Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
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Schattenbericht Kindersoldaten 2019 von Prof. Dr. Michael Krennerich Herausgeber: K indernothilfe e.V. terre des hommes Deutschland e.V. World Vision Deutschland e.V. Deutsches Bündnis Kindersoldaten
Impressum Autor Prof. Dr. Michael Krennerich lehrt Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist Vorsitzender des Nürnberger Menschenrechtszentrums e.V. (NMRZ) Koordination und Redaktion Ralf Willinger/terre des hommes Gestaltung kippconcept gmbh, Bonn Druck Medienhaus Plump, Rheinbreitbach Herausgeber und im Auftrag von Kindernothilfe e.V. terre des hommes e.V. World Vision Deutschland e.V Deutsches Bündnis Kindersoldaten Mit Unterstützung von Deutsche Friedensgesellschaft - DFG-VK e.V. Kampagne Unter 18 Nie – Keine Minderjährigen in der Bundeswehr Die Herausgeberorganisationen Kindernothilfe, terre des hommes und World Vision sind Mitglied des Deutschen Bündnis Kindersoldaten. www.kindersoldaten.info Fotonachweise Titelfoto: terre des hommes Seite 11, 14, 16, 18, 20, 23, 25, 27: Michael Schulze von Glasser Seite 29: Patrick Seeger/dpa picture alliance Die Herausgeberorganisation terre des hommes Seite 33: Gerd Faruss, terre des hommes Deutschland ist Mitglied in der Kampagne Seite 45+36: terre des hommes „Unter 18 Nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“ Seite 40: Dirk-Martin Heinzelmann www.unter18nie.de Seite 42: Dominik Butzmann Seite 44: Kindersoldat mit deutschem G3-Gewehr, Fotograf unbekannt Kindernothilfe, terre des hommes, World Vision Die in dieser Publikation vertretenen Auffassungen © 2019 Alle Rechte vorbehalten sind die des Autors, nicht notwendigerweise die der unterstützenden Organisationen. 1. Auflage, 2.000 – November 2019 Mit besonderem Dank an Michael Schulze von Glasser ISBN-Nummer: 978-3-941553-31-6 für das zur Verfügung Stellen seiner Fotos und an Wolfgang Buff vom Zentrum Ökumene der Bestellbar über den Buchhandel und bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sowie Kindernothilfe und terre des hommes (kostenlos). Kurhessen und Waldeck für inhaltliche Beratung. Stand: Oktober 2019
Inhalt Vorwort 7 Einleitung 9 01 Rekrutierung von minderjährigen Freiwilligen in der Bundeswehr 11 03 Informationspflicht vor Aufnahme in die Streitkräfte 14 04 Austritt aus der Bundeswehr möglich? 18 05 Schutz von Minderjährigen während der Dienstzeit 20 5.1 Militärische Ausbildung von Minderjährigen 21 5.2 Schutz von Grundrechten 22 5.3 Schutz vor erniedrigenden „Aufnahmeritualen“ und sexuellem Missbrauch 24 06 Allgemeine Informations- und W erbemaßnahmen der Bundeswehr 25 07 Zusammenarbeit der Bundeswehr mit S chulen 29 08 Menschenrechtsbildung und Friedenserziehung an Schulen 33 09 Geflüchtete Kindersoldatinnen und Kindersoldaten 35 9.1 Zwangsrekrutierung von Kindern als Verfolgungsgrund 36 9.2 Identifizierung und Behandlung von geflüchteten Kindersoldatinnen und -soldaten 38 9.3 Kindersoldatinnen und Kindersoldaten als Opfer und Täter 38 10 Waffenexporte 40 10.1 Transparenz beim Waffenhandel 41 10.2 Waffenexporte in Krisengebiete 41 11 Internationale Zusammenarbeit 44 12 Zusammenfassung der Empfehlungen 47 Quellen und Literatur 49
Vorwort Zum dritten Mal nach 2007 und 2013 veröffentlicht das Statt Waffenexporte wenigstens in Länder zu stoppen, Deutsche Bündnis Kindersoldaten mit Mitgliedsorgani- die direkt in schwere Menschenrechtsverletzungen oder sationen einen Schattenbericht Kindersoldaten, diesmal in bewaffnete Konflikte verwickelt sind, gehören Sau- herausgegeben von Kindernothilfe, terre des hommes di-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Deutschland und World Vision Deutschland. Wieder geht es Brasilien, die Philippinen oder Indien weiter zu den größten darum, wie Deutschland das Zusatzprotokoll zur UN-Kin- Empfängern deutscher Waffenlieferungen – um nur einige derrechtskonvention betreffend Kinder in bewaffneten Kon- Beispiele zu nennen. Kinder müssen in vielen Ländern mit flikten („Kindersoldaten-Protokoll“) umsetzt, dass es 2004 deutschen Waffen kämpfen oder fallen diesen zum Opfer. ratifiziert hat, und ob Deutschland Kinderrechte verletzt. Generell ist der Anteil der besonders problematischen deutschen Waffenlieferungen an sogenannte Drittländer Die deutsche Bilanz 15 Jahre nach der Ratifizierung des – weder NATO- noch EU-Staaten noch diesen gleichge- Zusatzprotokolls ist enttäuschend, angesichts der Folgen stellt – in den letzten Jahren fast kontinuierlich gestiegen für die betroffenen Kinder muss man sogar sagen, katastro- und erreichte 2017 einen Höchststand mit über 60% aller phal. Die drei zentralen Empfehlungen des UN-Ausschusses genehmigten Waffenexporte in diesem Jahr. für die Rechte des Kindes, die seit der ersten Berichtsrunde in den sogenannten Concluding Observations an Deutsch- Und selbst bei geflüchteten Kindersoldaten und -soldatin- land gerichtet wurden, werden immer noch nicht umge- nen aus Kriegsländern wie Afghanistan oder Somalia, bei setzt – im Gegenteil, die Situation hat sich sogar weiter denen es eigentlich einen klaren Konsens gab und geben