Sie nähren unmittelbar, wie der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere
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Märchen und Mythen »Sie nähren unmittelbar, wie der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere …« Vom unaufhaltsamen Aufstieg des Grimm’schen Märchenideals im Biedermeier Im Dezember des Jahres 1812 er- schien der erste Band der »Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm«, so der Wortlaut des Titels. Doch was Jacob und Wilhelm Grimm als rei- ne »Volkspoesie« darboten, war ihr literarisches Kunstwerk. Warum entfalteten diese Märchen in der Epoche des Biedermeier so eine enorme Anziehungskraft für Er- wachsene? Warum lagen die reich illustrierten Bücher bald unter je- dem Weihnachtsbaum? von Hans-Heino Ewers U m diese Märchensammlung, weltweit eines der bekanntesten Werke der deutschen Literatur, ist im Laufe der Zeit ein Mythos gesponnen worden, der altdeutscher Lieder einspannte. Die Herausgeber der Liedersammlung »Des Knaben Wunderhorn« planten eine Fortsetzung ihrer Sammeltätigkeit, die sich nun lange Zeit den Blick auf die tatsächlichen Umstände ih- auf altdeutsche Märchen und Sagen beziehen sollte. rer Entstehung verschleiert hat. Es bedurfte einer Jahr- Bereits 1810 sandten die Brüder Grimm an Brentano zehnte währenden philologischen Forschungsarbeit, ein Konvolut mit gut 50 Märchennotationen, die seit um den wahren Charakter dieser Sammlung heraus- ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert als die zustellen und deren dichterische Qualität zu würdigen. »Urfassung der Grimm’schen Märchen« firmieren. Als Große Teile der Öffentlichkeit und des Publikums hal- sich ein Scheitern des Brentano’schen Märchenpro- ten immer noch an der lieb gewordenen Vorstellung jektes abzeichnete, überredete Achim von Arnim die fest, nach der die Brüder Grimm durch die deutschen Grimms, die vor und nach 1810 gesammelten Mär- Lande gezogen seien und dem einfachen Volk die Mär- chen selber zu publizieren. chen abgelauscht hätten. Als junge Studierende der Jurisprudenz in Mar- Authentisches »Volksmärchen« burg gerieten Jakob und Wilhelm Grimm in Kontakt oder willkürliches »Kunstmärchen« mit Clemens Brentano, der sie für sein gemeinsam mit Nach 1810 distanzierten sich die Brüder Grimm von Achim von Arnim gestartetes Projekt der Sammlung der Märchenarbeit Brentanos und begannen, eigene 38 Forschung Frankfurt 3/2012
Märchen und Mythen Eines der zahlreichen Porträts, die Ludwig Emil Grimm von seinen Geschwistern zeichnete, zeigt seinen Bruder Jacob im Alter von 29 Jahren in dessen Studierzimmer. persönliche Handschrift seiner Verfasser trägt. Die Brü- der Grimm haben den aufgelesenen Geschichten zual- lererst Poesie eingehaucht und ihnen damit eine un- geahnte Wirkungsgeschichte beschert. Der Erfolg der »Kinder- und Hausmärchen« dürfte sich nicht einer wie immer gearteten Treue in der Wiedergabe volks- läufigen Erzählguts verdanken, sondern im Gegen- teil der notorischen Untreue in der Bearbeitung dieser Stoffe. Die Volkserzählungen wären in ihrer tatsächli- chen Gestalt für die literarische Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts ungenießbar: zu flach, zu vulgär, zu or- dinär, zu drastisch, zu zotig, zu unbotmäßig. Den bür- gerlichen Schichten konnte man nur mit Märchen kommen, die lediglich dem Schein nach aus dem ein- fachen Volk abgelauscht waren, in Wahrheit aber gut- bürgerlichen Geschmacksvorstellungen folgten. Die romantische Verklärung des Märchens Die Brüder Grimm waren davon überzeugt, dass Märchen »uns die Vorzeit als einen frischen und be- lebenden Geist nahe (brächten)«. Darum müsse »ihr Grund sehr alt sein, bei einigen wird es […] für beinah drei Jahrhunderte besonders bewiesen; es ist aber au- ßer Zweifel, daß sie noch gar viel älter sind, wenn auch Mangel an Nachrichten direkte Beweise unmöglich macht«. Für die Gegenwart besäßen die Märchen den Charakter einer göttlichen Offenbarung, seien sie doch »gewiß aus jener Quelle gekommen, die alles Leben be- Sammel- und Bearbeitungsprinzipien zu formulieren. Bei der Bebilderung der Kin- In der Vorrede zu den »Kinder- und Hausmärchen« der- und Hausmärchen folgte von 1812 heißt es: Ludwig Emil Grimm weitge- hend den Intentionen seines »Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein als Bruders Wilhelm, den er möglich wahr aufzufassen [...]