Ein Vergleich anhand ausgewählter Märchen und deren didaktische Umsetzung im Unterricht - unipub
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Dzenita MESANOVIC Darstellung der Geschlechterrollen in spanischen und deutschen Märchen: Ein Vergleich anhand ausgewählter Märchen und deren didaktische Umsetzung im Unterricht Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Education im Studium Lehramt Sekundarstufe Allgemeinbildung im Entwicklungsverbund Süd-Ost vorgelegt an der Karl-Franzens-Universität Graz Begutachter: Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Klaus-Dieter Ertler Institut für Romanistik Graz, 2021
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung.......................................................................................................................................... 4 2. Das Märchen ..................................................................................................................................... 7 2.1 Gattungsbestimmung ................................................................................................................................ 7 2.2 Kennzeichen von Märchen nach Lüthi ...................................................................................................... 9 2.2.1 Eindimensionalität ............................................................................................................................ 9 2.2.2 Flächenhaftigkeit............................................................................................................................... 9 2.2.3 Abstrakter Stil ................................................................................................................................. 11 2.2.4 Isolation und Allverbundenheit ....................................................................................................... 11 2.2.5 Sublimation und Welthaltigkeit ...................................................................................................... 12 2.3 Geschichtlicher Überblick über die Märchenforschung ......................................................................... 12 2.3.1 Das deutsche Märchen .................................................................................................................... 12 2.3.2 Das spanische Märchen................................................................................................................... 14 2.3.3 Märchenforschung im 20. Jahrhundert............................................................................................ 16 3. Geschlechtergeschichte/Geschlechterordnung ............................................................................... 17 3.1 Geschlechterrollen und Stereotype im historischen Kontext .................................................................. 18 3.2 Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit im Märchen in Bezug auf das Geschlechterrollenverständnis im 19. Jahrhundert ...................................................................................... 21 3.3 Figuren im Märchen ........................................................................................................................... 23 3.3.1 Frauenfiguren im Märchen.............................................................................................................. 24 3.3.2 Männerfiguren im Märchen ............................................................................................................ 26 4. Vergleich ausgewählter deutscher und spanischer Märchen in Bezug auf Geschlechterrollen ..... 28 4.1 Dornröschen ........................................................................................................................................... 28 4.1.1 Inhaltsangabe .................................................................................................................................. 28 4.1.2 Analyse ........................................................................................................................................... 29 4.2 König Drosselbart .................................................................................................................................. 32 4.2.1 Inhaltsangabe .................................................................................................................................. 32 4.2.2 Analyse ........................................................................................................................................... 33 4.3 Hänsel und Gretel ................................................................................................................................... 36 4.3.1 Inhaltsangabe .................................................................................................................................. 36 4.3.2 Analyse ........................................................................................................................................... 37 4.4 La calandria salvadora........................................................................................................................... 39 4.4.1 Inhaltsangabe .................................................................................................................................. 39 4.4.2 Analyse ........................................................................................................................................... 40 4.5 El agua amarilla ..................................................................................................................................... 45 4.5.1 Inhaltsangabe .................................................................................................................................. 45 4.5.2 Analyse ........................................................................................................................................... 48 4.6 Las tres hilanderas ................................................................................................................................. 50 4.6.1 Inhaltsangabe .................................................................................................................................. 50 4.6.2 Analyse ........................................................................................................................................... 51 2
