NFP 51 Integration und Ausschluss - Bulletin Nr. 2, Dezember 2005
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NFP 51 Integration und Ausschluss Bulletin Nr. 2, Dezember 2005 www.nfp51.ch Schwerpunkt Editorial Soziale Sicherheit und Demokratie stehen in Der «weiche Garantismus» einem direkten Zusammenhang. Beide haben der Schweiz zum Ziel, Teilhaberechte zu garantieren und für alle die faktische Mög- Teilhaberechte in der Sozialpolitik lichkeit zu schaffen, an Prof. Dr. rer. soc. Michael Opielka gesellschaftlichen Ein- richtungen und Entschei- dungen zu partizipieren. Auch in der Schweiz gilt der Sozialstaat seit langem als Sozialstaatlichkeit bedeu- krisenhaft und problematisch. Arbeitslosigkeit und Armut tet vor allem Existenz- werden von Sozialpolitikwissenschaftlern als Hinweis sicherung, sozialen Aus- darauf gewertet, dass die «Inklusion» aller Bürgerinnen und gleich, intergenerative Bürger in alle Funktionssysteme der Gesellschaft – so die Solidarität. Sie hat aber klassische Bestimmung der Sozialpolitik bei Talcott Parsons gleichzeitig auch einen und Niklas Luhmann – zunehmend misslingt. Doch sind direkten Einfluss auf die politische Mitwirkung Zweifel an einer allzu negativen Deutung des Sozialstaats in unserer Gesellschaft und auf deren angebracht. Aus international vergleichender Perspektive Ausgestaltung. kann die Schweizer Sozialpolitik geradezu als Paradigma Ob die Schweiz dabei einen «Sonderweg» eines neuen, «garantistischen» Wohlfahrtsstaates (Wohl- beschreitet, der als Vorbote eines neuen Typs fahrtsregimes) interpretiert werden. bezeichnet werden kann, wie Michael Opielka «Garantismus» in der Sozialpolitik heisst zweierlei: betont, kann offen bleiben. Wie die gegenwärti- (1) Sozialpolitische Rechte und Pflichten beziehen sich auf gen Diskussionen in mehreren europäischen den Bürgerstatus (und nicht auf den Arbeitnehmerstatus). Ländern zeigen, sind nämlich die Fragen nach (2) Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Grundrecht auf Mass, Ausgestaltung und vor allem politischer Teilhabe an allen sozialen Funktionssystemen. Priorisierung in der Sozialpolitik trotz aller sys- temtechnischer Unterschiede die gleichen. Was Wohlfahrtsregime der Schweiz: vom Liberalismus zum für die Schweiz – im Sinne Opielkas – vielleicht «weichen» Garantismus in besonderem Masse gilt, ist die breite politi- Noch in den 1970er Jahren galt die Schweiz aufgrund ihrer sche Verankerung des Wohlfahrtssystems. relativ niedrigen Sozialleistungsquote1 in den meisten ver- Der gefestigte gesellschaftliche Konsens über gleichenden Studien als liberaler Wohlfahrtsstaat, der am den Generationenvertrag und die t ehesten mit Grossbritannien, den USA oder Australien, nicht aber mit anderen kontinentaleuropäischen Staaten verglichen wurde, wie etwa von Gøsta Esping-Andersen (Esping-Andersen 1990, S. 81), dem klassischen Theoreti- ker der «Wohlfahrtsregime». Spätestens seit den 1990er Jahren wurde dieser Schweizer «Sonderweg» in der Sozial- politik jedoch empirisch revidiert, sodass auch eine theo- retische Revision ratsam erscheint. Die Schweizer Sozial-
