportal aufzubauen. Das sollte zügig ange- Bauvorschriften ist. gangen werden.
3 Schäden durch Naturgefahren auf einen Blick Schadenaufwand 2016: über 2,5 Milliarden Euro in der Sach- und Kfz-Versicherung Sachversicherung Kfz-Versicherung Wohngebäude, Hausrat, Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft Voll- und Teilkasko 1,9 1.000 Mio. € 900 Mio. € 575 Mio. € 40 Mio. € 615 Mrd. € Mio. € 540.000 110.000 265.000 8.000 Sturm- und Elementar- Sturm- und Überschwemmungs- Hagelschäden schäden Hagelschäden schäden Sachversicherung*: Jährlicher Schadenaufwand für Sturm, Hagel und Elementarereignisse** in Milliarden Euro*** 8,7 8 7,0 7 6,2 6 5,3 5,3 4,9 5 4 3 1,9 2 1 0 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Wert für 2016 vorläufig *) Wohngebäude, Hausrat, Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft **) Schäden durch Überschwemmung/Starkregen, Hochwasser, Erdbeben, Erdsenkung, Schneedruck, Lawinen/Erdrutsch und Vulkane ***) Sturm-/Hagel-, seit 1999 auch Elementarschäden; hochgerechnet auf Bestand und Niveau 2016 Quelle: GDV
5 Die Katastrophe – vom Umgang mit dem Unvorhersehbaren Katastrophe. Ein Begriff für Unfassbares; für Ereignisse, die all unsere Erwartungen schlimmstens übertreffen. Auch Naturkata strophen durch Hochwasser, Starkregen, Sturm oder Hagelschläge. Was macht Naturkatastrophen aus, welche Erscheinungen haben sie im Detail und welche Auswirkungen auf den urbanen Raum, Natur, Menschen? Wie organisiert sich Katastrophenmanagement? Und wie kann das Leben nach einer Katastrophe weitergehen? Facetten des Unvorhersehbaren, Strukturen seiner Bewältigung und die Frage, wie alltäglich Katastrophen werden können.
6 KAPITEL EINS: STARKREGEN V O M W E S E N D E R K A TA S T R O P H E Wimpernschlag für die Natur, Katastrophe für die Menschen Naturgewalt trifft verletzliche Städte, Landschaften und Menschen. Immer wieder, allerorten. Naturkatastrophen teilen die Zeit der Menschen in ein Davor und ein Danach. Ausnahmezustand. Vom Wesen der Katastrophe. Einblicke in das Katastrophenmanagement in Deutschland. „Für die Natur ist das nur ein Wimpernschlag. Für Orkan Kyrill ist die verheerendste Sturmkata uns ist es eine Katastrophe.“ Diethard Altrogge, strophe, die der Gesamtverband der Deutschen der Leiter des nordrhein-westfälischen Forstamtes Versicherungswirtschaft in seinen Statistiken Siegen, meint den Orkan Kyrill. Zehn Jahre danach verzeichnet. Zerstört, erschüttert, weggefegt und sind in den Wäldern des Sauerlandes Spuren des umgeknickt wird deutlich mehr als der Wald. verheerenden Orkans vom Januar 2007 noch 13 Menschen sterben in diesen Januartagen, Tau- sichtbar. Auf Tausenden Hektar mühen sich junge sende Hausdächer, Gebäude und Gebäudeteile Bäumchen, wieder zum Wald heranzuwachsen. werden von Windgeschwindigkeiten bis 200 Kilo- Es fehlt eine ganze Generation Bäume, 25 Millio- meter pro Stunde einfach weggeblasen. Ein volks- nen allein in Nordrhein-Westfalen, einem der am wirtschaftlicher Schaden von vier Milliarden Euro stärksten betroffenen Bundesländer des Orkans. entsteht, davon 2,1 Milliarden Euro versicherte Sie brechen nicht nur in ganzen Schneisen im Schäden an Hausrat, Gebäuden, im Gewerbe und Wald weg, sie stürzen zu Tausenden auf Straßen, in der Landwirtschaft. Fahrzeuge, Gebäude.
7 K ATA S T R O P H E Eine Katastrophe ist laut Bundesamt für Bevölkerungs- schutz und Katastrophenhilfe eine Situation, in der eine Vielzahl an Menschen oder natürliche Lebensgrundlagen oder Sachwerte in außergewöhnlichem Ausmaß gefähr- det sind. Es bedarf einer einheitlichen Führung aller Ka- tastrophenschutzkräfte, um diese Gefahr zu unterbinden oder abzuwehren. „Wir beobachten seit einigen Jahren verschie- gewissermaßen die Schaltzentrale für den überre- dene Trends bei Katastrophen. Zum einen ereig- gionalen Katastrophenschutz in Deutschland. nen sich immer mehr multiple, also miteinander verkettete Katastrophen. Beispielsweise löst ein Seebeben eine Flutwelle aus, die wiederum in ein Ein gestaffeltes System: der Katastrophenschutz kerntechnisches Ereignis mündet, wie beim Re- aktorunfall in Fukushima. Zum anderen werden Katastrophenschutz ist laut Grundgesetz Aufgabe die Schäden immer höher, weil Menschen auch der Bundesländer. Ein gestaffeltes System, das in- in entlegenen Gebieten immer aufwendiger einandergreift – von der obersten Katastrophen- bauen und teurere Infrastruktur bereitstellen.“ schutzbehörde in den Innenministerien der Län- der bis zu den unteren Behörden in Landkreisen Frank Roselieb, Geschäftsführender Direktor des Krisennavigator – Institut für Krisenforschung „Unsere Experten beobachten die Lage rund um die Katastrophe. Ein zutiefst subjektives Erleben. Uhr. Wir tragen für Deutschland länderübergreifend Wer definiert verbindlich, was eine Katastrophe Informationen zusammen und werten sie aus. Das ist? „Wenn eine Vielzahl an Menschen oder na- sind beispielsweise Wetternachrichten oder Hochwas türliche Lebensgrundlagen oder Sachwerte in sermeldungen. Wir bewerten die Relevanz, analysieren außergewöhnlichem Ausmaß gefährdet sind“, die Risiken und erstellen daraus einmal täglich Lage sagt Christoph Schmidt-Taube vom Bundesamt berichte für die zuständigen Bundesbehörden und die für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Länder. Im Katastrophenfall erstellen wir mehrmals „wenn es dann einer einheitlichen Führung aller täglich Lagemeldungen.“ Katastrophenschutzkräfte bedarf, um diese Ge- fahr zu unterbinden oder abzuwehren, dann spre- Christoph Schmidt-Taube, Lagezentrum im Bundesamt für Bevölke- chen wir von Katastrophe.“ Das Lagezentrum des rungsschutz und Katastrophenhilfe Bundesamtes, dem Schmidt-Taube vorsteht, ist