4.7 Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Geschlechterrollenverteilung in den analysierten Erzählungen .................................................................................................................................................. 54 5. Didaktik der Märchen .................................................................................................................... 58 5.1 Märchen im Unterricht ........................................................................................................................... 58 5.2 Interkulturelles Lernen und interkulturelle Bildung durch Märchen ...................................................... 61 5.3 Literarische Bildung durch Märchen...................................................................................................... 63 6. Unterrichtseinheit zur Vermittlung interkultureller Aspekte und gesellschaftlicher Rollenbilder 64 6.1 Das didaktische Phasenmodell nach Waldmann/ Kreft .......................................................................... 67 6.1.1 Vorphase: Spielhafte Einstimmung in literarische Texte ................................................................ 67 6.1.2 Erste Phase: Lesen und Aufnehmen literarischer Texte .................................................................. 69 6.1.3 Zweite Phase: Konkretisierende subjektive Aneignung literarischer Texte .................................... 71 6.1.4 Dritte Phase: Textuelles Erarbeiten literarischer Texte ................................................................... 73 6.1.5 Vierte Phase: Textüberschreitende Auseinandersetzung mit literarischen Texten .......................... 75 7. Fazit ................................................................................................................................................ 77 8. Bibliographie .................................................................................................................................. 80 8.1 Primärliteratur ....................................................................................................................................... 80 8.2 Sekundärliteratur .................................................................................................................................... 80 8.3 Internetquellen ........................................................................................................................................ 83 9. Anhang ........................................................................................................................................... 84 3
1. Einleitung Kinder brauchen Märchen1, so lautet der Titel eines berühmten Werkes des Märchenforschers Bruno Bettelheim, der darauf hindeutet, dass Menschen bereits seit dem Kindesalter mit Mär- chenerzählungen konfrontiert sind. Zahlreiche Charaktere im Märchen erleben sowohl die Kindheit als auch die Phase der Adoleszenz, weshalb die Gattung nicht nur für Kinder, son- dern auch für Jugendliche ihre Relevanz zeigt.2 Besonders beliebt sowohl im deutschen Sprachraum als auch weltweit sind Erzählungen der Brüder Grimm, deren Inhalte wie die Eroberung von Prinzessinnen oder der Kampf der Hel- den gegen böse Hexen in Erinnerung vieler geblieben sind. Daraus sind außerdem zahlreiche Walt-Disney Produktionen entstanden, die auf Inhalten tra- ditioneller Märchenerzählungen beruhen.3 In vielerlei Hinsicht wurden Märchen also zum zentralen Forschungsgegenstand, angefangen im 19. Jahrhundert bis hin zur heutigen Zeit. Vor allem im Bereich der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaften stellt die Gattung des Märchens einen wichtigen Schwerpunkt dar, insbesondere deshalb, weil Märchenerzählungen im Kindesalter und auch für die Entwick- lung des Kindes eine Rolle spielen.4 Eng verbunden mit diesem Aspekt bilden die Märchen auch ein Forschungsfeld der psychologischen Forschung ab, die vor allem die Beziehung zwischen dem Kind und dem Märchen unter die Lupe nimmt und Märcheninhalte auf Hand- lungssituationen des Kindes transferiert. Auch im Bereich der Soziologie kommt die Märchenforschung nicht zu kurz, die sich die gesellschaftlichen Bedingungen, zu denen Inhalte wie Gesetz und Moral zählen, zum For- schungsgegenstand macht.5 Sie beschäftigt sich damit, inwieweit diese im Märchen darge- stellten Aspekte auch auf die Auffassung von Gesetz und Moral von Kindern und Jugendli- chen übertragen werden können. Auch das klassische Märchenmotiv des Happy-Ends, das uns schon im Kindheitsalter einen bestimmten Lebensoptimismus lehrt, kann unsere Vorstel- lungen vom Leben beeinflussen. Die Konstruktion unterschiedlicher Konzepte, die mit der gesellschaftlichen Aufgabe von Frau und Mann einhergehen, erscheinen in der Gattung von besonderer Wichtigkeit. Ihre Funktion in der Gesellschaft ist vor allem durch den historischen Hintergrund des 19. 1 Bettelheim 1977. 2 Vgl. Lange 2010, 21. 3 Vgl. Stauff 2010, 10. 4 Ebda, 13. 5 Vgl. Lange 2010, 20. 4
Jahrhunderts geprägt, der Zeit, als die Brüder Grimm ihre Märchensammlung im deutschen Sprachraum veröffentlichten. Somit ist es interessant zu erfahren, welche Charaktereigen- schaften die Figuren in Grimms Märchen aufweisen, welche gesellschaftlichen Rollen und Funktionen diesen zugeschrieben werden und ob sich der Charakter der Epoche des 19. Jahr- hunderts auch tatsächlich auf die Motive in Grimms Märchen auswirkt. Darüber hinaus sind parallel zu der Kinder- und Hausmärchensammlung auch traditionelle Volksmärchen im spanischsprachigen Raum gesammelt worden. Die cuentos populares es- pañoles entstanden aus einer Vielzahl regionaler Märchenerzählungen, die von José María Guelbenzu zu einem Band gesammelt wurden. Um auch diese näher zu beleuchten, steht im Mittelpunkt dieser Arbeit zudem die Analyse spanischsprachiger Märchen in Bezug auf deren Präsentation von Frauen- und Männercharakteren. Vielmehr soll herausgefunden werden, welche gemeinsamen Merkmale sich im deutsch- und spanischsprachigen Raum aufweisen lassen und ob Unterschiede hinsichtlich der Darstellung der Figuren zu finden sind. Im Zuge dessen soll im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit die Gattung des Märchens näher bestimmt und von ähnlichen Gattungen, wie der Sage bzw. der Legende, abgegrenzt werden. Darüber hinaus wird der Aufbau des Märchens in Verbindung mit den Forschungs- ansätzen von Max Lüthi, einem bekannten Märchenforscher, im Detail betrachtet. Darauf folgt ein geschichtlicher Überblick über die Märchenforschung im deutsch- bzw. spanisch- sprachigen Raum, um den Kontext der Erzählungen