verschlechtert: sollte, dass diese schutzbedürftig sind, gab es zuletzt Rückschritte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Statt das Rekrutierungsalter für Soldaten auf 18 Jahre anzu- beispielsweise verweigerte ehemaligen Kindersoldaten heben, wie es der Ausschuss seit 2008 fordert, stiegen die aus Somalia mehrfach die Anerkennung als Flüchtling mit Zahlen minderjähriger Soldaten der Bundeswehr bis 2017 dem Argument, in Somalia sei jedes Kind von Rekrutierung stetig an und erreichten in dem Jahr einen Höchststand von bedroht und deshalb handele es sich nicht um individuelle 2128 minderjährigen Rekruten. Damit ist Deutschland eines Verfolgung – das heißt, die besonders hohe Bedrohungs- der wenigen Länder weltweit, dessen Militär noch min- lage wird Kindern zum Nachteil ausgelegt, eine Perver- derjährige Soldatinnen und Soldaten rekrutiert, über 150 tierung des Schutzgedankens. Und eine Ignorierung der Länder halten den sogenannten Straight 18-Standard (keine allgemein bekannten Tatsache, dass geflüchtete Kinder- Soldaten unter 18 Jahren) dagegen ein. In der Bundeswehr soldaten in höchster Gefahr schweben, ermordet oder sind minderjährige Soldatinnen und Soldaten regelmäßig gefoltert zu werden, sowohl von ihrer ehemaligen Gruppe, von schweren Kinderrechtsverletzungen betroffen. beispielsweise der Al-Shabab-Miliz, als auch von gegne- rischen Gruppierungen, beispielsweise den somalischen Statt die Werbung der Bundeswehr, die sich an Minder- Regierungstruppen. jährige richtet, zu stoppen, wie es der UN-Ausschuss seit 2008 fordert, werden ständig neue und teurere Werbe- Auch im Bereich Entwicklungshilfe ist die Bilanz unbefriedi- kampagnen gestartet, viele davon in den sozialen Medien gend: Zwar finanziert die Bundesregierung einige Entwick- oder auf Messen wie der Computerspielemesse Games- lungshilfeprojekte für Kindersoldatinnen und -soldaten, com und der Jugendmesse YOU mit eindeutig minderjähri- doch nur in geringem und eher sinkendem Maße – viel zu ger Zielgruppe. wenig angesichts des hohen Bedarfs und der international massiven Unterfinanzierung in diesem Bereich. 7
All diese und weitere Themen wurden vom renommierten Wir appellieren an die Bundesregierung, diese Empfeh- Autor dieses Schattenberichts, dem Völkerrechtler Prof. lungen des UN-Ausschusses endlich ernst zu nehmen und Dr. Michael Krennerich, Vorsitzender des Nürnberger umzusetzen, statt wie bisher zu behaupten, sie würde die Menschenrechtszentrums und Dozent an der Universität Kinderrechte und völkerrechtlichen Vorgaben alle erfüllen. Erlangen-Nürnberg, genau unter die Lupe genommen, Dass dies weiter nicht der Fall ist, sondern dass in mehre- dem wir hiermit herzlich für die hervorragende Arbeit ren Bereichen wesentliche Kinderrechte von der Bundesre- danken wollen. gierung verletzt werden, und das in tendenziell zunehmen- dem Maße, belegt diese Studie. Das Anliegen des Schattenberichts ist es, völkerrechtliche Defizite aufzudecken, der Öffentlichkeit und Politik, insbe- Es bedarf keiner Glaskugel, um vorherzusehen, dass der sondere der Bundesregierung, den hohen Handlungsbedarf UN-Ausschuss dies auch am Ende dieser Berichtsrunde wie- vor Augen zu führen - und endlich die dringend erforderli- der feststellen wird und wieder entsprechende Empfehlun- chen Verbesserungen anzustoßen. gen an Deutschland richten wird – dann schon zum dritten Mal. Wir Herausgeber-Organisationen der Zivilgesellschaft Der Schattenbericht Kindersoldaten ist auch Teil des werden uns weiter für deren Umsetzung einsetzen und sogenannten Alternativberichts der National Coalition zur dafür Druck machen – auch mit den Ergebnissen dieses Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Er wird direkt Schattenberichts. in das UN-Berichtsverfahren zur deutschen Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention eingespeist und von terre des hommes, Kindernothilfe und World Vision in Genf vor Ort dem UN-Kinderrechteausschuss vorgestellt werden. Dieses internationale Expertengremium überprüft laut UN-Kinderrechtskonvention (als sog. treaty body) regel- mäßig die Einhaltung der Konvention und ihrer Zusatzpro- tokolle und formuliert bei Defiziten Empfehlungen an die Vertragsstaaten. Frank Mischo, Kindernothilfe e.V. Ralf Willinger, terre des hommes Deutschland e.V. Ekkehard Forberg, World Vision Deutschland e.V. 8
Die UN-Kinderrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle Sofern die Vertragsstaaten des Zusatzprotokolls die Ein- gelten in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes. ziehung von Freiwilligen unter 18 Jahren in ihre Streitkräfte Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestatten, sind sie verpflichtet, besondere Sicherungsmaß- zufolge sind sie – gemäß dem Grundsatz der völkerfreundli- nahmen zu treffen. Diese umfassen zumindest einen ver- chen Auslegung – bei der Auslegung anderer Bundesgesetze lässlichen Altersnachweis, die Zustimmung der Eltern bzw. sowie der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grund- des Vormunds, eine umfassende Aufklärung über die mit 1 sätze zu berücksichtigen. dem Militärdienst verbundenen Pflichten sowie vor