8 KAPITEL EINS: DIE KATASTROPHE und kreisfreien Städten. Der gibt es 470.000 Einsatzkräfte, davon arbeiten „Die Rolle der Versi Bund unterstützt, wenn die 450.000 ehrenamtlich. Der Bund unterstützt im cherungswirtschaft Katastrophe überregionales Notfall mit Personal des Technischen Hilfswerkes im Katastrophenfall Ausmaß annimmt, wenn und der Bundeswehr. ist zunächst einmal mehrere Bundesländer die schnelle Regulie gleichzeitig betroffen sind. „Im Katastrophenfall vertrauen wir auf immer Seit 2004, als Folge des ver- ausgeklügeltere Technologien, auf immer bes- rung der Schäden für heerenden August-Hoch- sere Vorwarnsysteme. Doch was hilft mir die ihre Kunden. Wichtig wassers 2002, das vier Bun- Warngruppe bei Facebook, wenn der Strom sind dann auch Rück desländer überschwemmt, ausfällt? Sollten wir nicht besser redundante, schlüsse: Wie ordnen existiert das Bundesamt für bewährte Techniken weiter vorhalten – wie die wir das Ereignis klima Bevölkerungsschutz und handbetriebene Sirene auf dem Rathausdach?“ tologisch ein? Welcher Katastrophenhilfe. Das ist Schutz ist notwendig? eine Lehre der Flut: Es be- Frank Roselieb Wie kann man zukünf darf eines überregionalen tig Schäden vermeiden Lagemanagements, damit oder mindern?“ Informationen schnell und Wie viel Katastrophe ist menschengemacht? verlässlich fließen können. Oliver Hauner, Leiter Sach- und Technische Versicherung, Damit der Einsatz von Hilfs- An der Elbe stehen sie 2002 alle nebeneinander. Schadenverhütung und kräften, Fahrzeugen und Soldaten, Ehrenamtler des Technischen Hilfswer- Statistik beim GDV Material bundesweit koor- kes, Feuerwehrleute, freiwillige Helfer. Sie stapeln diniert werden kann. in einem der größten Einsätze der Bundes geschichte 40 Millionen Sandsäcke. Sie versuchen, „Katastrophen und Katastrophenschutz sind die Altstadt von Dresden mit dem einzigartigen immer auch ein gesellschaftliches Abwägen. Zwinger, versuchen das historische Pirna und Des- Welches Risiko wollen wir eingehen? Und wer sau zu retten. Vergeblich. Der Dresdner Zwinger bestimmt das? Ich kann bei Sturmwarnung aus versinkt in der neun Meter hohen Flutwelle, Pirna Sicherheitsgründen den gesamten öffentlichen wird komplett überschwemmt. Es folgen Döbeln, Personenverkehr einstellen. Oder ich kann Züge Dessau, Grimma. Eines der schwersten Hochwas- fahren lassen, weil mir die Beförderung der Pas- ser der Geschichte. 14 Menschen sterben, 81.000 sagiere das Risiko wert ist.“ müssen aus den komplett gefluteten Gebieten und Städten evakuiert werden. Die Elbe und an- Prof. Martin Voss, Leiter der Katastrophen dere Flüsse hinterlassen Schäden bisher unge- forschungsstelle der Freien Universität Berlin kannten Ausmaßes in diesem August. Allein 1,8 Milliarden Euro versicherte Sachschäden. Der Katastrophenfall. Beherrscht eine Kommune ein Naturereignis nicht aus eigener Kraft, rufen „In der Katastrophe zeigt sich, was vorher Landrat oder Bürgermeisterin den Katastrophen- schiefgelaufen ist. Wo vorher Konflikte zwischen fall aus. Die Gefahrenabwehr organisiert sich von den Menschen schwelten, brechen sie nun auf. oben nach unten. Krisenstäbe auf Landes- und Wo vorher Solidarität und Vertrauen waren, ist kommunaler Ebene übernehmen die Führung. Sie ein Fundament für einen schnellen Erholungs- koordinieren den Einsatz von Katastrophenschüt- prozess gelegt.“ zern und Hilfsmitteln. Sie geben Informationen raus. Die Menschen müssen über Rundfunk, Inter- Prof. Martin Voss net und lokale Durchsagen von der bedrohlichen Lage erfahren. Vor Ort übernehmen Einsatzleitun- In den Wochen, da das Wasser abfließt, beginnen gen. Helfer retten Menschen, schützen lebens- die Fragen. Ist Deutschland für solche Katastro- wichtige Einrichtungen und kritische Infrastruktu- phen gewappnet? War der Einsatz der über 40.000 ren. Jedes Bundesland verfügt über verschiedene Helfenden gut koordiniert? Und mehr noch: Wie Einsatzkräfte wie Feuerwehr, Johanniter-Unfall- viel dieser Katastrophe ist menschengemacht? Hilfe, Arbeiter-Samariter-Bund. Allein in Bayern Weil immer mehr Mauern, wachsende Städte,
9 Sachversicherung: Die zehn verheerendsten Naturkatastrophen in Deutschland (Sturm- und Hagelereignisse 1997 – 2016; Elementarereignisse 2002 – 2016) Ereignis- Name Datum Natur Zahl der Schadenaufwand Sachversicherung jahr gefahr Schäden in Mio. Euro 2007 Kyrill 18.01. – 19.01. 2.060.000 2.060 2002 August-Hochwasser 31.07. – 02.09. 107.000 1.800 2013 Juni-Hochwasser 25.05. – 15.06. 120.000 1.650 2013 Andreas 27.07. – 28.07. 245.000 1.600 1999 Lothar 25.12. – 26.12. 550.000 800 20162 Elvira, Friederike, Gisela 27.05. – 09.06. – 800 2002 Jeanett 27.10. – 28.10. 995.000 760 20151 Niklas 30.03. – 01.04. 590.000 590 2010 Xynthia 28.02. 580.000 510 2014 Ela 09.06. 270.000 450 1) vorläufig 2) vorläufig aus Sonderumfragen Sturm Hochwasser Hagel Starkregen