festzumachen. Das zweite Kapitel widmet sich der Thematik der Geschlechterrollen des 19. Jahrhunderts. Da die Märchensammlungen in dieser Zeit entstanden sind, sollen die charakteristischen Ei- genschaften von Frau und Mann in diesem Kontext erläutert und die daraus resultierenden Geschlechterrollenstereotype genauer betrachtet werden. Anschließend folgt ein Umriss der typischen Märchenfiguren, der als Grundlage für den analytischen Teil herangezogen werden soll. In diesem sollen nämlich auszugsweise Märchenerzählungen auf die Darstellung ihrer Figuren hin untersucht werden, wobei der Fokus auf den Hypothesen aus dem zweiten Kapitel liegt. Um die Geschlechterdarstellungen im Detail zu beschreiben, wird im Rahmen der Analyse untersucht, ob die geltenden Rollenvorstellungen des 19. Jahrhunderts auch auf die einzelnen Charaktere im Märchen zutreffen und inwiefern diese für die Handlung eine Rolle spielen. Die Auswahl der Märchen beruht sowohl bei den deutschen als auch bei den spanischen 5
Beispielen auf Erzählungen, die weibliche und männliche Charaktere (in menschlicher Form) im Fokus haben. Abschließend wird ein Vergleich der Erzählungen gezogen, um eventuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die genannte Thematik festzuhalten. Das letzte Kapitel widmet sich schließlich der didaktischen Ausarbeitung einer Unterrichts- einheit zum Thema Märchen. Da die Erzählungen, wie bereits genannt, im Kindes- und auch im Jugendalter von großer Wichtigkeit sind, spielen sie auch im Unterricht eine zentrale Rolle für die Entwicklung der Kinder. Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel versucht, eine Unterrichtseinheit mit der Aufarbeitung der Geschlechterrollen, wie sie im Märchen präsent sind, zu konzipieren. Als Grundlage gilt hierbei ein produktionsorientiertes Verfahren, das im Rahmen des Vierphasenmodells nach Waldmann/ Kreft vorgestellt wird. Angelehnt an die vier Phasen, sollen Aufgabenstellungen präsentiert werden, die Lernenden ermöglichen, Schritt für Schritt das Textverständnis zu erlangen. Da auch die Motivation und Kreativität der Lernenden im Mittelpunkt stehen sollen, können sie aus gewissen Aufgabenstellungen wählen und diese in Form eines Lesetagebuchs individuell bearbeiten. 6
2. Das Märchen 2.1 Gattungsbestimmung Die Gattung des Märchens wird in der Literaturwissenschaft grundsätzlich mit dem Begriff der Erzählung in Verbindung gebracht. Das Metzler Lexikon versteht darunter im Speziellen ,,Erzählungen volkstümlicher Herkunft mit Elementen des Wunderbaren und Übernatürli- chen.“6 Die Brüder Grimm, welche als Sammler der Kinder- und Hausmärchen bekannt sind, verste- hen unter Märchen eine kleine mär, also eine kleine Erzählung, die ,,im Gegensatz zur wahren Geschichte steht“.7 Max Lüthi beschreibt das Märchen als welthaltige Abenteuererzählung, die vor allem durch die inhaltlichen Kriterien wie Klarheit, Geheimnis und Verzicht auf dogmatische Klärung gekennzeichnet ist.8 Andererseits hat Vladimir Propp, der einen wichtigen Beitrag für die Märchenforschung leistete, mit seinen Analysen russischer Märchen festgestellt, dass viel mehr die Struktur als der Inhalt bei Märchenerzählungen im Vordergrund steht.9 Laut Propp lässt sich jedes Märchen in folgende strukturelle Bestandteile zerlegen: Auszugehen ist stets von einer Mangel- oder Konfliktsituation, die dazu führt, dass der Protagonist sein Zuhause verlässt und sich schließlich auf eine Wanderung begibt. Anschließend muss sich der Held behaupten, indem er verschiedene Aufgaben löst. Die Lösung der Aufgabe führt schließlich zur Reifung seiner Persönlichkeit, wodurch am Ende das Glück (in Form einer Braut oder eines sozialen Aufstiegs) auf ihn wartet.10 Neben dem Helden sind laut Lüthi in jedem Märchen auch immer ein Unheld, ein Helfer sowie ein Gegner anzutreffen.11 Durch das Aufeinandertreffen der einzelnen Figuren entwi- ckelt sich jede Märchenerzählung in ihre eigene Richtung, wodurch viele Kombinationen möglich sind. Stauff weist auf die charakteristische Figur des Wanderers hin, die häufig in Form eines Mär- chenhelden auftritt und den Ausgangspunkt für die Definition des Märchens als 6 Metzler-Lexikon: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-476-03703-9_124 7 Stauff 2010, 51. 8 Vgl. Lüthi 1974, 77. 9 Vgl. Stauff 2010, 64. 10 Vgl. Lange 2010, 14. 11 Vgl. Lüthi 1974, 82. 7
Reiseerzählung darstellt.12 In Verbindung damit lassen sich außerdem Motive wie Flucht, Aussetzung oder Vertreibung finden, die als Auslöser für die Reise, auf die sich der Protago- nist begibt, gelten. Dies wäre beispielsweise im Märchen Hänsel und Gretel sichtbar, bei der die beiden Kinder von den Eltern im Wald ausgesetzt werden und keine andere Wahl haben, als sich selbstständig auf eine ,,Reise“ zu begeben. Einen anderen Grund für das Reisemotiv stellt die persönliche Entfaltung des Protagonisten dar. Er hat in seiner gewohnten Umgebung keine Möglichkeit sich weiterzuentwickeln, wes- halb er diese schließlich verlässt mit dem Ziel, etwas Neues zu erleben.13 Lüthi grenzt die Gattung zusätzlich von Sagen und Legenden ab, die seit Jahrhunderten pa- rallel zur Gattung des Märchens verlaufen, ohne, dass sich deren Elemente untereinander ver- mischen. Während laut Lüthi die Sage und die Legende einen Kern der Wirklichkeit in sich tragen bzw. einen Sinn im Dargestellten suchen, existiert beim Märchen keine Bindung an die Wirklichkeit bzw. ein Dogma.14 Seine zentralen Merkmale sind Anonymität (kein namentlich genannter Verfasser), die münd- liche Tradierung, formelhafte Wendungen, direkte Reden sowie ein Happy-End.15 Hinzu kommt, dass Märchen im Laufe der Zeit Veränderungen bezüglich des Stils aufweisen kön- nen, worauf im Kapitel über den historischen Kontext etwas genauer eingegangen wird. Jedes Märchen beinhaltet zudem nach Lüthis Aussagen eine Mischung unterschiedlicher Ele- mente, deren Zusammensetzung als Kunstform bezeichnet werden kann. Die Verbindung des Wunderbaren mit dem Natürlichen, des Nahen mit dem Fernen oder des Begreiflichen mit dem Unbegreiflichen bringt die Erwartung mit sich, im Detail untersucht zu werden.16 Viele märchenhafte Wendungen lassen sich auch heutzutage noch in unserem Alltag finden, darunter auch unter anderem negativ konnotierte Ausdrücke wie: ,,Erzähl mir kein Märchen“ (Ausdruck der Skepsis) oder ,,im Dornröschenschlaf liegen“ (vor sich hinträumen/nichts mit- bekommen), wodurch die Gattung zunächst auch als Lügengeschichte definiert wurde.17 Ab dem 18. Jahrhundert kam es insbesondere durch die Märchensammlung der Brüder Grimm 12 Vgl. Stauff 2010, 74. 13 Ebda, 77. 14 Lüthi 1974, 78. 15 Vgl. Petzoldt 2004, 92. 16 Vgl. Lüthi 1974, 6. 17 Vgl. Lange 2010, 8. 8
