"Eine berührbare Frau" - Zu Leben und Werk der Künstlerin Eva Hesse* - Dr. Stephan Stockmar

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"Eine berührbare Frau" - Zu Leben und Werk der Künstlerin Eva Hesse* - Dr. Stephan Stockmar
Eine berührbare Frau. Eva Hesse                                                                     53

                             »Eine berührbare Frau«
                      Zu Leben und Werk der Künstlerin Eva Hesse*
                                        Stephan Stockmar

»Es ist keine Kleinigkeit, mit 33 Jahren einen      nung der Eltern muss sie sich mit der gehassten
Gehirntumor zu haben. Nun, mein ganzes Le-          Stiefmutter arrangieren, die nun ebenfalls Eva
ben war so. Ich wurde in Hamburg, in Deutsch-       Hesse heißt »und an einem Gehirntumor er-
land geboren, mein Vater war Strafverteidiger.      krankte, auf den Tag genau zwei Jahre, bevor
… Und meine Mutter war die schönste der             mir das Gleiche passierte.«
Welt. Sie sah aus wie Ingrid Bergmann, und          Wenn Eva Hesse im nächsten Moment über
sie war manisch-depressiv. Meine Schwester          ihre Kunst spricht, wird sie ganz gegenwärtig.
wurde 1933 geboren, ich 1936. Dann gab es           Diese ist für sie, die unter ständigen Verlust-
1938 ein Progrom – mit Angriffen auf jüdische       ängsten leidet, zum einzig Verlässlichen in ih-
Kinder. Mich setzte man zusammen mit mei-           rem Leben geworden. »Nichts in meinem Leben
ner Schwester in einen Zug. Wir fuhren nach         ist normal, nichts, nicht mal meine Kunst. …
Holland, wo uns der Bruder meines Vaters und        Kunst ist die einfachste Sache in meinem Le-
dessen Frau abholen sollten, aber sie konnten       ben, das ist das Ironische. Ich meine, ich habe
nicht kommen. So steckte man uns in ein katho-      nicht wenig dafür gearbeitet, aber es ist die
lisches Kinderheim. Ich war immer krank. Des-       einzige Sache, die ich nicht machen musste.
halb wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert,        Vielleicht bin ich deshalb so gut. Ich habe keine
und meine Schwester war nicht bei mir. Mei-         Angst. Ich nehme Risiken auf mich. Am aufge-
ne Eltern hatten sich irgendwo in Deutschland       schlossensten bin ich meiner Kunst gegenüber.
versteckt, dann kamen sie nach Amsterdam            Meine Haltung ist ganz offen. … Sie basiert auf
und hatten große Schwierigkeiten, uns außer         totaler Freiheit und dem Willen zu arbeiten. Ich
Landes zu bringen. Irgendwie ist es ihnen ge-       bin bereit, an die Grenze zu gehen, und falls ich
lungen, uns nach England zu verfrachten. Der        das noch nicht erreicht habe, dann möchte ich
Bruder meines Vaters und dessen Frau endeten        an diesen Punkt gelangen. … Mich kann man
im Konzentrationslager. Niemand in meiner Fa-       leicht glücklich und leicht traurig machen, weil
milie, außer uns, hat es geschafft. Nur wir. Weil   ich schon so viel durchgestanden habe. …«
ein Cousin meines Vaters eine Import-Export-        Am 29. Mai des selben Jahres stirbt Eva Hesse,
Firma mit Firmensitz in Amerika besaß, konn-        34jährig, während ihr Namensdouble weiter
ten wir von England aus nach Amerika flüchten       lebt.
… Wir kamen an im Sommer des Jahres 1939.
Es war die letzte Möglichkeit. …«1
                                                    Heiterer Ernst – spröde Zärtlichkeit
So sieht Eva Hesse ihr Leben und erzählt es in
sehr geraffter Form in einem Interview, das sie     Was macht die Arbeiten von Eva Hesse so fas-
im Frühjahr 1970 gibt, kurz vor ihrer dritten       zinierend? Auf den ersten Blick scheinen sie
Operation an einem Gehirntumor. Sie erzählt
weiter von der Umschulung ihres Vaters und
                                                    * Essay anlässlich des kürzlich erschienen Buches
der Krankheit ihrer Mutter. »So gewöhnte ich
                                                    von Michael Jürgs: Eine berührbare Frau. Das atem-
mich daran, nachts allein zu sein, und ich ge-      lose Leben der Künstlerin Eva Hesse, C. Bertelsmann
wöhnte mich daran, Angst zu haben.« Der Um-         Verlag, München 2007. 382 Seiten, 19,95 EUR. – Die-
gang mit der Angst ist in ihrem Selbstbild ein      sem Buch sind alle nicht nachgewiesenen Zitate von
entscheidendes Lebensmotiv. Nach der Tren-          und über Eva Hesse entnommen.

