Einen neuen Anfang machen Zur Genese des Moskauer Vertrags, 1966-1970 - RosDok
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Einen neuen Anfang machen Zur Genese des Moskauer Vertrags, 1966-1970 Wissenschaftliche Abschlussarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt Gymnasium Vorgelegt von Andre Fuchs Rostock, 07.06.2021 Themensteller/ Erstgutachter: Prof. Dr. phil. habil. Stefan Creuzberger Zweitgutachter: Dr. Fred Mrotzek Historisches Institut – Philosophische Fakultät – Universität Rostock https://doi.org/10.18453/rosdok_id00003288
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung, Leitfrage, Forschungsstand................................................................... 1 2. Grundlagen: Entspannungspolitik in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre .............. 7 2.1 Anfänge einer Neuen Ostpolitik während der Großen Koalition ........................ 7 2.2 Moskaus westpolitische Flucht nach vorn ....................................................... 15 2.3 Machtwechsel in Bonn .................................................................................... 25 3. Verhandlungen: Vom Gewaltverzicht zum Moskauer Vertrag 1969-1970 ............. 32 3.1 „Vorläufiger Meinungsaustausch“ ................................................................... 32 3.2 Durchbruch: Das „Bahr-Gromyko-Papier“ ....................................................... 38 3.3 Letzte Meter: Finalisierung des Vertrags ......................................................... 47 4. Schlussbetrachtung .............................................................................................. 52 5. Quellen- und Literaturverzeichnis ......................................................................... 57 5.1 Quellenverzeichnis ......................................................................................... 57 5.2 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 65
1. Einleitung, Leitfrage, Forschungsstand Es waren Bilder, die im Jahr 1971 für großes Aufsehen sorgten: zwei leger gekleidete Männer mit Sonnenbrille, tiefenentspannt und gebräunt auf ihrer Bootstour auf dem Schwarzen Meer oder gemeinsam schwimmend im warmen Wasser. Wenn sie dabei nicht gerade in tiefsinnige Gespräche versunken waren, dann schöpften die Beiden aus ihrem schier unendlichen Fundus an Witzen, die sie sich gegenseitig erzählten.1 Die Personen, die hier beschrieben werden, sind keine geringeren als der Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew und der Bundeskanzler Willy Brandt, die sich für ein Wochenende auf der Halbinsel Krim in der Nähe von Jalta zu informellen Gesprächen trafen, um sich in puncto Entspannungspolitik abzustimmen. Abseits der Beratungen war es vor allem die zur Schau gestellte Männer- freundschaft, die jene Zusammenkunft so außergewöhnlich machte. Nach Jahren der Konfrontation zwischen ihren Ländern trafen sich hier zwei der mächtigsten Politiker der Welt und sendeten das Signal einer vertrauensvollen Verständigung an die Öffentlichkeit. Die diplomatische Eiszeit schien somit überwunden. In diesem Zusammenhang sicherte Brandt seinem Gegenüber zu Beginn des Treffens zu: „[…] wir hätten den schweren Anfang hinter uns […]“.2 Jenen Anfang, auf den der Sozialdemokrat anspielte, stellte der Moskauer Vertrag dar, ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion vom 12. August 1970, in welchem ein gemeinsamer Gewaltverzicht bei der Lösung zukünftiger Konflikte sowie die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen festgeschrieben worden sind. Der Moskauer Vertrag war nicht nur das zentrale erste Ergebnis der anlaufenden Entspannungsbemühungen, sondern durch seinen „Modus Vivendi“-Charakter auch der Auftakt für die weiteren Ostverträge in den Jahren 1970 bis 1973. Doch wie wurde jene Zeit der Entspannung überhaupt ermöglicht, standen sich doch „Ost“ und „West“ seit 1945 unversöhnlich gegenüber? Und auf welche Weise konnte sich nach jahrelanger transnationaler Konfrontation sogar eine Freundschaft zwischen dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und dem Generalsekretär des ZK der KPdSU entwickeln? 1 Vgl. Brandt, Willy: Erinnerungen. Mit einem aktuellen Vorwort. Frankfurt a. M. 1992. S. 206. 2 Nr. 57. Aus dem Vermerk des Bundeskanzlers, Brandt, über das Gespräch mit dem Generalsekretär des ZK der KPdSU, Breschnew. 16. September 1971. In: Fischer, Frank (Bearb.): Willy Brandt. Berliner Ausgabe. Bd. 6: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974. Bonn 2005. S. 372ff. 1
Das Treffen der beiden Staatsmänner auf der Krim kann für die Beantwortung dieser Fragen sowohl als Sinn- als auch als Trugbild herangezogen werden. Einerseits war es für die entspannungspolitische Wende notwendig, dass sich zwei gleichberechtigte Partner für ein gemeinsames Ziel stark machten und dieses miteinander verhandelten. Willy Brandt und Leonid Breschnew stehen in diesem Zusammenhang stellvertretend für die Neue Ostpolitik der Bundesrepublik und die Neue Westpolitik der Sowjetunion, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass der zwischenstaatliche Dialog initiiert werden konnte. Andererseits handelte es sich bei der Entspannungspolitik und speziell dem Moskauer Vertrag nicht um ein Konzept einzelner Akteure, sondern um ein Produkt vielschichtiger Prozesse, die sowohl auf persönlicher als auch auf transnationaler Ebene abliefen. Demnach führte nicht allein das Agieren der beiden Parteiführer zum Vertragsabschluss, vielmehr ebneten ein ganzes Bündel an parteiinternen, nationalen und internationalen Interessenfaktoren sowie politische und wirtschaftliche Handlungszwänge den Weg dorthin. Darüber hinaus handelte es sich bei diesem Prozess um eine langfristige Entwicklung, die ihren Beginn in der Mitte der 1960er Jahre nahm. Besonders die aktuelle Forschung bestätigt diese komplexe Genese des Moskauer Vertrags, so wie der erst kürzlich erschienene Sammelband von Michael Borchard und Hanns-Jürgen Küsters.3 Im Mittelpunkt dieses Bandes steht die detaillierte Analyse des Zustandekommens jenes Abkommens und dessen Bedeutung für den KSZE-Prozess. Auf der Basis der freigegebenen sowjetischen Quellen aus dem Bestand von Leonid Breschnew wird die Rolle der Sowjetunion für die Aushandlung des Moskauer Vertrags analysiert und die Entwicklung der bundesdeutschen Ostpolitik untersucht. Der Beitrag von Ines Mietkowska-Kaiser aus dem Jahr 1986 war einer der ersten Versuche, die Entstehungsgeschichte des Vertragswerkes nachzuzeichnen. Dabei geht sie auf die Entwicklungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen seit Gründung der Bundesrepublik ein, die in der Aushandlung des Gewaltverzichtsvertrages mündeten. 4 Allerdings fehlten ihr für die Analyse der Verhandlungen zentrale sowjetische Dokumente, auf die zu jener Zeit noch nicht zugegriffen werden konnte. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Zugang zu den sowjetischen Archivalien möglich. Auf Basis der neuen Quellen- 3 Borchard, Michael; Karner, Stefan; Küsters, Hanns Jürgen; Ruggenthaler, Peter (Hrsg.): Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag. Wien 2020. 4 Mietkowska-Kaiser, Ines: Der Weg zum Moskauer Vertrag. In: Jahrbuch für Geschichte. Bd. 38. Berlin 1989. S. 311-360. 2