jedoch wieder zur Aufwertung der Märchenerzählungen, die bis heute in zahlreichen Kontex- ten, wie schon in der Einleitung erwähnt, untersucht werden. 2.2 Kennzeichen von Märchen nach Lüthi Um einen genauen Einblick in die Märchengattung zu gewinnen, sollen im Folgenden die Merkmale des Märchens bezüglich ihres Inhalts und ihrer Struktur nach dem Märchenfor- scher Max Lüthi im Detail erläutert werden. 2.2.1 Eindimensionalität Zu den Charakteristika des Märchens zählt die sogenannte Eindimensionalität. Diese be- schreibt Aspekte des Märchens, die als Faktum akzeptiert werden, ohne dass sie explizit hin- terfragt werden. Phantastische Vorgänge oder Begegnungen mit Figuren aus dem Jenseits, mit denen eine Märchenfigur im Rahmen der Erzählung konfrontiert wird, werden als Tatsa- chen hingenommen, wobei kein Staunen seitens der Figur darüber zu erkennen ist. Vielmehr nutzt die Figur dieses phantastische Element als treibende Kraft für die Handlung.18 Hierzu ein Beispiel: Nach jahrelanger Trauer über ihre Kinderlosigkeit ist Dornröschens Mut- ter bei der Verkündung der Botschaft, dass sie in Kürze ein Kind bekommen wird, weder überrascht noch hinterfragt sie das Geschehene. Das Märchen fokussiert also nicht die Hin- tergrundbeschreibungen, sondern die Handlungen an sich, die der Leser bzw. die Leserin als Tatsache annimmt. Lüthi schreibt dazu: Das Märchen an sich ist selbstverständlich – wir vertrauen ihm gerade deshalb, weil es in sich ,,vollkommen“ ist und keine zusätzlichen Erklärungen benötigt.19 Der Märchenheld handelt und hat weder Zeit noch Anlage, sich über Seltsames zu verwundern.20 Das Mär- chen unterscheidet nicht zwischen Alltäglichem und Wunderbaren, sondern betrachtet bei- des als gleichrangig.21 2.2.2 Flächenhaftigkeit Das Merkmal der Flächenhaftigkeit bezieht sich sowohl auf Märchenfiguren als auch auf Ob- jekte, die in Märchenerzählungen vorkommen. Die Bezeichnung der Figuren im Märchen als 18 Lüthi 1974, 8. 19 Ebda, 79. 20 Ebda, 10. 21 Ebda, 12. 9
flächenhaft spiegelt sich insofern wider, dass der Fokus auf ihren Handlungen liegt und nicht auf den körperlichen oder emotionalen Aspekten. Gefühle kommen nur dann ins Spiel, wenn sie für die fortschreitende Handlung relevant sind. Die seelische Tiefe und die detaillierte Schilderung von Gefühlszuständen werden im Rahmen der Erzählung außer Acht gelassen. Wenn jedoch eine bestimmte Gefühlsregung geschildert wird, dann nicht, um mit der Figur nachzuempfinden, sondern, weil diese den Auslöser für die weiteren Handlungsschritte der Figur darstellt. Beispielsweise wird der traurige Seelenzustand bzw. das Weinen Aschenput- tels nur deshalb beschrieben, damit der nächste Handlungsschritt, das Auftauchen eines Hel- fers, nachvollziehbar wird.22 Somit lässt sich feststellen, dass nicht die inneren Zustände die Figuren im Märchen vorantreiben, sondern äußere Regungen, wie Funde, Aufgaben oder Rat- schläge für den Handlungsverlauf notwendig sind. Die Flächenhaftigkeit zeigt sich nicht nur bei den Figuren selbst, sondern auch in ihren Be- ziehungen zu anderen Figuren. Märchenfiguren zielen nämlich nicht darauf ab, feste, andau- ernde Beziehungen einzugehen, Nebenfiguren treten nur im Zusammenhang damit auf, wenn sie entscheidend für den weiteren Handlungsverlauf sind. Lüthi veranschaulicht die Flächen- haftigkeit am Beispiel der Heirat. Hierbei gilt die Beziehung zwischen Mann und Frau als formelhafter Schluss eines Märchens, der so lange als möglich hinausgezögert werden soll.23 Was nach der Heirat passiert bzw. welche Gefühle dabei im Spiel sind, tritt in den Hinter- grund, vielmehr wird die Heirat, vermutlich aufgrund festgelegter gesellschaftlicher Konven- tionen, als abschließender Handlungsschritt des Märchens gesehen. Als dritter Aspekt, in dem sich die flächenhafte Darstellung zeigt, kann die zeitliche Dimen- sion genannt werden. Lüthi schreibt, dass die Wahrnehmung der Zeit auch zum seelischen Leben einer Figur gehört, weshalb auch diese im Märchen fast gänzlich fehlt. Welche Zeit- spanne von einer Episode zur anderen vergeht, lässt sich im Märchen nicht feststellen. Auch wird diese nicht als solche Zeitspanne gesehen, wie sie in der Erzählung tatsächlich angege- ben ist. Beispielsweise würde Dornröschens 100-jähriger Schlaf nicht wirklich 100 Jahren entsprechen, weshalb das Märchen lediglich den Unterschied zwischen Alt und Jung sichtbar macht und auf detaillierte zeitliche Darstellungen verzichtet.24 22 Ebda, 15. 23 Ebda, 18. 24 Ebda, 22. 10
2.2.3 Abstrakter Stil Eng verbunden mit dem Merkmal der Flächenhaftigkeit ist auch das Charakteristikum des abstrakten Stils im Märchen. Ähnlich wie die Gefühlszustände der Figuren nicht tiefgründig geschildert, sondern nur an der Oberfläche benannt werden, trifft die ,,Technik der bloßen Benennung“ auch auf alles Diesseitige, Jenseitige, Gegenstände und Orten zu, die in Erzäh- lungen vorkommen.25 Durch das bloße Nennen bestimmter Orte verschwimmt auch die Linie der Handlung, die nicht einen konkreten Handlungsraum fokussiert, sondern viel mehr, wie aus vielen Märchenerzählungen bekannt ist, ferne Reiche und das Weite als Handlungsräume angibt. Die Abstraktheit betrifft zudem auch starre Formeln, die sich im Märchen in Form von Zahlenreihen, Sätzen oder ganzen Satzfolgen widerspiegeln. Besonders beliebt ist hier das Element der Dreiheit, das entweder in Form der Ziffer drei vorkommt oder Satzabfolgen, die sich drei Mal wiederholen, darstellt.26 Auch formelhafte Einstiege wie ,,Es war einmal“ oder Schlusssätze wie ,,Wenn sie nicht ge- storben sind, dann leben sie noch heute“ zählen zu dieser Kategorie. 2.2.4 Isolation und Allverbundenheit Märchen unterliegen zudem den Motiven der Isolation und Allverbundenheit. Da sie Gefühle bzw. die Innenwelt der Figuren nicht im Fokus haben, spielen Motive wie das Seltene, Kost- bare und Extreme umso mehr eine Rolle.27 Im Märchen sind Figuren, Dinge oder Handlungs- abfolgen voneinander isoliert und haben auf den ersten Blick keinen roten Faden.28 Auf der anderen Seite steht das Merkmal der Allverbundenheit. Dadurch, dass Märchenhand- lungen von Isolation geprägt sind, werden gleichzeitig unterschiedliche Formen der Verbin- dung der Einzelstücke miteinander ermöglicht.29 Ein Beispiel dafür ist der Held, der auf den ersten Blick alleine durchs Leben zu gehen scheint und keine Verbindung zu anderen Figuren aufbaut. Jedoch ist genau das der ausschlagge- bende Punkt. Durch seine Isoliertheit bekommt er gleichzeitig die Möglichkeit, verschiedene Beziehungen mit seiner Umwelt einzugehen, um hier wiederum den Kreis zu schließen und eine Allverbundenheit herzustellen. Die erwähnten Formeln, die zum abstrakten Stil des Mär- chens gezählt werden können, schaffen beispielsweise die Verbindung zwischen den 25 Ebda, 25f. 26 Ebda, 33. 27 Ebda, 37. 28 Ebda, 43. 29 Ebda, 49. 11