leistungsquote hat sich dem europäischen Mittelwert t solidarische Umverteilung erweist sich immer angeglichen und ihn inzwischen sogar übertroffen – eine wieder als resistent gegenüber Abbautendenzen, rasante Entwicklung innerhalb von weniger als 20 Jahren Ökonomisierungstrends, Individualisierungs- (vgl. Abbildungen 1 und 2). und Privatisierungsversuchen. Dennoch haben auch wir die Befürchtung des Die Erklärung der Demokratieforschung für diese Ent- Soziologen Zygmunt Baumans, der Sozialstaat wicklung lautet, dass die basisdemokratische Struktur der sei zum Sicherheitsstaat degeneriert, ernst zu Schweiz die Einführung neuer Leistungs- und Umvertei- nehmen. Bauman zufolge haben die Regie- lungssysteme zwar erheblich erschwert; sind diese jedoch rungen den existenziellen Schutz der Bürgerin- erst eingeführt, erweisen sie sich als hochresistent. nen und Bürger aufgegeben und gebärden sich stattdessen als der letzte Schutzwall für das Da sich die Schweiz also nicht mehr ohne Weiteres als individuelle Überleben der BürgerInnen gegen Modell des liberalen Wohlfahrtsstaates bezeichnen lässt, unheimliche Gefahren, die irgendwo im Dunkel wurde jüngst vorgeschlagen, ihren «Sonderweg» als Vor- lauern sollen. boten eines neuen Regimetyps zu fassen, der die klassi- In den kommenden Jahren stehen mehrere Revi- sche, von Esping-Andersen beschriebene Trias liberal/kon- sionen zu verschiedenen Sozialversicherungs- servativ/sozialistisch um die «garantistische» Dimension zweigen an. Die Diskussion um die Dynamik von erweitert (Opielka 2004b). In der Schweiz mit ihren unge- Integration und Exklusion durch die Gesetz- wöhnlich stark am Bürgerstatus und an Teilhaberechten gebung und vor allem bei der Anwendung der fokussierten Leistungssystemen (AHV/IV, Kopfprämien Gesetze ist von höchster Aktualität. Mehrere usf.) scheint sich eine neuartige Synthese der bisherigen Projekte aus dem NFP 51 werden hierzu wertvol- politischen Grossmodelle zumindest in der Sozialpolitik le Beiträge liefern können. Nicht zufällig bildet entwickelt zu haben. dieses Thema einen der Schwerpunkte des Programms. In Abbildung 3 sind die vier Regimetypen und ihre Variablen zusammengestellt. Mit Hilfe der den Variablen beigegebe- Dr. Claudia Kaufmann nen Indikatoren kann der Regimetyp eines Wohlfahrts- Mitglied der Leitungsgruppe des NFP 51 staates ermittelt werden. Für die drei klassischen Regime- typen wurden die Zuordnungen von Esping-Andersen bzw. Abbildung 1 Soziallast- und Sozialleistungsquote Schweiz 1948 –2001 (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5% 0% 1948 1952 1956 1960 1964 1968 1972 1976 1980 1984 1988 1992 1996 2001 Soziallastquote Nationale Buchhaltung Soziallastquote Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Sozialleistungsquote Nationale Buchhaltung Sozialleistungsquote Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Soziallast- und Sozialleistungsquote gemäss Nationaler Buchhaltung (1948–1995) und gemäss Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung VGR (1990–2001) Quelle: BSV, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2004, Bern, S. 70 2 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
aus der Sekundärliteratur übernommen. Für den Typus Abbildung 2 «Garantismus» liegen vergleichbare Berechnungen noch Sozialschutzausgaben 2001 im europäischen Vergleich nicht vor, sie beruhen daher auf Schätzungen und Erfah- (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) rungswerten. Irland 14.6 % In Abbildung 4 wird die Regimetypologie soziologisch-sys- Island 20.1 % tematisch skizziert, wobei die Schweizer und – zum Spanien 20.1 % Luxemburg 21.2 % Vergleich – die deutschen Sozialpolitikfelder entsprechend Portugal 23.9 % zugeordnet werden. Dies bedeutet, dass die Regimetypen Italien 25.6 % einerseits (vertikale Achse) über Sozialpolitikfelder und Norwegen 25.6 % deren Hauptproblemstellung mit den vier zentralen gesell- Finnland 25.8 % Griechenland 27.2 % schaftlichen Subsystemen – Wirtschaft, Politik, Gemein- Grossbritannien 27.2 % schaft, Legitimation – in Verbindung gebracht werden EUR-12 27.4 % (Beispiel: Dekommodifizierung als Unabhängigkeit von EUR-11 27.4 % Marktkräften wirkt v.a. im Wirtschaftssystem). Anderer- EU-15 27.5 % Belgien 27.5 % seits wird gezeigt, dass jeder Regimetyp ein spezifisches Niederlande 27.6 % Steuerungsprinzip in den Mittelpunkt stellt (beispielsweise Österreich 28.4 % der Liberalismus den Markt; horizontale Achse, oben). Schweiz 28.9 % Dänemark 29.5 % Deutschland 29.8 % Hinsichtlich der Regimezuordnungen verschiedener Poli- Frankreich 30.0 % tikfelder gilt: Staaten können auf dem einen Sozialpolitik- Schweden 31.3 % gebiet eher liberal, auf einem anderen dagegen sozialistisch 0% 10 % 20 % 30 % sein; ein klassisches Beispiel dafür ist Grossbritannien, das Quelle: BSV, Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2004, als Stammland des Liberalismus über ein staatliches Ge- Bern, S. 62 sundheitswesen verfügt. Der letzte Schweizer Familienbericht von 2004 (der erste entstand 1978) machte darauf aufmerksam, dass die Schweizer Familienpolitik trotz der im europäischen Vergleich hohen Frauenerwerbsquote sowohl hinsichtlich des Ausgabenniveaus wie ihrer qualitativen Schwerpunkte noch sehr residual, d.h. minimalistisch ausgerichtet ist, vative Verbändeherrschaft (Korporatismus), aber ebenso was dem liberalen Welfare-Regimetyp entspricht. Insoweit wenig auch eine liberale Marktideologie in der Sozial- bedarf jede makrotheoretische Verortung von Sozial- politik durchsetzen. politiksystemen der Ergänzung durch Detailanalysen. Diese Grundrechtsdynamik hängt gerade in der Schweiz Dennoch: Die Regimetypologie kann einen erheblichen mit der direkten Demokratie zusammen, die – anders als in analytischen Ertrag abwerfen. Sie lenkt den Blick vor allem Kalifornien, der einzigen weltweit vergleichbaren politi- auf die Dimension der sozialpolitischen Kultur. Die klassi- schen Einheit – auf Bundes-, also nationaler Ebene sozial- schen Politiklegitimationen liberal/sozialistisch/konserva- politische Entscheidungen prägt (vgl. Obinger/Wagschal tiv – also Mitte/Links/Rechts – wurden in den letzten Jahr- 2001). Für die politische Gemeinschaft der Schweiz ist zehnten durch eine globale Agenda sozialer Grundrechte dabei die Entwicklungsdynamik und -logik der Renten- herausgefordert, die sich nicht umstandslos dieser Trias versicherung AHV von fundamentaler Bedeutung. Indem unterordnen lässt. Es gibt starke Argumente dafür, dass sie praktisch die gesamte erwachsene Bevölkerung ein- Demokratien eine evolutionäre Dynamik hin zu sozialen schliesst – was seit 1996 durch die finanztechnisch anders Grundrechten entfalten, die durch geeignete Politikstruk- organisierte «Kopfpauschale» auch in der Krankenver- turen (v. a. direkte Demokratie) gestützt werden. Der sicherung geschieht –, werden Teilhaberechte tendenziell Regimetyp «Garantismus» trägt dieser Dynamik Rech- grundrechtsähnlich garantiert. Es gibt zudem gute Gründe nung. Der Schweizer Wohlfahrtsstaat kann vor diesem zu der Annahme, dass die garantistische Regime-Konzep- Hintergrund als «weich garantistisch» (Carigiet/Opielka tion angesichts eines globalen Sozialabbaus und -umbaus 2006) gelten. In der Schweiz konnte sich weder sozialde- als krisenresistenter gelten kann. In diese Richtung wei- mokratische Staatszentrierung (Etatismus) noch konser- sen neuere Studien der Weltbank (z. B. Queisser/White- NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 3