die Drei 5/2007
"Eine berührbare Frau" - Zu Leben und Werk der Künstlerin Eva Hesse* - Dr. Stephan Stockmar
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                                                                                                              etwas, ohne jedoch einen »Sinn« zu bekom-
(c) The Estate of Eva Hesse. Hauser & Wirth Zürich London

                                                                                                              men. – Ist es vielleicht das kurze, so tragisch
                                                                                                              verlaufene Leben, das ihrem Werk im Nachhi-
                                                                                                              nein Bedeutung verleiht? Oder die Schönheit
                                                                                                              der kleinen langhaarigen Person und ihre oft
                                                                                                              beschriebene erotische Ausstrahlung, der viele
                                                                                                              Männer erlegen sind?
                                                                                                              Wie zufällig bin ich im Juni 2002 auf die große
                                                                                                              Wiesbadener Ausstellung gestoßen, ohne vor-
                                                                                                              her etwas über Eva Hesse gewusst zu haben.
                                                                                                              »Habe selten solch einen heiteren Ernst erlebt
                                                                                                              …« schrieb ich spontan in das Gästebuch. Zu-
                                                                                                              hause notierte ich dann: »Heiterer Ernst, spie-
                                                                                                              lerische Strenge, durchscheinende Abgeschlos-
                                                                                                              senheit, spröde Zärtlichkeit – nur in solchen
                                                                                                              Paradoxen kann ich mein Erlebnis annähernd
                                                                                                              in Worte fassen. … In den Bildern und Ob-
                                                                                                              jekten von Eva Hesse geht es, so skurril und
                                                                                                              absurd sie auch erscheinen, immer um Verbin-
                                                                                                              dungen; es werden – sichtbare oder unsichtbare
                                                                                                              – Brücken geschlagen, und unterwegs kann es
                                                                                                              zu vielfachen Verschlingungen und Verflech-
                                                                                                              tungen kommen – ganz wie im wirklichen Le-
                                                                                                              ben. Doch in jeder Berührung liegt auch ein
                                                                                                              Hauch von Zärtlichkeit.«
                                                                                                              Nun, fünf Jahre später, lese ich Michael Jürgs
                                                                                                              Biografie »Eine berührbare Frau. Das atemlose
                                                            Spiegelbild von Eva Hesse                         Leben der Künstlerin Eva Hesse«.2 Dort heißt
                                                                                                              es: »Eva Hesse war in jeder Beziehung eine
                                                            belanglose, ausgedachte oder improvisierte        berührbare Frau, berührbar durch Nähe, be-
                                                            Ab­sur­ditäten zu sein: Halbkugeln, aus denen     rührbar durch Verluste, berührbar vor allem in
                                                            baumwollumwickelte Schläuche auf den Boden        ihrem und durch ihr Werk. Diese Berührbarkeit
                                                            herabhängen; ein nach oben offener Kubus aus      ist über ihren Tod hinaus lebendig geblieben,
                                                            Wänden mit regelmäßig eng angeordneten Lö-        ist spürbar in ihrer Kunst.« – Tatsächlich, man
                                                            chern, durch die ebenfalls Gummischläuche         möchte ihre Werke berühren, in sie eintreten
                                                            gezogen sind, die frei in den Innenraum ragen     (z.B. in »Hang up«) oder den Kopf hineinste-
                                                            und so den Eindruck eines dichten Pelzes ent-     cken (»Accession«). Bei aller Abstraktheit strah-
                                                            stehen lassen (»Accession«, 1967); ein großer     len sie eine große Sinnlichkeit aus.
                                                            leerer Bilderrahmen, aus dem ein dicker Draht
                                                            weit in den Raum hineingreift, um unten wie-      Jürgs hat gründlich recherchiert, von der Kind-
                                                            der in den Rahmen einzutreten (»Hang up«,         heit in der Hamburger Isestraße (in der er selbst
                                                            1966); ballonartige Gebilde in Netzen, seriell    heute wohnt) an. Über das entwürdigende Aus-
                                                            angeordnete Objekte aus Fieberglas und immer      wanderungsverfahren und den mühsamen Auf-
                                                            wieder Gebilde aus oder mit Schnüren, die sich    bau einer neuen Existenz der Familie in New
                                                            immer freier in den Raum hinein entfalten. Ihre   York, den schockierende Selbstmord der Mutter
                                                            Zeichnungen können zunächst wie ein kind-         1946, ein Jahr nach der Trennung. Über den
                                                            liches Gestoppel von Linien und Flächen wir-      starken Willen der Jugendlichen, Künstlerin zu
                                                            ken. Das Chaos ordnet sich zwar allmählich        werden, den sie als 16jährige ihrem liebevoll-