einzelnen Episoden, indem sich sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene zahl- reiche Wiederholungen finden lassen.30 2.2.5 Sublimation und Welthaltigkeit Zu den typischen Motiven eines Märchens zählen all diese Dinge, die das Leben in einer Gemeinschaft darstellen und somit auch auf wesentliche Elemente des menschlichen Seins übertragen werden können, was sich mit dem Begriff der ,,Welthaltigkeit“ umschreiben lässt. Ob Hochzeit, Armut, Kinderlosigkeit oder Verweisung etc. – all diese ursprünglich profanen, numinosen, magischen oder mythischen Motive, werden aus ihrem ursprünglichen Bedeu- tungskontext entnommen und zum Teil des Märchenhaften sublimiert.31 Somit kommen sie in einen neuen Kontext, wodurch sie im Zusammenspiel miteinander wie- derum den Charakter vieler europäischer Märchenerzählungen reflektieren. 2.3 Geschichtlicher Überblick über die Märchenforschung 2.3.1 Das deutsche Märchen Das 19. Jahrhundert war prägend für die Erforschung der Ursprünge des Volksmärchens vor allem im deutschen Sprachraum. Neben den Brüdern Grimm, die ausschlaggebend für die Sammlung der heute bekannten Kin- der- und Hausmärchen waren, erforschten auch andere deutsche Autoren wie Brentano, Goe- the, Novalis oder Tieck, um nur einige bekannte Beispiele zu nennen, die Märchengattung.32 Als wichtiger Vorläufer der Brüder Grimm gilt im deutschen Sprachraum vor allem Brentano, dessen Erzählungen größtenteils seiner eigenen Phantasie entsprangen und sich zusätzlich durch barocke Elemente sowie komische und liedhafte Passagen auszeichneten.33 Goethe ging schließlich einen Schritt weiter und bezeichnete seine Märchen als romantische Konzeption der Poesie, worin er Märchenstoffe mit Sagen und wunderbaren Begebenheiten kombinierte. Somit entstand eine Mischung aus mittelalterlichen und barocken Elementen, die die Basis für die Erzählungen darstellte.34 Novalis hingegen, tendierte mehr zum Mythischen und stellt eine Verbindung zwischen Natur 30 Ebda, 63. 31 Ebda. 32 Vgl. Karlinger 1988, 13. 33 Ebda, 35. 34 Ebda, 42. 12
und Geisterwelt her. In seinen Erzählungen werden Inhalte nicht klar offengelegt, so wie es für Märchenerzählungen typisch ist, viel mehr bleiben Geheimnisse ungelöst, wodurch seine Konzeption deutlich von der der Brüder Grimm abweicht, deren Märchensammlung vorran- gig Kinder als Zielpublikum hat.35 Zu guter Letzt ist Ludwig Tieck zu erwähnen, der seine Erzählungen in Anlehnung an Sagen verschriftlicht. Bei ihm steht die Welt der Natur im Zentrum, wobei der Märchenheld zwischen der Welt der Natur und der Welt der tätigen Menschen schwankt. Eine wichtige Änderung vollzieht Tieck insofern, dass bei ihm die Märchentypen, die bis dorthin in Erzählungen zu finden waren, in tatsächliche Charaktere umgewandelt werden.36 Mit Jacob Ludwig Karl Grimm und Wilhelm Carl Grimm erlebten die Märchen ihren größten Aufschwung nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern europaweit. Unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen schrieben die beiden bis dorthin mündlich tra- dierte Erzählungen nieder, die im Zeitraum von 1807 bis 1857 immer wieder überarbeitet und durch Hinzufügen anderer Überlieferungen bereichert wurden.37 Wie der Titel der Märchensammlung bereits andeutet, handelt es sich bei der Zielgruppe in erster Linie um Kinder, weshalb vor allem anstößige Stellen überarbeitet und Vereinfachun- gen hinzugefügt wurden. Auch die Erleichterung des Verständnisses stand im Zentrum, was auch einen Grund für die Überarbeitung darstellte. Zudem sind zahlreiche Einflüsse der deutschen Romantik und der Epoche des Biedermeier zu erkennen, die sich in der Form äußern, dass Themen und Geschichten der landeseigenen Kultur aufgegriffen wurden, was sich in Motiven wie dem Rückzug ins Private und Häusliche bemerkbar macht.38 Trotz ihrer Bemühungen, viele Fremdwörter aus den Erzählungen ins Deutsche zu überset- zen, hatten sie parallel großes Interesse daran, ihre Märchen über die sprachlichen Grenzen und Nationen hinaus zu übertragen, was ihnen schließlich auch gelang. Ihre Märchen wurden bis heute in über 70 Sprachen übersetzt. Jakob und Wilhelm Grimm legten zusätzlich mit ihren Vorreden, Anmerkungen und Briefen den Grundstein für eine Märchenforschung im deutschen genauso wie im europäischen Sprachraum.39 35 Ebda, 44. 36 Ebda, 45. 37 Ebda, 48f. 38 Ebda, 51. 39 Ebda, 56f. 13
Die Verbreitung der Märchenerzählungen im europäischen Raum kann an bekannten Namen wie Charles Perrault oder Marie-Cathérine d’Aulnoy festgemacht werden, die auch bereits Vorlieben für die Sprache des Volkes aufzeigten. Die Bekanntheit der Erzählungen zeichnet sich zudem auch im internationalen Raum ab, wo die Märchen aus dem orientalischen Raum, nämlich jene aus 1001 Nacht, große Bekanntheit erfuhren.40 Ein wichtiger Aspekt, der nahezu allen Erzählungen gemeinsam ist, sind immer wiederkeh- rende Motive des Märchens, mit ihren einprägsamen Merkmalen der Charaktere, der Irrealität der Handlung sowie dem guten Ende, die Beispiele für einen hohen Wiedererkennungswert sind.41 2.3.2 Das spanische Märchen Im spanischen Sprachraum zeigen sich die ersten mündlichen Erzählungen bereits im Mittel- alter. Im Gegensatz zur heutigen Funktion, wo das Zauberhafte in den Mittelpunkt rückt, stand zu diesem Zeitpunkt die erzieherische Funktion im Vordergrund. In der Epoche der Renaissance hingegen rückten zudem die Handlung und Komik stark ins Zentrum.42 Ähnlich wie im deutschen Sprachraum erlebten die Märchenerzählungen im spanischsprachi- gen Gebiet große Wertschätzung, was sich vor allem darin bemerkbar machte, dass zahlreiche Autoren aus der genannten Periode Märchenmotive als thematische Vorlage für ihre Werke verwendeten. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Sammlung der Kinder- und Haus- märchen der Brüder Grimm veröffentlicht wurde, unterstützten spanische Autoren wie Anto- nio de Trueba oder Fernán Caballero die Tatsache, dass Märchen gesammelt, studiert und veröffentlicht gehören.43 Vor allem der Bezug zu traditionellen Märchenerzählungen fand in diesem Jahrhundert seinen Platz. Wie bereits im deutschen Sprachraum fanden auch hier Adaptionen der Ursprungserzählun- gen statt, die sich vor allem im gesellschaftlichen Zusammenleben und somit in Bereichen der Moral, Religion oder Literatur äußerten und an jeweilige Vorstellungen der Epochen an- gepasst wurden. Das Interesse am spanischen Märchen, seinen Themen und seinem Stil stieg 40 Vgl. Denecke 1993, 14. 41 Ebda, 17f. 42 Vgl. Camarena 1993, 257. 43 Ebda, 258. 14