. Kein Umstand ist hin- 1822 im Alter von 36 Jahren zugedichtet oder verschönert und abgeändert worden, in dieser Bleistiftzeichnung denn wir hätten uns gescheut, in sich selbst so reiche porträtierte. Sagen mit ihrer eigenen Analogie oder Reminiszenz zu vergrößern, sie sind unerfindlich. In diesem Sinne existiert noch keine Sammlung in Deutschland [...].« Damit war eine Polarität in die Welt gesetzt, die noch heute vielen als unumstößlich gilt: die nämlich zwischen authentischen »Volksmärchen« auf der ei- nen, beliebigen »Kunstmärchen« auf der anderen Sei- te. Die zeitgenössischen Verfasser von Kunstmärchen könnten es, so der Grimm’sche Vorwurf, »nicht las- sen, Manieren, welche die Zeitpoesie gab, hineinzu- mischen«, wodurch das »wahre« Märchen verun- staltet würde. Ihre eigene Veröffentlichung suchten die Grimms deshalb, als rein volkskundliche Samm- lung von den literarischen Märchenpublikationen ih- rer Zeit scharf abzusetzen. Zu Beginn des 20. Jahrhun- taut«. Darüber hinaus liege »[...] in diesen Volks-Mär- derts wurde der volkskundliche Wert der »Kinder- und chen [...] lauter urdeutscher Mythus, den man für ver- Hausmärchen« wenn nicht angezweifelt, dann doch loren gehalten«. Das Volk glaube noch uneingeschränkt relativiert, wie beispielsweise in der volkskundlichen an die Wirklichkeit des Märchenwunders, das deshalb Studie von Walter Berendsohn. nicht ironisiert, sondern ernst genommen werden müs- Die Grimm-Philologie der letzten Jahrzehnte hat se. Wir haben es hier mit einer Märchenauffassung zu minutiös nachweisen können, in welchem Maße wir tun, die aus der spätromantischen Weltanschauung es bei den »Kinder- und Hausmärchen« – zumindest und Geschichtsphilosophie abgeleitet ist. Die Brüder ab der zweiten Auflage von 1819 – mit einem literari- Grimm haben ihre Theorie nicht aus dem vorgefunde- schen Werk zu tun haben, das in eminenter Weise die nen Material abstrahiert, sondern umgekehrt das Mate- Forschung Frankfurt 3/2012 39
Märchen und Mythen Das Märchen Die Schöne und Grimms Abkehr von den europäischen Feenmärchen das Tier erschien zuerst 1740 Das Publikum des aufgeklärten und angeblich so in Gabrielle-Suzanne de Ville- märchenfeindlichen 18. Jahrhunderts war gerade- neuves Märchenarabeske La zu auf Märchen versessen: Die Feenmärchen und die jeune amériquaine, et les con- tes marins. Später wurde es Märchen aus »Tausendundeine Nacht« waren in fast von Jeanne-Marie Leprince de allen europäischen Ländern die populärsten Literatur- Beaumonts bearbeitet und in gattungen. Bei den europaweit dominierenden Feen- der Zeitschrift Magasin des en- märchen haben wir es in erster Linie mit Liebes- und fants, ou dialogues entre une Heiratsgeschichten zu tun, in denen Jenseits-Gestal- sage gouvernante et plusieurs ten – zumeist gute oder böse Feen – eine wichtige Rol- de ses élèves verbreitet. [De le spielen und die Liebespartner eine Fülle von Hin- Villeneuve, Gabrielle-Suzanne Die Schöne und das Tier. Il- dernissen zu überwinden und zahlreiche Proben zu lustrationen von Irmhild und bestehen haben, ehe sie sich vereinigen dürfen. Seltsa- Hilmar Proft. Berlin: Der Kin- merweise kommt dieser zentrale Inhalt, wie er für die derbuchverlag, Berlin 1981] Feenmärchen des 18. Jahrhunderts und schon die ita- lienische Märchennovellistik des 17. Jahrhunderts cha- rakteristisch war, in der