                                                                                                                                                die Drei 5/2007
Eine berührbare Frau. Eva Hesse                                                                      55

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Eva Hesse: Metronomic Irregularity I, 1966. Graphit, Acryl, Papiercaché. Hartfaserplatte, baumwollumman-
telter Draht. 30,4 x 45,7 x 5,1 cm, Museum Wiesbaden, erworben 1991

                                                     Transformationen – Die Zeit in Deutschland
pragmatischen Vater gegenüber schriftlich be-
gründet: »Doch ich habe begriffen, … dass man        Während dieser 15 Monate in Deutschland
etwas aus sich selbst heraus schaffen muss.          führt sie ein atemberaubendes, extrovertiertes
Was man im Kopf hat, ist nicht entscheidend,         Leben, reist zu Kunstereignissen zwischen
nicht, was man in der Tasche hat. Und dass ich,      Düsseldorf und Basel, zur documenta 3 nach
wenn ich eine Künstlerin sein will, eine wirk-       Kassel, nach Florenz, Amsterdam und schließ-
liche Künstlerin, mit Kopf und mit Herz ganz         lich nach London und Irland. Und sie reist in
in dieser Sehnsucht, in diesem Ziel aufgehen         ihre eigene Vergangenheit, nach Hameln, dem
muss. … Ich will studieren, will lernen, die-        Geburtsort ihrer Mutter, und nach Hamburg,
se verrückte Welt zu verstehen, und will alles       ihrem eigenen. »Deutschland schien so etwas
wissen über die Menschen, die sie so gemacht         wie ein Brutkasten von Eindrücken, Ideen und
haben, wie sie ist. Ich will einfach alles erfah-    Konzepten zu sein, eine Katharsis.«3
ren, was das Leben zu bieten hat, und ich muss       In Kettwig selbst, in der zum Wohnatelier um-
das allein schaffen. Ich bin eine Künstlerin.«       gebauten alten Halle der Textilfabrik Scheidt,
– Über ihre Ausbildung. Über die zermürbende         verlässt Eva Hesse die zweidimensionale Mal-
Ehe mit dem Bildhauer Tom Doyle, mit dem zu-         und Zeichenfläche und erweitert das Bild in
sammen sie 1964/65 der Einladung eines deut-         den Raum hinein: durch Papiermaché-Aufbau-
schen Industriellen für ein Arbeitsstipendium        ten, um die sich in konzentrischen Kreisen ein
nach Kettwig an der Ruhr folgt.                      baumwollummantelter Draht legt, oder durch

