E MACHT SPIELER Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution - Verlag Die Werkstatt

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E MACHT SPIELER Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution - Verlag Die Werkstatt
MACHT
                            Ronny Blaschke

SPIELER
Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution
E MACHT SPIELER Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution - Verlag Die Werkstatt
MACHT
                            Ronny Blaschke

SPIELER
Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution

          VERLAG DIE WERKSTATT
E MACHT SPIELER Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution - Verlag Die Werkstatt
Coverabbildung: Armin Smailovic
Das Foto zeigt Fans des Sporting Club Jableh, Syrien, am 07.12.2018 bei einem Heimspiel
gegen al-Dschaisch, den Fußballklub der Armee aus Damaskus.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307-0507-0

Copyright © 2020 Verlag Die Werkstatt GmbH
Siekerwall 21, 33602 Bielefeld
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medienproduktion GmbH
Druck und Bindung: CPI, Leck

ISBN 978-3-7307-0495-0
E MACHT SPIELER Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution - Verlag Die Werkstatt
Inhalt

Aufbruch der Autokraten .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 7
              Einleitung

Scharfschützen hinter der Tribüne .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 13
              Auf dem Balkan zogen Hooligans in den Krieg, noch heute entladen sich
              ethnische Konflikte in den Fankurven

Offensive im Verborgenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
              Wladimir Putin nutzt den Fußball für den russischen Sicherheitsapparat,
              immer weniger Aktivisten können dagegenhalten

Fansticker in der Waffenkammer .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 62
              Ultras verbündeten sich in der Ukraine gegen das alte Regime, nun
              unterstützen sie ihre Vereine aus dem Exil heraus

Angreifer für die Abspaltung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 71
              In einigen Regionen Spaniens dient der Fußball als emotionale Kulisse für
              das Streben nach Unabhängigkeit

Hattrick für den Sultan der Neuzeit .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 88
              Der türkische Präsident Erdoğan stärkt durch Fußball seine Allianz aus
              Staat, Wirtschaft und Religion – für Protest ist kaum Platz

Getarnter Hass  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 102
              In Israel und Palästina ist der Fußball eine öffentlichkeitswirksame
              Plattform – für Feindseligkeit, aber auch für Annäherung
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Spielfeld der Generäle .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 123
               Beim Arabischen Frühling spielten Ultras eine wichtige Rolle, seither
               werden sie in Ägypten mit tödlicher Gewalt unterdrückt

Tod und Spiele  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 142
               In den Kriegsgebieten des Nahen Osten bringen Diktatoren Spieler brutal
               auf Linie und nutzen Stadien als Militärbasen

90 Minuten Flucht .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 158
               Im Iran überstimmt der erzkonservative Klerus oft die Politik – der Fußball
               wird zum Sprachrohr der Reformer

Megafon für Streit .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 178
               Reiche Golfstaaten wie Katar rüsten sich für eine Zukunft ohne Öl, die
               umkämpfte Ware Fußball vertieft regionale Spannungen

Des Kaisers neue Spiele .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 199
               Die Kommunistische Partei Chinas etabliert Fußball als Schaufenster ihrer
               globalen Expansion – die Bundesliga will profitieren

Ein Teamfoto als Lebensversicherung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 223
               In Ruanda ist Fußball auch ein Mittel zur Rekrutierung: im Bürgerkrieg,
               während des Völkermordes – und nun in der Entwicklungshilfe

Mord und Torschrei .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 240
               Argentinien hat die lebendigste Zivilgesellschaft Lateinamerikas, doch
               Fußball spielt beim Gedenken an die Militärdiktatur kaum eine Rolle

Quellen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 255
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Aufbruch der Autokraten
Einleitung

Die Zukunft des Fußballs trägt den Namen Lusail. Am nördlichen
Rand der katarischen Hauptstadt Doha soll das WM-Finale 2022 statt-
finden, vor mehr als 80.000 Zuschauern im Lusail Iconic Stadium. Was-
sergräben und Säulen, Solaranlagen und Fassaden, die an traditionelle
arabische Boote erinnern: das Stadion wird die Attraktion eines neuen
Stadtviertels. Nach der WM wird die Arena verkleinert, sie macht dann
Platz für Geschäfte, Schulen und eine Klinik. Katar arbeitet für den Bau
mit chinesischen Unternehmen zusammen. Ein Meilenstein für Diplo-
matie und Handel zwischen beiden Ländern.
   Vor zwanzig Jahren stellten die westlichen Industriestaaten 44 Pro-
zent der globalen Wirtschaftsleistung, inzwischen sind es nur noch 30.
Im selben Zeitraum erhöhte sich der Anteil der sogenannten BRICS-
Staaten von 18 auf 30 Prozent. Brasilien, Russland, Indien, China und
Südafrika verdeutlichen, wie sich Wirtschaftsmacht und in der Folge
politische Netzwerke von Norden nach Süden verschieben, aber mehr
noch: von Westen nach Osten.
    Seit bald anderthalb Jahrhunderten beansprucht Europa die Deu-
tungshoheit über den Fußball. Wirklich angemessen war das nur in den
ersten Jahrzehnten, doch spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts
breitete sich das Spiel auf fast allen Kontinenten aus. Fußball prägte die
Alltagskultur in Argentinien, Ägypten oder Iran – und wurde damit
auch interessant für die politischen Machthaber.
    Die Fans der deutschen Vereine haben sich lange nicht für Entwick-
lungen außerhalb ihrer Bundesliga interessiert, das änderte sich erst zu
Beginn des 21. Jahrhunderts. Immer mehr große Wettbewerbe wurden
nicht mehr nach Westeuropa und Nordamerika vergeben, sondern nach
Südafrika, Brasilien oder Russland. Wahrscheinlich wird in den 2030er

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Machtspieler

Jahren die erste WM in China stattfinden. Überdies sicherten sich Inves-
toren aus Russland, China und den Golfstaaten Anteile an europäischen
Vereinen – und erweiterten den politischen Einfluss ihrer Regierungen.
    Sportfunktionäre erklären gerne, dass die globale Aufmerksamkeit
des Sports Gesellschaften öffnen könne. Mehrere Studien halten da-
gegen. So wurden in den vergangenen dreißig Jahren mehr als zwei
Millionen Menschen für die Organisation von Olympischen Spie-
len vertrieben. In fast allen Austragungsorten von Weltmeisterschaf-
ten und Olympia sind Strukturen entstanden: Flughäfen und Straßen,
Wohnviertel und Nahverkehr. Doch in den meisten Regionen profitiert
eine Minderheit: Politiker, Funktionäre, Baukonzerne. Das Land, das
darunter besonders leidet: Brasilien. Vor der WM 2014 wurde der Si-
cherheitsapparat hochgefahren, vor allem in den Favelas stieg die Poli-
zeigewalt. Viele der Stadien und der Sportstätten für die Sommerspiele
2016 in Rio werden kaum noch angemessen genutzt. Zugleich leiden
Bildung und Gesundheitswesen unter Finanzknappheit.