lage unternahm Werner Link einen weiteren Versuch, die Genese des Moskauer Vertrags zu untersuchen.5 Er setzt sich besonders mit den Vorbedingungen und der konkreten Aushandlung des Vertragswerkes auseinander. Hierbei betont er vor allem die Schaffung eines „Modus vivendi“ und die Bedeutung des Vertrages, die über einen bloßen Gewaltverzicht hinaus geht. Die Monografie von Julia von Dannenberg stellt das bundesdeutsch-sowjetische Gewaltverzichtsabkommen als ein Ergebnis nationaler und internationaler Faktoren dar und liefert die bis dahin umfangreichste Analyse zu dessen Entstehungsprozess.6 Diese ausführliche Aufarbeitung jenes Knotenpunktes für die kurzfristige Entspannung während des Kalten Krieges ist der breiten Quellenlage zu verdanken. Eine Vielzahl an Quelleneditionen ermöglicht es, einen Einblick in die geheimen Verhandlungen der Jahre 1969 und 1970 zu erhalten. Wichtige Editionen sind hierbei die „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ und die „Dokumente zur Deutschlandpolitik“.7 In Band 6 der Berliner Ausgabe zu Willy Brandt sind zudem Schlüsseldokumente zur Rolle des einstigen Außenministers und Bundeskanzlers der Bonner Republik bei der Vorbereitung und Verhandlung der Ostverträge zusammengefasst.8 Zudem veröffentlichte die Konrad-Adenauer-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung und dem Russischen Staatlichen Archiv für Neuere Geschichte eine Reihe von bisher geheimen Akten zur Deutschlandpolitik der UdSSR aus dem Bestand des Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew. Diese Archivalien ergänzen nicht nur die bisher veröffentlichten Dokumente, sondern verdeutlichen auch die sowjetische Herangehensweise und ihr Konzept einer Westpolitik.9 Darüber hinaus vermitteln die Memoiren der damals beteiligten Akteure einen Eindruck vom Ablauf und der Tragweite der deutsch-sowjetischen Unterredungen. Zu nennen sind hier 5 Link, Werner: Die Entstehung des Moskauer Vertrags im Lichte neuer Archivalien. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 2/2001. S. 295-315. 6 Dannenberg, Julia von: The Foundations of Ostpolitik. The Making of the Moscow Treaty between West Germany and the USSR. Oxford 2008. 7 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. München 1994ff.; Siehe auch: Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. (21. Oktober 1969 bis 30. September 1970). Bd. 1. 21. Oktober 1969 bis 31. Dezember 1970: Hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs. Wissenschaftliche Leitung: Klaus Hildebrand und Hans-Peter Schwarz. München 2002. 8 Fischer, Frank (Bearb.): Willy Brandt. Berliner Ausgabe. Bd. 6: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974. Bonn 2005. 9 Neue Sowjetische Dokumente 1967-1974. Internetressourcen der Konrad-Adenauer-Stiftung. (https://www.kas.de/de/web/wissenschaftliche-dienste-archiv/portal-ostpolitik) (04.06.2021). 3
unter anderem die Erinnerungen von Bundeskanzler Willy Brandt, dem Staats- sekretär Egon Bahr oder dem Deutschlandkenner und Botschafter Valentin Falin.10 Neben den Werken, die sich ausschließlich auf die Genese des Moskauer Vertrags fokussieren, gibt es auch eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit dem gesamten Komplex der bundesdeutschen Ostpolitik beschäftigen. Hier kann die Monografie von Peter Bender genannt werden, in der er sich mit der Entwicklung der Ostpolitik von der Mitte der 1950er Jahre bis hin zur deutschen Wiedervereinigung auseinander- setzt.11 Heinrich Potthoff legte in seiner Arbeit zwar den Schwerpunkt auf die Bonner Deutschlandpolitik seit dem Mauerbau, geht dabei allerdings auch auf die sich verändernde Ostpolitik ein. 12 Die Monografien von Arnulf Baring und Gottfried Niedhart legen ihren Fokus ausschließlich auf das Wirken der sozial-liberalen Koalition.13 Während Baring die Herausforderungen und Erfolge der Brandt-Scheel- Regierung in Bezug auf deren Innen- und Außenpolitik skizziert, analysiert Niedhart die Konzeption der Bonner Ostpolitik. In einem früheren Werk stellt Niedhart zudem die Entspannungsprozesse zwischen Bonn und Moskau seit 1966 dar.14 Somit bezieht er auch die Rolle der Großen Koalition in die Analyse mit ein. Jenes Regierungsbündnis und deren Anfänge einer Neuen Ostpolitik sind auch Gegen- stand anderer Werke, wie der von Martin Winkels und Dirk Kroegel.15 Die Arbeiten von Klaus Schönhoven und Bernd Faulenbach aus der Reihe „Die Sozialdemokratie nach 1945“ analysieren die SPD in den Jahren ihrer Regierungsbeteiligung und gehen dabei unter anderem auch auf die Entwicklung und Umsetzung der Neuen Ostpolitik ein.16 Im Gegensatz zu dieser ist die sich zeitgleich verändernde Westpolitik Moskaus in der historischen Forschung seltener zu finden. Zwar wird sie oft im Zusammenhang 10 Brandt, Willy: Erinnerungen. Mit einem aktuellen Vorwort. Frankfurt a. M. 1992.; Siehe auch: Bahr, Egon: Zu meiner Zeit. München 1998.; Siehe auch: Falin, Valentin: Politische Erinnerungen. München 1993. 11 Bender, Peter: Die „Neue Ostpolitik“ und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. München 1996. 12 Potthoff, Heinrich: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990. Berlin 1999. 13 Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel. Berlin 1998.; Siehe auch: Niedhart, Gottfried: Durch den Eisernen Vorhang. Die Ära Brandt und das Ende des Kalten Kriegs. Darmstadt 2019. 14 Niedhart, Gottfried: Entspannung in Europa. Die Bundesrepublik Deutschland und der Warschauer Pakt 1966 bis 1975. München 2014. 15 Winkels, Martin: Die Deutschland- und Ostpolitik der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland (1966-1969). Bonn 2009.; Siehe auch: Kroegel, Dirk: Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition. München 1997. 16 Schönhoven, Klaus: Wendejahre. Die Sozialdemokraten in der Zeit der Großen Koalition 1966- 1969. Bonn 2004.; Siehe auch: Faulenbach, Bernd: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unübersichtlichkeit 1969-1982. Bonn 2011. 4