in ganz Spanien, weshalb sich drei unterschiedliche Richtungen herausbildeten: die katalani- schen, die betisch-estremischen und die galicischen Märchenerzählungen. Obwohl die Erzäh- lungen regionale Unterschiede aufwiesen, blieb sowohl die Handlung als auch die Struktur der Erzählungen von einer Universalität geprägt, wie sie nicht nur im spanischen, sondern auch im internationalen Raum zu finden war.44 Die Sammlung und Erforschung der spanischen Volksmärchen erreichte ihren Höhepunkt jedoch erst im 20. Jahrhundert, als berühmte Märchensammlungen, wie die Cuentos popula- res españoles von Aurelio M. Espinosa und seinem gleichnamigen Sohn veröffentlicht wur- den. Zu erwähnen ist hierbei, dass in spanischen Märchenerzählungen durchaus auch Ein- flüsse der maurischen bzw. auch jüdischen Völker zu finden sind, was einen Vergleich mit den deutschen Märchen noch interessanter gestaltet. Einflussreich waren zudem orientalische Elemente, die sich auch in spanischen Versionen der Märchen widerspiegeln.45 Charakteristisch für die spanischen Erzählungen ist laut Guelbenzu ferner der Realismus, der auch typisch für die spanische Kunst und Kultur war. ,,Su robusto amor de la realidad, en el que se mezcla el más desenfrenado idealismo cristiano“, wie Gautier die Spanier beschrieb, spiegelt sich in zahlreichen Märchenerzählungen wider, was auch ihre Begeisterung für die spanische Volkserzählung betont.46 Das zweite zentrale Merkmal spanischer Märchen, wie auch schon bei den Märchen der Brü- der Grimm sichtbar wurde, beinhaltet die Faszination für das Wunder. Mit Hilfe dieses Mo- tivs, das sich meist in Form von Helferfiguren äußert, entfliehen die Märchenfiguren gewissen Problematiken des Alltags. Meist steht das Wunderbare zusätzlich in Verbindung mit dem Göttlichen, wobei jemand, der vom Himmel gesendet wurde, dem Helden bzw. der Heldin zur Seite steht.47 Weiters ist es charakteristisch für diese Gattung, dass sich der sogenannte Realismus auch in den Verhältnissen zwischen den einzelnen Figuren reflektiert. Im Gegensatz zu anderen eu- ropäischen Märchen, existiert in den spanischen Versionen häufig eine familiäre Beziehung zwischen den einzelnen Figuren, die auch über Standesgrenzen hinausgeht. Ein Bauer kann beispielsweise auf der gleichen Ebene mit einem König kommunizieren, wie mit seinen eige- nen Kindern, wodurch keine großen Hierarchieunterschiede vorzufinden sind.48 44 Vgl. Camarena 1993, 258. 45 Vgl. Guelbenzu 2014, 7. 46 Ebda, 8. 47 Ebda, 9. 48 Ebda, 10. 15
Die Themen und Motive des spanischen Märchens haben viele Gemeinsamkeiten mit den übrigen europäischen Märchen, da diese oftmals übernommen wurden und vor allem durch ihre orale Tradierung in der ganzen Welt angekommen sind. Sie haben häufig ihren Ursprung in den Mythen der griechischen und lateinischen Kultur.49 2.3.3 Märchenforschung im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert rückte vor allem der Zusammenhang der Märchenerzählungen in Verbin- dung mit dem Untersuchungsgegenstand der Psychologie ins Zentrum. Untersuchungen von Erwin Müller und Georg Jakob ergaben, dass Märchen als bildhaftes Handlungsgeschehen gesehen werden können, worin sich das unbewusst Erlebte eines Menschen verarbeiten lässt.50 Eine weitere Parallele zur Psychologie stellt Wittgenstein mit der Thematik des Traumes her. Das Märchen stellt, wie der Traum, das Handlungsgeschehen bildhaft dar. Abstrakte Ele- mente, wie der Tod, das Böse oder das Schicksal werden personifiziert und lassen sich dadurch leichter verarbeiten.51 Auch der Bezug zur Kindheit ist in dieser Zeit gegeben, wobei Max Lüthi wiederum betont, dass sich das eigentliche Leben des Märchens in der Kinderstube vollziehen würde. Nicht nur für Kinder sind die Erzählungen bedeutend, viel mehr zählt Röhrich die Geschichten auch zum ,,Erzählgut von Erwachsenen“, wodurch sie ein breites Zielpublikum umfassen.52 Forscherinnen und Forscher sehen im Märchen außerdem die Verarbeitung von allgemein- menschlichen Reifungsprozessen sowie Grundsituationen des menschlichen Lebens.53 Wie bereits bei den Kennzeichen der Märchenerzählungen von Lüthi erwähnt, behandelt das Mär- chen alltägliche Themen des Menschenlebens, was vermutlich einen Grund für das große In- teresse an dieser Gattung darstellt. Ein anderer Forschungsaspekt, der im 20. Jahrhundert in den Fokus rückt, bezieht sich auf die Kontextforschung. Nach Lüthi werden Märchentexte immer wieder neu rezipiert. In jeder Epoche bekommen sie ihre eigene Note, weshalb der Kontext auch nach langer Auszeit wie- der Aktualität erlangen kann. Texte können Dokumente für menschliche Bedürfnisse, 49 Ebda, 11. 50 Vgl. Karlinger 1988, 112. 51 Ebda. 52 Vgl. Röhrich 1993, 9. 53 Vgl. Karlinger 1988, 113. 16
Fähigkeiten und Möglichkeiten darstellen, worin sich viele wiederentdecken und die Erzäh- lung somit Identifikationsmöglichkeiten für Personen bietet.54 Da Märchen auch immer ein Spiegelbild der Gesellschaft projizieren, in der sie erzählt wer- den, gewinnt insbesondere mit der Frauenbewegung in den 1990er- Jahren die Rolle des Weiblichen einen Interessensaspekt dazu. Das äußert sich in den Märchenerzählungen inso- fern, dass häufig weibliche Hauptfiguren im Zentrum stehen. Klar ist jedoch, dass sich immer noch Rollenzwänge aus der patriarchalischen Welt widerspiegeln. Der Mann vollbringt Hel- dentaten, während die Frau eine dienende Rolle einnimmt.55 Somit rücken neue Aspekte in den Fokus der Märchenforschung, die vor allem im Zusammenhang zwischen Märchenerzäh- lungen und Geschlechterrollen zu finden sind. Auch Sozialisationsprozesse, das Erwachsenwerden, die Ablösung vom Elternhaus gewinnen an Bedeutung und haben außerdem heutzutage für die Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen eine große Relevanz.56 Neben den genannten Forschungsschwerpunkten wird auch deutlich, dass die Pädagogik ei- nen großen Teil der Märchenforschung ausmacht.57 Im Zuge dessen soll im zweiten Teil der Arbeit auch ein Vorschlag für eine didaktische Umsetzung der theoretischen Diskussionen erarbeitet werden. In Verbindung mit Röhrichs Hypothesen steht dabei insbesondere die Frage im Zentrum, welche gesellschaftlichen Modelle das Märchen abbildet und wie diese den Menschen von heute, vor allem Kindern, vermittelt werden, was nun im folgenden Kapi- tel näher betrachtet werden soll. 3. Geschlechtergeschichte/Geschlechterordnung Der ausschlaggebende Zeitpunkt für die historische Aufarbeitung der Geschlechtergeschichte findet sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das vor allem durch die Frauenbewe- gung prägend war. Neben zahlreichen Bereichen, die die Grundlage für die Untersuchung feministischer Forderungen bildeten, rückte auch die Geschlechtergeschichte ins Zentrum der Untersuchungen. Dabei spielte die Beschäftigung mit dem Rollenbild der Frau eine große 54 Ebda, 114. 55 Vgl. Röhrich 1993, 10. 56 Ebda. 57 Ebda, 12f. 17