Menschen nehmen immer Schaden
Sportereignisse und Menschenrechte: Man denkt bei diesem Themen-
feld an geldgierige Autokraten, an Zwangsarbeiter auf Baustellen, an
soziale Gruppen, die auseinanderdriften. Doch auch jenseits der Gast-
geberländer von Großereignissen hängt in der Milliardenindustrie
Fußball alles mit allem zusammen. Unser wohltemperierter Stadion-
besuch in Westeuropa ist mit der Ausbeutung asiatischer Trikotnähe-
rinnen verknüpft. Fans empören sich, wenn der DFB eine Serie von
Freundschaftsspielen mit einer chinesischen Jugendauswahl verabre-
det. Aber es fällt ihnen weniger auf, dass Sponsoren und Vermarkter
ihrer Lieblingsklubs längst mit chinesischen, russischen oder arabi-
schen Konzernen verflochten sind. Fans forderten einen Boykott der
WM in Russland, aber viele gehörten dann doch wieder zum TV-Mil-
lionenpublikum. Laut Schätzungen sollen ARD und ZDF 150 Millio-
nen Euro für die Übertragungsrechte gezahlt haben. Wie kritisch man
als Fußballkonsument auch sein mag – man ist Teil eines Systems, in
dem Menschen Schaden nehmen.
    Dieses Buch konzentriert sich auf den Fußball als politisches und
ökonomisches Machtinstrument im 21. Jahrhundert. Es ist eine Art

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Aufbruch der Autokraten

Fortsetzung von „Gesellschaftsspielchen“, erschienen 2016, das den
„Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei“ in Deutschland be-
 leuchtete. „Machtspieler“ nimmt die Schaltzentralen der Zukunft ins
Visier, insbesondere China, Russland und die Staaten am Persischen
 Golf. Es sind jene Länder, die den politischen Einfluss durch Fußball
wohl am besten organisieren.
     Doch dieser Entwicklungsstufe in Eurasien ging ein Jahrhundert
voraus, in dem Fußball mit Politik, Wirtschaft und Religion immer
 mehr verwachsen ist. Dieses Buch stellt das Spektrum der Interessen,
Abhängigkeiten und Zwänge vor. Einige Beispiele: In instabilen Zeiten
 streben Regionen nach Autonomie, besonders in Spanien, wo Katala-
nen und Basken ihre Stadien als Kulisse für Separatismus nutzen. Auf
 dem Balkan begleitet der Fußball die ethnische und konfessionelle
Identitätssuche, für viele Fans in Serbien und Kroatien gehört Nationa-
 lismus zur Folklore. In Argentinien entfaltet sich wohl die lebendigste
Zivilgesellschaft – allerdings spielt der Fußball beim Gedenken an die
Militärdiktatur, in der auch die WM 1978 stattfand, kaum eine Rolle.
    „Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution.“ Der Untertitel ver-
 knüpft große, schwere Begriffe, die auch im Fußball oft im falschen
Kontext verwendet werden. Nicht in diesem Fall: Das Buch zeichnet
nach, wie Fans und Spieler sich gegen Autokraten auflehnten. Beim
Arabischen Frühling in Ägypten 2011, bei den Gezi-Protesten 2013 in
Istanbul oder beim Euromaidan 2014 in Kiew waren es rivalisierende
Ultras, die sich im Straßenkampf gegen selbstherrliche Regime verbün-
 deten. Viele starben oder werden nun von Geheimdiensten überwacht.
Die Motivationen und Strukturen der jeweiligen Protestbewegungen
werden getrennt voneinander beschrieben, auf Vergleiche zwischen
völlig unterschiedlichen Gesellschaften und Epochen soll verzichtet
werden.
     Fußballer, die ihre Laufbahn für politische Kritik aufs Spiel setzen,
 sind selten. Wenn sie keine Regimekritiker sein wollen oder es auf-
 grund von Verträgen nicht sein dürfen – müssen sie dann der Propa-
 ganda dienen? Sie könnten schweigen, aber manche lassen eine Auto-
 kratie auch alltäglich erscheinen: Julian Draxler schrieb nach dem
 gewonnenen Confederations Cup 2017 einen offenen Dankesbrief an
 die russische Bevölkerung, er ließ deren Sorgen nicht mal zwischen

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Machtspieler

den Zeilen durchscheinen. Lukas Podolski trat in einem Tourismus-
video für die Türkei auf. Mesut Özil lud Präsident Erdoğan zu seiner
Hochzeit ein. Ronaldinho posierte mit dem tschetschenischen Auto-
kraten Ramsan Kadyrow und half dem Rechtsextremen Jair Bolsonaro
ins Präsidentenamt von Brasilien. Diese Spieler taten das aus einer pri-
vilegierten Position heraus. Etliche ihrer Kollegen in Syrien, Libyen
oder im Irak hatten keine Wahl. Sie mussten den Herrschern ihre Auf-
wartung machen, sonst drohte der Rauswurf, manchmal sogar Folter
und Gefängnis.

Nicht nur die deutsche Brille
Dieses Buch basiert auf Recherchen in 15 Ländern auf vier Kontinen-
ten, in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika, mit insgesamt 180
Interviews in den Jahren 2017 bis 2019. Ein WM-Sommer in Russland
oder ein zweiwöchiger Aufenthalt in Argentinien reichen jedoch nicht,
um für dortige Entwicklungen Experte zu sein. Die Berichte und Ana-
lysen stützen sich auf Forscher, Fans, Journalisten oder Spieler, die über
Jahre in den betreffenden Ländern und Regionen tätig waren. „Macht-
spieler“ ist kein Reisebericht. Anekdoten, die den Autor im rostigen
Taxi, auf staubigen Bolzplätzen, in verrauchten Ultrakneipen oder Lu-
xusbüros katarischer Funktionäre beschreiben, sollen hier keinen Platz
haben. Stattdessen: eine nüchterne, faktenorientierte Herleitung der
Ursachen und Hintergründe. Informationen zur Meinungsbildung.
Keine Kultur, so fremd sie uns auch erscheinen mag, soll als exotisch
dargestellt werden.
    Die Berichterstattung über den Fußball in China oder Katar kon-
zentriert sich meist auf die Verletzung der Menschenrechte. Es ist auch
für dieses Buch ein zentrales Thema, aber es kann nicht das einzige sein.
Ob Kosovo, Ruanda oder Iran: überall zählen die Nationalteams zu
den seltenen Symbolen, mit denen sich konkurrierende Volksgruppen
gleichermaßen identifizieren. Ob Türkei, Bosnien oder China: über-
all unterstützen Ultras ihre Klubs mit farbenfrohen Choreografien und
landestypischen Gesängen. Ob Kroatien, Russland oder Afghanistan:
überall heben sich Aktivisten mit kreativen Projekten von korrupten
Eliten ab. Die historischen, politischen und religiösen Umstände sind
komplex. Dieses Buch soll nicht durch die deutsche Brille auf andere

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Aufbruch der Autokraten

Staaten blicken. Es ist ein Versuch, sich in andere Perspektiven hin-
einzuversetzen. Ein Beitrag zur Überwindung von Klischees, Entfrem-
dung und Ängsten.
     Durch Globalisierung und Digitalisierung rücken Politik, Wirt-
schaft und Kultur weiter zusammen, daran werden auch nationalisti-
sche Regierungen in den USA, Brasilien oder Osteuropa wenig ändern.
Der Fußball ist ein Vergrößerungsglas auf diese Entwicklung: mit
WM-Gastgebern, Sponsoren und Entscheidern, die nicht aus Europa
stammen, aber in Europa bestens vernetzt sind. Es reicht aber nicht
mehr aus, sich über Trainingslager des FC Bayern in Katar zu empö-
ren. Solche Verbindungen werden zunehmen, zumal die Bundesliga
zur Premier League aufschließen möchte und es auch in der arabischen
Welt Dutzende gut organisierte Fanklubs des FC Bayern gibt.
     Die Bundesregierung und Zehntausende deutsche Unternehmen
kooperieren mit autoritären Regierungen, die im Fußball nach Domi-
nanz streben. Viele von ihnen zeigen: Zwischen Boykottaufrufen und
der Verharmlosung von Despoten, also zwischen Schwarz und Weiß,
liegen viele Graustufen. Es bleibt unrealistisch, den FC Bayern von
Katar abzuhalten, zu lukrativ sind die Reisen für den Klub, dessen An-
teilseigner und den Gastgeber. Aber der FC Bayern kann noch mehr für
freiheitliche Werte eintreten, auch im Hintergrund. Ein Schwerpunkt
dieses Buches fokussiert den Nahen und Mittleren Osten, jene Region,
in der Katar ein mächtiger Fleck auf einer großen, komplizierten Karte
ist. Die WM gibt uns den Anstoß, differenzierter auf die arabische Welt
zu schauen.
     In den vergangenen Jahren sind Organisationen, Stiftungen und
Netzwerke entstanden, die im Fußball Diplomatie und Soft Power me-
thodisch begleiten. Das Wissen ist vorhanden, sollte aber in den Füh-
rungsgremien der Verbände und Klubs effektiver genutzt werden. Und
auch Bundesministerien sollten ihren Einfluss geltend machen.
     Der DFB will mit der EM 2024 in Deutschland einen anderen Weg
gehen. Die Zeit bis zum Turnier soll von Kampagnen begleitet werden:
zum europäischen Gedanken, zu Vielfalt oder Gesundheitsförderung.
Kann das dazu führen, dass die Skepsis hierzulande gegenüber Sport-
großereignissen wieder sinkt? Spannend ist auch die Frage, ob sich
weitere Regierungen unter die Machtspieler im Fußball mischen, Aser-

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Machtspieler

baidschan, Kasachstan oder Indien. Wie können Zivilgesellschaften in
autoritär regierten Staaten gestärkt werden, ohne sich mit Überlegen-
heitsdenken in den Vordergrund zu stellen? Dieses Buch soll einen Bei-
trag zur Debatte leisten. Das Lusail Iconic Stadium in Doha ist in dieser
Entwicklung nur eine Zwischenstation.