mit der Entspannung diskutiert, umfangreichere Arbeiten zum neuen Westkurs unter Breschnew sucht man allerdings vergebens. An dieser Stelle sollen dennoch einige Titel genannt werden, so z.B. der bereits erwähnte Band zur „Entspannung im Kalten Krieg“ von Borchard. In diesem wird in mehreren Aufsätzen auf die Bedeutung des westpolitischen Kurswechsels eingegangen. Außerdem ist der Sammelband von Boris Meissner und Alfred Eisfeld anzuführen, der unter anderem die sowjetische Perspektive der Entspannungspolitik unter Breschnew thematisiert.17 Zusammenfassend wird die Tendenz deutlich, dass sich die Forschung zur Phase der Entspannung im Kalten Krieg überwiegend mit der Perspektive der bundes- deutschen Seite beschäftigt. Die neue sowjetische Westpolitik hingegen wird oftmals nur als ein zweitrangiges Phänomen angesehen. Doch insbesondere für die Genese des Gewaltverzichtsabkommens von 1970 ist es essentiell, dass beide Prozesse in einer zusammenhängenden Analyse untersucht werden, was das Ziel dieser Staats- examensarbeit darstellt. Hierfür soll folgender Forschungsfrage nachgegangen werden: Inwiefern spielte neben der bundesdeutschen Ostpolitik auch die neue sowjetische Westpolitik unter Leonid Breschnew eine Rolle für das Zustandekommen des Moskauer Vertrages? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, Folgendes unter besonderer Zuhilfenahme der neuen sowjetischen Archivalien herauszuarbeiten: Wer waren die zentralen Akteure für die Entstehung des Vertragswerks? Worin bestanden deren Ziele und Überzeugungen? Wie schafften es die Unterhändler, zu Überein- künften zu gelangen? Weshalb machten sich beide Seiten überhaupt für einen solchen Dialog stark? Warum stellten besonders die internationalen Rahmen- bedingungen einen wichtigen Einflussfaktor dar? Und zu guter Letzt: Wo und wann sind die zentralen Weichenstellungen für einen Durchbruch der Unterredungen erreicht worden? Der zeitliche Rahmen dieser Analyse erstreckt sich über die Jahre 1966 bis 1970. Den Startpunkt liefert hierbei das Zustandekommen der Großen Koalition in der Bundesrepublik, da diese als erste Bonner Regierung auf einen aktiven und weniger konfrontativen Ostkurs setzte. Gleichwohl ist die Idee einer kooperativeren Ostpolitik nicht neu. Schon die vorherigen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Ludwig Erhard unternahmen bereits vereinzelte entspannungspolitische Maßnahmen in Richtung Moskau und bereiteten den späteren zwischenstaatlichen Dialog somit allmählich 17 Meissner, Boris; Eisfeld, Alfred (Hrsg.): 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis. Berlin 1999. 5
vor. Die Ost- und Deutschlandpolitik unter dem neuen Regierungschef Kurt Georg Kiesinger überstieg die alten Ansätze in Konkretheit und Ernsthaftigkeit der Maßnahmen allerdings deutlich, was nicht zuletzt auf den Einfluss der SPD und Bundesaußenminister Willy Brandt zurückzuführen ist. Im ersten großen Gliederungspunkt, in dem es um „Entspannungspolitik in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre“ geht, soll daher beginnend mit einem Unterkapitel zur Großen Koalition untersucht werden, worin die „Anfänge einer Neuen Ostpolitik“ bestanden und weshalb die Regierung, obwohl sie nicht die erhofften Erfolge einfahren konnte, eine wichtige Voraussetzung für den Moskauer Vertrag schuf. Im zweiten Unterkapitel soll sich mit den sowjetischen Weichenstellungen hin zu einer Neuen Westpolitik beschäftigt werden. Dabei wird analysiert, worin der neue Kurs bestand, weshalb er notwendig war und welche Rolle Leonid Breschnew in dieser Entwicklung einnahm. Die ersten beiden Unterkapitel thematisieren somit dieselbe Zeitspanne, betrachten jene allerdings sowohl aus der bundesdeutschen als auch aus der sowjetischen Perspektive. Diese parallele Analyse mündet dann in das dritte Unterkapitel, welches sich mit dem überraschenden Machtwechsel in Bonn 1969 und dessen Bedeutung für die deutsch-sowjetischen Beziehungen auseinandersetzt. Hier kommt es darauf an, zu beleuchten, worin die Neuartigkeit der sozial-liberalen Ost- politik unter Bundeskanzler Willy Brandt bestand und inwiefern diese ausschlag- gebend für die Wiederaufnahme des bundesdeutsch-sowjetischen Dialoges war. Im zweiten großen Gliederungspunkt sollen schließlich die Verhandlungen zum Moskauer Vertrag im Mittelpunkt stehen, die auf der Grundlage der bisher zugänglichen, aber vor allem auch der erst kürzlich veröffentlichten Archivalien ausgewertet werden. Da beide Seiten oftmals auf eine konsequente Wiederholung der eigenen Standpunkte setzten, wird diese Arbeit nicht jedes inhaltliche Detail der Unterredungen darlegen, sondern vielmehr die zentralen Linien des Diskurses nach- zeichnen. Dabei werden drei verschiedene Phasen untersucht. Im ersten Unter- kapitel geht es um die ersten Sondierungen. Hierbei wird der Frage nachgegangen, warum sich diese als ein erster Dämpfer im gemeinsamen Dialog erwiesen. Das zweite Unterkapitel analysiert die Gesprächsrunden zwischen dem sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko und dem bundesdeutschen Chef-Unterhändler und Architekten der Neuen Ostpolitik, Egon Bahr, mit dem Ziel, herauszufinden, bei welchen Punkten es den größten Dissens gab und wie dieser aus dem Weg geräumt werden konnte. Im dritten Unterkapitel geht es schließlich um die finale Aushandlung 6
des Abkommens und die Frage, worin die letzten Hürden der Verhandlungen bestanden. Am Ende dieser Untersuchung steht die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages am 12. August 1970. Danach soll in einer ausführlichen Schluss- betrachtung die Forschungsfrage auf Basis der getätigten Analyse beantwortet werden, um anschließend die jeweilige Bedeutung des Vertragsabschlusses für die beiden Staaten zu skizzieren. 2. Grundlagen: Entspannungspolitik in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre 2.1 Anfänge einer Neuen Ostpolitik während der Großen Koalition In vielerlei Hinsicht handelte es sich bei der Großen Koalition der Jahre 1966 bis 1969 um ein außergewöhnliches Bündnis. Denn erstmals regierten die beiden größten Parteien der Bundesrepublik, CDU/CSU und SPD, gemeinsam und sorgten sowohl durch die ambivalente Zusammensetzung des Kabinetts als auch durch ihr Programm für eine Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte. Nachdem die christlich-liberale Regierung unter Bundeskanzler Ludwig Erhard im Jahr 1966 auseinandergebrochen war, wurde dem damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger die Regierungsverantwortung übertragen. Der gelernte Rechtsanwalt musste nun nach der Krise der Vorgängerregierung einen verlässlichen Koalitionspartner finden. Die Wahl fiel dabei recht schnell auf die Sozialdemokraten.18 Der SPD-Strippenzieher Herbert Wehner, der sich schon lange für eine Große Koalition einsetzte, griff diese Entscheidung in seiner Rolle als starker Mann im Hintergrund sofort auf. Daraufhin entwickelte sich eine vertraute Beziehung zwischen den beiden Partei-Strategen, die aufgrund der Vorbehalte in den eigenen Reihen gegen das „unnatürliche Bündnis“ einiges an Überzeugungskraft aufwenden mussten. Selbst der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt sprach sich gegen eine Kooperation mit den Christdemokraten aus, da er in der FDP den besseren Partner sah.19 Letztendlich einigten sich die Parteien dennoch auf eine gemeinsame Regierung, da sich beide von diesem Zusammenschluss individuelle Vorteile erhofften. So sollte die SPD die Union aus ihrer wirtschaftlichen und innenpolitischen 18 Vgl. Kroegel. 1997. S. 34. 19 Vgl. Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist. Stuttgart/München 2002. S. 487. 7