Rolle, das sich historisch, im Gegensatz zum Rollenbild des Mannes, deutlich wandelte. Be- ginnend in den 1970er- Jahren fand eine detaillierte geschichtliche Aufarbeitung der Ge- schlechter und ihrer sozialen Rollen in den darauffolgenden Jahrzehnten statt.58 Grundsätzlich lag der Fokus der Untersuchungen auf drei unterschiedliche Ebenen, nämlich der Geschlechterordnung, dem Geschlechterverhältnis und der Geschlechterbeziehung. Die Untersuchung der ersten Ebene ergab, dass im Zuge der Geschlechterordnung überwiegend eine Geschlechterhierarchie zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht herrschte, bei der der Mann stets im Laufe der Geschichte als Oberhaupt galt. Das Geschlechterverhält- nis hat sich im Laufe der Jahre stets an die kulturellen, sozialen und institutionellen Gegeben- heiten angepasst, sodass sich differenzierte Verhältnisse ergaben. Die Geschlechterbeziehung bezeichnete schließlich die Kommunikation und das Verhalten einerseits zwischen Frauen und Männern in Beziehung zum eigenen Geschlecht, andererseits zwischen Frau und Mann als Einzelpersonen. Die Problematik besteht darin, dass genau auf diesen drei Ebenen Ungleichheiten entstehen können, was in Verbindung mit Stand/Klasse und Ethnie/Rasse zu analysieren ist.59 Im Hinblick darauf spielte vor allem die Trennung zwischen den Bereichen der Öffentlichkeit und Privatheit eine Rolle, die jeweils auch nach den beiden Geschlechtern aufgeteilt wurden. Die Öffentlichkeit war dem männlichen Geschlecht zugeschrieben, wobei er als Ernährer und Beschützer galt, während der private Bereich mit der Frauenrolle ausgefüllt war.60 Die vertretene strikte Zweigeschlechtlichkeit wurde im Zuge zahlreicher Analysen vor allem im deutschen Sprachraum zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert untersucht. 3.1 Geschlechterrollen und Stereotype im historischen Kontext In Anknüpfung an die Untersuchungen bezüglich der Zweigeschlechtlichkeit lässt sich eine Parallele zur Zeit der veröffentlichten Sammlung der Kinder- und Hausmärchen ziehen. Zu dieser Zeit konnte nämlich auch die bürgerliche Familie ihr Anfänge verzeichnen, deren Konstellation nun genauer beschrieben werden soll. In dieser wurde die Arbeitsteilung von natürlichen, biologischen Phänomenen beeinflusst, die sich in weibliche und männliche Tä- tigkeitsbereiche aufspaltete. In der Neuzeit wandelt sich die vorherrschende Familienstruktur des „ganzen Hauses“ zur „bürgerlichen Familie“. Dieses familiäre Gefüge entwickelte sich 58 Vgl. Hausen 2012, 7-9. 59 Ebda, 13. 60 Ebda, 10. 18
vorwiegend in der Stadt, im landwirtschaftlichen Bereich war die Mitarbeit aller Familien- mitglieder gefordert, wobei der Vater die Funktion des Ernährers hatte.61 Die Entstehung der bürgerlichen Familie brachte eine neue Zuordnung der Merkmale der Geschlechter sowie der Beziehungen mit sich. Die Einteilung in zwei Geschlechter bzw. die bloße Kontrastierung zwischen Mann und Frau lässt auf ein patriarchalisch geprägtes Zeitalter schließen. Die Gründe dafür werden nicht nur aufgrund der biologischen Gegebenheiten, sondern auch aufgrund der Stellung im sozialen Raum definiert. Jedes Individuum einer Gesellschaft trägt also dazu bei, wie die beiden Kon- zepte ,,weiblich“ und ,,männlich“ in einer Gesellschaft aufgefasst werden. Die Bestimmung der Geschlechter über Charaktereigenschaften wurde laut Hausen erst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts durchgeführt und löste die Definierung der Menschen über den Stand ab.62 Um diese Geschlechterrollen näher bestimmen zu können, ist es wichtig, diese stets im Kon- text des sozioökonomischen Status zu sehen, worin sich die Arbeitsteilung der Geschlechter festmachen lässt.63 Aufgrund seiner natürlichen Prädestinierung war der Mann im 19. Jahr- hundert somit für den öffentlichen Bereich zuständig, genauer gesagt für die gesellschaftliche Produktion. Demnach galten als männliche Charaktereigenschaften vor allem die Überkate- gorien Aktivität und Rationalität, während der Frau in Verbindung mit ihrer Gebärfähigkeit der Bereich der privaten Reproduktion zugeschrieben wurde und mit Eigenschaften wie Pas- sivität und Emotionalität zu beschreiben war.64 Unter den genannten männlichen Zuschreibungen sind genauer Aktivitäten des öffentlichen Lebens zu verstehen, die sich insbesondere im selbstständigen, zielgerichteten und wirksamen Tun äußern. Dabei spielen menschliche Fähigkeiten wie die Vernunft, der Verstand sowie das Denken eine ausschlaggebende Rolle. Das Sein der Frau wird hingegen einerseits als anpas- send und abhängig beschrieben, andererseits werden auch ihre mütterlichen Zuschreibungen hervorgehoben, weshalb Liebe und Sympathie als Unterkategorien ihrer Rolle gelten. Unter der Emotionalität werden außerdem Gefühlsäußerungen und Empfindungen gesehen, die bei der Frau stärker als beim Mann zum Vorschein kommen.65 Die genannten Zuschreibungen lassen sich im Allgemeinen als Stereotype definieren. Unter Geschlechterstereotype versteht Eckes kognitive Strukturen, die Merkmale von Männern und 61 Vgl. Schaufler 2002, 124f. 62 Ebda, 25. 63 Vgl. Hausen 2012, 19. 64 Vgl. Böhm 2017, 36. 65 Ebda, 37. 19