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Scharfschützen
hinter der Tribüne

        Im Vielvölkerstaat Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten,
        aber in den Fankurven brach er heraus. Hooligans aus Serbien und
        Kroatien zogen als Freiwillige in den Krieg, im bosnischen Sarajevo
        lag das Stadion direkt an der Front. Heute verharmlosen viele Fans die
        Verbrechen. Ob Gesänge, Choreografien oder eine Drohne über dem
        Rasen: Der Fußball begleitet die ethnische und konfessionelle Identitäts-
        suche. Und manchmal hilft er wie im Kosovo beim Aufbau einer neuen
        Nation. Erkundungen auf dem Balkan.

Auf dem Panzer ist nicht viel Platz zum Posieren, die Schlange wird
länger und länger. Kinder warten aufgeregt, Väter halten ihre Handy-
kameras bereit. Der Panzer wirkt frisch geputzt, die Vorderseite ist mit
Streifen in Rot und Weiß bemalt, dazwischen das Logo von Roter Stern
Belgrad, dem bekanntesten Klub Serbiens. Hinter dem Panzer dehnt
sich Belgrad bis zum Horizont, aus dem Häusermeer ragt der fast acht-
zig Meter hohe Dom des Heiligen Sava hervor. Kinder klettern auf den
Panzer, sie lachen, hüpfen und schwenken rote Schals. Einige Väter
achten darauf, dass auf den Fotos auch die serbisch-orthodoxe Kirche
zu sehen ist. Dann ziehen sie weiter zum Fanshop oder zur Imbissbude,
viel Zeit bis zum Anpfiff bleibt nicht mehr.
    Im westlichen Nachbarland Kroatien wird der Panzer mit weniger
Gelassenheit betrachtet. Der stillgelegte T55 soll Anfang der 1990er
Jahre in Vukovar im Einsatz gewesen sein. Die Stadt im Osten Kroa-
tiens war ein Hauptschauplatz während der Jugoslawien-Kriege zwi-
schen Serben und Kroaten. Vukovar wurde von serbischen Einheiten
weitgehend zerstört, Hunderte Menschen fielen Hinrichtungen zum

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Machtspieler

Opfer. Roter Stern Belgrad bezeichnet den Panzer dennoch als „At-
traktion“. Fotos des Vereins wurden auf sozialen Medien tausendfach
verbreitet. Der Panzer soll einige Jahre neben dem Stadion stehen blei-
 ben, Stadtverwaltung und Fußballverbände sehen darin kein Problem,
„solange nicht geschossen wird“.
    In der kroatischen Hauptstadt wollten sich Fans von Dinamo
Zagreb das nicht gefallen lassen. Im August 2019 postierten sie neben
ihrem Stadion „Maksimir“ für kurze Zeit einen gusseisernen Traktor.
Auch das ein Symbol: Während des Krieges waren viele Serben aus
 kroatischen Dörfern auch auf Traktoren über die Grenze geflohen. Fa-
milien, Freundeskreise und ganze Gemeinden zerbrachen.
    Der westliche Balkan hatte sich über Jahrhunderte zu einem Fli-
 ckenteppich der Ethnien, Konfessionen und Traditionen herausgebil-
 det. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt das sozialistische
Jugoslawien als vielfältigster Staat Europas, mit sechs Teilrepubliken
und vier Religionen, mit vier Sprachen und zwei Alphabeten. Doch
Wirtschaftskrisen, Spannungen und Nationalismus führten ab den
1980er Jahren zu einer wachsenden Sehnsucht nach ethnisch reinen
Einzelstaaten. In den Zerfallskriegen kamen in den 1990er Jahren rund
140.000 Menschen ums Leben, mehr als vier Millionen flohen oder
wurden vertrieben.
    Aus der Erbmasse Jugoslawiens gingen sieben Staaten hervor:
 Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montene-
 gro, Nordmazedonien und Kosovo. Noch immer gibt es Konflikte um
Gebiete, Ideologien und Nationalbewusstsein, auch um Religionen
und historische Deutungen. die Bevölkerungen stehen sich in einem
 komplexen Verhältnis gegenüber: die Serben, überwiegend christlich
 orthodox. Die Kroaten, mehrheitlich katholisch. Die muslimischen
Bosniaken. Und die ethnischen Albaner im Kosovo. Der Fußball ver-
 deutlicht die Identitätssuche besonders. Durch Provokationen zwi-
 schen Fans und Spielern, durch feindselige Banner und Graffitis im
 Stadion, sogar durch Ausschreitungen und die Verherrlichung von
Verbrechen. Fußball als Teil des Krieges – auf dem Balkan ist das keine
Übertreibung.
    Wer durch die serbische Hauptstadt Belgrad läuft, stößt schnell auf
Markierungen von Fußballfans. Graffitis und Aufkleber an Häuserwän-

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

den, Brücken, Straßenschildern. Entweder in Schwarz und Weiß von
den Anhängern des Vereins Partizan. Oder in Rot und Weiß, den Fans
von Crvena Zvezda, Roter Stern. Es sind martialische Motive, die ver-
mummte und kampfbereite Männer zeigen. Auch Jahreszahlen, die an
Kluberfolge und historische Ereignisse der serbischen Geschichte erin-
nern, viele liegen Jahrhunderte zurück, andere erst drei Jahrzehnte. In
der Nähe des Stadions von Roter Stern ist eine Gedenktafel den Opfern
der Jugoslawienkriege gewidmet, daneben ein orthodoxes Kreuz und
das Vereinslogo.
    Es war vor allem der Politiker Slobodan Milošević, der Ende der
1980er Jahre den serbischen Nationalismus schürte und den Zer-
fall Jugoslawiens mit seiner Kriegsrhetorik vorantrieb. Damals lebte
mehr als ein Viertel der acht Millionen ethnischen Serben außerhalb
der eigenen Teilrepublik: 1,4 Millionen in Bosnien und Herzegowina,
580.000 in Kroatien, 200.000 im Kosovo. Milošević und seine Gefolg-
schaft wünschten sich eine Vereinigung aller Serben in einem Staat. Sie
schimpften über Wirtschaftsprobleme und betonten die Gegensätze
der Ethnien. Bei vielen Serben kam das gut an. Ihre Einkommen waren
nur noch halb so viel wert wie 1980. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die
Schulden im Ausland stiegen, der Warenaustausch zwischen den Teil-
republiken ging zurück. Im Frühjahr 1990 bewerteten neun von zehn
Jugoslawen das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen als schlecht oder
sehr schlecht.