allem die Bedingung, dass die Einziehung tatsächlich freiwillig Der vorliegende „Schattenbericht“ behandelt die Umset- („genuinely voluntary“) erfolgt (Art. 3 ZP). zung des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern Wie der Begriff „zumindest“ („as a minimum“) im Vertrags- an bewaffneten Konflikten vom 25. Mai 2000. Deutschland text darlegt, handelt es sich bei den genannten Sicherungs- hat das Fakultativprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll, maßnahmen nicht um einen abschließenden Katalog. Auch ZP) am 13. Dezember 2004 ratifiziert. ist das Zusatzprotokoll in Verbindung mit der Kinderrechts- konvention zu lesen, die das Kindeswohl („best interests of Wie bereits Art. 38 der Kinderrechtskonvention (KRK) zielt the child“) in den Vordergrund rückt und aus der sich ein das Zusatzprotokoll darauf ab, Kinder vor der Beteiligung umfassender Schutzanspruch von Minderjährigen ergibt. an bewaffneten Konflikten und vor der Einziehung in die Streitkräfte zu schützen. Das Zusatzprotokoll legt das Mindestalter sowohl für die unmittelbare Teilnahme an „Feindseligkeiten“ („hostilities“) (Art. 1 ZP) als auch für die Einziehung zum obligatorischen Militärdienst (Art. 2 ZP) auf 18 Jahre fest. Zugleich verpflichtet es die Vertragsstaaten, das in der Kinderrechtskonvention (Art. 38 Abs. 3 KRK) niedergelegte Mindestalter von 15 Jahren für die Einziehung von Freiwil ligen in die Streitkräfte anzuheben. Jeder Vertragsstaat muss das entsprechend angehobene Mindestalter verbind- lich festlegen und kann es jederzeit erhöhen. Die aller meisten Vertragsstaaten haben sich zu einem Mindestalter von 18 Jahren verpflichtet (s.u.). 1 Siehe auch: Bundesregierung 2018, Staatenbericht, Abs. 1 a. 10
02 Rekrutierung von minderjährigen Freiwilligen in der Bundeswehr 11
Die Bundesrepublik Deutschland hat bei Hinterlegung der die Zahl im Jahre 2018 auf 1.679 (8,4%) Minderjährige 3 Ratifikationsurkunde erklärt, für den Beginn des freiwilligen zurück, verblieb aber auf einem hohen Niveau. Dienstes in ihren Streitkräften ein Mindestalter von 17 Jah- ren als verbindlich im Sinne von Art. 3 Abs. 2 des Zusatz- Auch wenn das Zusatzprotokoll – bei entsprechenden protokolls anzusehen: Schutzmaßnahmen – die freiwillige Rekrutierung von 17-Jäh- rigen nicht verbietet, zeigte sich der UN-Kinderrechts- ausschuss in seinen „Abschließenden Bemerkungen“ zu „T H E FE DE R A L R E PU B L I C OF G E R M AN Y Deutschland im Jahre 2014 besorgt darüber, dass Jugend- D ECL A RE S T H AT I T C ON S I D E R S A M I N I M U M AGE liche ab 17 Jahren eine militärische Ausbildung bei den Streitkräften beginnen können. Er wiederholte seine Emp- O F 1 7 Y E A RS TO B E B I N D I N G F OR T HE VOLUN TA RY 4 fehlung von 2008 , auch das Mindestalter der freiwilligen RECRUI T ME N T OF S OL D I E R S I N TO I T S AR M ED Rekrutierung für die Streitkräfte auf 18 Jahre festzulegen, 5 FORCE S UN DE R T HE T E R M S OF ART I C L E 3 PA R A- um einen höheren Kinderschutz zu erreichen. Innerhalb GR A P H 2 O F T HE OPT I ONAL PROTOC OL . PERS ON S Deutschlands wird die Forderung von zahlreichen Kinder- und Menschenrechtsorganisationen mit großem Nachdruck UN DE R T H E AG E OF 1 8 YE AR S S HALL B E R EC RU- 6 unterstützt. Vor kurzem startete eine Kampagne „Unter ITE D I N TO T H E A R M E D F ORC E S S OL E LY F OR TH E 18 nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“, die P URP O S E O F C O M M E N C I N G M I L I TARY T R AIN IN G. von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen 7 THE P ROT E CT I O N OF VOLU N TARY R E C RU I T S getragen wird. Auch die Kinderkommission des Deutschen Bundestages hat sich in der 18. Wahlperiode der Forderung UN DE R T H E AG E OF 1 8 YE AR S I N C ON N E CT ION nach Anhebung des Mindestalters auf 18 Jahre angeschlos- WI T H T H E I R DE C I S I ON TO J OI N T HE AR M E D 8 sen. Auf der Familien- und Jugendkonferenz der Bundes- FORCE S I S E N SU R E D BY T HE N E E D TO OBTA IN länder im Mai 2019 verfehlte ein Antrag, im Wehrpflicht- THE C O N S E N T O F T HE I R L E G AL G UAR D I AN A N D und Soldatengesetz das gesetzliche Mindestalter für die Rekrutierung und die Einstellung zum militärischen Dienst THE I N DI S P E N SAB L E R E QU I R E M E N T T HAT TH EY bei der Bundeswehr auf die Vollendung des 18. Lebensjah- P RE S E N T A N I D E N T I F I CAT I ON CAR D OR PAS- res verbindlich festzusetzen (und bis zum Inkrafttreten der 2 S P O RT AS A RE L I AB L E PROOF OF T HE I R AG E ”. Gesetzesreform die militärische Ausbildung Minderjähriger und ihre Teilnahme an militärischen Übungen zu beenden), nur knapp eine Mehrheit. Deutschland hat momentan eine Freiwilligenarmee. Während das Mindestalter der – seit 1. Juli 2011 ausgesetzten – Wehr- Der Wehrbeauftragte des Bundestages erhebt eine solche pflicht bei 18 Jahren lag, werden auch 17-jährige Freiwillige Forderung zwar nicht, vertritt aber zumindest die Ansicht, in die Bundeswehr aufgenommen. Die Zahl der minderjäh- dass die Einstellung 17-Jähriger eine Ausnahme bleiben müsse 9 rigen „Freiwillig Wehrdienstleistenden“ (FWDL) sowie der und nicht zur Regel werden dürfe. Wer noch nicht