10 KAPITEL EINS: DIE KATASTROPHE neues Ackerland den Flüssen ihren natürlichen überschwemmen Städte und Landschaften, Dei- Raum nehmen. Die Gründung des Bundesamtes che brechen. Bewährungsprobe auch für das für Bevölkerungsschutz erfolgt kurz darauf. Länger Bundesamt für Bevölkerungsschutz. Schmidt- dauert die Einsicht, dass Flüsse ihren natürlichen Taube: „Wir hatten 2013 erstmals sehr frühzeitig Raum brauchen, sollen sie nicht Städte überfluten. ein deutschlandweites Bild des Geschehens. So Dass ein Hochwasserschutz auch länderübergrei- wusste zum Beispiel die Bundeswehr rechtzeitig, fend abgestimmt werden muss. 2007 schafft die sie könnte gebraucht werden. Als dann in einigen EU-Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie erst- Bundesländern die Sandsäcke ausgingen, konnten mals verbindliche Standards für die Berechnung wir sehr schnell Nachschub organisieren.“ und Veröffentlichung von Hochwassergefahren- karten. „Der Katastrophenschutz in Deutschland ist sehr gut aufgestellt. Wir haben mit dem Bundesamt Ausgelöst durch die Ereignisse des Juni-Hoch- für Bevölkerungsschutz eine länderübergrei- wassers 2013 beschließt die Bundesregierung fende Koordinierungsstelle. Es gibt unzählige ein Nationales Hochwasserschutzprogramm, ehrenamtliche Helfer, Fachleute verschiedener 2017 ergänzt durch das Hochwas- Disziplinen werden in die Prävention einbezo- serschutzgesetz II. Neben dem gen. Das ist weltweit einmalig. Was ich vermisse, koordinierten Bau von Deichen ist der nachhaltige Schutzgedanke in der Politik. beschließt sie dabei auch neue na- Politiker denken oft in Legislaturperioden. Einen türliche Überflutungsgebiete, das Deich zu bauen dauert länger.“ Verbot neuer Baugebiete und ein Verbot von Ölheizungen in riskan- Frank Roselieb ten Gebieten. Über 40.000 Einsatzkräfte bun- Regulierung nach der Katastrophe desweit 2002; 120.000 sind es bei der Juni-Flut 2013 im ganzen Warnmeldungen, Informationen – im Katastro- Land. Katastrophenfall in acht phenfall sind sie überlebenswichtig. Der Deut- Frank Roselieb Bundesländern. Flüsse und Bäche sche Wetterdienst streut seine Warnmeldungen
11 Krisenmanagement der Das Krisenmanagement deutschen Versicherer der Versicherer verläuft nach einem festgelegten INKRAFTTRETEN KUMULPLAN Plan, dem Kumulplan. Er tritt bei verheerenden Na- turereignissen in Kraft und sichert den betroffenen Erreichbarkeit Kunden schnelle Hilfe. Die Lagebild auf allen Ka verschiedenen Maßnah- Versicherer beob- verschaffen men greifen ineinander. nälen sichern achten Wetter- entwicklungen Personal vor Ort verstärken präsent sein Zahlungsab- Netzwerk an läufe schnell Handwerkern und effizient und Dienstleis- Schadenbeseiti- Eintritt einer gewährleisten tern aktivieren gung bis zum Naturkatastrophe Ende begleiten bundesweit, über alle Kanäle. Die Katastrophen- Seit dem Orkan Kyrill 2007 aktualisieren die Versi- schutzbehörden senden detaillierte Informationen cherungsunternehmen ihre Kumulpläne fortlau- zum Stand der Dinge – notfalls mit Lautsprecher- fend. Sie vernetzen sich: Personal aus den nicht be- wagen oder -booten. Die Versicherungsunterneh- troffenen Regionen wird zu den Kollegen in die men informieren ihre Kunden per Warn-Apps, Katastrophengebiete geschickt. Es muss schnell schalten in der Katastrophe zusätzliche Telefone gehen, der Schaden soll so gering wie möglich blei- und Internetseiten für Schadenmeldungen frei. ben und so schnell wie möglich behoben werden. Zum bundesweiten Netzwerk gehören auch Hand- Die Schadengutachter der Versicherungen kom- werker, auf die die Kunden zurückgreifen können. men als Zweite – nach den Katastrophenschüt- Ein unschätzbarer Wert in Katastrophenzeiten, da zern, deren Job die akute Gefahr ist. Der Job der Handwerker knapp sind. Weil die Natur mit einem Versicherer ist das Wiederherstellen. Eigentlich. Wimpernschlag Unvorhersehbares geschaffen hat. Wenn das Wasser abgelaufen ist, die Straßen nach dem Sturm von Bäumen geräumt sind. Erst dann „Bei Katastrophen kollabiert es außen und in- werden die Schäden vollends sichtbar und können nen. Die äußere Zerstörung ist nach einigen Jah- aufgenommen werden. Doch manchmal sind die ren wieder beseitigt. Die Häuser Schadengutachter bereits mit den Katastrophen- sind aufgebaut, die Fassaden schützern vor Ort. Dann legen sie mit Hand an. Sie sind wieder glatt. Doch hinter schaufeln Schlamm aus den kaputten Häusern, den Fassaden, hinter den Fens- organisieren Lebensmittel für alle. tern liegen Trauma, Wut, Trauer und Depression. Die Sorge um Ähnlich den Einsatzplänen der Katastrophenschutz- diese inneren Schäden der Men- behörden haben auch die Versicherer sogenannte schen gehört zum Katastro- Kumulpläne für den Katastrophenfall. Sie bündeln phenschutz eigentlich dazu.“ Personal – im Backoffice und vor Ort. Sie verschlan- ken Vorgänge. Sie schaffen ihre eigene Logistik vor Prof. Martin Voss Ort – im Schlamm, in den Trümmern des Sturms. Sie gehen immer wieder persönlich zu den Men- schen, nehmen Schäden auf, lösen Zahlungen aus. Prof. Martin Voss