Hooligans morden und vergewaltigen
In jener Zeit entwickelten sich die Fanszenen im Fußball zu einer ein-
flussreichen Subkultur, insbesondere in Belgrad. „Im sozialistischen
Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten, aber im Stadion
brach er heraus“, sagt Krsto Lazarević, der als Korrespondent in Bel-
grad gearbeitet hat und an einem Podcast über den Balkan mitwirkt.
Ab den 1980er Jahren versammelten sich auf den Tribünen von Roter
Stern Mitglieder der Mafia, gewaltbereite Männer, die in Raubüberfälle,
Schutzgelderpressungen und Morde verwickelt waren. Mit dabei: der
mehrfach vorbestrafte Željko Ražnatović, genannt Arkan. Mit seiner
Firma durfte Ražnatović Fanartikel von Roter Stern vertreiben, zudem
übernahm er die Führung der Delije, der wichtigsten Fanvereinigung.

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Machtspieler

    Der Publizist Krsto Lazarević analysiert in einem Bericht für die
Friedrich-Ebert-Stiftung die politischen Verbindungen der serbischen
Fanszene. So brachte Željko Ražnatović die nationalistischen Anhän-
ger in Absprache mit dem Geheimdienst auf die Linie von Milošević.
Überdies gründete er im Oktober 1990 die Serbische Freiwilligengarde,
eine paramilitärische Truppe, der sich Hunderte Hooligans anschlos-
sen. Ihr Beiname: „Arkans Tiger“. Für den Traum eines großserbischen
Reiches zog Ražnatović in den Krieg, zunächst gegen kroatische, dann
gegen bosnische Einheiten. Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen:
Ražnatović und seine Kämpfer begingen Kriegsverbrechen. „Er hat Pa-
tienten aus einem Krankenhaus in Vukovar entführt und umbringen
lassen“, berichtet Krsto Lazarević.
    Roter Stern wurde zu einem Symbol des Serbentums. Als der
Klub 1991 im italienischen Bari den Europapokal der Landesmeister
gewann, schwenkten seine Fans kaum noch jugoslawische Fahnen.
Auf dem Siegerfoto zeigten acht Spieler den serbischen Gruß, zwei ge-
streckte Finger und ein Daumen. Bei Heimspielen in den folgenden
Monaten feierten Anhänger von Roter Stern auch den Krieg, einige
Söldner präsentierten auf der Tribüne Straßenschilder aus dem zer-
störten Vukovar.
    Das Abkommen von Dayton im US-Bundesstaat Ohio ließ die
Kriegshandlungen 1995 zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien zur
Ruhe kommen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehema-
lige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag sollte bald 161 Personen wegen
schwerer Verbrechen anklagen, die Rede war aber auch von 15.000 bis
20.000 Unterstützern in Polizei, Militär oder Verwaltung.
    Viele Täter konnten sich einer Strafverfolgung entziehen. Željko
Ražnatović stieg zu einer Heldenfigur auf. Seine Heirat mit der Sän-
gerin Svetlana Veličković, genannt Ceca, wurde 1995 im serbischen
Fernsehen übertragen. Ein Jahr später kaufte Ražnatović den Belgra-
der Verein FK Obilić, benannt nach einem serbischen Ritter aus dem
14. Jahrhundert. Auch mit kriminellen Geschäften führte Ražnatović
den Klub 1998 zur Meisterschaft im schon stark geschrumpften Jugo-
slawien. Wegen eines internationalen Haftbefehls mied er Auswärts-
spiele in europäischen Wettbewerben. Im Jahr 2000 wurde Ražnatović
in einer Belgrader Hotellobby erschossen. War er Politikern mit seinem

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

Wissen zu mächtig geworden? Die genauen Hintergründe sind bis
heute unklar.
    Laut dem Publizisten Krsto Lazarević gehört die Verharmlosung
von Kriegsverbrechen zur serbischen Fankultur. Ein Beispiel lie-
fert der ehemalige General Ratko Mladić, der für Vertreibungen von
Nicht-Serben aus Bosnien-Herzegowina verantwortlich war und für
das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, bei dem 8.200 bosnische
Männer und Jugendliche ermordet wurden. Mladić wurde erst 2011
festgenommen und 2017 wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft
verurteilt. Viele Serben sehen in Mladić jedoch einen Verteidiger ihrer
Kultur. Nach seiner Verurteilung riefen Ultras von Roter Stern Bel-
grad seinen Namen. Fans des Rivalen Partizan bedankten sich bei der
Mutter von Mladić und präsentierten Bilder jener Blumen, die wäh-
rend der Urteilsverkündung auf seinem Schoß gelegen hatten. Spieler
des Klubs FK Kabel aus dem nordserbischen Novi Sad trugen weiße
T-Shirts mit dem Konterfei von Mladić.
    Über Jahrhunderte stand der westliche Balkan unter dem Ein-
fluss von Großmächten: Österreich-Ungarn im Norden, das Osma-
nische Reich im Süden und das russische Zarenreich im Osten. Im
Museum von Roter Stern Belgrad fallen neben Pokalen, Medaillen und
Triumphbildern die religiösen Motive ins Auge. Gemälde, Figuren und
Wappen der Serbisch-Orthodoxen Kirche in kyrillischer Schrift. Nach
der Unterdrückung der Konfessionen im sozialistischen Jugoslawien
erlebte die Orthodoxie in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten
einen Aufbruch. Es sei nicht die einzige Entwicklung, die das Land
mit Russland verbinde, sagt der frühere Belgrad-Korrespondent Krsto
Lazarević: „Eine Verbundenheit mit Moskau ist ein wichtiges Merkmal
des serbischen Nationalismus.“
    Im Stadion von Roter Stern ist der blaue Sponsorenschriftzug von
Gazprom allgegenwärtig. Vor dem Heimspiel gegen Zenit Sankt Peters-
burg 2011 traten Folkloregruppen in serbischen und russischen Trach-
ten auf, Ehrengast Wladimir Putin wurde bejubelt. Für den Krieg um
den östlichen Teil der Ukraine meldeten sich ab 2014 auch Freiwillige
aus Serbien. Während ihrer Meisterfeier 2014 zeigten Fans von Roter
Stern eine Fahne der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“, die ost-
ukrainische Stadt war von prorussischen Separatisten besetzt worden.

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Machtspieler

Bei einem anderen Spiel präsentierten sie ein Banner auf Russisch:
„Älterer Bruder, sag mir, ob ich mir das nur einbilde oder ob unsere
Mutter endlich erwacht. Heil Russland, Ukraine und Serbien.“

Staatspräsident aus der Fankurve
Filip Vulović hat für diese Art von Fußball nichts übrig, trotzdem muss
 er sich damit beschäftigen. Der Student gehört zu den Organisatoren
von „Belgrade Pride“, einer Veranstaltungsreihe der LGBT-Gemeinde
 mit Workshops, Konzerten und einem Straßenumzug, die jährlich im
 September stattfindet. An einem Sonntagvormittag führt er durch das
Infozentrum der Gruppe, das in der Nähe der Belgrader Fußgänger-
 zone liegt. Zwischen Broschüren, Plakaten und Aktivistenfotos infor-
 mieren Zeittafeln über die Geschichte ihrer Bewegung. Vulović geht
nach links an den Anfang und zeigt auf die Abbildung eines blutüber-
 strömten Mannes. „In Belgrad herrschte Ausnahmezustand“, sagt er.
„Hass und Gewalt überall, das hat bei uns tiefe Wunden hinterlassen.“
     Vulović spricht von „Belgrade Pride“ 2010. Über Wochen hatten
Hooligans, rechtsextreme Politiker und Vertreter der orthodoxen
Kirche Stimmung dagegen gemacht. Patriarch Irinej, das kirchliche
 Oberhaupt, verglich Homosexuelle mit „Kinderschändern“, Priester
riefen zum Protest auf. Am Tag des Umzuges strömten rund 6.000 Hoo-
 ligans aus allen Landesteilen in die Innenstadt von Belgrad. Sie griffen
LGBT-Teilnehmer und Polizisten an, 150 Menschen wurden verletzt,
 der Schaden ging in die Millionen. „Die Stadt sah aus wie eine Kriegs-
 zone, die Polizei war völlig überfordert und brachte viele unserer Teil-
nehmer in ein Waldgebiet“, sagt Filip Vulović. „Ich war damals in der
Pubertät und fand allmählich heraus, dass ich auf Männer stehe. Diese
Erfahrung hat uns sehr zurückgeworfen.“ In den Jahren danach verbot
 die serbische Regierung den Pride-Umzug, angeblich zum Schutz für
 deren Teilnehmer.
     Mirjana Jevtović sieht das anders. Seit fast 15 Jahren beobach-
tet die investigative Journalistin für das Fernsehmagazin Insajder die
Belgrader Fanszenen. „Für manche Politiker übernehmen Hooligans
 die Drecksarbeit auf der Straße“, sagt sie. „Die Ausschreitungen bei
 der Pride 2010 ließen die Regierung sehr schlecht dastehen. Von der
 Opposition kam viel Kritik.“ Vertreter der damaligen Opposition sind