Abbildung 3 Vier Typen des Wohlfahrtsregimes Variable Typen des Wohlfahrtsregimes – Indikatoren liberal sozialdemokratisch konservativ garantistisch Dekommodifizierung: Schutz gegen Marktkräfte schwach stark mittel stark und Einkommensausfälle (für «Familien- – Einkommensersatzquoten ernährer») – Anteil individueller Finanzierungsbeiträge (invers) Residualismus stark schwach stark schwach – Anteil von Fürsorgeleistungen an gesamten Sozialausgaben Privatisierung hoch niedrig–mittel niedrig–mittel mittel – Anteil privater Ausgaben für Alter bzw. Gesundheit an jeweiligen Gesamtausgaben Korporatismus/Etatismus 1 schwach mittel stark schwach – Anzahl von nach Berufsgruppen differenzierten Sicherungssystemen – Anteil der Ausgaben für Beamtenversorgung Umverteilung schwach stark schwach mittel – Progressionsgrad des Steuersystems – Gleichheit der Leistungen Vollbeschäftigungsgarantie schwach stark mittel mittel – Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik – Arbeitslosenquote, gewichtet nach Erwerbsbeteiligung Bedeutung von – Markt zentral marginal marginal mittel – Staat marginal zentral subsidiär subsidiär – Familie/Gemeinschaft marginal marginal zentral mittel – Menschen-/Grundrechte mittel–hoch mittel marginal zentral Dominante Form der individualistisch lohnarbeits- kommunitaristisch- Bürgerstatus, sozialstaatlichen Solidarität zentriert etatistisch universalistisch Dominante Form der Markt Staat Moral Ethik sozialstaatlichen Steuerung Empirische Beispiele USA Schweden Deutschland, Italien Schweiz («weicher Garantismus») 1Korporatismus: hohes Mass an unmittelbarer Aushandlung zwischen Interessenverbänden (v.a. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) und Staat; Etatismus: hohe Bedeutung staatlicher Intervention, insbesondere des Zentralstaats Quelle: Opielka 2004b, S. 35 (nach G. Esping-Andersen und J. Kohl), überarbeitet und erweitert 4 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
Abbildung 4 Rekombination der vier Typen des Wohlfahrtsregimes mit gesellschaftlichen Subsystembezügen am Beispiel Schweiz–Deutschland Wohlfahrtsregime Politisches Wohlfahrtsregime liberal sozialistisch konservativ garantistisch Legitimationsmodell (Markt) (sozial- (Moral) (Ethik) (Level 4) a demokratisch) (Staat) Gemeinschaft Care-Arrangement privat öffentlich privat gemischt (Level 3) (Familienpolitik b ) (CH) (D) Politik Ungleichheit hoch gering mittel mittel (Level 2) (Steuerpolitik b ) (D) (CH) Wirtschaft Dekommodifizierung gering mittel gering hoch (Level 1) (Arbeitsmarkt, Rente, (CH d ) (D) (CH c ) Gesundheit b) a Legitimativ dominierendes Steuerungsprinzip («strukturelle Institution»), die Bezeichnung Level bezieht sich auf die steigenden Stufen systemischer Komplexität der Subsysteme der Gesellschaft (vgl. Opielka 2004a). b Dominante sozialpolitische Regulierungsbereiche. c Hohe Dekommodifizierung der Schweiz nur für Rente und Gesundheit. d Die Arbeitsmarktpolitik der Schweiz ist eher liberal ausgerichtet. house 2003), die dem Schweizer Drei-Säulen-System, darin digma verhaftet scheinen. So fordert der Arbeitgeber- vor allem der AHV, eine weltweite Modellfunktion in Bezug vertreter Hasler in besagtem Artikel, dass die Firmen auf ökonomische Nachhaltigkeit und Schutz vor Armut durch die Arbeitsintegration nicht überfordert werden bescheinigen. dürften: «Das muss die vermittelnde Behörde übernehmen können.» Zugleich scheint ihm dieses (etatistische) Dele- Quo vadis, Schweiz? gieren von Sozialverantwortung an den Staat nicht ganz Der Direktor des Schweizer Arbeitgeberverbandes, Peter geheuer: «Es besteht zumindest eine gesellschaftlich- Hasler, hat in der Neuen Zürcher Zeitung (3.10. 