ERDRUTSCH, ERDSEN KU NG, ERDBEBEN Die Gefahr aus dem Untergrund Im Untergrund Deutschlands lauern unsichtbare Gefahren, kaum erkennbar, schwer vorhersagbar. Tonnenschwere herabstürzende Felsen oder Hunderte Kubikmeter rutschendes Geröll begraben Menschen, Straßen oder Ortschaften unter sich. Gefahren aus der Erde drohen in vielen Regionen. „Wasser“, sagt Geologe Dr. Johannes Feuerbach. „Was- Felsstürze, sagt Feuerbach, kommen am häu- ser ist das auslösende Element.“ Es sickert in Boden figsten vor. Tendenz steigend. Oft bereiten und Felsspalten, weicht das Gestein auf, spült es aus, Menschen den Boden dafür. Wie in der Ver- macht es porös. Stetig, lange unbemerkt. Je nach Be- gangenheit: Während der Industrialisierung schaffenheit reagiert das Gestein unterschiedlich. Der sprengen Ingenieure Felsen der Mittelgebirge Felsen kippt einfach ab. Die weiche Oberfläche gleitet weg. Sie schaffen Platz für Straßen und Schie- auf dem glitschigen Untergrund weg. Hunderte, Tau- nen – und Unsicherheit. Die natürliche Stabi- sende Kubikmeter Gestein und Erde rutschen dann lität der Gebirge gerät ins Wanken. Wasser tut ins Tal. Urplötzliche und zerstörerische Energie. das Übrige. „Ausschlaggebend für die Höhe des Risikos sind zwei Faktoren“, sagt Feuerbach, Felsstürze, Erdrutsche, Schlamm- und Schuttströme „die Beschaffenheit des Untergrundes und die und Erdsenkungen – diese Risiken verbergen sich Hangneigung.“ Je lockerer das Gestein, desto deutschlandweit im Untergrund. Johannes Feuer leichteres Spiel für die Zerstörungskraft des bach kennt die Risikozonen. Seit 30 Jahren er- Wassers. forscht er die Geologie Deutschlands, leitet eine Forschungsstelle an der Universität Mainz und das Erdrutsche sind neben Felsstürzen die zweite Gutachterbüro geo-international. Straßenämter, Gefahr aus dem Untergrund. Auch sie neh- Bahn-Unternehmen, Städte und Gemeinden suchen men zu. Lockeres Gestein wie etwa Kreide seine Expertise. oder Sand in der oberen Schicht lässt das
13 S T I C H W O R T: E R D G E FA H R E N Beim Felssturz brechen größere Teile einer Bergkuppe oder Bergwand weg. Auch stabil erscheinende Felswände können betroffen sein, wenn sie von Klüften durchzogen sind. Das Gestein kann eine Geschwindigkeit von über 100 km/h erreichen. Ein Erdrutsch ist das Abgleiten größerer Erd- und Gesteinsmassen, meist ausge- löst durch Niederschläge. Das Wasser vermindert die Haftreibung zwischen vorher gebundenen Bodenschichten. Der Hang rutscht ab. Eine Erdsenkung entsteht durch das Ein- brechen eines natürlichen Hohlraumes im Untergrund. Hauptsächliche Ursa- che: Subrosion, die Auflösung leicht lös- licher Gesteine wie Steinsalz, Gips und Wasser durchsickern. In der Tiefe trifft es auf Kalkstein durch Wasser. wasserundurchlässigen Ton, staut sich, weicht Erdbeben sind messbare Erschütterun- den Ton auf, bis dieser schmierig wie ein Gleit- gen des Erdkörpers. Sie entstehen durch mittel wird. Die lockere Oberschicht rutscht weg. Masseverschiebungen, zumeist als tek- Rheinland-Pfalz ist eines der Risikogebiete für tonische Beben infolge von Verschiebun- Erdrutsche, Baden-Württemberg ein anderes. Die gen der tektonischen Platten an Bruch- Erdrutsche bedrohen oder zerstören Ortschaften, fugen der unteren Erdschichten. die am Hang siedeln. Auch mit Wein bebaute Hänge rutschen regelmäßig weg. VERHEERENDE ERDRUTSCHE Es beginnt ganz langsam, unmerklich. Die Haus- Fälle der jüngeren Zeit. So heimtückisch, weil un- tür klemmt, dann schließen die Fenster nicht merklich. Manchmal geht es auch rasend schnell: mehr vollständig. Feine Risse zeigen sich im Fuß- In Nachterstedt in Sachsen-Anhalt bricht 2009 boden, schließlich wölben sich die Pflastersteine plötzlich der Hang in einen See. Drei Häuser reißt in der Auffahrt. Unmerklich rutscht das Haus mit er mit sich, drei Menschen sterben, 41 weitere ver- dem Hang hinab ins Tal, drei Zentimeter stünd- lieren ihre Wohnungen. lich. Die fünfköpfige Familie wird in Sicherheit Im baden-württembergischen Mössingen rasen gebracht, nur das Notwendigste darf sie auf die im Juni 2013 plötzlich 140.000 Tonnen Geröll und Schnelle mitnehmen. Sie wird nicht mehr in ihr Schlamm auf ein Wohnviertel zu. Nur wenige Haus zurückkehren, die Gemeinde Linz reißt es Meter vor den Häusern kommen die Felsen und aus Sicherheitsgründen ab. Steine zum Stehen. Doch der Hang und mit ihm Der Erdrutsch im rheinland-pfälzischen Linz An- die Häuser rutschen weiter. 30 Bewohner werden fang des Jahres 2015 ist einer der verheerenden evakuiert, die 15 Gebäude sind seitdem gesperrt.
14 KAPITEL EINS: DIE KATASTROPHE 12,7 Jährlicher Schadenaufwand für Erdgefahren an Wohngebäuden seit 2006 in Millionen Euro 4,2 4,5 4,2 4,3 Zu den Erdgefahren zählen Erd- und 3,5 Schlammrutsche, Erdbeben und 2,9 Erdsenkung. 2,1 1,8 1,6 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Die schlimmsten Schäden durch Erdgefahren: 10 Millionen Euro allein durch Erd- und Schlammrutsche im Jahr 2013. Durchschnittsschaden: 19.333 Euro. Feuerbach analysiert die unterirdischen Risiken. Sechs bis acht Meter hoch sind die Fangzäune, Er begeht zunächst das Gelände, sucht nach die zum Beispiel entlang des Rheintals stehen. sichtbaren Rissen, Sprüngen. Parallel dazu nimmt In mehreren Reihen hintereinander, falls einer eine Drohne aus der Luft Radarmessungen vor. der Stahlkolosse versagt. Viele Meter im Boden Am Computer wertet Feuerbach die Daten aus. verankert, trägt der Stahl flexible Netze ebenfalls Via 3-D-Modell erkennt er, wo sich Risse, Brüche, aus Stahl. Die sollen stürzende Felsen und Geröll- Löcher im Gestein zeigen oder wo der Boden lawinen aufhalten, denn unter ihnen liegen Bahn- nachgibt. Anschließend nimmt er das Gebiet schienen und Straßen. Solche Schutznetze stehen noch ein zweites Mal persönlich in Augenschein, im Wert von Hunderten Millionen Euro entlang überprüft die gefährlichen Stellen. Dann gibt er der Bahntrassen in Deutschland. „Extrem stabile Empfehlungen