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

inzwischen an der Macht in Serbien: Aleksandar Vučić von der soge-
nannten Fortschrittpartei wurde 2012 Verteidigungsminister, 2014 Mi-
nisterpräsident und 2017 Präsident. Oft betonte Vučić seine frühere
Zugehörigkeit zu Delije, der Fanvereinigung von Roter Stern. Seit 2014
ist der Umzug von „Belgrade Pride“ wieder zugelassen. Mit Tausenden
Polizisten – und ohne Vorkommnisse.
    Insajder ist in Serbien eines der wenigen Medien, die unabhängig
über die Verbrechen der Hooligans berichten, über Tötungsdelikte,
Menschenhandel, Drogenverkauf. Das hat Folgen: Fans von Partizan
Belgrad erstachen bei einem Heimspiel eine aufblasbare Puppe, die das
Redaktionsmitglied Brankica Stanković darstellen sollte, dazu der Ruf:
„Du wirst enden wie Ćuruvija.“ Der Journalist Slavko Ćuruvija war
1999 vor seinem Haus erschossen worden. Brankica Stanković erhielt
Polizeischutz, doch sie recherchierte weiter, zum Beispiel über Hooli-
 gans, die zu Unternehmern und Sicherheitskräften aufstiegen. Und die
in den Fankurven Proteste gegen die Regierung verhinderten. „Unsere
Recherchen haben leider selten Konsequenzen“, sagt Mirjana Jevtović
und listet auf, wer bei Roter Stern Belgrad ein und ausgehe: Polizisten,
Anwälte, Beamte. Der Fußball sei ein Symptom für die Korruption und
 die Machtkonzentration bei Präsident Aleksandar Vučić. Seit 2012 ist
 Serbien Beitrittskandidat für die Europäische Union, doch ist eine zeit-
nahe Aufnahme realistisch? Mirjana Jevtović ist skeptisch, auch wegen
 der schlechten Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

Der Beginn eines modernen Mythos
Wer auf dem Balkan von Land zu Land reist, merkt schnell, wie tief die
Abneigung zwischen den Menschen vielerorts noch verwurzelt ist. In
Gesprächen kommt das nicht immer offen zum Ausdruck. Und auch
die Symbolik ist subtil und hintergründig: in historischen Museen,
bei Devotionalien oder an Gedenkorten, zum Beispiel in Zagreb. Das
fußballerische Zentrum der kroatischen Hauptstadt ist das Maksimir,
das Stadion von Dinamo. Die Außenfassade der Westtribüne ist mit
einer Malerei verziert, die schon aus hundert Metern Entfernung zu
erkennen ist. Darauf ein reitender Feldherr mit blauer Fahne, dane-
ben das Vereinslogo, im Hintergrund katholische Kirchtürme. Fünfzig
Meter weiter steht eine Gedenktafel. Das Motiv zeigt Soldaten mit Ge-

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Machtspieler

wehren, umgeben von wütenden Fans im Stadion, ergänzt durch einen
Schriftzug: „Für alle Dinamo-Fans, für die der Krieg am 13. Mai 1990
im Maksimir begann und mit der Hingabe ihrer Leben auf dem Altar
ihrer Heimat Kroatien endete.“
    Die Tafel wurde von den Bad Blue Boys gestiftet, der einflussreichs-
ten Fangruppe bei Dinamo, gegründet 1986, benannt nach dem US-
Film Bad Boys mit Sean Penn. Wie viele andere Gruppen trugen die
Bad Blue Boys ihr Nationalbewusstsein ins Stadion und bestärkten
 damit den Auflösungsprozess Jugoslawiens, mit Bannern, Gesängen
und Gewalt. Sie unterstützten den Wahlkampf des früheren Offiziers
Franjo Tuđman. Dessen antijugoslawische Partei, die Kroatische De-
mokratische Union, kurz HDZ, gewann im April 1990 die erste freie
Parlamentswahl in Kroatien. Wenige Tage später, am 13. Mai, sollte
Dinamo Zagreb im Maksimir auf Roter Stern Belgrad treffen. Für den
US-Sender CNN war es bald eines von „fünf Fußballspielen, die die
Welt veränderten“.
    Schon Stunden vor dem Spiel kam es in der Stadt zu Hassgesängen
und Schlägereien. Im Stadion durchbrachen die verfeindeten Fangrup-
pen Zäune, warfen Steine, zerstörten Sitzschalen. Treibende Kraft bei
 der Delije: Željko Ražnatović, genannt Arkan. Anhänger stürmten den
Rasen, etliche Spieler brachten sich in den Kabinen in Sicherheit. Zvo-
nimir Boban blieb zunächst, der damals 21-jährige Spieler von Dinamo
trat einen Polizisten, der zuvor einen kroatischen Fan geschlagen
hatte. „Für viele Kroaten war Bobans Tritt eine symbolische Aufleh-
nung gegen jugoslawische Institutionen, die oft von Serben dominiert
waren“, sagt Dario Brentin, der am Zentrum für Südosteuropastudien
 der Universität Graz über Nationalismus im Fußball forscht. „In der
Herausbildung der kroatischen Nation wird der 13. Mai 1990 als eine
Grundsäule betrachtet. Regelmäßig wird durch Aktionen an diesen
modernen Mythos erinnert.“
    Viele serbische Medien beschrieben die Ausschreitungen als Kom-
plott der neuen kroatischen Regierung, um den Vielvölkerstaat Jugo-
 slawien weiter zu schwächen. Franjo Tuđman, der erste demokratisch
 gewählte Präsident Kroatiens, argumentierte auch im Fußball für ein
„aufrechtes Kroatentum“ und gegen das „aggressive Großmachtstreben“
Serbiens. Er sagte, dass man „nach dem Krieg eine Nation primär im