2005, S. 7) moralische Mitverantwortung, sich um eingliederungsbe- von «nötige(n) Tabubrüche bei Sozialpartnern und Gesell- dürftige Menschen zu kümmern und diese Aufgabe nicht schaft» gesprochen und «Arbeitsintegration als Königs- einfach dem Staat zu überlassen.» Diese Widersprüchlich- weg» bezeichnet: «Wer nicht spurt, muss den Anspruch auf keiten können positiv interpretiert werden: Teilhaberechte Taggelder oder andere Leistungen verlieren.» Markige werden in der Schweiz breit akzeptiert. Unklar ist freilich Forderungen nach Aktivierung bzw. workfare statt welfare häufig, wie sie zu realisieren sind. kennzeichnen die Sozialpolitikdiskussion der letzten zehn Jahre in fast allen westlichen Wohlfahrtsstaaten (von der Die Schweizer Sozialpolitik steht in den nächsten Jahren Sozialhilfereform unter Clinton 1996 bis zu Agenda 2010 vor der Herausforderung, in der Familien-, Arbeitsmarkt- und Hartz IV in Deutschland). Inwieweit stellt diese Ent- und Armutspolitik Konzepte zu entwickeln, die Teilhabe wicklung die skizzierte «garantistische» Ausrichtung des garantieren und damit Exklusion verhindern, wie dies in Schweizer Sozialstaats in Frage? der Renten- und Gesundheitspolitik in recht vorbildlicher Weise gelang. Aus wissenschaftlicher Sicht lassen sich vor Es ist wichtig zu unterscheiden, dass wir von «weichem» diesem Hintergrund durchaus Empfehlungen geben. Garantismus im Wesentlichen nur im Hinblick auf die Teilhabe erfordert Verfügung über Ressourcen, soziale Sozialpolitikfelder Alterssicherung und Gesundheit spra- Grundrechte erfordern ein hohes Mass an Standardisie- chen, während die Familien- und Arbeitsmarktpolitik (ein- rung. Soziale Dienste, von der Kindertagesstätte bis zur schliesslich Armutspolitik) noch stark dem liberalen Para- Berufsintegration, müssen zwar am individuellen Fall aus- NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005 5
gerichtet sein, um effektiv zu sein. Ihre Finanzierung frei- erkennung erhalten, die im Leistungswettbewerb des lich darf nicht zu sehr von lokalen und kantonalen Arbeitsmarktes nicht mithalten können – oder deren Zufällen abhängen. Das ist eine der Lehren der Kranken- Leistungen (noch) nicht ausreichend gewürdigt werden, versicherung. wie bspw. die Erziehungsleistung in der Familie. Modelle eines Grundeinkommens – verbunden mit professionellen Eine der grossen Stärken der Schweizer Sozialpolitik ist sozialen Diensten – könnten ein tragfähiger Kompromiss die Mischung aus Pragmatismus und sozialer Wertorien- zwischen Förderung von Leistungswillen und garantierten tierung, die auch in Referenden zum Ausdruck kommt. Die Teilhaberechten sein. liberale Grundorientierung des Arbeitsmarktes steht nicht in Frage. Vollbeschäftigung kann durch Strukturpolitik 1Verhältnis von Sozialleistungen und Bruttoinlandsprodukt. In den Übersichten des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) unterstützt, durch politische Interventionen aber nicht werden auch die Begriffe «Soziallastquote» (siehe Abbildung 1) garantiert werden. Es wäre zu bedenken, ob die guten und «Sozialschutzausgaben» (siehe Abbildung 2) verwendet. Erfahrungen mit der AHV übertragen werden könnten auf eine «Grundeinkommensversicherung» nach dem gleichen Prinzip, die alle Einkommensleistungen des Sozialstaats Literatur zusammenfasst und allen vermittlungsbereiten Arbeits- Carigiet, Erwin/Opielka, Michael, 2006, «Deutsche Arbeitnehmer – losen, Personen in formalen Ausbildungen, Eltern mit klei- Schweizer Bürger? Zum deutsch-schweizerischen Vergleich sozialpoliti- nen Kindern, Erwerbsunfähigen und Langzeitkranken ein scher Dynamiken», in: Carigiet, Erwin/Mäder, Ueli/Opielka, Michael/Schulz-Nieswandt, Frank (Hrsg.), «Wohlstand durch Gerechtigkeit. Grundeinkommen – und, wie in der AHV, maximal das Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich», Zürich: Doppelte des Grundeinkommens – garantiert. Diejenigen Rotpunkt Verlag (i.V.) Personen, die arbeitslos, aber nicht vermittlungsbereit Esping-Andersen, Gøsta, 1990, «The three worlds of welfare capitalism», sind, würden 50 Prozent des Grundeinkommens als rück- Princeton: Princeton University Press zahlbares Darlehen erhalten (vgl. Opielka 2004b). Ein sol- ches Modell könnte für alle politischen Lager akzeptabel Obinger, Herbert/Wagschal, Uwe, 2001, «Zwischen Reform und Blockade: Plebiszite und der Steuer- und Wohlfahrtsstaat», in: Schmidt, Manfred G. sein und damit auch in einem Referendum mit Annahme (Hrsg.), «Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, politischer Prozess rechnen – natürlich erst nach ausführlicher öffentlicher und Leistungsprofil», Opladen: Leske + Budrich, S. 90-123 Diskussion. Opielka, Michael, 2004a, «Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons», Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass sich dieses ders., 2004b, «Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven», Paradigma im weiteren Globalisierungsprozess als nach- Reinbek: Rowohlt (rowohlts enzyklopädie) haltig erweist. Vollbeschäftigung, also existenzsichernde, Queisser, Monika/Whitehouse, Edward, 2003, «Individual choice in social ganztägige und lebenslange Arbeit für alle Männer und protection: The case of Swiss pensions», OECD working paper Frauen ist realistischerweise nicht zu erwarten. Die Sozial- DELSA/ELSA/WD/SEM(2003)11, Paris: OECD politik darf Leistung nicht behindern, sie darf sie aber andererseits auch nicht auf den Arbeitsmarkt beschrän- ken, weil sonst die Bürgerinnen und Bürger keine An- Prof. Dr. rer. soc. Michael Opielka, Dipl.-Päd., Jg. 1956, Studium der Rechtswissenschaften, Erziehungswissenschaften, Philosophie und Ethnologie an den Universitäten Tübingen, Zürich und Bonn, Promotion in Soziologie an der Humboldt- Universität zu Berlin. Nach seiner Tätigkeit u.a. als Vorstand der Karl-Kübel-Stiftung für Kind und Familie in Bensheim, als Abteilungsleiter am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg und als Rektor der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn seit 2000 Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena. 2004-06 zudem Visiting Scholar an der University of California at Berkeley, School of Social Welfare. Kontakt Prof. Dr. Michael Opielka Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen Carl-Zeiss-Promenade 2, D-07745 Jena michael.opielka@fh-jena.de 6 NFP 51 Bulletin Nr. 2 | Dezember 2005
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