erwachsen 10 minderjährigen Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten belief sich sei, bedürfe eines besonderen Schutzes. Schon in der nach Aussetzung der Wehrpflicht für das restliche Jahr 2011 18. Wahlperiode hatte er darauf hingewiesen: „Mit dem auf 687 Personen. Das entsprach in diesem Zeitraum 4,7% Engagement Deutschlands bei der Wahrnehmung der völker- aller neuen Soldatinnen und Soldaten bei Diensteintritt. rechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des Kinder- und Min- Teils bedingt durch hohe Schulabgängerzahlen, aber auch derjährigenschutzes scheint es nicht ganz leicht zu vereinba- durch umfassende Werbemaßnahmen der Bundeswehr, stieg die Zahl in den Folgejahren an: 2012: 1.202 (5,7%), 2013: 1.146 (5,9%), 2014: 1.465 (6,6%), 2015: 1.511 (7,2%), 2016: 1.910 (8,2%), 2017: 2.126 (9,1%). Nach dem Höhe- 3 Die Daten sind dem Staatenbericht (Bundesregierung 2018, Anhang 2, Tab. 79) an den UN-Kinderrechtsausschuss entnommen. Sie unterscheiden sich punkt 2017 ging – mit sinkenden Schulabgängerzahlen – geringfügig von den Daten, die sich der BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 2, entnehmen lassen: 2011: 689, 2012: 1.202 (5,7%), 2013: 1.152 (5,9%), 2014: 1.463 (6,6%), 2015: 1.515 (7,2%), 2016: 1.907 (8,2%), 2017: 2.126 (9,1%). 4 CRC/C/OPAC/DEU/CO/1, 13.02.2008, Ziff. 11. 5 CRC/C/DEU/CO/3-4, 25.02.2014, Ziff. 76 (a) und 77 (a). 6 Vgl. terre des hommes et al. 2017; Deutsches Bündnis Kindersoldaten et al. 2019. 7 https://unter18nie.de 8 Deutscher Bundestag, Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder, Kommissionsdrucksache 18. Wahlperiode 18/16, 21.09.2016. 2 Abrufbar auf der Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (www.ohchr.org) unter den Ratifikationen von Menschenrechtsabkommen 9 BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 28. (indicators.ohchr.org). 10 BT-Drs. 19/7200, 29.01.2919, S. 25. 12
Re kru t ie ru ng von mind e r jähr ig e n Fre iwillig e n in der Bundeswehr ren, wenn die ausnahmsweise Rekrutierung Minderjähriger vorgebrachte Argument zurücktreten, dass die Bundeswehr 11 zum Regelfall mit steigender Tendenz wird“. In dem jüngsten – im Sinne der Chancengleichheit bei der Berufswahl – jene Bericht begrüßte er dementsprechend den Rückgang minder- minderjährige Schulabgänger, die eine militärische Karriere 12 jähriger Freiwilliger im Jahre 2018. anstreben, nicht gegenüber Gleichaltrigen durch Warte- 17 zeiten benachteiligen möchte. Die Bundesregierung spricht sich ausdrücklich gegen eine Anhebung des Mindestalters aus. Auf Anfrage im Bundes tag erachtet sie die bestehende Einstellungspraxis der Forderung Bundeswehr in vollem Einklang mit den völkerrechtlichen Die Bundesrepublik Deutschland darf sich Verpflichtungen Deutschlands, so dass eine Neubewertung nicht dem internationalen Straight-18- unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten nicht geboten 13 Rekrutierungstrend verschließen und soll erscheine. Im Staatenbericht an den UN-Kinderrechtsaus- das Mindestalter für die freiwillige Rekrutie- schuss wird diese Auffassung nochmals bekräftigt. rung in die Bundeswehr auf 18 Jahre anheben. Ein entsprechender Antrag im Bundestag, die Rekrutierung Dies wäre ein wichtiger Schritt zum Schutz von Minderjährigen für die Bundeswehr sofort zu beenden, von Minderjährigen wurde in der aktuellen 19. Legislaturperiode mit den Stim- men der Regierungskoalition (sowie von zwei Oppositions- 14 parteien) abgelehnt. Damit stellt sich die Bundesregierung gegen einen welt- weiten Trend. Einer Studie von Child Soldiers International (2018) zufolge haben sich inzwischen 151 Staaten zum 18-Jahre-Rekrutierungsstandard (Straight 18) bekannt. Laut der Studie haben nur noch 46 Staaten Minderjährige in den Reihen ihrer Streitkräfte. Unter den 168 Vertragsstaaten des Zusatzprotokolls gehören – neben Staaten wie Ägypten, Bangladesch, Bolivien, China, Indien und Pakistan – auch einige NATO-Staaten dazu, namentlich Belgien, Deutsch- land, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Niederlande, Österreich, die USA und Zypern. Im Vergleich der euro- päischen NATO-Staaten liegt jedoch lediglich in Großbri- tannien die absolute Zahl (2017: 2.290) und der relative Anteil (19%) Minderjähriger an neuen Rekruten höher als in 15 Deutschland. Mit dem Festhalten an der Rekrutierung von minderjährigen Freiwilligen schwächt die Bundesregierung nicht nur den internationalen 18-Jahre-Rekrutierungsstandard (Straight 18) und untergräbt ihre eigenen intensiven Bemühungen zur internationalen Ächtung des Einsatzes von Kindersoldaten in anderen Weltregionen, die im Staatenbericht hervorge- 16 hoben werden. Sie ignoriert auch völkerrechtliche und politisch-moralische Bedenken, die gegen eine militärische Ausbildung von Minderjährigen in Deutschland vorgebracht werden (s.u.). Auf Grund der Besonderheit des Soldaten- berufs muss dabei auch das von der Bundesregierung 11 BT-Drs. 18/10900, 24.01.2017, S. 13. 12 BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 25. 13 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 2 f. sowie Bundesregierung 2018: Staatenbericht, Kap. 11. 14 BT-Drs. 19/1747, 19.04.2018. 15 Deutsches Bündnis Kindersoldaten et al. 2019, S. 5. 16 Bundesregierung 2018: Staatenbericht, Abschnitt 11 d, S. 65 f. 17 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 3. 13