zum Schutz. Und auch, wo genau Systeme“, sagt Feuerbach, konstruiert von alpinen und wie vor dem Geröll geschützt werden muss, Fachfirmen. simuliert er am Computer. Z E R STÖ R E R I S C H E E R D S E N KU N G Die Erde stürzt in sich zusammen. Erdlöcher oder klafft ein Loch, dann folgen unmittelbar danach Erdsenkungen sind unvorhersagbar, möglich an zwei weitere. Der Katastrophenschutz muss das allen Orten Deutschlands. Wie im thüringischen gesamte Gelände – gerade für 600.000 Euro Schmalkalden 2010, mitten auf einer Straße im saniert – aus Sicherheitsgründen aufgeben. Ort klafft plötzlich ein Krater. Ein Loch so groß wie Allein in Thüringen gibt es jährlich rund 50 Erd- eine Turnhalle entsteht, ein parkendes Fahrzeug senkungen. Vielerorts besteht dort der Boden aus stürzt hinein. Menschen und Gebäude bleiben un- besonders anfälligem Kalkstein. Die Thüringer versehrt. Landesanstalt für Umwelt und Geologie gibt mit In Nordhausen, auch in Thüringen, reißt die stür- einem Merkblatt Anweisungen, was zu tun ist: zende Erde 2016 zwei Gebäude auf dem Gelände „Sofortige Absperrung bis mindestens zwei Meter einer Katastrophenschutzbehörde mit sich. Erst vom Rand, da Erdfälle nachbrechen können.“
15 Erdrutsche können unverhofft auftreten. Wasser durchweicht das Erdreich, lässt Erdmassen rutschen. Diese Schutzsysteme müssen sich künftig auch ge- Die Menschen bereiten auch heute noch den genüber einer weiteren Gefahr bewähren, die in den Boden für steigende Risiken. „Wir holzen immer vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat: mehr Wälder ab, die einen natürlichen Schutz Schlammströme. Anders als bei Erdrutschen gleitet vor Erosion bieten“, sagt Feuerbach. „Immer häu- dabei nicht die Oberfläche einer Erdschicht kom- figer siedeln wir in Gebieten, die eigentlich zu plett ab. Vielmehr reißt extremer Regen Unmengen riskant sind.“ von Erdkrumen mit sich, löst die völlig durchnässte Erde, die kein Wasser mehr aufnehmen kann. Ein Schneeballeffekt: Je mehr Schlamm rutscht, umso mehr reißt er mit sich. Feuerbach: „Das ist eine sehr schnelle, sehr extreme Zerstörungskraft.“ Die Fang- VERSICHERUNGSSCHUTZ BEI netze aus Stahl sollen die Geröll- und Erdbrocken E R D G E FA H R E N auffangen und vom Wasser trennen. Risikoschutz bei Erdrutsch, Erdsenkung und Erdbeben bietet der erweiterte Nehmen Starkregen zu, steigen auch die Erdgefah- Naturgefahrenschutz (Elementar), den ren, auch die Erdsenkungen. Bei diesen sogenann- Versicherer im Paket mit einer Gebäu- ten Erdfällen sackt durch Feuchtigkeit porös gewor- deversicherung anbieten. dene Erde einfach in neu entstandene Hohlräume ab – oft mehrere Meter tief, auch im Flachland. R I S I KO R E I C H E E R D B E B E N Erdbeben in Deutschland: Berechnungen von talgraben gilt als kritisch, die tektonische Platte Seismologen zeigen, dass mit Erderschütterungen unterhalb des Rheins zwischen Düsseldorf und der gerechnet werden kann, die ähnlich zerstörerisch Grenze zur Schweiz. Einer der jüngsten Fälle: 2014 wirken können wie die verheerenden Überflutun- bebt etwa in der Nähe von Darmstadt die Erde. gen oder gewaltigen Stürme. Vor allem der Rhein- Über 150 versicherte Häuser werden beschädigt.
D I E K A TA S T R O P H E S TA R K R E G E N Freiräume für die Gefahr Katastrophenzeit herrscht im Frühsommer 2016 in Teilen Deutschlands. Unmengen an Starkregen über- schwemmen ganze Orte, reißen Menschen in den Tod und Häuser weg. Zurück bleiben Geröll, Schlamm und Zerstörung – und ein Jahr danach eine Strategie, wie mit solchen Wassermassen umgegangen wer- den kann. Ortsbesuch in Simbach, einem der am stärksten zerstörten Orte der Katastrophe von 2016. Das Wasser fließt friedlich und klar, gefasst in statistisch nach Auskunft der bayerischen Landes- einen Brunnen, direkt vor dem Rathaus. Sinnbild regierung, nur einmal in 1.000 Jahren auftritt. einer Partnerschaft über Ländergrenzen hinweg. Simbach auf deutscher, Braunau auf österreichi- „Im Jahr 1512 kommt es nach einem Hochwas- scher Seite. Zwei Partnerstädte, getrennt durch ser zu einem Streit zwischen dem Propst von den Inn. Die feinen Wasserspiele des Brunnens Ranshofen und der Gemeinde von Kirchdorf, verbinden sie. weil durch Verlagerung des Flusses ein Teil der Ranshofener Auen weggerissen wurde.“ Es ist nicht der Inn, dessen Hochwasser sie ken- nen, der am 1. Juni 2016 über die Ufer tritt und Aus: Die Geschichte der Stadt Simbach Simbach zum Katastrophengebiet macht, tage- lang abgeschnitten von der Welt. Es ist der kleine, Damals schon. 500 Jahre vor dem Hochwasser schmale Simbach. An regenlosen Tagen schlängelt vom 1. Juni 2016, das sie in Simbach Jahrtausend- er sich in einem Betonbett durch die Stadt, unter Hochwasser nennen, wehrt sich die Natur wider Dutzend Brücken hindurch. Nach der unvorstellba- den Menscheneingriff. ren Regenmenge von fünf Millionen Kubikmetern Wasser in 13 Stunden tritt er über Rückhalte Im Frühsommer 2017 gehen die Kinder der Simba- becken und Betonmauern und steht in der Innen- cher Kindertagesstätten regelmäßig zum Simbach. stadt, 1,70 Meter hoch. Unter einer der Brücken Sie lassen Blätter und Grashalme hineingleiten stauen sich mitgespülte Baumstämme. Der Stra- und schauen zu, wie sie davontreiben. Sie finden ßendamm birst, das Wasser flutet auch den West- Kieselsteine und nehmen sie mit. Sie beobachten teil der Stadt. Eine Überschwemmung, wie sie rein die Schmetterlinge am Ufer des Baches. Sie suchen