Märchentheorie der Brüder Grimm nicht zur Sprache. Dies mag daran liegen, dass die Grimms in ihre Mär- chensammlung eine Reihe weiterer Geschichtentypen aufgenommen haben, in welchen die Heirat keine oder nur eine marginale Rolle spielt. Zu denken wäre etwa Ihre Feenmärchen an Schwankerzählungen nach Art von »Tischlein deck veröffentlichte dich« (KHM 36), »Bruder Lustig« (KHM 81), »Die sie- Marie Catherine ben Schwaben« (KHM 119) oder »Das Märchen vom d’Aulnoy zu Leb- zeiten unter dem Schlaraffenland« (KHM 158) oder an Tierschwänke Pseudonym wie »Katze und Maus in Gesellschaft« (KHM 2), »Die Mme D’. Unter Bremer Stadtmusikanten« (KHM 27) oder »Der Wolf diesen waren und die sieben Geißlein« (KHM 195). Auf die voraus- sowohl Bearbei- gegangene europäische Märchennovellistik lassen sich tungen von Texten also nur die Märchen mit zentraler Liebes- und Heirats- des italienischen fabel beziehen – wie »Der Froschkönig« (KHM 1), »Die Schriftstellers Gian Francesco zwölf Brüder« (KHM 9), »Brüderchen und Schwes- Straparola als terchen« (KHM 11), »Allerleirauh« (KHM 65) sowie auch eigens er- Märchen nach literarischen Vorlagen wie »Rapunzel« dachte Märchen. (KHM 12), »Dornröschen« (KHM 50), »Aschenputtel« [Französische (KHM 21) oder »Jorinde und Joringel« (KHM 69). Feenmärchen der Die Grimm’schen Geschichten blieben örtlich und Madame d’Aulnoy, zeitlich unbestimmt, vermittelten aber den Eindruck, Illustrationen von Albín Brunovský, in einer fernen Vergangenheit zu spielen. Demgegen- Verlag Werner über stellten die Feenmärchen in der Mehrzahl Ge- Dausien, Hanau genwartserzählungen dar. Wir haben es überwie- 1982] gend mit im höfischen oder adeligen, teils aber auch rial mehr oder weniger behutsam so umzuformen ver- sucht, dass es mit ihrer Theorie übereinstimmte. Die Märchenpoetik der Brüder Grimm wie der Ro- mantik im Allgemeinen stellte einen Bruch mit allen vorausgegangenen Märchenauffassungen dar. So ist es nur verständlich, dass die Romantiker glaubten, als Ers- te das wahre Wesen des Märchens erkannt und damit eine Blütezeit dieser Erzählgattung eingeleitet zu ha- ben. Auf die früheren Epochen der Gattungsgeschich- te blickten sie mit Geringschätzung herab. Dabei wäre man durchaus berechtigt, die beiden vorausgegangenen Jahrhunderte als die eigentliche Hoch- und Glanzpha- se der europäischen Märchennovellistik zu bezeichnen. Für eine kleinformatige Buchreihe des Winckelmann Verlags (erschienen um 1843) illustrierte Theodor Hosemann die drei Grimm’schen Märchen Rotkäppchen, Aschenputtel und Schnee- wittchen. Für die Lithografien der ersten Ausgabe von Aschen- puttel zeichnete er die Illustrationen selbst auf Stein und kolo- rierte auch die späteren Probedrucke mit eigener Hand. 40 Forschung Frankfurt 3/2012
Märchen und Mythen Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen schuf Johann Peter Lyser keine idyllisierten Märchen-Illustrationen. Wahr- scheinlich erfuhr er deshalb von seinen Zeitgenossen nur wenig Anerkennung. Erst um die Jahrhundertwende, als karikatureske oder groteske Darstellungen im Bereich der Märchenillustration beliebter wurden, machten seine Illustra- tionen auf sich aufmerksam. [Johann Peter Lyser De Swien- egel als Wettrenner. Hoffmann & Campe, Hamburg 1853] im wohlhabenden bürgerlichen Milieu angesiedelten Erziehungs-, Liebes- und Heiratserzählungen größe- ren Umfangs zu tun, in welchen die zeitgenössischen kontroversen Erziehungs-, Geschlechter- und Heirats- diskurse aufgegriffen wurden. Da es sich zu einem be- trächtlichen Teil um Frauenliteratur handelte, dienten die Feenmärchen oft der Propagierung neuer Liebes- ideale. Dabei wurden die erotischen und sexuellen As- pekte keineswegs ausgespart. Selbst politische Themen werden aufgegriffen: Prinzipien eines aufgeklärten Ab- solutismus wurden gegen verschwenderische Pracht- entfaltung und zerstörerische