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

Sport erkennen“ würde. Am 3. Juni 1990 bestritt das jugoslawische Na-
tionalteam in Zagreb ein Testspiel gegen die Niederlande. Die kroati-
schen Zuschauer pfiffen die jugoslawische Hymne nieder. Drei Monate
später stürmten Fans des südkroatischen Klubs Hajduk Split beim
Heimspiel gegen Partizan Belgrad den Rasen und verbrannten eine ju-
goslawische Fahne.
    Als zweite Teilrepublik nach Slowenien erklärte Kroatien im Juni
1991 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Die von Serbien domi-
nierte jugoslawische Volksarmee ging mit paramilitärischer Unterstüt-
zung dagegen vor, es folgten vier Jahre Krieg zwischen Kroaten und
Serben. In dieser Zeit prägte das Gefolge von Franjo Tuđman die nos­
talgische Haltung, dass es um die kroatische Kultur vor dem sozialisti-
schen Jugoslawien besser bestellt gewesen sei. Zwischen 1941 und 1945
war im „Unabhängigen Staat Kroatien“ die faschistische Ustascha-Be-
wegung an der Macht gewesen, unter Duldung der Nationalsozialis-
ten. Die Ustascha strebte ein ethnisch homogenes Großkroatien an. Sie
verbot serbische Vereine, löste gemischte Ehen auf und verdrängte das
serbisch-kyrillische Alphabet aus dem öffentlichen Leben. Ihrer Ver-
nichtungspolitik fielen eine halbe Million Serben, Juden und Roma
zum Opfer.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die kroatische Unabhängig-
keitsbewegung in Jugoslawien unterdrückt. Aus dem Exil heraus rief
sie zu Protesten gegen das kommunistische Regime auf. Viele Natio-
nalisten in den 1990er Jahren verknüpften ihren Widerstand gegen
Belgrad mit der „Standhaftigkeit“ der Ustascha. Franjo Tuđman ver-
harmloste deren Mordaktionen. Lange verbotene Symbole kamen
wieder in Mode, etwa das rotweiße Schachbrettmuster im kroatischen
Wappen, das seinen Ursprung zwar im 15. Jahrhundert haben soll, aber
vor allem von der Ustascha gepflegt wurde. Straßennamen wurden der
kroatischen Freiheitsbewegung gewidmet.
    Kroatien zog seine Fußballvereine aus der jugoslawischen Liga
zurück und baute ein eigenes Nationalteam auf. Als Zeichen gegen die
kommunistische Vergangenheit ließ der autoritär regierende Franjo
Tuđman den Zagreber Verein Dinamo in Croatia umbenennen. Auf
einer Rede vor Fans sagte er: „Wer für Dinamo singt, ist ein Agent aus
Belgrad.“ Erst nach seinem Tod sollte die Namensänderung rückgängig

                                  21
Machtspieler

gemacht werden. Während Anfang der 1990er Jahre kroatische Streit-
kräfte gegen serbische Truppen kämpften, etablierte sich der Sport als
Stütze für eine nationale Identität in Kroatien, analysiert der Forscher
Dario Brentin und nennt Leitfiguren jener Zeit: den NBA-Basketballer
Dražen Petrović, den Tennisspieler Goran Ivanišević, den Handballer
Ivano Balić.
    Nach der Zurückdrängung der jugoslawischen Armee und dem
Dayton-Abkommen 1995 begünstigte der wachsende Nationalismus
die Verharmlosung des Faschismus. Davor Šuker, damals Stürmer bei
Real Madrid und seit 2012 Präsident des kroatischen Fußballverban-
des, posierte 1996 vor dem Grab von Ante Pavelić, einst Anführer der
Ustascha. 1998 bei der WM mischte sich in den Jubel über den dritten
Platz des kroatischen Teams bei vielen Fans auch Feindseligkeit gegen
Serbien. Franjo Tuđman ließ sich in Frankreich mehrfach mit den Spie-
lern filmen und fotografieren.

Linke Aktivisiten stehen ziemlich allein
Und wie ist das gesellschaftliche Klima mehr als zwanzig Jahre später?
Ein Samstagnachmittag am östlichen Rand von Zagreb. Im holzgetä-
felten Vereinsheim des NK Čulinec wird bei Suppe und Bier über den
großen Fußball diskutiert, daneben findet zwischen Einfamilienhäu-
sern der kleine Fußball statt. Zu Gast ist der selbst verwaltete Ama-
teurklub NK Zagreb 041. Dessen Mitglieder hatten sich im Umfeld des
Profiklubs NK Zagreb kennengelernt, in ihrer Ultra-Gruppe „White
Angels“ positionierten sie sich mit Bannern, Gesängen und Konzer-
ten gegen Diskriminierung. Sie wurden angefeindet, standen in Kon-
flikt mit dem Präsidium – irgendwann hatten sie genug und gründeten
2014 ihren eigenen Verein.
    Einer der treibenden Kräfte unter den 150 Mitgliedern bei Zagreb
041 ist Filip. Er steht mit seinen Freunden hinter der Trainerbank und
spornt die Spieler an. Immer wieder dreht er sich um und blickt auf die
umliegenden Häuser, Büsche und Autos. „Wir bleiben in der Gruppe
und achten darauf, wenn Leute auftauchen, die wir nicht kennen“, er-
zählt Filip. „Wir wurden mehrfach angegriffen, seitdem kommen
meine Frau und mein Kind eher selten zu den Spielen.“ Einmal gingen
vermummte Hooligans der Bad Blue Boys mit Schlagstöcken und Pfef-

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

ferspray auf sie los, ein anderes Mal provozierten sie mit einem Trans-
parent: „Refugees not Welcome“. Zagreb 041 setzt sich seit Langem für
Flüchtlinge ein.
    Die Familie von Filip stammt aus Dalmatien, aus dem Süden von
Kroatien, daher blickt er aus der Ferne auch mit Interesse auf Hajduk
Split, den zweiten großen Klubs des Landes. Auf seinem Handy zeigt
Filip Videos von Choreografien und Gesängen. Häufig greift Torcida,
die größte Fangruppe bei Hajduk, historische Ereignisse auf, meist
rund um den 5. August, den „Tag des Sieges“. Anfang August 1995
hatten kroatische Einheiten besetzte Gebiete der Serben zurückerobert.
Im August 2019 stellte Torcida in einer aufwendigen Choreografie die
Zerstörung eines serbischen Panzers dar, begleitet von Rauchschwa-
den und tobendem Applaus im Stadion. Auch andere Gruppen prä-
sentieren in ihren Kurven Wappen und Fahnen von Milizen, die gegen
Serben gekämpft hatten.
    Im Sammelband „Zurück am Tatort Stadion“ erläutert der Sozio-
loge Holger Raschke anhand zahlreicher Beispiele, wie der Fußball in
Kroatien Öffentlichkeit für politische Inhalte herstellt: Im April 2011
wurde der kroatische General Ante Gotovina für Kriegsverbrechen
gegen Serben am Internationalen Strafgerichtshof zu einer Haft von 24
Jahren verurteilt. Wenige Tage später trugen Spieler bei einer Erstliga-
partie zwischen HNK Šibenik und NK Zadar T-Shirts mit dem Konter-
fei Gotovinas. 2012 wurde Gotovina in der Berufung freigesprochen,
die Gruppe Torcida feierte das in Split mit einer großen Choreografie.
2013 dann, nach dem EU-Beitritt Kroatiens, forderte ein Minderhei-
tengesetz in Vukovar die zusätzliche Beschriftung der Amtsschilder in
Serbisch-Kyrillisch. Die Mannschaft von Hajduk Split lief mit einem
Transparent auf den Rasen: „Für ein kroatisches Vukovar.“
    „Auf dem Balkan gibt es keine differenzierte Aufarbeitung der Ju-
goslawienkriege“, sagt der Zagreber Kolumnist und Blogger Juraj
Vrdoljak, der seit mehr als zehn Jahren über gesellschaftliche Hinter-
gründe im Sport berichtet. „In Kroatien wird die Erinnerung an die
Ustascha-Verbrechen meist verweigert.“ Graffitis von Hakenkreuzen
und Ustascha-Symbolen prangen mit Fußballbezug an Häuserwän-
den, Brücken und sogar Schulgebäuden, mitunter in Verbindung mit
katholischen Motiven wie der Flagge des Vatikans. „Die historischen

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Machtspieler

Hintergründe für den Nationalismus werden in der Gesellschaft nicht
ausreichend thematisiert“, findet Vrdoljak. „Und prominente Beispiele
tragen zur Normalisierung bei.“
    Nach der Qualifikation des kroatischen Teams für die WM 2014
intonierte der Verteidiger Josip Šimunić in Zagreb mit den Fans den
Ustascha-Gruß „Za dom spremni“, für die Heimat bereit. Viele Medien
kritisierten Šimunić – etliche Fangruppen solidarisierten sich mit ihm.
Überschaubar war das Problembewusstsein auch 2018: Die kroatische
Auswahl belegte bei der WM in Russland Platz zwei, bei der Will-
kommensfeier in Zagreb war im offenen Mannschaftsbus auch Marko
Perković dabei, Gründer von Thompson. Die Rechtsrockband ist bei
vielen Fans und Spielern seit Jahren beliebt, in einigen Ländern Euro-
pas erhielt sie hingegen Auftrittsverbot.