17 und finden die andere, die friedliche und schöne trennt die Straße in zwei Ufer. Auf der einen Seite Seite des Wassers. Sie sollen sie wieder erlernen. die versicherten Gebäude. Der Neubau oder die Sanierung kurz vor dem Abschluss, Handwerker Ein rotes Sofa, gerade geliefert. Neu wie das ge- nehmen die letzten Arbeiten vor. Auf der anderen samte Haus, wie die Küche, das Bad, Bett und die Nichtversicherten. Wenn an ihnen überhaupt Schlafzimmermöbel. Ein paar Sachen zum Anzie- schon gebaut wird, dann stückweise. Schnelle hen besitzt Frau Güll noch aus den Tagen vor dem Begutachtung des Schadens, schnelles Zahlen der 1. Juni 2016. Und ein kleines Nachtschränkchen, Schadensumme, gute Handwerker, auf die schnell das sie trotz des Modergeruchs nicht hergeben will. zugreifbar ist. Von diesen Leistungen ihrer Versi- Alles andere: weg. Schlamm und Wasser fluten das cherung hat auch Frau Güll profitiert. „Ohne die Erdgeschoss. Der Öltank im Keller birst, 6.500 Liter hätte ich überhaupt nicht noch mal gebaut.“ Öl durchschwemmen mit dem Wasser die Haus- mauern. „Abriss“ empfiehlt der Gutachter der Ver- 500 Häuser in der Stadt überschwemmt und zer- sicherungskammer Bayern seiner Kundin. „Das war stört der Simbach, nur rund ein Drittel davon ist ein Schock. Ich dachte ja, dass ich nach zwei, drei versichert. 45 Häuser in der Stadt müssen abgeris- Wochen wieder einziehen kann“, sagt Frau Güll. sen werden. Dann stimmt sie dem Abriss zu. Es ist die einzige Möglichkeit. „Das wissen wir seit dem Hochwasser „Durch einen Wolkenbruch schwellen am 22. Juli in Deggendorf 2013, dass ölverseuchte Gemäuer 1823 die Bäche zu reißenden Strömen an und nicht mehr zu retten sind“, sagt Günter Selentin, beschädigen Felder, Gärten und Wohnhäuser. der Leiter der Sonderschaden Sachversicherung der Eine Frauensperson ertrinkt bei dem Versuch, Versicherungskammer Bayern. Das Öl setzt sich in Vieh aus einem Stall zu retten.“ den Mauern fest, selbst neueste Technologien krie- gen es nicht raus. Schneller fällt die Entscheidung Aus: Die Geschichte der Stadt Simbach zum Abriss und Neubau. Am 1. Juni 2016 sterben sieben Menschen, darun- Das Haus von Frau Güll steht in der Gartenstraße, ter ein Helfer bei dem Versuch, andere Menschen die es am schlimmsten erwischt hat an diesem aus den Schlammfluten zu retten. 1. Juni 2016. Rund einen Kilometer lang, Ein familienhäuser links und rechts, mit kleinen Flä- Im Frühsommer 2017 ist die Stadt halb Baustelle, chen hinter dem Haus, die mal Gärten waren. Die halb ungenutzte Kulisse. Bagger reißen noch im- Flut schlägt noch ein Jahr danach eine Schneise, mer Häuser ab und richten Straßen wieder her.
18 KAPITEL EINS: DIE KATASTROPHE An vielen Häusern der abgeklopfte Putz, bis über passt sich an, schafft Raum für das Wasser, räumt die Fenster der Erdgeschosse hinweg. Viele Häuser Barrieren aus dem Weg. Am 1. Juni 2016 müssen stehen leer, sind gesperrt. An anderen leer stehen- sie den Deich zum Inn durchstechen, damit die den Häusern klebt „Zu verkaufen“. Simbacher Fluten in den Hauptfluss abfließen können. Jetzt bekommt der Simbach seinen eige- Bürgermeister Klaus Schmid spricht von „Auf- nen Auslauf, durch die Stadt. bruchstimmung“. Nach den langen Monaten, da die Häuser trocken werden müssen, kehren die Zwischen dem Bach und dem Bürgerhaus liegt der Menschen allmählich nach Simbach zurück. Die, Stadtpark. Eine kleine hügelige Grünfläche, ein die aus ihren Notquartieren und -wohnungen zu- Jahr nach der Flut noch nicht wieder zu wirklichem rückkehren wollen. „Gespenstisch“ sei der Winter Grün gekommen. Von hier aus soll sich ein Grün- im halb leeren, halb kaputten Simbach gewesen, zug entlang des Wassers durch die ganze Stadt sagt Schmid. Nun allmählich füllt sich die Stadt ziehen. Keine Betonmauern grenzen den Simbach wieder. Im Eiscafé sitzen Kinder und ältere Leute in mehr ein und lassen ihn bei Hochwasser schneller der Nachmittagssonne. In der Sonderausstellung fließen, begrüntes Ufer gibt ihm notfalls Auslauf- „Die Jahrtausend-Flut“ im Bürgerhaus betrachtet fläche. Ein Radweg begleitet den Grünzug – die eine Seniorengruppe die Bilder vom 1. Juni 2016. Natur wird wieder erfahrbar. Der Stadtpark selbst Das Bayerische Rote Kreuz ist täglich in den Flut- dient im Notfall als Auffangbecken für das Was- gebieten unterwegs und bietet psychosoziale Be- ser. Einige der überschwemmten Gebäude direkt treuung. Aufbruchstimmung und Trauma liegen am Bachufer hat die Gemeinde bereits gekauft. Straße an Straße. Sie dürfen nicht wieder besiedelt werden. Da, wo Straßen am Bach neu gebaut werden mussten, Aufbruchstimmung. Es ist ein Aufbruch in eine hat das Wasser bereits mehr Raum bekommen – neue Stadt, die mit diesem Hochwasser lebt und weiche Hänge aus Erde und Steinen stehen dort in der alte und neue Bewohner auch bei Regen statt der steilen Mauer. Welche zusätzlichen Auf- „wieder entspannt zum Himmel schauen sollen“, fangbecken gebraucht werden, wie die Straßen als wie Bürgermeister Schmid sagt. Aufbruch in eine Abflusswege des Wassers genutzt werden können, bessere Stadt und einen besseren Schutz. Stadt-, all das ist derzeit in Planung. „Innerhalb der nächs- Grün- und Verkehrsplaner entwerfen gemeinsam ten zwei Jahre werden wir das meiste realisiert mit den Bürgern diesen besseren Schutz. Die Stadt haben“, sagt der Bürgermeister.