Kriegsführung ins Feld geführt. In den Grimm’schen Märchen sind alle expli- ziten Bezüge auf entwickelte gesellschaftliche und po- litische Verhältnisse getilgt. Es erstaunt einen immer der unpassend oder anstößig sei [...] und Eltern es ih- wieder, mit welcher Chuzpe die Brüder Grimm eine nen geradezu nicht in die Hände geben wollten«. Die der großen Epochen der europäischen Märchenno- Einwände seien nur in Einzelfällen berechtigt. Mit der vellistik geradezu verächtlich machten und nachhaltig zweiten Auflage von 1819 fügen sich die Grimms den diskreditierten. Erwartungen des bürgerlichen Publikums auf ganzer »Ein eigentliches Erziehungsbuch« – Zweifel an der einzig wahren Kinderlektüre Die Brüder Grimm waren davon überzeugt, dass die Märchen von kindlicher Geistesart seien. »Die Mär- chen also sind teils durch ihre äußere Verbreitung, teils ihr inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Weltbetrachtung zu fas- sen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der Honig, süß und sättigend, ohne ir- dische Schwere [...].« Ein nur flüchtiger Blick auf die Märchennovellistik und vermutlich auch das münd- liche Erzählgut der vorausgehenden Epochen lässt diese Behauptungen geradezu als abwegig erschei- nen. Die kühne These von der kindlichen Geistesart des Märchens wurde noch überboten durch die Erhe- bung des Märchens zur einzig wahren Kinderlektüre. Die Grimms erhofften sich, dass aus ihrer Sammlung auch »ein eigentliches Erziehungsbuch [...] werde«. So mancher Zeitgenosse dürfte entsetzt gewesen sein, gal- ten vielen doch die Märchen als vergleichsweise an- zügliche Literatur, wenn nicht gar als erotische Dich- tung. Auch der erste Praxistext ging daneben: Aus der Familie Achim von Arnims schallte es zurück, dass die »Kinder- und Hausmärchen« als Kinderlektüre völlig ungeeignet seien. So sahen sich die Grimms zum Nachgeben gezwun- gen. In der Vorrede zum zweiten Band von 1815 gaben sie offen zu, dass »eingewendet worden (ist), daß doch eins und das andere in Verlegenheit setze und für Kin- Die Illustrationen Viktor Paul Mohns sind auf eine Darstellung des Märchengeschehens in heimischen Landschaften ausge- richtet. Das Märchenschloss, das durch die Bäume im Hinter- grund zu erkennen ist, erinnert an eine Burg, wie man sie am Rhein finden kann. [Viktor Paul Mohn Kinder-Märchen: in neu- er, sorgfältiger Auswahl gesammelt durch die Brüder Grimm. Loewe Verlag, Stuttgart 1894] Forschung Frankfurt 3/2012 41
Märchen und Mythen Carl Offterdinger – Schüler des Malers Heinrich von Rustige – blieb Zeit seines Lebens einem spätromantisch-idyllischen Malstil treu. Von Veränderungen im Bereich der Kunst um die Jahrhundertwende, wie Impres- sionismus oder Jugendstil, blieb er unbeeindruckt. [Illustration von Carl Offterdinger zu Tischlein deck’ dich, Esel streck dich und Knüppel aus dem Sack, Loewe Verlag o. J., Leipzig 1872] Linie: »Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht Die Märchennovellistik des 17. und 18. Jahrhunderts passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfäl- war für Erwachsene attraktiv als Spiegel der jeweils tig gelöscht.« Was die Märchen mit Liebesfabel betrifft, zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse, als änderten die Brüder Grimm deren zentrale Aussagen. Reflexion der jeweils herrschenden unterschiedlichen Von Auflage zu Auflage erschienen die Märchenhel- Vorstellung von Familie, Geschlechterrollen, Erzie- dinnen und -helden jünger und kindlicher, ihre ero- hung, Erotik, Sexualität, Liebe und Heirat, teils auch tischen Liebeshandlungen modelten die Grimms zu der unterschiedlichen Moralvorstellungen und Staats- »unschuldigem« kindlichen Agieren um, und Heirats- auffassungen. All diese Themen wurden mit einer teils feiern verliehen sie den Zuschnitt von Kinderfesten. belustigenden, teils didaktischen