Notlage retten, die Sozialdemokraten hingegen würden sich als Regierungspartei behaupten und könnten somit wertvolle Erfahrung für eine spätere, eigens geführte Regierung sammeln.20 Trotz der Übereinkunft sollten die Bedenken gegenüber der neuen Konstellation in Bonn immer wieder zu Tage treten. Dies lag nicht zuletzt an der Zusammensetzung des Kabinetts, das ein Sammelsurium und Aufeinandertreffen gegensätzlichster Biographien darstellte. Während Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und Wirtschaftsminister Karl Schiller einst der NSDAP angehörten, war Herbert Wehner als neuer Minister für Gesamtdeutsche Fragen ein ehemaliger KPD-Funktionär. Finanzminister Franz-Josef Strauß kämpfte im Krieg als Soldat der Wehrmacht und Außenminister Willy Brandt floh vor den Schrecken der NS-Herrschaft nach Skandinavien.21 Trotz jener ambivalenten Lebensläufe arbeitete die Regierung vor allem in innenpolitischen Fragen sehr eng und vertrauensvoll miteinander, weshalb die Koalition auch ein Stück weit für eine gesellschaftliche Aussöhnung etwa 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand. In puncto Außenpolitik führten die unterschiedlichen Sozialisationen der Akteure allerdings oftmals zu Meinungs- verschiedenheiten. Dies wurde vor allem im Verhältnis zwischen Kiesinger und Brandt deutlich, die sich zwar kollegial akzeptierten, auf menschlicher Ebene jedoch nicht verstanden, gerade deswegen weil beide Außenpolitiker waren und somit durchaus miteinander in Konkurrenz traten. Doch trotz der Differenzen waren beide davon überzeugt, dass sich vor allem die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundes- republik im Vergleich zu den Vorgängerregierungen ändern müsse.22 Der Wandel in der bundesdeutschen Ostpolitik zeichnete sich dann erstmals in der Regierungserklärung Kiesingers vom 13. Dezember 1966 ab. Als erster deutscher Kanzler wandte er sich mit einem versöhnlichen Grundtenor an die Staaten Osteuropas und bekundete seinen Willen zu einer friedlichen Nachbarschaft. Er stellte die Ostpolitik bewusst an die erste Stelle des außenpolitischen Teils seiner Rede und eröffnete gegenüber der Sowjetunion den erneuten Austausch von Gewaltverzichtserklärungen, wie es einst sein Vorgänger Erhard mit der Friedens- note getan hatte. Jedoch ging Kiesingers Angebot deutlich über jenes aus dem März 1966 hinaus, da er nun auch indirekt die DDR mit einbezog. Demzufolge war 20 Vgl. Bender. 1996. S. 138. 21 Vgl. Fischer, Frank (Bearb.): Willy Brandt. Berliner Ausgabe. Bd. 6: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974. Bonn 2005. S. 21. 22 Vgl. Winkels. 2009. S. 66. 8
Kiesinger sogar bereit, die innerdeutsche Grenze zu garantieren.23 Den osteuropäischen Staaten bot er eine Verbesserung der Verhältnisse in jeglichen Bereichen an und betonte das Ziel seiner Regierung, nach Möglichkeit auch diplomatische Beziehungen mit ihnen aufnehmen zu wollen. Außerdem deutete der Bundeskanzler die eventuelle Umgehung der Hallstein-Doktrin an, indem diese nur indirekt in einem Nebensatz erwähnt wurde. Zusätzlich stellte er eine Aussöhnung mit Polen in Aussicht, zeigte Bereitschaft zur Verständigung mit der Tschecho- slowakei, verurteilte in diesem Zusammenhang die Politik Hitlers und erklärte das Münchener Abkommen von 1938 für ungültig. 24 Von großer Bedeutung waren darüber hinaus seine Äußerungen zur DDR. Diese nannte er nicht wie üblich abschätzig „Sowjetzone“, sondern betonte vielmehr den Wunsch nach Frieden und Verständigung. Er ging sogar so weit, direkte innerdeutsche Behördenkontakte in Aussicht zu stellen, ohne allerdings die DDR dabei völkerrechtlich anzuerkennen.25 Die ostpolitischen Denkkategorien der Regierung Kiesinger unterschieden sich somit deutlich von denen ihrer Vorgänger. Diese entspannungspolitische Wende war vor allem auf den Einfluss der SPD zurückzuführen. Die Regierungserklärung knüpfte in vielen Punkten an das Regierungsprogramm der Sozialdemokratie an, das auf eine Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten abzielte. Grundlage der veränderten Ost- und Deutschlandpolitik stellte die Einsicht der Bundesregierung dar, dass sich die internationale Lage verändert hatte. Nachdem nämlich die Sowjetunion die nukleare Zweitschlagfähigkeit erlangt hatte, sprachen sich sowohl Washington als auch Moskau für einen entspannungspolitischen Dialog aus, um eine atomare Eskalation zu verhindern. Diese Phase der Détente sollte auch die Grundlage für die späteren Ostverträge und den KSZE-Prozess bilden. Nicht zuletzt um einer internationalen Isolation zu entgehen, war es für die Bundesrepublik notwendig, ihre Ostpolitik zu überarbeiten und sich jener Entwicklung anzuschließen. Diese Akzeptanz der vorliegenden Realitäten wurde zum Charakteristikum der Neuen Ostpolitik.26 Der Großen Koalition war es nun daran gelegen, rasch ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Dementsprechend besiegelte Bundesaußenminister Brandt bereits Ende Januar 1967 mit Vertretern aus Rumänien einen gegenseitigen Austausch von Botschaftern. Jenen Kontakt bereitete einst sein Vorgänger im 23 Vgl. Kroegel. 1997. S. 71. 24 Vgl. Schönhoven. 2004. S. 91f. 25 Vgl. Creuzberger, Stefan: Westintegration und Neue Ostpolitik. Die Außenpolitik der Bonner Republik. Berlin 2009. S. 97f. 26 Vgl. Link. 2001. S. 296f. 9