19 „1954. Einem Wildbach gleich wälzen sich die sammelt er kurzerhand alle Post in seiner Agentur braunen Wassermassen durch die Stadt. Von und bringt sie zu den Menschen. Ein Stück Sicher- der Bach- bis zur Inn- und Gartenstraße über- heit. Nach und nach, sagt der Versicherungsfach- schwemmt der Simbach alle Straßen und richtet mann, klingeln die Telefone nicht mehr für Scha- großen Schaden an.“ denmeldungen oder Bauarbeiten. Die Menschen rufen an, weil sie für ihre Häuser eine Elementar- Aus: Unser Simbach schadenversicherung abschließen wollen. „Ein Stück Sicherheit“ steht auf der Visitenkarte von Frau Güll feiert in ihrem neuen Haus ein Einwei- Versicherungsfachmann Bernhard Garhammer, hungsfest – Bauleiter, Versicherer, Nachbarn sind Versicherungskammer Bayern. „Langsam kommen eingeladen. Das Haus wird mit Fernwärme aus wir zur Ruhe“, sagt Garhammer im Frühsommer Geothermie beheizt, wie viele Häuser künftig in 2017. Die 200 Häuser mit Schäden sind weitest Simbach – ein Gemeinschaftsprojekt mit der ös- gehend wieder aufgebaut. In Besuchen auf den terreichischen Partnergemeinde Braunau. „Eine Baustellen und in Telefonaten erfährt Garhammer Ölheizung kommt mir nicht mehr den neuesten Stand. Garhammer ist wie seine ins Haus“, sagt Frau Güll. Kollegen der Versicherungsunternehmen Wochen nach der Flut ständig unterwegs. Als Berater, als Be- treuer, auch als Postbote: Weil seinen Kunden mit den Häusern auch die Briefkästen wegschwimmen, Nürnberg Braunsbach: Flut und Chance Braunsbach Stuttgart B AY E R N Der Ort Braunsbach beginnt nach der Starkregen-Katastrophe 2016, BADEN- Simbach wie das bayerische Simbach, wie viele zerstörte Gemeinden sein WÜRTTEMBERG Leben von vorn. „Flut und Chance“ nennt der Bürgermeister das Wie- München deraufbauprogramm. Auch das neue Braunsbach soll lebenswert sein – und verheerenden Unwettern widerstehen können. Am 29. Mai 2016 schwellen die Bäche im baden-würt- Wie das baye- tembergischen Braunsbach an. Wassermassen, die rische Simbach setzt auch Schlamm und Geröll mit sich führen, begraben den Ort Braunsbach auf Anpassung an Unwetterextreme. Das unter sich. Hunderte Häuser, unzählige Fahrzeuge und Braunsbacher Aufbauprogramm trägt den Titel „Flut die Infrastruktur sind weitestgehend zerstört. Wochen, und Chance“. In mehreren Projektgruppen schaffen Pla- Monate, Jahre des Wiederaufbaus werden folgen. Die ner, Bauleute und Bürger gemeinsam einen Ort, der sich meisten Häuser haben Versicherungsschutz. Sie sind den Naturgewalten anpasst. Orlacher Bach und Schloss- ein Jahr nach der Flut größtenteils wieder errichtet und bach, die beiden Flüsschen, die unter dem Starkregen bewohnbar. Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen anschwollen und Geröll und Schlamm in den Ort brach- brauchen länger. „Drei bis fünf Jahre“, schätzt Bürger- ten, erhalten Rückhaltebecken, die künftig Wassermas- meister Frank Harsch, braucht Braunsbach, bis es wieder sen aufnehmen können. Ihre Betonmauern werden ent- ein funktionierender, lebendiger Ort ist. fernt. Straßen an den Flüssen werden als Wasserabläufe ausgelegt und zugleich barrierefrei. Geröllfänge an den Braunsbach wird ein neues, anderes Braunsbach. Die umliegenden Hängen sollen künftig das Herabstürzen 2.500-Einwohner-Gemeinde in einer Tallage behält von Steinen und Erdreich verhindern. ihren Charakter als schmucker Fachwerkort. Und sie geht mit der Zeit und passt sich den Naturgewalten an. „Flut und Chance“ – auf dem völlig zerstörten Markt- Harsch: „Wir müssen die Natur respektieren, wie sie ist – platz des Ortes soll künftig ein Dokumentationszentrum auch wenn das bitter sein mag.“ über Naturschutz und Naturgewalten informieren.
LAN DWI RTSC HAFT Die Katastrophe fürs Korn Für Landwirte können Hitze, Hagel und Überschwemmung existenzbedrohende Katastrophen sein. Welche Auswirkungen Naturgewalten auf Getreide, Kartoffeln und Mais haben und wie sich Landwirte den Risiken anpassen können. Beregnungsrohre ragen über dem Boden. Sie be- hin zum Totalausfall sind die Folge. Dürre ist eine wässern die staubtrockenen Äcker, in denen die Katastrophe, die sich überregional ausbreitet und Kartoffeln stecken, eigentlich bereit zur Ernte. Landwirte in vielen Regionen schädigt. Auch in Doch der Boden, nach wochenlanger Hitze hart Deutschland. Feldfrüchte im Wert von 1,6 Milliar- getrocknet, gibt die Kartoffeln nicht her. Im August den Euro vernichtet allein die Dürre-Katastrophe und September 2016 herrscht auf vielen Äckern in 2003; zehn Jahre zuvor sterben Pflanzen im Wert Deutschland dieses ungewohnte Bild. Die Kartof- von 2,1 Milliarden Euro in der Trockenheit ab. Dürre feln werden künstlich be- ist eine zunehmende Gefahr. regnet, damit sie geerntet Die Zahl der Hitzetage – der werden können. „So etwas „Die zunehmenden Wetter Tage mit Temperaturen über gab es seit 25 Jahren nicht“, extreme infolge des Klima 30 Grad – wird mit dem Klima- sagt Dr. Horst Gömann, wandel zunehmen. Eine Studie wandels sind für Landwirte Fachbereichsleiter in der im Auftrag des Bundesland- die größten Risiken. Je nach Landwirtschaftskammer wirtschaftsministeriums, die Zeitpunkt und Pflanzenkul Nordrhein-Westfalen. Der Experte Gömann leitete, sagt Ertrag des Jahres liegt rund tur kann es bis zu Totalaus ein Mehr an Hitzetagen vor al- fünf Prozent unter dem fällen kommen.“ lem für den Süden und Osten Bundesdurchschnitt. Viele Dr. Horst Gömann, Fachbereichs Deutschlands voraus. Kartoffeln sind nur als leiter Landbau der Landwirtschafts- kammer Nordrhein-Westfalen Viehfutter geeignet. Im Sommer 2016, nur wenige Wochen vor der Trockenheit, Auch wenn die Trockenheit vernichten Starkregen und im Spätsommer 2016 vergleichsweise glimpflich Überschwemmung vor allem Pflanzen kurz vor abläuft – Dürre ist die verheerendste Gefahr für der Ernte – das Sommergetreide, den Mais, auch Landwirte. Pflanzen können in solchen Hitzeperi- den kostbaren Spargel. Stehen Äcker und Felder oden keine Nährstoffe mehr aufnehmen. Sie hören unter Wasser, dann ersticken die Pflanzen, weil sie auf zu wachsen, vertrocknen. Ernteschäden bis in Schlamm und Wasser keinen Sauerstoff mehr