Jugoslawiens Geschichte spiegelt sich im Fußball
Kroaten und Serben: das Spannungsverhältnis ist jahrhundertealt und
prägte gerade im 20. Jahrhundert unterschiedliche politische Systeme.
Zwischen den beiden Weltkriegen übernahmen Serben eine bevor-
zugte Stellung im neuen Königreich Jugoslawien, schreibt die Südost-
europa-Expertin Marie-Janine Calic von der LMU München in ihrem
Buch „Geschichte Jugoslawiens“. Unter den 656 Ministern der kurz-
lebigen Regierungen waren 452 Serben und 137 Kroaten. Das erste
Fußballnationalteam Jugoslawiens wurde dagegen 1919 in Zagreb ge-
gründet, die meisten Spieler hatten kroatische Wurzeln. „Der Fußball
verdeutlichte einen politischen Grundsatzstreit“, erklärt der britische
Historiker Richard Mills. „Einige Funktionäre forderten eine Zentrali-
sierung in Belgrad, andere wollten mehr Autonomie für die Regionen.“
1929 wurde der Fußballverband nach Belgrad verlegt. Daraufhin boy-
kottierten kroatische Spieler das jugoslawische Nationalteam, weshalb
bei der ersten WM 1930 in Uruguay fast ausschließlich Serben zum
Einsatz kamen.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte der Partisanenkämpfer
Josip Broz, genannt Tito, einen kommunistischen Einparteienstaat,
laut Grundgesetz eine „Gemeinschaft gleichberechtigter Völker“. Jeder
Mensch war Bürger Jugoslawiens und einer Teilrepublik. Tito ließ Kri-
tiker aus dem Weg räumen und belegte Intellektuelle mit Berufsverbot,

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

 doch er ging dabei nicht so brutal vor wie Josef Stalin in der Sowjet-
 union. Neben Kulturvereinen, Lesegesellschaften oder Musikgruppen
 sollte der Fußball den Leitspruch Titos verbreiten: „Brüderlichkeit und
 Einkeit“. Landesweit entstanden Klubs mit kommunistischer Symbolik:
 Roter Stern, Partizan oder Proletar, auch Slobodan, auf Deutsch Frieden,
 oder Napredak, Fortschritt. „Viele Vereine mit eindeutigen ethnischen
 Hintergründen wurden verboten“, sagt Richard Mills, Autor des Buches
„The Politics of Football in Yugoslavia“. „So wollten die Kommunisten
 Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen früh unterbinden.“
     Doch es gab Ausnahmen wie Hajduk Split, gegründet 1911. Die
 südkroatische Hafenstadt Split war 1941 von italienischen Truppen be-
 setzt worden. Hajduk weigerte sich, in der italienischen Liga zu spielen,
 und schloss sich 1944 als Armeeteam den jugoslawischen Partisanen
 an. Nach dem Krieg wollten die Kommunisten Hajduk als Vorzeige-
 klub nach Belgrad versetzen, doch der Verein lehnte ab. Nachdem
 Hajduk die jugoslawische Meisterschaft 1950 gewann, formten Stu-
 denten in Split die Fangruppe Torcida. Vor einem Spiel störten sie mit
 Pfeifen die Nachtruhe des Gästeteams Roter Stern Belgrad. Einige Mit-
 glieder wurden angeklagt, aus Sorge vor kroatischem Nationalismus
 drängte das Regime Torcida in den Untergrund.
     In den 1950er Jahren verzeichnete die jugoslawische Wirtschaft eine
 der größten Wachstumsraten der Welt, bis 1960 stieg die Industriepro-
 duktion jährlich um 14 Prozent. Mehr als fünf Millionen Menschen
 zogen für Arbeit in die Städte, an den Küsten entstand ein Tourismus-
 gewerbe. Die Identifikationsfigur Tito erlaubte bis zu einem gewissen
 Grad Reisefreiheit und Streiks. „In den Fabriken erhielten Arbeiter
 mehr Einfluss, und auch die Fußballvereine gestatteten ihren Spielern
 mehr Entscheidungsfreiheit“, berichtet Richards Mills von der Univer-
 sity of East Anglia im englischen Norwich.
     Die multiethnische Nationalmannschaft trug jugoslawische Ideen
 in die Welt hinaus. Sie gewann bei Olympia zwischen 1948 und 1960
 dreimal Silber und einmal Gold, dazu der vierte Platz bei der WM 1962
 sowie zwei unterlegende EM-Endspiele 1960 und 1968. Die großen
Vereine waren bei internationalen Turnieren gern gesehene Gäste. 1964
 bezeichneten 73 Prozent der jugoslawischen Bevölkerung die Bezie-
 hungen zwischen den Teilrepubliken als gut.

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Machtspieler

    Doch der Aufschwung endete in den 1970er Jahren. Arbeitslosig-
keit, Staatsschulden und soziale Ungleichheit zwischen den Regionen
wuchsen. 1975 war Slowenien siebenmal reicher als der Kosovo. „Die
sozialistische Ideologie verlor an konkreter Bedeutung“, schreibt die
Südosteuropa-Forscherin Marie-Janine Calic. Immer mehr Menschen
wandten sich vom Vielvölkerstaat ab und pflegten ethnische Traditio-
nen mit Trachten, Volksliedern und Denkmälern. Laut Calic führte der
Verlust alter Gewissheiten zu einer „Wiedererweckung der Religionen“.
Und diese Entwicklungen sollten sich nach dem 4. Mai 1980 rasant
beschleunigen: Während des Spiels zwischen Hajduk Split und Roter
Stern Belgrad verkündete der Stadionsprecher den Tod Titos.
    Im folgenden Jahrzehnt mündeten die ethnischen Spannungen in
Demonstrationen, Ausschreitungen und Gewalt, auch rund um die
Fußballklubs. Die jugoslawische Nationalmannschaft gehörte weiter
zur europäischen Spitze, gewann bei Olympia 1984 Bronze. Seit ihrer
Gründung 1919 stammten die meisten Nationalspieler aus Serbien und
Kroatien, doch gerade bei der WM 1990, kurz vor den Zerfallskriegen,
verfügte Jugoslawien über eines der ethnisch vielfältigsten Teams seiner
Geschichte. Es waren auch fünf Spieler aus Bosnien und Herzegowina
dabei, zwei aus Montenegro, zwei aus Mazedonien und einer aus Slo-
wenien. Jugoslawien scheiterte bei der WM in Italien erst im Viertel-
finale an Argentinien.

Schüsse auf Spieler und Fans
Nationaltrainer war Ivica Osim, geboren und aufgewachsen in Sarajevo,
 dem politischen und kulturellen Zentrum Bosniens. Der Europawis-
 senschaftler Ivan Korić zitierte Osim in einem Aufsatz für das Fach-
 magazin „Ost-West. Europäische Perspektiven“ mit folgenden Worten:
„Die jugoslawischen Journalisten haben mich fürchterlich kritisiert. Sie
wollten immer die Spieler aus ihrer Teilrepublik im Team sehen. Ich
 habe dadurch mit dem Publikum und mit den Journalisten Probleme
 bekommen. Aber ich habe meine eigene Linie durchgezogen. Für mich
war nie wichtig, aus welcher Republik jemand kommt. Einmal habe ich
 zu den Journalisten gesagt: ‚Mir ist egal, woher die Spieler kommen. Es
werden immer nur die Besten spielen. Und wenn es sein muss, spiele
ich auch mit elf Kosovo-Albanern. Sie gehören auch zu uns. Und wenn