Auswärtigen Amt, der CDU-Politiker Gerhard Schröder, vor. Der SPD-Vorsitzende konnte diese frühere Initiative aufgreifen und den Erfolg erster ostpolitischer Veränderungen für sich verbuchen. Bukarest versprach sich von der Annährung einen Ausbau seiner wirtschaftlichen Beziehungen mit der Bundesrepublik. Bonn erhielt im Gegenzug eine Präsenz im Osten, ohne dafür etwaige Vorbedingungen erfüllen zu müssen, was die sowjetische Führung eigentlich noch gefordert hatte.27 Willy Brandt, der wie kein anderer für das Amt des Bundesaußenministers geeignet war, da er bereits in seiner Rolle als Bürgermeister von West-Berlin Weltpolitik betrieben hatte, zeigte sich sehr zuversichtlich, dass dem rumänischen Beispiel noch weitere osteuropäische Staaten folgen würden. Dies stellte sich allerdings als ein Trugschluss heraus. Denn aus Angst vor einer Destabilisierung des „Ostblocks“ schoben Moskau und Ost-Berlin einen Riegel vor weitere Verhandlungen zwischen Bonn und den Warschauer-Pakt-Staaten, indem sie zwischen Januar und April eine Vielzahl an Maßnahmen verabschiedeten, die der Großen Koalition in kürzester Zeit den Boden unter den Füßen entzog. Durch die sogenannte Ulbricht-Doktrin machten sie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik von der vorherigen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und dem Ende des west- deutschen Alleinvertretungsanspruches abhängig. Sowohl die Bildung des „Eisernen Dreieckes“, ein Zusammenschluss aus DDR, Polen und der Tschechoslowakei, als auch die Beschlüsse der Karlsbader Konferenz integrierten den ostdeutschen Staat zusätzlich noch stärker in die sozialistische Staatengemeinschaft. In Karlsbad wurde zudem ein Katalog beschlossen, der die Bedingungen für eine europäische Friedens- konferenz auflistete. Hierunter fanden sich unter anderem Forderungen wie die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze oder das Ende der Hallstein-Doktrin und somit allesamt Punkte, die zu jenem Zeitpunkt für den „Westen“ unannehmbar und in der Großen Koalition auch nicht konsensfähig waren. 28 Die innere Konsolidierung des „Warschauer Pakts“ durchkreuzte die Pläne der Bundesregierung, an Moskau vorbei einzelne bilaterale Verträge mit den osteuropäischen Staaten zu schließen.29 Nach einem furiosen Start geriet die Bonner Ostpolitik somit bereits früh in eine Sack- gasse. Die Koalitionspartner waren also gezwungen, neue Konzepte zu erarbeiten, wenn sie den Ost-West-Dialog nicht abreißen lassen wollten. Während sich in der Union 27 Vgl. Niedhart. 2014. S. 46f. 28 Vgl. Schönhoven. 2004. S. 94f. 29 Vgl. Mietkowska-Kaiser. 1989. S. 338. 10
vor allem die Kritiker einer veränderten bundesdeutschen Ostpolitik durch die rigorose Haltung Moskaus bestätigt fühlten, suchten Teile der Sozialdemokraten nach neuen Wegen für eine Entspannung mit dem Osten. Vor allem der Bundesaußenminister plädierte dafür, den eingeschlagenen Weg fortzuführen. Am 3. März 1967 traf sich deshalb Brandts enger Vertrauter Egon Bahr, der später als Architekt der sozial-liberalen Ostpolitik in die Geschichte eingehen sollte, in seiner Rolle als Mitarbeiter im Auswärtigen Amt mit dem Ersten Sekretär der sowjetischen Botschafter Sacharow. In einem sehr vertrauensvollen Gespräch betonte Bahr vor allem die aufrichtige Absicht der neuen Koalition, die Beziehungen der Bundes- republik mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten dauerhaft zu verbessern. Hierfür arbeite die Regierung auch an einem modifizierten Programm, um auf die aufgestellten Bedingungen für eine Entspannung konstruktiv zu antworten. Der SPD-Politiker ging sogar soweit, zu behaupten, dass sie bereit sei, ihre früheren Ansichten in Bezug auf die getätigten Forderungen, wie beispielsweise die Anerkennung von Oder-Neiße-Linie oder der DDR, komplett zu überdenken. Schlussendlich sprach er sich für bilaterale Verhandlungen zwischen der Bundes- republik und der Sowjetunion aus, um das gegenseitige Misstrauen abzubauen.30 Jene Ansätze sollten einige Jahre später zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrags führen. Zu diesem Zeitpunkt waren diese Konzessionen allerdings vor allem für die Union nicht akzeptabel.31 Das Ausbleiben greifbarer außenpolitischer Erfolge verschlechterte zudem zunehmend das Verhältnis der beiden Koalitionspartner und offenbarte die zeitweise kaschierten Auffassungsunterschiede hinsichtlich der Ost- politik.32 Über diese internen Streitigkeiten sprach im Februar 1968 unter anderem auch der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Helmut Schmidt, mit Sacharow und machte ihm deutlich, dass es vor allem die Sozialdemokraten seien, die sich für eine Neujustierung des eingeschlagenen entspannungspolitischen Kurses ein- setzten.33 Die Zerrissenheit der Koalition wurde abermals deutlich, als es um die 30 Vgl. 3. März 1967: Gespräch des Ersten Sekretärs der sowjetischen Botschaft in der BRD, A. D. Zacharov, mit dem Leiter des Planungsstabs des Auswärtigen Amts, E. Bahr. (https://www.kas.de/documents/259803/9423602/1967_03_03_RGANI_F5_op59_d360_S_50- 54.pdf/9dbfea8f-b56f-0c2c-6846-3852741ac35c?t=1593177716271) (14.04.2021). 31 Vgl. Möller, Horst: Franz Josef Strauß und die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition. In: Borchard, Michael; Karner, Stefan; Küsters, Hanns Jürgen; Ruggenthaler, Peter (Hrsg.): Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag. Wien 2020. S. 159. 32 Vgl. Schönhoven. 2004. S. 380f. 33 Vgl. 28. Februar 1968: Gespräch des Ersten Sekretärs der sowjetischen Botschaft in der BRD, A. D. Zacharov, mit dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, H. Schmidt. 11
Unterzeichnung des durch die USA und die UdSSR ausgehandelten Atomwaffen- sperrvertrages ging. Brandt ließ von Beginn an keinen Zweifel daran aufkommen, dass er das Vertragswerk unterzeichnen wolle, da es nicht zuletzt die einzige Möglichkeit für die Große Koalition darstellte, einen kurzfristigen Erfolg in ihrer Ostpolitik zu erzielen, zumal Moskau dies auch zu einer Bedingung für den weiteren Dialog ausgerufen hatte.34 Die Union hingegen weigerte sich unter lautstarker Kritik, den Nichtverbreitungs-Vertrag zu unterzeichnen. Zu ihrem Wortführer in dieser Frage avancierte Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, der sich als ehemaliger Verteidigungsminister darüber brüskierte, dass sich die Bundesrepublik aus Bereichen zurückziehe, „aus denen die anderen uns raushaben wollen, nur um ihre eigene Sicherheit zu erhöhen“.35 Nachdem sich zusätzlich noch Altkanzler Konrad Adenauer in die Diskussion eingemischt hatte, schien sogar ein Koalitionsbruch möglich. Um jedoch eine Staatskrise zu verhindern, bemühten sich die Beteiligten schließlich um eine Versachlichung der Auseinandersetzung, indem sie den Diskurs parlamentarisch koordinierten und nicht in der Öffentlichkeit eskalieren ließen.36 Durch diesen Zeitgewinn sicherte die Regierung zwar ihren inneren Zusammenhalt, verpasste allerdings, ein wichtiges Zeichen in Richtung der Sowjetunion zu setzen, da es bis zum Ende der Amtszeit nicht zu einer Unterzeichnung des Vertrages kommen sollte. Die letzte Hoffnung für den Durchbruch der Ostpolitik beruhte nun auf der Idee einer bundesdeutsch-sowjetischen Gewaltverzichtserklärung. Ein solches Abkom- men, das Bundeskanzler Kiesinger in seiner Regierungserklärung bereits in Aussicht gestellt hatte, zielte darauf ab, jegliche Streitfragen mit der UdSSR und deren Verbündeten auf friedlichem Wege zu lösen. Im Kreml wurde dieser Vorschlag begrüßt und es kam in den Jahren 1967 und 1968 zu informellen Gesprächen. Hierbei verknüpfte Moskau jedoch abermals den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit unannehmbaren Vorleistungen. Zudem weigerte sich die Bundes- regierung, auch die DDR in den Gewaltverzicht mit einzubeziehen. In der Folge verlief auch dieser Dialog in eine Sackgasse und fand sein vorläufiges Ende, als die sowjetische Seite im Juli 1968 den bisherigen Notenwechsel veröffentlichte. 37 (https://www.kas.de/documents/259803/9423756/1968_02_28_RGANI_F5_op60_d475_S_6- 10.pdf/6c0db8a0-3531-9199-8c9d-6914164dbe97?t=1593178546447)(17.04.2021). 34 Vgl. Kroegel. 1997. S. 99ff. 35 Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen. Berlin 1989. S. 192f. 36 Vgl. Schönhoven. 2004. S. 106ff. 37 Vgl. Mietkowska-Kaiser. 1989. S. 339f. 12