03 Informationspflicht vor Aufnahme in die Streitkräfte 14
Infor mat ions pflicht vor Au fnahme in die S treitkräf te ZU D E N I M Z USATZ PROTOKOLL AU F G E L I ST ET EN SIC H ERU N GSMAS SNA H MEN ZÄ H LT D IE GEWÄ H R- LEISTUN G , DAS S VOR AU F NAHM E I N D I E ST R EITK RÄ F TE D IE MIN D ERJ Ä H RIGEN F REIWILLIGEN Ü B ER D IE M I T DE M M I L I T ÄR D I E N ST V E R BU N D E N E N P F LIC H TEN U MFAS SEN D AU F GEK LÄ RT WERD EN U N D D IE ZUSTI M M UN G DE R E LT E R N (OD E R D E S VOR M U N D S) MIT K EN N TN IS D ER SAC H L AGE ERF OLGT. H IER AUS ERGE B E N S I CH VO R D E R AU F NAHM E I N D I E STREITK RÄ F TE U MFAS SEN D E IN F ORMATION SP F LIC H TEN GEGE N ÜB E R MI N DE R J ÄHR I G E N U N D I HR E N E LTERN . Die Sicherungsmaßnahmen des Zusatzprotokolls verdeut- Zeit sowie 25 Prozent der befragten Freiwillig Wehrdienst- lichen, dass nationale Streitkräfte kein Arbeitgeber wie leistenden gaben als Grund für ihr Ausscheiden an, ihnen jeder andere sind. Mit der Verpflichtung zum Militärdienst sei durch die Karriereberatung ein anderes Bild ihrer 19 ordnen sich die Minderjährigen der Weisungs- und Gehor- künftigen Tätigkeit vermittelt worden.“ Auch der raue samspflicht in den Streitkräften unter und akzeptieren Umgang mit Rekruten, Über- oder Unterforderung sowie die dienstpflichtbedingte Einschränkungen ihrer Grundrechte. mangelnde Förderung vorhandener Fähigkeiten werden als 20 Vor allem aber nehmen sie langfristig ein deutlich erhöhtes Gründe für einen Abbruch angeführt. Risiko für Leben und Gesundheit in Kauf. Im Unterschied zu zivilen Arbeitsverträgen können zudem in Deutschland die Hohe Abbruchzahlen verweisen zumindest indirekt auf oft langfristigen Dienstverträge nach der Probezeit nicht Unzulänglichkeiten bei den berufsbezogenen Informationen mehr regulär gekündigt werden (s.u.). und Auswahlverfahren der Bundeswehr hin. Abgesehen davon, dass von den eingeplanten Bewerberinnen und Bei den individuellen Beratungen müssen daher über Bewerbern im Jahr 2017 zwei Prozent ihren Dienst gar Ausbildung, Arbeitsplätze und Karrierewege hinaus gerade nicht erst antraten, haben weitere 18 Prozent innerhalb auch die Pflichten und Risiken umfassend dargelegt der ersten sechs Dienstmonate von ihrem Widerrufsrecht werden, die mit einer – zumal langfristigen – Verpflichtung Gebrauch gemacht. Von weiteren zwei Prozent hat sich bei den Streitkräften einhergehen. Dahinter steht die die Bundeswehr innerhalb der ersten sechs Dienstmonate 21 Erkenntnis, dass Minderjährige sich leicht beeinflussen und getrennt. Das Phänomen betrifft auch Minderjährige: Aus begeistern lassen und möglicherweise die Tragweite ihrer der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage Entscheidung noch nicht angemessen überschauen können. im Bundestag des Jahres 2016 geht hervor, dass im Zeit- Jugendlichen und ihren Eltern muss daher ein realistisches raum von 2011 bis 2015 insgesamt 1518 bei der Einstellung Bild des militärischen Charakters des Dienstes vermittelt minderjährige Soldatinnen und Soldaten während ihrer 22 werden. Probezeit den Dienst beendet haben. Bei einer ähnlichen kleinen Anfrage aus dem Jahre 2018 wurde leider nur nach Der Bundesregierung zufolge wird im Vorfeld einer Ein- Soldatinnen und Soldaten auf Zeit gefragt, die im Zeitraum stellung „durch eine umfassende Aufklärung und Beratung von 2011 bis 2017 als Minderjährige eine militärische Aus- bezüglich der Chancen und Risiken des Soldatenberufs und bildung bei der Bundeswehr aufgenommen hatten. Davon ein intensives, wissenschaftsbasiertes und eignungsdiag- hatten insgesamt 785 Personen ihre Widerspruchoption 23 nostisches Assessmentverfahren sichergestellt, dass nur ausgeübt und sind aus dem Dienst ausgeschieden. Die 17-Jährige eingestellt werden, die sich eingehend mit den „Freiwilligen Wehrdienstleistenden“ wurden hier offen- Anforderungen des Soldatenberufs auseinandergesetzt bar nicht mitgezählt. (Nur) für letztere liegen wiederum 18 haben und die erforderliche Eignung aufweisen“. Daten für 2018 vor: Demnach wurden 232 minderjährig eingestellte FWDLer auf eigenen Wunsch und 31 durch die 24 In der Praxis jedoch gibt es reichlich Kritik an der Berufsbe- Bundeswehr entlassen. ratung. Selbst der Wehrbeauftragte des Bundestags führt in seinem Bericht 2018 eine vom Verteidigungsministerium durchgeführte interne Befragung von Soldatinnen und Soldaten an, die die Bundeswehr wieder verlassen haben: „36 Prozent der befragten Soldatinnen und Soldaten auf 19 BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 24. 20 terre des hommes et al. 2016, S. 4. 21 BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 23. 22 BT-Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 8. 18 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 3. Fast wortgleich die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung, 23 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 5. Dr. Peter Tauber, am 8. Februar 2019 auf eine schriftliche Frage (1/345) im 24 Information des Bundeministeriums der Verteidigung an den Deutschen Bundestag; vgl. BT-Drs. 19/7585, 08.02.2019. Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. 15