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

sie die Besten sind, dann spielen sie auch.‘ Damit hatte ich klargestellt,
dass ich mich nicht unter Druck setzen lasse. Aber Jugoslawien war
praktisch schon vor der WM in Italien zerstört. Es war ein kaputter
Staat.“
    Im Oktober 1991 reiste Ivica Osim mit der jugoslawischen Auswahl
zu einem Freundschaftsspiel in seine Heimatstadt Sarajevo, Anlass war
der siebzigste Geburtstag seines früheren Vereins, des FK Željezničar,
zu Deutsch Lokomotive. Zu jener Zeit hatten Slowenien und Kroatien
bereits ihre Unabhängigkeit erklärt. In Sarajevo schienen die Menschen
noch Hoffnung zu haben: Vor dem Spiel ließen Spieler Friedenstauben
steigen. Auf den Tribünen bejubelten 20.000 Zuschauer ihr bereits ge-
schrumpftes Nationalteam. Bosnien und Herzegowina war die einzige
jugoslawische Teilrepublik, in der es keine klare Bevölkerungsmehrheit
gab. Und das zeigte sich 1991 auch in Sarajevo: Von den 530.000 Ein-
wohnern waren 49 Prozent Muslime, dreißig Prozent Serben, sieben
Prozent Kroaten. Keine Gemeinde im Umkreis war ethnisch homogen,
gemischte Ehen waren selbstverständlich.
    Nach einem Referendum im März 1992 erklärte sich aber auch die
Republik Bosnien und Herzegowina für unabhängig. Die bosnischen
Serben wollten das nicht akzeptierten, auf ihren Gebieten schlossen sie
sich zur „Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina“ zusammen,
später Republika Srpska. In jener aufgeladenen Atmosphäre sollte der
FK Željezničar in Sarajevo den Verein Rad Belgrad empfangen. Am
selben Tag besetzten serbische Kräfte der verbliebenden jugoslawi-
schen Armee eine Polizeiakademie in der Nähe des Stadions. Sie schos-
sen willkürlich auf Zivilisten, auch auf das Stadion. Spieler und Fans
konnten sich in Sicherheit bringen.
    Serbische Soldaten zogen einen Belagerungsring um Sarajevo,
schnell besetzten sie mehr als siebzig Prozent von Bosnien und Her-
zegowina. Ivica Osim, der das jugoslawische Nationalteam erfolgreich
durch die Qualifikation für die EM 1992 führte, hatte länger nichts
mehr von seiner Familie gehört. Noch vor dem Ausschluss Jugosla-
wiens von der EM trat er als Nationaltrainer zurück. „Das ist das Ein-
zige, was ich für diese Stadt tun kann. Damit Sie sich erinnern, dass ich
in Sarajevo geboren bin“, sagte Osim auf einer Pressekonferenz.

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Machtspieler

Fan will Frau retten und stirbt
„Der Stadtteil Grbavica rund um das Stadion von Željezničar wurde
 zur Kriegszone“, erzählt der bosnische Journalist Danijal Hadžović, der
 sich seit zehn Jahren mit Politik und Fußball beschäftigt. „Die Front-
 linie verlief quer durch das Viertel.“ Serbische Scharfschützen postier-
ten sich auf umliegenden Hochhäusern und erschossen Menschen,
 die Wasser und Nahrung besorgen wollten. Die mehrheitlich musli-
 mischen Bosnier, auch Bosniaken genannt, feuerten von der anderen
 Seite zurück. Ruckelnde Filmaufnahmen zeigen, wie Teile der Stadion-
tribünen in Flammen aufgehen. Soldaten verschanzten sich hinter dem
Vereinsheim, der Rasen glich einem Krater. „Wer sein Haus verließ, ris-
 kierte sein Leben“, sagt Danijal Hadžović. „An ein normales Leben mit
Freizeit war nicht zu denken.“
     Trotzdem wollten sich einige Jugendliche in Sarajevo ihr Hobby
nicht nehmen lassen, erinnert Trainerikone Ivica Osim in einem Inter-
view mit dem österreichischen Magazin Ballesterer: „Die kleinen Kinder
 konnten höchstens in einer sicheren Halle oder im Haus spielen. Aber
wenn sie draußen spielten, passierte es oft, dass sie von oben beschos-
 sen wurden. Da gab es viele Tote. Das war das Grausamste, was man
 sich vorstellen kann. Kinder waren in der Schule und gingen hinaus
 zum Spielen, und dann wurden sie erschossen.“ Insgesamt wurden im
Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 rund 100.000 Menschen getötet,
während der fast vierjährigen Belagerung in Sarajevo waren es mehr
 als 11.000.
     Noch heute sind im Stadtviertel Grbavica die Spuren des Krieges
 präsent. Häuserwände mit Einschusslöchern, zersplitterte Fenster-
 scheiben, bröckelnder Putz. Das Stadion des FK Željezničar ist hin-
 gegen runderneuert, der Klub war 1921 von Eisenbahnern gegründet
worden. An der Westtribüne erinnert eine Tafel an die Kriegsopfer, ge-
 stiftet von der Ultragruppe Maniacs. Viele Fans verknüpfen ihre Iden-
tifikation mit aufwendigen Gedenkaktionen, erläutert der Politikwis-
 senschaftler Alexander Mennicke in seiner Bachelorarbeit. Die Ultras
 besingen zu jedem Heimspiel ihr geschundenes Viertel und präsentie-
ren in Choreografien mitunter kämpfende Soldaten. Sie versammeln
 sich an den Jahrestagen des Völkermordes von Srebrenica und orga-
nisieren Gedenkturniere für Dževad Begić Džilda. Der Fan-Anführer

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Scharfschützen hinter der Tribüne – Balkan

wollte 1992 eine angeschossene Frau retten, dabei wurde er von einem
Scharfschützen getötet.
    Von einer ethnisch durchmischten Gesellschaft könne in Bosnien
und Herzegowina heute keine Rede mehr sein, kommentiert die Süd-
osteuropa-Forscherin Marie-Janine Calic. Nach dem Dayton-Abkom-
men 1995 blieb der Staat in seinen Vorkriegsgrenzen erhalten, wurde
aber in zwei Teilstaaten getrennt. Die von Muslimen und Kroaten re-
gierte „Föderation Bosnien und Herzegowina“ erhielt 51 Prozent des
Territoriums und damit eine symbolische Mehrheit. Der serbisch do-
minierten Republika Srpska wurden 49 Prozent zugesprochen. Wäh-
rend des Krieges waren in Bosnien und Herzegowina 2,2 Millionen
Menschen geflohen oder vertrieben worden. So gibt es heute in den
allermeisten Gemeinden Bevölkerungsmehrheiten von über neunzig
Prozent. Bosniaken, Serben und Kroaten leben getrennt. In Sarajevo
war 1991 die Hälfte der Bevölkerung muslimisch, mittlerweile sind es
mehr als 80 Prozent.

Die Mutter von Barbarez wird bedroht
Trotzdem möchte Dženan Đipa das Verbindende in der Gesellschaft
betonen, nicht das Trennende. Im Fußballverband von Bosnien und
Herzegowina ist Đipa für soziale Projekte verantwortlich, für Mäd-
chenturniere, Gesundheitsvorsorge oder die Schulliga. Als Ort für das
Interview hat er in Sarajevo ein Café am Rande des altosmanischen Ba-
sarviertels vorgeschlagen; in der Nähe befinden sich Moscheen, eine
katholische Kathedrale, eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge. „Wir
sind ein kleines Land“, sagt Đipa. „Wenn wir in Wirtschaft, Kultur oder
Fußball erfolgreich sein wollen, dann müssen wir zusammenarbeiten.“
Was er dann aber über die Geschichte des bosnischen Fußballs erzählt,
deutet eher darauf hin, dass es nicht viele Idealisten wie ihn gibt.
    Die gesellschaftliche Spaltung nach dem Krieg übertrug sich auch
auf den Spielbetrieb. Bosniaken, Serben und Kroaten trugen zunächst
ihre eigenen Meisterschaften aus, Anfang des Jahrtausends kamen sie
nach langen Verhandlungen in einer Profiliga zusammen. Der Aufbau
einer Nationalmannschaft wurde von Diskussionen über ethnische
Hintergründe überschattet. Sergej Barbarez etwa spielte erfolgreich in
der Bundesliga, unter anderem für Borussia Dortmund und den Ham-

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