Erschwert wurden die gescheiterten Gespräche allerdings nicht nur durch die kompromisslose Haltung der UdSSR, sondern auch durch die direkten Angriffe des Kanzlers und weiterer prominenter Unionspolitiker gegen die Gewaltverzichtspolitik Brandts. Besonders die tiefe Abneigung Kiesingers gegenüber Egon Bahr führte im Verhältnis zwischen Regierungschef und Außenminister zu einem neuen Tiefpunkt.38 Dies verdeutlicht allein schon die Tatsache, dass sie es zu jenem Zeitpunkt lieber vorzogen, schriftlich miteinander in Kontakt zu treten, anstatt die Dinge persönlich zu klären.39 Nach einem schleichenden Verfall der bundesdeutschen Ostpolitik sollte der eingeschlagene Kurs der Entspannung spätestens nach der gewaltsamen Nieder- schlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 durch die Intervention sowjetischer Truppen den härtesten Dämpfer hinnehmen. So scheiterte nicht nur der Versuch, in der ČSSR einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu erschaffen, sondern auch die Strategie der Bundesrepublik, einen Ost-West-Dialog an Moskau vorbei zu initiieren.40 Denn angetrieben von der Furcht einer Destabilisierung des „Ostblockes“ durch die Reformgedanken aus Prag stellte die UdSSR ihre Macht innerhalb des „Warschauer Pakts“ wieder her und zementierte diese eindrucksvoll durch die „Breschnew-Doktrin“, die dem Kreml die Möglichkeit eröffnete, jegliche Oppositions- bewegungen in den sozialistischen Staaten niederzuschlagen.41 Dieser Umstand bedeutete für die Bundesregierung, dass ihr entspannungspolitischer Spielraum sich somit gen Null belief, da die Möglichkeit von bilateralen Verträgen mit einzelnen osteuropäischen Staaten durch die sowjetische Machtdemonstration verhindert wurde. Jedoch führte dies nicht dazu, dass Bonn zum Schwarz-Weiß-Denken der 1950er-Jahre zurückkehrte. Sowohl der Bundeskanzler als auch sein Außenminister schätzten die Lage differenziert ein und plädierten trotz der erschwerten Bedingungen für eine Fortsetzung der Entspannungspolitik.42 Während sich in der Union Widerstände gegen diese Entscheidung formierten, unterstützte die Sozialdemokratie diesen Schritt ausdrücklich und ging sogar noch 38 Vgl. Schönhoven. 2004. S. 386f. 39 Vgl. Merseburger. 2002. S. 535. 40 Vgl. Schönhoven. 2004. S. 400. 41 Vgl. Kramer, Mark: Die Brežnev-Doktrin und ihre Auswirkungen auf die Ostpolitik. In: Borchard, Michael; Karner, Stefan; Küsters, Hanns Jürgen; Ruggenthaler, Peter (Hrsg.): Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag. Wien 2020. S. 236f. 42 Vgl. Bange, Oliver: Das Ende des Prager Frühlings 1968 und die bundesdeutsche Ostpolitik. In: Greiner, Bernd; Müller, Christian Th.; Walter, Dierk (Hrsg.): Krisen im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg. Bd. 2. Hamburg 2008. S. 431. 13
weiter. Denn für die ostpolitischen Vordenker der SPD fungierte die Krise in der Tschechoslowakei wie ein Katalysator für die weitere Modifizierung ihrer Ostpolitik.43 Aufgrund der festgefahrenen Lage erneuerte Egon Bahr sein Plädoyer für bilaterale Gespräche mit der Sowjetunion und entwickelte die Überlegung, dass „es der Durchsetzung unserer Interessen, den Status quo zu überwinden, nicht am dienlichsten wäre, einige Elemente des Status quo zu akzeptieren“.44 Diese Formel sollte die Grundlage für die weitere sozialdemokratische Ostpolitik schaffen, die von nun an die vorliegenden Realitäten in Europa anerkannte, den Spielraum trans- formativer Entwicklungen in Osteuropa nicht überschätzte und in Moskau den ersten Ansprechpartner für eine Entspannungspolitik sah.45 Doch im Angesicht des dramatischen Rückschlags im Dialog mit der Sowjetunion waren in der Großen Koalition und der Bundestagsfraktion viele Christdemokarten nicht mehr bereit, dieser Programmatik zu folgen. Somit fehlte es der Regierung zum Ende ihrer Amtszeit an einer gemeinsamen Basis für die Ost- und Deutschlandpolitik. Parallel zur dieser Entfremdung näherten sich SPD und FDP immer weiter aneinander an. Dies lag zum einen an den ähnlichen Überzeugungen hinsichtlich der Entspannungspolitik, zum anderen intensivierten die Sozialdemokraten die Beziehungen zu den Freien Demokraten auch aktiv aufgrund von schwachen Umfragewerten im Herbst 1968 und im Angesicht der Bundestagswahl im darauf- folgenden Jahr.46 Darüber hinaus unternahmen Vertreter beider Parteien Reisen nach Moskau, um die sowjetischen Entspannungsinteressen abzuklopfen. In den Gesprächen erhielten die bundesdeutschen Politiker durchaus den Eindruck, dass die Sowjetunion zu einem pragmatischen bilateralen Dialog bereit wäre, wenn die Bundesregierung den Gesprächsfaden aufnehmen würde.47 Dies wurde jedoch umso unwahrscheinlicher, je näher die Bundestagswahl rückte und die Streitigkeiten in der Koalition zunahmen. Am Ende bewahrheitete sich, was sich zu Beginn der Amtszeit angedeutet hatte. Aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der Ost- und Deutschlandpolitik waren die Koalitionspartner nicht mehr in der Lage, auf die sich im Jahr 1969 verändernde Einstellung der Sowjetunion bezüglich einer 43 Vgl. Schwarz, Hans-Peter: Die Regierung Kiesinger und die Krise in der ČSSR 1968. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 2/1999. S. 182f. 44 Dok. 324. Aufzeichnung des Ministerialdirektors Bahr. 1. Oktober 1968. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1968. Bd. II. München 1999. S. 1280. 45 Vgl. Kramer. 2020. S. 241f. 46 Vgl. Merseburger. 2002. S. 564. 47 Vgl. Niedhart, Gottfried; Albert, Reiner: Neue Ostpolitik und das Bild der Sowjetunion von 1968 bis 1975. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 14/1994. S. 32. 14