Auch nach der Probezeit haben noch viele minderjährige nicht so eingehend mit den Anforderungen und Pflichten Soldatinnen und Soldaten oder volljährige Soldatinnen des Soldatenberufs vertraut gemacht worden sind, wie von und Soldatinnen, die bei der Einstellung noch minderjährig der Regierung behauptet wird. waren, ihren Dienst vorzeitig abgebrochen oder entspre- chende Anträge gestellt, verbunden mit den unten genann- Summiert man die Kündigungen und Abbrüche minderjäh- ten Schwierigkeiten, den Dienst zu quittieren. Zwischen rig eingestellter Soldatinnen und Soldaten in und nach der 2011 und 2015 waren dies 442 Personen (davon allein 203 Probezeit, so kommt man in den drei Jahren 2013-2015, in 25 im Jahre 2015) bzw. 952 Personen (davon 2015: 316). denen dazu alle Daten vorliegen, auf folgende Gesamtzah- Zudem wurden zwischen 2013 und 2017 insgesamt 3.104 len: 1069 (2013), 1203 (2014) und 1494 (2015). Dies sind Soldatinnen und Soldaten, die zum Zeitpunkt ihrer Ein- extrem hohe Zahlen, wenn man bedenkt, dass in densel- stellung noch minderjährig waren, von ihrem Dienstherrn ben Jahren insgesamt 1152 (2013), 1463 (2014) und 1515 26 gekündigt. Obwohl es hierfür unterschiedliche Gründe (2015) minderjährige Soldaten eingestellt wurden. Es ist gibt, legen die Daten nahe, dass sie als Minderjährige doch offensichtlich, dass ein sehr hoher Anteil der minderjährig eingestellten Soldatinnen und Soldaten die Bundeswehr vor Ablauf ihrer Dienstzeit verlässt. Eine genaue prozentuale Abbrecher- und Kündigungsquote kann mit den vorlie- 25 Addition der Daten in BT-Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 9f. Für den Zeitraum danach wurden entsprechend aufgeschlüsselte Daten nicht mehr abgefragt. genden Daten jedoch nicht errechnet werden, da nicht 26 Addition der Daten in: BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 5. bekannt ist, in welchem Jahr die Soldatinnen und Soldaten 16
Infor mat ions pflicht vor Au fnahme in die S treitkräf te eingestellt wurden, die in einem bestimmten Jahr gekündigt Anpassungsstörungen und Suchterkrankungen leiden. Nach wurden oder ihren Dienst abbrachen. Einschätzung des Psychotraumazentrums der Bundeswehr sind die PTBS auf Belastungen im Einsatz, wie das Erleben Es ist zu prüfen, inwieweit die Minderjährigen im Laufe der von Armut, Bürgerkriegen und Gräueltaten, zurückzufüh- 30 Anwerbung durch Karriereberater oder in Karriere- und ren. Bei einer mutmaßlich hohen Dunkelziffer beliefen sich Assessment-Centern sachgerecht beraten und informiert die offiziell gemeldeten PTBS-Neuerkrankungen nach Aus- werden. Einiges deutet darauf hin, dass ein beschönigendes landseinsätzen auf 235 (2015), 175 (2016), 170 (2017) und Bild von den beruflichen Möglichkeiten und Herausforde- 182 (2018) Personen. Im gleichen Zeitraum kam es jährlich 31 rungen in den Streitkräften vermittelt wird und die Pflichten zu rund 1.600 bis 1.900 PTBS-Behandlungskontakten. und Risiken des Militärdiensts nicht allen Angeworbenen im Vorfeld des Dienstantritts hinreichend deutlich sind. Ist den Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, die individuellen angeworbenen Minderjährigen und ihren Eltern (oder Vor- (nichtöffentlichen) Informations- und Beratungsverfahren mündern) tatsächlich klar, a) dass sich der Militärdienst – einer kritischen Prüfung zu unterziehen – und zugleich in nach Ablauf der Probezeit – nicht einfach kündigen lässt, b) Zusammenhang mit den allgemeinen, öffentlichen Werbe- dass er dauerhaft mit durch Dienstpflichten eingeschränk- maßnahmen der Bundeswehr zu betrachten (s.u.), welche ten Rechten einhergeht und c) dass er langfristig erhebliche die Entscheidung von Jugendlichen stark beeinf lussen, sich Risiken für Leben und Gesundheit birgt? Oder wird ihnen bei der Bundeswehr freiwillig zu bewerben. die Tragweite der Entscheidung erst später im Rahmen des Dienstes bewusst? Forderungen Dabei stellt sich auch die Frage, ob nicht nur über den Im Lichte der Informationspflichten des Reiz, sondern auch über die Gefahren von Auslandsein- Zusatzprotokolls ist zu gewährleisten, dass sätzen angemessen informiert wird, die perspektivisch bei der Anwerbung von Minderjährigen ein Jugendliche anlocken können. Selbst wenn nur Volljährige realistisches Bild von der Ausbildung und Auslandseinsätze wahrnehmen können, spielt die Perspek- dem Dienst in der Bundeswehr, einschließlich tive von Auslandseinsätzen bereits bei der Anwerbung von der damit verbundenen Pflichten und Risiken, Jugendlichen eine Rolle. Immerhin haben seit Aussetzung vermittelt wird. Eine kritische Evaluierung der Wehrpflicht (2011) insgesamt 485 Soldatinnen und der Informations- und Beratungsleistungen Soldaten, die bei ihrer Einstellung noch minderjährig waren, von Karriereberatern, Karriere- und Assess- später als Volljährige, teils mehrmals, an Auslandseinsätzen 27 mentcentern im Hinblick auf Minderjährige ist teilgenommen. Werden Risiken von Traumatisierung, Ver- geboten. letzung und Tod dargelegt, die mit militärischen Einsätzen einhergehen? Immerhin starben seit 1992 insgesamt 110 Bundeswehrangehörige, die zu Auslandseinsätzen entsandt worden waren, davon 37 durch Fremdeinwirkungen. 