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aus der Bildfläche ragende Räder aus Spindeln,        striktes Programm einhalten.«6
die sie als Abfälle von alten Spinnmaschinen          In diesen Augenblick hat sie sich vor der Last der
auf dem Fabrikgelände findet. Später, wieder          Vergangenheit, aus ihrem Ehedrama und vor ei-
zurück in den Staaten, folgen Holzlatten mit          genen Vorstellungen und Wünschen immer wie-
regelmäßig angeordneten Kreisen, aus deren            der gerettet. Und es gelingt ihr auch immer wie-
Zentren Drähte und Schnüre in den Raum he-            der, ihn in Geistesgegenwart umzuwandeln. So
rein ragen bzw. der Schwerkraft folgend he-           entgeht sie allem Zwanghaften und es entsteht
runterhängen, zuerst in paralleler Ordnung,           nie ›autobiografische‹ Kunst. Dafür gewinnt sie
dann sich verheddernd und verschlingend ihre          sich selbst, findet »so etwas wie Konsistenz«,7
eigenen Wege nehmend. Oder sie überbrücken            um die sie ihr ganzes Leben gerungen hat.
einen Zwischenraum, sich in diesem mannig-            Diese Rückkehr in ihre deutsche Heimat wur-
fach verflechtend, um dann in einer neuen Ta-         de für die Künstlerin Eva Hesse zum entschei-
fel wieder einem in ein regelmäßiges Muster           denden Wendepunkt, den sie nicht zuletzt auch
eingebundenen Punkt zuzustreben: Schicksals-          Anregungen durch ihren Bildhauer-Ehemann zu
fäden? – Immer wieder geht es in ihrem Werk           verdanken hat. Auf künstlerischem Gebiet konn-
um so Gegensätzliches wie Trennung und Ver-           ten sich beide durchaus gegenseitig befruchten.
bindung, Kompartimentierung und Einengung             – Nach diesem Deutschland-Aufenthalt geht die
der Formen auf der einen und »diesen wilden           Ehe endgültig auseinander, worunter sie sehr
Raum, kein Inhalt, alles im Fluss«4 auf der an-       leidet. Doch gleichzeitig gewinnt sie nun in der
deren Seite; um strenge architektonische Glie-        fast nur von Männern beherrschten Kunstwelt
derung und das freie Spiel mit dem Raum, kurz         mehr und mehr eine eigenständige Anerken-
um Ordnung und Chaos. »Eine Künstlerin, die           nung. »Sie war sehr ehrgeizig, ohne Zweifel. Sie
bisher Unvereinbares in ihren Objekten verein-        wollte es nicht nur den Männern zeigen, ihr Ehr-
te: Freiheit und Einschränkung, Unterdrückung         geiz war es überhaupt, große Kunst zu schaffen.
und Befreiung, Pathos und Humor, anthropo-            Das trieb sie an. Sie hatte das Gefühl, sie wäre
morphe und geometrische Formen« (Michael              besser als andere. Bevor sie diese wunderbaren
Jürgs). Ein zeitgenössischer Kritiker beschreibt      Sachen tatsächlich machte, wusste sie, dass sie
seinen Eindruck von Hesses Objekten etwas             es tun würde.« So charakterisiert die Freundin
irritiert als den einer »zermürbten, demorali-        Grace Bakst Wapner Eva Hesse. Sie ist eine der
sierten Geometrie, die knapp vor der totalen          vielen Gesprächspartnerinnen und -partner von
Auflösung durch eine exzentrisch anmutende            Michael Jürgs, der nahezu alle noch lebenden
Ordnung gerettet wurde.«                              Freunde, Bekannten und Kollegen von Eva Hes-
Ihre Kunst folgt keinem Konzept. Sie greift Dinge     se aufgesucht hat, unter ihnen vor allem auch
auf, variiert, setzt etwas – ohne Aktionskunst        die Schwester Helen, den Ehemann Tom Doyle
zu werden. Ideen und Vorstellungen sowie Ex-          (Eva Hesse hatte trotz der Trennung nicht in
perimente mit Formen und Materialien greifen          eine Scheidung eingewilligt) und den langjäh-
ineinander. Bei allem spürt man eine liebevolle       rigen Künstlerfreund und Lebensbegleiter Sol
Hand. »Das Malen einer Idee ist nur dann gut,         LeWitt. »The best way to beat discrimination
wenn diese Idee wirklich persönlich ist. Von          in art is by art. Excellence has no sex«, so Eva
außen übernommene Ideen versagen immer«,5             Hesse selbst, die von Freunden als »artlover«
stellt Eva Hesse fest. Dabei hat sie die Verän-       bezeichnet wurde, »als jemand, der die Kunst an
derlichkeit und Vergänglichkeit der von ihr be-       sich liebte und nicht nur in die eigene verliebt
nutzten Materialien, insbesondere des Latex,          war« (Jürgs).
nicht wirklich gestört. Sie arbeitet in ihrer Kunst
stark aus dem Augenblick heraus: »Umso mehr
                                                      »Bei mir war immer alles gegensätzlich«
Wahrheit scheint mir darin zu liegen, dass es
einfach passiert. … Ich lasse es zu. Ich möchte,      Jürgs Verdienst ist es, immer wieder deutlich
dass die Arbeiten etwas freisetzen. Ich kann kein     zu machen, dass ihre Kunst nicht kurzschlüs-