Normalisierung der transnationalen Beziehungen adäquat zu reagieren. Das große Experiment, ein unnatürliches Bündnis aus Union und SPD, war somit gescheitert. Doch trotz all der internen Querelen lieferte die Große Koalition wichtige Weichen- stellungen für die zukünftige bundesdeutsche Entspannungspolitik. So sorgte sie einerseits für eine Entlastung nach Westen, indem sie sich den internationalen Bemühungen der Détente anschloss. Andererseits knüpfte sie erste diplomatische Beziehungen mit einigen Staaten Osteuropas und zeigte, dass von der Bundes- republik keine militärische Gefahr mehr ausging. 48 Auch in der Deutschlandpolitik erreichte Herbert Wehner als zuständiger Minister trotz der Blockadehaltung des Ulbricht-Regimes einige Verbesserungen des innerdeutschen Verhältnisses. Es war auch das Bündnis aus Christ- und Sozialdemokraten, das sich nicht nur erstmals für eine Konkretisierung des Gewaltverzichts mit der UdSSR einsetzte, sondern auch die Entscheidung traf, den zwischenzeitlich abgebrochenen Dialog mit Moskau wieder aufzunehmen, indem es der sowjetischen Seite am 3. Juli 1969 entsprechende Entwürfe zukommen ließ. Dieses Angebot markierte schlussendlich den Auftakt für die Verhandlungen zum Moskauer Vertrag, die jedoch nicht mehr von der Großen Koalition geführt wurden, sondern von einer neuen Regierungskonstellation in Bonn.49 2.2 Moskaus westpolitische Flucht nach vorn Ähnlich wie der Bundesrepublik fehlte es der Sowjetunion lange an pragmatischen Konzepten für eine Entspannung. Vielmehr versuchte sich die UdSSR zu Beginn der 1960er Jahre unter der Führung von KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow an einer weltpolitischen Offensive, die ihren Höhepunkt im Bau der Berliner Mauer und der Kubakrise fand. Vor allem letztere führte fast zum Ausbruch eines Dritten Weltkriegs. Die Eskalation konnte noch im letzten Moment durch ein gemeinsames Einlenken der beiden Supermächte verhindert werden. Dies war allerdings gleich- bedeutend mit dem Ende des sowjetischen Globalismus und ging einher mit dem politischen Niedergang von Regierungschef Chruschtschow. Nachdem er am 15. Oktober 1964 gestürzt wurde, übernahmen Alexej Kossygin das Amt des Minister- präsidenten und Leonid Breschnew die viel wichtigere Position des General- 48 Vgl. Bender. 1996. S. 151f. 49 Vgl. Link. 2001. S. 301. 15
sekretärs des ZK der KPdSU.50 Besonders vom neuen Parteichef versprachen sich dessen Befürworter, dass er zukünftig auf unnötige Risiken in Bezug auf den Westen verzichten und die Erfolge der UdSSR sichern würde.51 Die sowjetische Westpolitik verlief daraufhin in den sechziger Jahren dreigleisig. Moskau suchte den Dialog mit Washington zur Regulierung des Wettrüstens und zum Ausloten ökonomischer Zusammenarbeit, intensivierte allerdings gleichzeitig seine Aufrüstung, um eine nukleare Parität zu erreichen, und förderte bewusst die Auflösungstendenzen innerhalb des Atlantischen Bündnisses. Ziel der Sowjetunion war es, zwar einerseits für eine internationale Entspannung zu sorgen, andererseits jedoch vor allem die eigene Machtposition zu stärken und die USA aus Westeuropa zu verdrängen. Dieser Kurs wurde nicht zuletzt in der „Bukarester Deklaration“ vom Juli 1966 deutlich.52 Die Warschauer-Pakt-Staaten erneuerten in dieser Erklärung ihre Idee einer gesamteuropäischen Friedenskonferenz, die ursprünglich bereits in den 1950er Jahren von Seiten der Sowjetunion und ihrer Bündnispartner erwogen wurde, aufgrund der Zuspitzung des Kalten Kriegs allerdings in Vergessenheit geraten war. Nun wurden erstmals alle Vorschläge bezüglich eines solchen Kongresses zusammengefasst und konkretisiert. Dabei einigten sich die Staaten des „Warschauer Pakts“ auf folgende Bedingungen, die aus ihrer Sicht für eine Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz notwendig waren: die Anerkennung der bestehenden Grenzen, einen allgemeingültigen Gewaltverzicht, die Auflösung von Militärbündnissen, den Abzug aller ausländischen Truppen aus den beiden deutschen Staaten sowie den bundesdeutschen Verzicht auf nukleare Waffen und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR. 53 Diese Forderungen waren für die westliche Seite nicht anzunehmen, auch weil der „Bukarester Appell“ den Eindruck vermittelte, dass es allein die USA und die Bundesrepublik seien, die für die Spannungen in Europa verantwortlich waren. Dadurch konnte zu jenem Zeitpunkt weder mit Washington, noch mit Bonn eine stabile Basis für eine gemeinsame Entspannungspolitik gefunden werden. 54 Dagegen zeichneten sich im französisch-sowjetischen Verhältnis komplett gegen- 50 Vgl. Görtemaker, Manfred: Die unheilige Allianz. Die Geschichte der Entspannungspolitik 1943- 1979. München 1979. S. 44ff. 51 Vgl. Westad, Odd Arne: Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte. Bonn 2020. S. 409. 52 Vgl. Görtemaker. 1979. S. 51. 53 Vgl. Senoo, Tetsuji: Ein Irrweg zur deutschen Einheit? Egon Bahrs Konzeptionen, die Ostpolitik und die KSZE 1963-1975. Frankfurt am Main 2011. S. 64. 54 Vgl. Görtemaker. 1979. S. 53. 16
teilige Tendenzen ab. Die Idee des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, ein Europa „vom Atlantik bis zum Ural“ zu formen, stieß im Kreml auf große Zustimmung, da sie die Existenz der NATO untergrub und zu einer massiven Schwächung der Vereinigten Staaten führen würde. Daher sorgte vor allem Leonid Breschnew intensiv für eine Verbesserung der Beziehungen und lud das französische Staatsoberhaupt sogar nach Moskau ein.55 Hier zeigte sich auch erstmals, dass der neue starke Mann an der Spitze der KPdSU weniger ideologisch Politik betrieb, sondern gewillt war, nach pragmatischen Lösungen zu suchen. Denn während de Gaulle nach seiner Amtsübernahme durch die sowjetische Seite im Sinne des kommunistischen Weltbildes noch als ein Vertreter der „Bourgeoisie“ verunglimpft worden war, sah Breschnew in dem vermeintlichen „Klassenfeind“ vor allem einen wichtigen Partner, mit dem er in vielen Punkten, wie der Unverletzlichkeit der Grenzen, der Vermeidung von Krieg und der Absage eines westdeutschen Zugangs zu Atomwaffen, die gleichen Auffassungen teilte. Somit handelte es sich bei der Détente anfänglich primär um ein französisch-sowjetisches Projekt, was vor allem die Beziehungen Frankreichs mit den USA und der Bundesrepublik auf die Probe stellte. 56 Trotz des guten Verhältnisses mit Charles de Gaulle musste Leonid Breschnew zuerst einmal in die Rolle des Außenpolitikers hineinwachsen. Dieser Umstand hatte mehrere Gründe. So galt er lange vor allem als ein innenpolitisches Talent, das trotz seiner vorherigen Rolle als Vorsitzender des obersten Sowjets über kaum Erfahrungen im Umgang mit den weltpolitischen Gegenspielern verfügte.57 Zu Beginn seiner Amtszeit forderte dann hauptsächlich die desaströse Versorgungslage seine volle Aufmerksamkeit und anschließend brauchte er einige Zeit, um seine Macht im Politbüro zu festigen. Immerhin gingen viele Mitglieder der KPdSU davon aus, dass es sich bei dem neuen Parteichef lediglich um eine Übergangsfigur handele, die den Scherbenhaufen, den Chruschtschow hinterlassen hatte, aufkehren und die Grund- lage für einen deutlich mächtigeren Nachfolger schaffen sollte. 