D I E L A N D W I R T S C H A F T- L I C H E M E H R G E FA H R E N - 21 VERSICHERUNG Die Landwirtschaftliche Mehrge- fahrenversicherung ist ein um- fassender Risikoschutz vor den Landwirtschaftliche Hagelversicherung: Schadenaufwand 1980 – 2016 Folgen von Hagel, Starkregen, in Millionen Euro Sturm und Überschwemmung. In 200 vielen Ländern der Welt erhalten Landwirte staatliche Zuschüsse für eine solche Versicherung. Um 150 deutsche Landwirte vor einem in- ternationalen Wettbewerbsnach- 100 teil zu schützen, fordern Experten der Branche und Versicherungs- 50 unternehmen eine staatliche För- derung auch in Deutschland. 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 Derzeit sind in Deutschland acht Millionen Hektar landwirtschaftlicher Kulturen im Wert von 20 Milliarden Euro gegen Hagel versichert. Das sind etwa 72 Prozent der Ackerfläche – Tendenz steigend. aufnehmen. Ist das Wasser abgeflossen, bleibt ver- „Zur Absicherung vor großen Katastrophen wird dorbenes Grün zurück, das aufwendig entsorgt wer- eine Versicherung immer notwendiger“, sagt den muss. Modernder Abfall statt Dr. Hans Feyen, Mitglied des Ernte – auch von Überschwem- Expertennetzwerks Land- mungen droht deutschen Land- „Für einen umfassenden wirtschaft des GDV. Bisher wirten zunehmend Gefahr. sind deutsche Landwirte vor und bezahlbaren Versiche allem vor Hagelschäden ge- rungsschutz benötigen „An den allmählichen Tempe- schützt, einen umfassenden die Landwirte finanzielle raturanstieg können sich Land- Risikoschutz auch vor ande- wirte anpassen“, sagt Gömann Förderung durch den ren Naturgewalten besitzen mit Blick auf den Klimawandel. Staat. Diese Förderung ist die wenigsten. Feyen: „In Sie pflanzen zum Beispiel wider- in zahlreichen Ländern der Regel macht ein Land- standsfähige Sorten, schützen üblich, in Deutschland wirt jährlich rund 200 bis mit Ganzjahresbepflanzung bisher nicht.“ 300 Euro Gewinn pro Hektar. den Boden vor Erosion und mit Dr. Hans Feyen, Expertennetz- Damit ist eine Mehrgefah- Mischkulturen die Bodenqualität. werk Landwirtschaft des GDV, renversicherung aus eigener Swiss Re Kraft schwer finanzierbar.“ Verheerende Gefahr für Ernte Das Problem haben andere und Existenz droht durch die zu- Länder für ihre Landwirte nehmenden Wetterextreme: Neben Dürre und Über- längst gelöst. In Spanien und Italien beispielsweise schwemmung auch durch Hagel und durch Fröste, wird der Versicherungsschutz zu 60 Prozent staat- die viele Pflanzen mitten in der Blüte treffen. Die lich gefördert, in den USA zu rund 50 Prozent. Um Studie „Landwirtschaftliche Mehrgefahrenversiche- Wettbewerbsnachteile für deutsche Landwirte zu rung für Deutschland“ des GDV beobachtet in den vermeiden, plädieren in Deutschland die Landwirte vergangenen 25 Jahren eine Zunahme der Schäden. selbst sowie Experten der Branche für eine staatli- Durchschnittlich liegt der Schaden in der Landwirt- che Förderung. schaft bei rund 500 Millionen Euro jährlich.
22 KAPITEL EINS: DIE KATASTROPHE VERSICHERUNGSSCHUTZ „Wir rechnen mit Jahrhundert-Hochwassern.“ Risikogerechter Versicherungsschutz basiert auf präzisen Kalkulationen der Versicherungsunter nehmen. Wie berechnet sich der Schutz, welchen Einfluss haben verheerende Naturereignisse? Die Experten Dr. Gerald Sussmann, Versicherungskammer Bayern, und Dr. Matthias Land, Gothaer Versicherung, geben Einblicke in die Zahlenwelt hinter der Versicherungspolice. Herr Dr. Sussmann, Herr Dr. Land, Selbstverständlich verfügt jeder Versicherer auch wie berechnen Sie den Versiche über eigene Schadenerfahrungen. Mit diesen rungsschutz für Wohngebäude passen Versicherer die Zahlen des Verbandes ih- vor Naturgefahren? rem Portfolio an. Schließlich möchte jedes Unter- Dr. Sussmann: Dafür berechnen nehmen den Kunden eine attraktive Prämie bie- wir zunächst den sogenannten ten – und da sollte man die Besonderheiten der Erwartungswert eines Schadens, unterschiedlichen Regionen Deutschlands mitbe- einen Mittelwert. Dafür müssen rücksichtigen. wir folgende Fragen beantworten: Mit welchen Schadenhöhen ist Katastrophen wie das August-Hochwasser 2002 zu rechnen? Und wie oft treten oder das Juni-Hochwasser 2013 verursachten meh Dr. Gerald Sussmann diese ein? Das ist abhängig von rere Milliarden Euro versicherter Schäden. Wie kal der Naturgefahr – ob Sturm oder kulieren Sie solche Katastrophen? Überschwemmung – und von Dr. Sussmann: Dafür gibt es den Faktor der Ex Lage und Art des betreffenden tremwert-Berechnung, zum Beispiel: Mit wie viel Gebäudes. Ist es ein Hochhaus, Schäden müssen wir bei einem sogenannten Jahr- ein Einfamilienhaus, liegt es am hundert-Hochwasser rechnen? Gemeinsam mit Fluss oder am Hang? Für jedes Ge- dem Erwartungswert eines Schadens und der Ri- bäude in Deutschland lässt sich so sikozone bildet dieser die Grundlage für den risiko- die Wahrscheinlichkeit für Über- gerechten Versicherungsschutz. Die Wahrschein- schwemmung und Hochwasser lichkeitsberechnungen für den Extremwert-Faktor berechnen. sind so stabil, dass einzelne Katastrophen sie kaum verändern. Das ist auch notwendig, damit wir den Wie ist diese Präzisierung mög Kunden verlässliche Versicherungsprämien anbie- lich? ten können. Dr. Matthias Land Dr. Sussmann: Wir gruppieren die Wahrscheinlichkeit von Hochwas- Dr. Land: Extremereignisse wie 2002 oder 2013 ser und Überschwemmung zum Beispiel in gering, liefern darüber hinaus wichtige Erkenntnisse, um mittel und hoch. So lässt sich jedes Gebäude einer die lokalen und regionalen Risikozonen präzisieren der sogenannten Risikozonen zuordnen. zu können. Und die Versicherer erhalten mehr Wis- sen, damit sie sich noch genauer auf die Risikolage Woher stammen die Daten für Ihre Berechnungen? einstellen können. Dr. Land: Für die Berechnungen des Erwartungs- wertes brauchen wir die Daten langer Zeiträume, Was bedeutet das im Detail? damit sie verlässlich sind. Die Basis bilden die Dr. Land: Versicherungsunternehmen wollen und Statistiken des Gesamtverbandes der Deutschen müssen jedem Einzelnen ihrer Kunden auch im Versicherungswirtschaft. Diese bieten einen Über- Katastrophenfall die ihm zustehenden Leistungen blick über Zahl und Höhe der versicherten Schäden auszahlen. Dazu müssen sie über ausreichend Risi- durch einzelne Naturgefahren und die Anzahl der kokapital verfügen, damit sie die Schäden erstatten versicherten Gebäude – deutschlandweit. können. Je mehr reale Überschwemmungsdaten
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