                                                                                        die Drei 5/2007
Eine berührbare Frau. Eva Hesse                                                                   57

sig aus ihrer Geschichte und ihren

                                                                                                        (c) The Estate of Eva Hesse. Hauser & Wirth Zürich London
Ängsten erklärt werden könne und
das sie auch nicht als Feministin
zu vereinnahmen sei. Ja, was die
Bedeutung ihrer Ängste betrifft, da
nimmt er sie sogar ein wenig vor
sich selbst in Schutz. Auch wenn
diese in ihrem Bewusstsein – ab-
lesbar z.B. an ihren selbstthera-
peutischen Tagebucheintragungen
– sehr dominierten, so habe es
durchaus nicht nur die schwer-
mütige, sondern immer auch die
leichtfüßige Eva gegeben, die neu-
gierig und sensibel sich der Welt
und den Menschen zuwandte und
mit der man sich wunderbar un-
terhalten konnte. Dabei konnte
sie allerdings auch deutliche Ur-
teile fällen – über die Kunst an-
derer ebenso wie die eigene. »Sie
war emotional und intuitiv, und
zugleich eine Intellektuelle«, be-
schreibt sie eine Freundin. Und
Michael Jürgs resümiert: »Es sind
die für Eva Hesse typischen Brü-
che zwischen Wunsch und Wirk-
lichkeit, aber genau aus diesen         Eva Hesse: Contingent, 1969. Glasfaser, Polyesterharz, Latex,
Brüchen hat sie die Kraft für ihre      Baumwollgewebe. 350 x 630 x 109 cm /variabel), 8 Elemente.
Kunst geschöpft.«                       National Gallery of Australia, Canberra, erworben 1974
»Ich erinnere mich daran, dass ich
immer mit Widersprüchen und gegensätzlichen         unterliegt auch immer wieder ihrer erotischen
Formen gearbeitet habe, was auch meiner Idee        Anziehungskraft. Ob er so der Wirklichkeit
von Leben entspricht. Die ganze Absurdität          tatsächlich nahe kommt, sei dahingestellt. Es
des Lebens, bei mir war immer alles gegensätz-      kristallisieren sich jedenfalls für den Leser nur
lich.«8 Kunst und Leben werden so tatsächlich       schwer einzelne Lebensmotive und -fäden he-
eine Einheit, ohne dass das eine die andere er-     raus, und es will aus der komplexen Gemen-
klärt, ohne dass eine zwingende Parallelfüh-        gelage kein rechtes »Bild« entstehen, wie es
rung vorliegt. Sonst wäre es keine Kunst! »Mein     vielleicht für eine »bildende« Künstlerin wie
Leben und meine Kunst waren nie voneinander         Eva Hesse angemessen wäre. Insofern bildet
zu trennen – sie gehören zusammen«.9                das erwähnte Interview von Cindy Nemser mit
Jürgs versucht mit seinen Schilderungen den         einer Fülle präziser Selbstbeobachtungen eine
Eindruck größtmöglichster Lebensnähe zu             wertvolle Ergänzung zu seiner Darstellung. In
erzeugen. Dabei gelingen ihm viele gute Be-         diesem letzten Gespräch entsteht ein intensives
obachtungen, und als Leser kann ich mich            »Selbstbildnis« in einem Moment, in dem ihre
tatsächlich ein Stück weit mit der Protagonis-      bewusste Bereitschaft, »an die Grenze zu ge-
tin identifizieren. Gelegentlich wird er jedoch     hen«, durch die Lebenssituation geradezu he-
auch etwas zu distanzlos und kumpelhaft und         rausgefordert wird. Sie weiß von ihrem nahen