22 Bundeswehrangehörige nahmen sich während der Ausland- 28 seinsätze das Leben. Laut Angaben der Bundesregierung vom 12. September 2018 wurden zudem seit 2010 insge- samt 418 Soldatinnen und Soldaten wegen Verletzungen 29 oder Verwundungen aus Einsatzgebieten zurückgeführt. Noch höher ist die Zahl jener Bundeswehrangehörigen, die wegen „Posttraumatischer Belastungsstörungen“ (PTBS) behandelt werden oder an anderen einsatzbezogenen phy- sischen Erkrankungen wie Angstzustände, Depressionen, 27 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 7. 28 Stand Juli 2017. Quelle: Presse- und Informationsstab BMVg. Insgesamt sind die Suizidzahlen von Bundeswehrangehörigen vor allem im Vergleich zu den 1980er und 1990er Jahren gesunken und beliefen sich seit Aussetzung der Wehrpflicht auf: 2011: 19, 2012: 24, 2013: 21, 2014: 29, 2015: 34, 2016: 17, 2017: 10, 2018: 20; https://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/ gedenken/todesfaelle_in_der_bundeswehr/ 30 BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 92. Siehe auch: https://www.bundeswehr. 29 BT-Drs. 19/4253, 12.09.2018, S. 7. Laut BMVg werden seit 2010 die de/portal/a/bwde/start/einsaetze/ueberblick/belastungsstoerungen/ Zahlen verletzter und verwundeter Soldatinnen und Soldaten, die aus 31 Quelle: Presse- und Informationsstab BMVg, Berlin, 26.04.2019; https:// medizinischen Gründen in das Heimatland rückgeführt werden, in Form www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/einsaetze/ueberblick/ eines Meldewesens erfasst. belastungsstoerungen/ 17
04 Austritt aus der Bundeswehr möglich? 18
Au st r itt au s d e r Bu ndeswehr mö g l ic h? EINE ÜB E R AUS WI C HT I G E S C HU TZ M AS S NAHM E IM Potenziell betroffen sind – neben erwachsenen Soldatinnen FALL E DE R RE KRUT I E RU N G VON M I N D E R J ÄHRIGEN und Soldaten – eben auch alle „Freiwilligen Wehrdienst leistenden“ sowie Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten, die FREIWILLIGEN IST, DASS DER MILITÄRD IENST nach Ablauf der Probezeit immer noch minderjährig sind. AUCH TAT S Ä CH L I C H F R E I W I LL I G E R F OLGT. I N 2017 waren dies 173 Soldatinnen und Soldaten, in den Jah- D ER E N GL I S CH E N VE R B I N D L I C HE N FAS S U N G DE S ren zuvor: 31 (2011), 110 (2012), 139 (2013), 169 (2014), 212 34 ZUSATZP ROTO KO LLS W I R D G E F OR D E RT: „ S U CH (2015) und 222 (2016). REC RUI T M E N T I S G E N U I N E LY VOLU N TARY“ (ART. In der Praxis kommt hinzu, dass die Soldatinnen und Solda- 3 A B S . 3A Z P) . DE M R E I N E N WORT L AU T NAC H ten teilweise von sich aus die Probezeit von sechs Monaten KÖ NN T E DI E N O RM S O AU S G E L E GT W E R D E N , A LS verkürzen, um nach der dreimonatigen Grundausbildung BE ZÖGE S I E S I CH LE D I G L I C H AU F D E N AKT D ER zu weiterführenden Lehr- und Ausbildungs- und Studien- gängen angemeldet werden zu können. Wer noch zur Probe EINZI E H UN G ( „ RE C RU I T M E N T “ ). D I E S W Ü R D E angestellt ist, dem bleiben entsprechende Fortbildungs- A BER B E DE UT E N , DAS S M I N D E R J ÄHR I G E G G F. und Karrieremaßnahmen mitunter verstellt. Möglicher- GEGE N I H RE N WI LLE N I N D E N ST R E I T K R ÄF T E N weise unterliegen die Jugendlichen dabei auch einem Grup- V ERB L E I B E N M ÜS ST E N , W E N N S I E E I N M AL F R EI- pendruck und ist auch den Vorgesetzten oder den Eltern an einer raschen Zusage gelegen. Dies führt mitunter zu einer WILLI G RE KRUT I E RT W U R D E N . DAS W Ü R D E D E M Verpflichtung vor Ablauf der Probezeit. ZW ECK DE R N O RM U N D D E S Z U SATZ PROTOKO LLS WID E RS P RE CH E N . E I N E R SYST E M AT I S C HE N U N D Grundsätzlich ist zu fordern, dass Minderjährige nach Errei- TELE O LO G I S CH E N I N T E R PR ETAT I ON Z U F OLG E chen der Volljährigkeit nochmals selbst den Dienstvertrag mit der Bundeswehr unterschreiben, der zuvor lediglich S CH L I E S ST DI E FR E I W I LL I G K E I T DAHE R N I C HT stellvertretend durch die Erziehungsberechtigten (oder den NUR DE N E I N T RI T T I N D E N M I L I T ÄR D I E N ST E I N , jeweiligen Vormund) unterzeichnet worden war. So wäre S O NDE RN V E RL A N GT AU C H D I E M ÖG L I C HK E I T, eine eigenständige Willenserklärung des/der dann Volljäh- D IE S E N WI E DE R Z U V E R L AS S E N . rigen gegeben. Forderung In Deutschland ist indes nach Ablauf von sechs Monaten Sofern freiwillige Minderjährige in die Probezeit die völkerrechtlich erforderliche tatsächliche Bundeswehr aufgenommen werden, muss Freiwilligkeit nicht mehr gegeben. Eine Entlassung auf es ihnen gesetzlich ermöglicht werden, bis Antrag bzw. ein Widerruf der Verpflichtungserklärung ist zur Erlangung der Volljährigkeit ihren Dienst lediglich innerhalb der Probezeit bzw. der ersten sechs bei der Bundeswehr jederzeit durch einsei- Dienstmonate möglich (vgl. §58h Soldatengesetz). Nach tige Erklärung zu beenden. Es ist zu