Überzeichnung, ge- legentlich auch in satirischer Zuspitzung dargeboten. Zeitlose Märchen – Übertreibungen signalisierten die Unwahrscheinlich- Ausstiegsszenarium für Zivilisationsmüde keit des dargestellten Wunderbaren, der Magie und des Dass die Brüder Grimm mit ihren »Kinder- und Zauberwesens, die nicht ernst gemeint waren, sondern Hausmärchen« Epoche gemacht haben, steht außer durchgängig ironisiert wurden. Kein erwachsener Le- Frage. Sie waren davon überzeugt, mit ihrem neuen ser musste sich bei der Lektüre der aufgeklärten Feen- Märchenideal das ursprüngliche Wesen des Märchens märchen verstellen, keiner kindlich und naiv tun; viel- erfasst zu haben. Von diesem hatte sich nach ihrer Auf- mehr konnte sich ein jeder in der Märchenlektüre als fassung die europäische Märchennovellistik der letz- aufgeklärter Zeitgenosse erfahren. ten Jahrhunderte mehr und mehr entfernt. Allen von Indem die Brüder Grimm alle Bezugnahmen auf die ihrem Ideal abweichenden Märchendichtungen spra- entwickelten gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Ge- chen sie die Berechtigung ab, als Märchen aufzutreten. genwart, alle »Manieren, welche die Zeitpoesie gab«, Der unaufhaltsame Aufstieg des Grimm’schen Mär- aus dem Märchen verbannt haben, lautet die Maßga- chenideals ging einher mit einem vollständigen Aus- be für die Lektüre, im Märchen nicht nach Reflexen tausch der Lesergratifikationen. Die Märchenlektüre der entwickelten Zivilisation, sondern allein nach Wi- bot von nun an erwachsenen Lesern, um die es im Fol- derspiegelungen einer fernliegenden Vergangenheit zu genden gehen soll, einen ganz anderen Genuss. suchen. Attraktiv dürfte ein solches Angebot für Leser Literatur Rölleke, Heinz u. a. (Hrsg.) Faszi- Freyberger, Regi- he Ringvorlesun- Rölleke, Heinz Die Grimmschen Mär- (Hrsg.) Es war ein- nierende Märchen- na Märchenbilder - gen der Märchen- Märchen der Brüder chen synoptisch vor- mal: Die wahren welt. Das Märchen Bildermärchen. Il- Stiftung Walter Grimm: eine Ein- gestellt und kom- Märchen der Brüder in Illustration, The- lustrationen zu Kahn, Bd. 3, Balt- führung Reclams mentiert Trier Grimm und wer sie ater und Film Grimms Märchen mannsweiler Universal-Biblio- 2004, 2. verb. Aufl. ihnen erzählte Il- Schriftenreihe der 1819 – 1945 Ober- 2005. thek, Nr. 17650, lustrationen von Deutschen Aka- hausen 2009. Stuttgart 2004. Uther, Hans-Jörg Albert Schinde- demie für Kinder- Rölleke, Heinz Handbuch zu den hütte, Die andere und Jugendlitera- Gundel Mat- »Alt wie der Wald«: Rölleke, Heinz »Kinder- und Haus- Bibliothek, Frank- tur, Bd. 39, tenklott und Kris- Reden und Aufsätze Grimms Märchen märchen« der Brü- furt 2011. Baltmannsweiler tin Wardetzky zu den Märchen der und ihre Quellen: der Grimm: Entste- 2011. (Hrsg.) Metamor- Brüder Grimm die literarischen hung – Wirkung – Kurt Franz, Clau- phosen des Mär- Trier 2006, Vorlagen der Interpretation Ber- dia Maria Pecher chens Schriftenrei- 2. Aufl. 2010. lin u. a. 2008. 42 Forschung Frankfurt 3/2012
Märchen und Mythen sein, die mit dem eigenen Zeitalter unzufrieden sind und die gleichzeitig unter der Kompliziertheit ihrer Le- bensverhältnisse leiden, die also ein Stück weit zivilisa- tionsmüde sind. Die in den Märchen à la Grimm angeblich noch greifbare Vorzeit soll auch durch eine metaphysische Geborgenheit gekennzeichnet sein. Die Lektüre von Märchen als einer vermeintlich heiligen Poesie der Vorzeit dürfte damit eine Anziehungskraft für Erwach- sene entfalten, die sich mit der fortgeschrittenen Sä- kularisierung ihrer Gegenwart schwer tun und unter metaphysischer Obdachlosigkeit leiden. Das ziemlich haarsträubende Versprechen der Grimms, in ihren Märchen die besterhaltenen Überreste des altdeut- schen Mythos anzutreffen, dürfte sie zu einem verlo- ckenden Lektüreangebot für Erwachsene machen, die sich nach einer stabilen nationalen Identität