die Drei 5/2007
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Tod – das wird auch durch die von Jürgs zu-           3 Sabine Folie: Just substitute painting – that is all.
sammengetragenen Zeugnisse deutlich. Doch             Transformationen – Eva Hesse in Deutschland 1964/65,
sie spricht nicht darüber, klagt auch nicht, son-     in: Eva Hesse. Transformationen – Die Zeit in Deutsch-
                                                      land 1964/65, Kunsthalle Wien/ Galerie Hauser & Wirth,
dern arbeitet, angesichts des Todes befreit von
                                                      Zürich London. Verlag der Buchhandlung Walter König,
ihren Lebensängsten, weiter so gut es geht, und       Köln 2004. Zusammen mit dem Band Eva Hesse. Kalen-
sei es mit Hilfe ihrer Assistenten. »Wir sprachen     dernotizen 1964/65 im Schuber, 44 EUR.
nie über den Tod, immer nur über ihre Kunst.«         4 Brief an Sol LeWitt vom 18.3.1965, zit. bei Sabine
»Als ich nach der Operation zu mir kam, war           Folie, a.a.O.
einer meiner ersten Gedanken, dass ich meine          5 Katalog Ausstellung Wiesbaden, a.a.O., S. 175,
Existenz nicht mehr länger dadurch zu rechtfer-       Fußnote 4.
tigen bräuchte, dass ich Künstlerin bin, das ich      6 Interview, a.a.O.
                                                      7 Interview, a.a.O.
das Recht hätte zu leben, auch ohne Künstlerin
                                                      8 Interview, a.a.O.
zu sein.«10 – Die Kunst ist ihr nun nicht mehr        9 Interview, a.a.O., Fußnote 21.
Flucht und einzige Gewissheit; sie bei sich selbst    10 Interview, a.a.O., Fußnote 44.
angekommen. »So möchte ich sein, so viel Eva          11 Interview, a.a.O.
wie möglich – als Künstlerin und als Person.«11       12 Interview, a.a.O.
Und: »Ich habe überlebt, nicht glücklich über-
lebt, sondern weil ich ein Ziel hatte und eine        Lesungen von Michael Jürgs:
Vorstellung davon, wie es besser sein könnte.«        14.05.2007: Jüdisches Museum Berlin
                                                      21.05.2007: Jüdisches Museum, Jakobsplatz, Mün-
                                                      chen
»Eva Hesse: … Eben dies ist es, was mir wichtig       22.05.2007, 20 Uhr: Amselhof-Buchhandlung Frank-
erscheint: eine mir unbekannte Größe zu fin-          furt am Main, Alt Niederursel 22
den, welches Problem auch immer dadurch auf           23.05.2007, 19 Uhr: Daniel-Pöppelmann-Haus, Deich­
mich zukommt. Ich könnte auf etwas anderes            tor­wall, Herford
stoßen, eine Frage beantworten oder eine neue         Siehe auch: www.randomhouse.de/booksandmore/
Form oder einen neuen Gedanken zu fassen              events.jsp?edi=209559&aec=authorred
kriegen.
Cindy Nemser: Das ist die Vorstellung, in et-         Grabstein von Sol LeWitt für Eva Hesse auf dem
was vorzustoßen, das noch gar nicht existiert         Westwood Cementery in New Jersey
– beinahe so etwas wie in das ungewisse zu
springen?
Eva Hesse: Das ist schön gesagt. Ja, das würde
ich gerne tun.«12

Vielleicht ist es dieses Moment, was in ihren
Werken erlebbar ist, was ihnen ihre Charme
und ihre Tiefe gibt, was sie und ihre Schöpferin
so berührend und berührbar macht.

1 Cindy Nemser: Ein Interview mit Eva Hesse. Ins
Deutsche übertragen und kommentiert von Annette
Tietenberg, in: Eva Hesse. Katalog Ausstellung Mu-
seum Wiesbaden 11.6.-13.10.2002, Seite 249-261 (im
Folgenden kurz: Interview). – Der Katalog ist noch
                                                                                                                (c) Michael Jürgs

erhältlich: Softcover 30 EUR; Hardcover 45 EUR; Be-
zug: www.museum-wiesbaden.de/html/shop/. Vgl. auch
Michael Jürgs: Eine berührbare Frau, a.a.O., S. 9f.
2 Siehe Fußnote 1.

                                                                                            die Drei 5/2007
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