58 Schlussendlich verfügte er in seiner Rolle als Generalsekretär auch nicht über die offiziellen Befug- 55 Vgl. Radchenko, Sergey: Die Sowjetunion, China und die Entspannungspolitik. In: Borchard, Michael; Karner, Stefan; Küsters, Hanns Jürgen; Ruggenthaler, Peter (Hrsg.): Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag. Wien 2020. S. 250. 56 Vgl. Ebd. S. 250f. 57 Vgl. Peckert, Joachim: Die Deutschlandpolitik Breshnews im Europakonzept der Sowjetunion. In: Meissner, Boris; Eisfeld, Alfred (Hrsg.): 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis. Berlin 1999. S. 84. 58 Vgl. Prozumenščikov, Michail: Brežnev und Brandts „neue Ostpolitik“. In: Borchard, Michael; Karner, Stefan; Küsters, Hanns Jürgen; Ruggenthaler, Peter (Hrsg.): Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag. Wien 2020. S. 99. 17
nisse, außenpolitische Entscheidungen zu treffen. Hierfür waren allen voran Außen- minister Andrej Gromyko und Ministerpräsident Alexei Kossygin zuständig. Allerdings fungierte Breschnew als Generalsekretär des ZK der KPdSU als erster Ansprech- partner für die Parteiführer der „Bruderstaaten“ und war somit in der Lage, aus der sozialistischen Gemeinschaft heraus Impulse in der Außenpolitik zu liefern.59 Diese Kompetenz nutzte Breschnew besonders für die innere Konsolidierung des „Warschauer Pakts“ aus. Hier handelt es sich um einen Prozess, der vor allem in Anbetracht des bundes- deutschen Versuches, durch eine selektive Ostpolitik einzelne osteuropäische Staaten näher an sich zu binden, und der daraus resultierenden Furcht der Sowjetunion vor einer Destabilisierung des „Ostblocks“ vorangetrieben wurde. Als konkrete Maßnahme auf den Bonner Kurs wurden die Grundsätze der „Bukarester Deklaration“ durch die bereits erwähnte Verabschiedung der Karlsbader Erklärung von 1967 erneuert. Jene Linie der sowjetischen Blockadehaltung ist nicht zuletzt auch auf Breschnews Einstellungen gegenüber der Bundesrepublik zurückzuführen. Der gebürtige Ukrainer war von Anfang an skeptisch in Bezug auf eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Kreml und Bundeskanzleramt, da er – wie auch fast die komplette sowjetische Führung – den westdeutschen Staat aus der Perspektive der DDR sah und ihn als einen Hort des Revanchismus einschätzte. Zusätzlich war der Generalsekretär geprägt durch seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, weshalb die Vorbehalte gegenüber den Deutschen nicht aus der Luft gegriffen waren. 60 In einer Niederschrift aus dem März 1967 machte der Parteichef daher deutlich, dass sich nach seiner Auffassung die Politik der Bundesrepublik trotz der neuartigen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten nicht geändert habe, da die SPD lediglich „Form und Unterstützung“ der Regierung verändere. 61 Die Notstands- gesetze der Großen Koalition zog er als Grund heran, weiterhin einen harten Kurs gegen die Kiesinger-Administration zu fahren. Allerdings wies er auch darauf hin, dass es in der Sozialdemokratie eine Opposition gebe, die sich durchaus für mehr Entspannung und Dialog einsetze. Als Kopf dieser Strömung fungiere seiner 59 Vgl. Schattenberg, Susanne: Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Köln 2017. S. 458f. 60 Vgl. Prozumenščikov. 2020. S. 100. 61 Vgl. 22.-23. Mai 1967: Handschriftliche Notizen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, L. I. Brežnev, zu Fragen der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern Osteuropas, der Außenpolitik der BRD und einer Vereinigung Deutschlands. (https://www.kas.de/documents/259803/9423602/ 1967_05_22_RGANI_F80_op1_d569_S_15-31.pdf/0913ae0f-18e2-fc4a-9de2-3ff0d9e02b86?t =15 93177716030) (18.04.2021). 18
Einschätzung nach Willy Brandt. Allein die Tatsache, dass Breschnew bereits 1967 davon sprach, die Person und das Umfeld Brandts zu bearbeiten und zu stärken, zeugt von einem gewissen Vertrauen, welches er dem SPD-Vorsitzenden entgegen- brachte und das sich spätestens ab 1970 auszahlen sollte. Nicht zuletzt hatten die Kriegserfahrungen ihn ebenfalls zu einem Verfechter der Aussöhnung gemacht, weshalb er sich auch nach Veränderungen in der bundesdeutschen Ostpolitik umsah. Es ist jedoch festzuhalten, dass Breschnews Positionen bezüglich des Umgangs mit der Bundesrepublik sowie seine Westpolitik vor allem in seiner Findungsphase als Außenpolitiker oftmals relativ vage blieben.62 Doch dieser Umstand sollte sich spätestens nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ändern und Breschnews Politik deutlich an Kontur gewinnen. Die Invasion nahm allerdings einen langen Vorlauf und deutete sich zumindest noch zu Beginn des Jahres 1968 keineswegs an. Denn als am 5. Januar der unbeliebte und starr- sinnige KPČ-Parteichef Antonín Novotný durch den jungen und dynamischen Alexander Dubček ersetzt wurde, traf diese Entscheidung auf große Zustimmung bei Breschnew. Schließlich war es auch der Generalsekretär persönlich, der mit den Worten „Macht mit ihm, was ihr wollt“ indirekt das Ende von Novotný besiegelte.63 In der Folge entwickelten sich vertrauensvolle Beziehungen zwischen dem sowjetischen und dem tschechoslowakischen Parteiführer. Breschnew soll in Dubček sogar seinen persönlichen Schützling gesehen haben. Dies erklärt auch, warum die UdSSR vor allem zu Beginn noch tatenlos zusah, wie die neue KPČ-Führung graduelle Reformen auf den Weg brachte. Doch das Unbehagen in Moskau wurde immer stärker, je weitreichender die Veränderungen in der ČSSR gingen. Auch in den Staaten des Warschauer Vertrags formierte sich Widerstand gegen Dubček, da sie ein Überschwappen der Ideen des „Prager Frühlings“ auf ihre Länder befürchteten. Breschnew setzte sich daraufhin für den Weg der Verständigung ein. Einerseits musste der Generalsekretär die sozialistischen Parteiführer zufrieden- stellen, andererseits wollte er seinem Protegé auch nicht vor den Kopf stoßen und vermied es, seine Reformen als eine Konterrevolution zu bezeichnen, sondern warf ihm nur vor, Konterrevolutionäre gewähren zu lassen. 64 Trotz des zunehmenden Drucks blieb Dubček bei seinem Kurs und ging mit der Einführung der Pressefreiheit sogar noch weiter. Zusätzlich machte sich in Moskau 62 Vgl. Prozumenščikov. 2020. S. 101. 63 Vgl. Morozow, Michael: Leonid Breschnew. Stuttgart 1973. S. 238. 64 Vgl. Schattenberg. 2017. S. 464f. 19
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