sehnen und diese aus der Tiefe der Geschichte meinen herlei- ten zu können. Als rein und unschuldig angepriesen, dürften diese Märchen eine Attraktivität für solche Er- wachsene erlangen, die entweder mit ihrer eigenen Sexualität hadern oder unter den Sexualnormen der Gesellschaft leiden und sich deshalb nach einem ase- xuellen Dasein zurücksehnen. Hier verwandeln die Brüder Grimm die ehedem wohl erotischste aller Er- zählgattungen in ein probates Mittel der Flucht des Er- wachsenen vor der eigenen Sexualität. Alle mit den Märchen Grimm’scher Art verbunde- nen neuen Lesergratifikationen lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Dem Erwachsenen machen sie Für die 1825 im Verlag Reimer erschienene kleine Ausgabe das Angebot, für eine Weile in die Kindheit zurück- der Kinder- und Hausmärchen fertigte Ludwig Emil Grimm zukehren. Der wehmütige Rückblick auf eine vormo- sieben Bilder an. Die damals von ihm illustrierten Erzählun- derne Vergangenheit, die Sehnsucht nach Einfachheit gen zählen noch heute zu den beliebtesten und populärsten der menschlichen Beziehungen, nach metaphysischer Grimm-Märchen. Geborgenheit, der Reiz eines naiven Wunderglaubens Der Autor und einer umfassenden Naturbelebung, die Faszinati- on eines Daseins jenseits von Sexualität und Triebhaf- Prof. Dr. Hans-Heino Ewers, 63, lehrt tigkeit – all dies sind Bestandteile des modernen Kind- und forscht seit 1989 als Profes- heitskults der bürgerlichen Mittelschichten, der sich in sor für Germanistik/Literaturwis- der Epoche des Biedermeier auszubreiten beginnt. senschaft mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Grimms Märchen und der Goethe-Universität. Seit 1990 ist weihnachtliche Bescherungskult er Direktor des Instituts für Jugend- buchforschung, das mit zahlreichen Damit einher geht die Etablierung von Weihnach- Publikationen, Kongressen und ten als dem kindzentrierten Familienfest schlechthin – Ausstellungen immer wieder für mit einem fein illustrierten Märchenbuch als unerläss- Aufmerksamkeit weit über den deutschen Sprachraum lichem Bestandteil der Bescherung. Sie benötigen für hinaus sorgt. Im Sommersemester 2012 verantwortete ihre Märchensucht einen Entschuldigungsgrund, den er gemeinsam mit Dr. Claudia Pecher eine Vorlesungsrei- sie darin finden, dass diese Literatur ja doch die ide- he im Programm der Frankfurter Bürgeruniversität, die ale Kinderlektüre sei. Dass die kindlichen Leser sich unter dem Thema »Märchen – (k)ein romantischer My- thos?« stand und an den 200. Geburtstag der »Kinder- die »Kinder- und Hausmärchen« selber und gegen und Hausmärchen« der Brüder Grimm erinnern sollte. den Willen ihrer Erziehungsberechtigten erobert hät- Die Vorträge stießen bei Wissenschaftlern wie bei inte- ten, wie dies Paul Hazard für die Klassiker der Kinder- ressierten Laien auf große Resonanz; sie trugen einer- literatur behauptet hat, darf man bezweifeln. Dass die seits zur »Entzauberung« der immer noch weitverbrei- Grimm’schen Märchen in beträchtlicher Zahl kindge- teten Märchenklischees bei, würdigten dafür aber die rechte Geschichten darstellen und dass sie in die Kin- Grimm’schen Märchen als eines der großen literarischen derliteratur einen neuen Ton eingebracht haben, ist Kunstwerke deutscher Sprache. Zu den Schwerpunkten seiner Forschungen zählen in jüngster Zeit Fantastik nicht zu bestreiten. Grimms Märchen sollten deshalb und Fantasy sowie neue zeitgeschichtliche Jugendlitera- auch heute noch ihren Platz in der literarischen Sozia- tur zu aktuellen kriegerischen Konflikten, zum Terroris- lisation von Kindern behalten, so problematisch sie in mus und zu (atomaren) Umweltkatastrophen. mancherlei Hinsicht, etwa in der Zeichnung von Ge- schlechterrollen, auch sein mögen. u ewers@em.uni-frankfurt.de Forschung Frankfurt 3/2012 43
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