Frauen beschreiben, welche durch das soziale Umfeld bzw. kulturelle Verständnis geprägt sind. Dabei sind zwei unterschiedliche Kategorien festzumachen, die sich als präskriptive und deskriptive Merkmale bezeichnen lassen.66 Die deskriptiven Anteile beziehen sich auf die Annahmen darüber, was das Sein von Frauen und Männern ausmacht, welche Charaktereigenschaften ihr Wesen aufweist und wie sich diese in ihrem Verhalten äußern. Wie bereits bei Böhm erwähnt, nennt auch Eckes die beiden stereotypischen Eigenschaften der Frau, die Verständnis und Emotionalität ausdrücken, wäh- rend er Zielstrebigkeit und Dominanz der männlichen Domäne hinzufügt. Als präskriptiv gelten Rollen, die als Vorstellungen darüber verstanden werden, wie sich Frauen und Männer in bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten zu verhalten haben. Sie werden also auch als sozial geteilte Verhaltenserwartungen bezeichnet, die es zu erfüllen gilt.67 Laut der Definition dieses Begriffs sollen Frauen einfühlsames Verhalten zeigen, wäh- rend bei Männern die Übernahmen der Rolle des Dominanten in der Gesellschaft gefordert wird. Weichen Handlungen von dem vorgegebenen Schema ab, erfahren sowohl Frauen als auch Männer grundsätzlich Ablehnung, da Stereotype grundsätzlich als änderungsresistent gelten.68 Auch Schaufler betont, dass die unterschiedliche Darstellung von Frau und Mann in Bezug auf Denken, Handeln und Fühlen nicht nur ein Ergebnis der biologischen Unterschiede ist. Vielmehr ist es der geschlechterspezifische Sozialisationsprozess, der die Verschiedenheit der Charakterisierung ausmacht.69 Im Allgemeinen lässt sich behaupten, dass die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aus dem Jahr 1812 auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Vorstellungen männlicher und weiblicher Rollenbilder widerspiegelt. Sie stellt ein Beispiel dafür da, wie Geschlechterrollen zu diesem Zeitpunkt wahrgenommen wurden und muss deshalb im Hin- blick auf die Märchenanalyse mitberücksichtigt werden. Inwiefern die genannten Rollenbil- der und Stereotype genau in den Erzählungen vertreten sind, wird im Zuge der Analyse ge- nauer beleuchtet. 66 Vgl. Eckes 2010, 178. 67 Ebda, 178. 68 Ebda. 69 Vgl. Schaufler 2002, 80. 20
3.2 Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit im Märchen in Bezug auf das Geschlechterrollenverständnis im 19. Jahrhundert Vor allem die Rolle des Weiblichen im Märchen rückte besonders in den letzten Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Darstellung der Frau ist sehr facettenreich, da in den Mär- chenerzählungen vor allem kulturgeschichtliche und zeitgenössische Sachverhalte reflektie- ren werden. Die Märchenerzählungen konstruieren nämlich ein Frauenbild, das zum Ver- ständnis der sozialen Vergangenheit und Gegenwart in hohem Maße beiträgt.70 Viele Erzählungen haben einen weiblichen Charakter als Protagonistin, der häufig genau auf die genannten Charaktereigenschaften der Passivität bzw. Emotionalität reduziert wird. Wie Röhrich in seinem Artikel betont, verüben weibliche Charaktere im Märchen oftmals häusli- che Tätigkeiten, wodurch ihnen eher die dienende Rolle zugeteilt wird.71 Diese Vorstellungen entspringen den patriarchalischen Vorstellungen, die zur Zeit der Veröffentlichung zahlrei- cher Märchenerzählungen in der Gesellschaft verankert waren. Gleichzeitig rücken Handlun- gen in Bezug auf die weibliche Rolle in den Hintergrund, indem die männlichen Figuren in der Zwischenzeit darauf aus sind, die Welt zu retten und Heldentaten zu vollbringen. Nicht nur die passive Rolle der Frau ist in Märchenerzählungen vorzufinden, viel mehr werden auch negative Frauenstereotype aufgezeigt. Diese zeigen sich insbesondere in der Verkörperung böser Frauenfiguren wie der bösen Stiefmutter oder der Hexe. Zu betonen ist außerdem, wie Franz beschreibt, dass viele Erzählungen über Abenteuer oder über die Leiden der Frau von Männern erzählt wurden. Hierbei handelt es sich, wie sie beschreibt, um Projektionen und Entfaltungen der männlichen Phantasien und darum, in welcher Rolle sie die Frau sehen.72 Es lässt sich also darauf schließen, dass Märchen unterschiedliche Frauenbilder präsentieren. Jedoch ist vor allem in Bezug auf die weibliche Figurenrolle festzustellen, dass deren Ent- wicklung nur gering ist und nur so lange voranschreiten kann, bis ein gewisses Niveau der Weiblichkeit erreicht ist. Bestimmte Verhaltensweisen weiblicher Figuren werden nur in ih- rem kindlichen Zustand geduldet und sind mit der Welt der seriösen Erwachsenen nicht mehr vereinbar.73 In vielen Märchen steht die Existenz der Frauen deshalb stets in Verbindung zu der Existenz der Männer. Oftmals wird diese sogar als Abhängigkeit dargestellt, wie im Bei- spiel von Dornröschen sichtbar wird. Nach ihrem 100- jährigen Schlaf, kann die junge Frau nur erwachen, da sie von einem Prinzen wachgeküsst wird. Es ist somit ein männlicher 70 Vgl. Wehse 1985, 6. 71 Vgl. Röhrich 1993, 10. 72 Vgl. Franz 2017, 10. 73 Ebda, 54. 21
Beweggrund nötig, damit die Handlung voranschreitet und Dornröschen nicht in ihrem Schlaf verweilt. Wäre dieser nicht, würde die Passivität der Frau wiederum zum Vorschein kommen und die Handlung würde nicht weitergehen.74 Wie unsere Wahrnehmung des Weiblichen und Männlichen geprägt ist, wird vor allem über die Kinder- und Jugendliteratur stark definiert. In vielen Werken, vor allem in Märchen, gibt es für Leserinnen und Leser gewisse Vorbilder, die an literarische Schemata bzw. gesell- schaftliche Klischees gebunden sind.75 Männliche und weibliche Prototypen, die durch das sogenannte ,,Prinzip der Typisierung“ bestimmte Eigenschaften tragen, beeinflussen unsere Vorstellungen durch die Lektüre.76 Vor allem durch erzählerische Funktionen wie Wiederholungsstrukturen, Parallelismen, For- melhaftigkeit und Bildlichkeit werden einerseits stereotypische Darstellungen verstärkt, an- dererseits rückt auch gleichzeitig die ästhetische Funktion ins Zentrum, durch die ein höherer Wiedererkennungswert gegeben ist. Die vorgegebenen Muster, zu denen Figuren, Situatio- nen, Redewendungen, Konfliktkonstellationen, komische Effekte usw. gehören, werden so- mit durch ihr häufiges Auftreten zu festen Größen und bilden auch gleichzeitig unsere Vor- stellungen davon aus, welche Eigenschaften gewisse Figurentypen tragen.77 Viele dieser Strukturen entstammen, wie bereits erwähnt, dem Konzept des Patriarchats. Die Vorstellungen eines Matriarchats konnten sich jedoch als eigenes Konzept nicht durchsetzen. Bereits Simone de Beauvoir definierte 1951, dass die Charakterisierung der Frau nie als selbstständig galt, sondern stets in Verbindung mit der männlichen Rolle einhergeht.78 Die Weiblichkeitsstereotype hindern die eindeutige Definition des weiblichen Charakters, der aufgrund der stereotypischen Vorstellungen zu verzerrt und nicht vollständig möglich ist. Frauen würden demnach in vielen Erzählungen häufig auf ihr biologisches Wesen reduziert werden.79 74 Ebda, 64. 75 Vgl. Böhm 2017, 15. 76 Ebda, 23. 77 Ebda, 24. 78 Vgl. Würzbach 1985, 198. 79 Ebda, 199. 22
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