gewähr- der Probezeit lässt sich das Dienstverhältnis nicht mehr leisten, dass ein Verstoß gegen die Pflicht zur regulär kündigen, sondern allenfalls noch über Härte- militärischen Dienstleistung nach dem WStG fälle-Anträge (§55 Abs. 3, §75 Abs. 2 SG) auflösen oder, für Minderjährige nicht unter Strafe steht. verbunden mit großen Schwierigkeiten, aus Gewissens- Nach Erreichen der Volljährigkeit sollen die gründen verweigern. Die Entlassung ist dann ggf. mit hohen Rekrutinnen und Rekruten den Dienstvertrag Rückzahlungen für bereits in Anspruch genommene Ausbil- mit der Bundeswehr nochmals eigenständig dungen verbunden. unterschreiben. Zwar ist seit Aussetzung der Wehrpflicht kein Verfahren wegen eigenmächtiger Abwesenheit (§15 WStG) oder „Fahnenflucht“ (§16 WStG) gegen minderjährige Solda- 32 tinnen oder Soldaten eingeleitet worden, doch ist das Fernbleiben junger Soldatinnen oder Soldaten von der Bundeswehr grundsätzlich strafrechtlich bewehrt. Die Gefahr, sich nach der Probezeit strafbar zu machen, erfüllte 33 den UN-Kinderrechtsausschuss bereits 2014 mit Sorge. 32 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 7. 33 CRC/C/DEU/CO/3-4, 25.02.2014, Ziff. 76 (a). 34 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 4. 19
05 Schutz von Minderjährigen während der Dienstzeit 20
S chu t z von M ind e r jähr ig e n während der Dienst zeit 5.1 entwickelt wird“ – und keine Beschäftigung in einem militä- Militärische Ausbildung von rischen Dienstverhältnis erfolgt. Auch im Koalitionsvertrag 38 Minderjährigen von 2018 der aktuellen Bundesregierung ist vereinbart, dass die Ausbildung bei der Bundeswehr evaluiert und Sofern minderjährige Freiwillige rekrutiert werden, sind sie angepasst werden soll. Hierbei empfiehlt es sich, die angemessen zu schützen. Im Rahmen des freiwilligen Wehr- Situation und Erfahrungen minderjähriger Rekrutinnen und dienstes (von sieben bis zu 23 Monaten) erhalten bereits Rekruten besonders zu untersuchen und unter Berück- minderjährige Freiwillige eine vollständige militärische sichtigung des besonderen Schutzbedarfs Minderjähriger Grundausbildung und verrichten ab dem vierten Monat getrennt zu bewerten. ihren Dienst in einer der militärischen Einheiten (Heer, Luft- waffe, Marine, Sanitätsdienst, Streitkräftebasis). Sofern sie Dies ist auch deswegen wichtig, weil dem Bundesministe- sich als Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten für einen längeren rium für Verteidigung zufolge der Dienst in den Streitkräften 39 Zeitraum verpflichten, schlagen sie eine militärische Karri- besonderer physischer und psychischer Stärken bedarf. ere ein. (Darüber hinaus bietet die Bundeswehr rein zivile Demgemäß ist der Grundausbildung bereits funktional Ausbildungen für den Bereich der Bundeswehrverwaltung ein gewisser Drill eigen, zumal, wenn es sich um Spezial- an. Diese sind nur insofern Thema des Schattenberichts, als grundausbildungen handelt. Das heißt im Umkehrschluss sie eine Alternative zur militärischen Ausbildung darstel- aber auch, dass die Ausbildung – zumindest zeitweise – mit len). Die militärische Ausbildung und der Soldatenberuf großen physischen und psychischen Anforderungen und jedoch gehen mit besonderen Anforderungen einher, wel- Belastungen einhergeht, und zwar auch im Falle von min- che die Schutzrechte von Minderjährigen verletzen können. derjährigen Soldatinnen und Soldaten. Es bedarf also einer gewissen mentalen Reife und körperlichen Konstitution, Minderjährige dürfen in der Bundeswehr zwar keinen selbst, wenn bei der Einstellung dabei inzwischen auch Ein- 40 Dienst an der Waffe leisten, weder im Ausland noch im schränkungen gemacht werden. Hier ist hervorzuheben, Inland, auch nicht als Wachdienst. Allerdings erhalten die dass Minderjährige, die an Waffen ausgebildet werden, minderjährigen Freiwilligen bei der Bundeswehr dieselbe gewaltbasierte Handlungsstrategien bis hin zum Töten militärische Grundausbildung wie erwachsene Rekruten. anderer Menschen erlernen oder gar eigene Gewalterfah- Das heißt, sie werden an der Waffe ausgebildet, und zwar rungen machen, deutlich anfälliger für physische Störungen 41 auch mit scharfer Munition, lernen Krieg zu führen und und Traumatisierungen sind. zu töten und werden militärisch gedrillt. Selbst, wenn die Ausbildung an der Waffe unter strenger Aufsicht erfolgt, Dass junge Rekrutinnen und Rekruten den Anforderungen ist zudem der Gebrauch von Waffen mit scharfer Munition (trotz Einstellungstests) auch physisch nicht immer gewach- stets mit Gefahren verbunden. Medienberichte wiesen im sen sind, zeigte u.a. die Notwendigkeit, ein neues Konzept Juni 2017 auf eklatante Verstöße der Sicherheitsbestimmun- der „aktivierenden Sportausbildung“ der Bundeswehr gen und auf erniedrigende Behandlung der Rekruten bei der aufzusetzen; es wurde im Jahr 2017 als Reaktion auf Vorfälle Schießausbildung am Bundeswehrstandort Sondershausen der Überforderung von Rekruten eingeführt: Infolge einer 35 hin. Auch wurde 2017 ein Einzelfall bekannt, bei der eine Marschübung bei hohen Temperaturen im Rahmen der 17-jährige Soldatin zum Wachdienst mit der Waffe eingeteilt Grundausbildung in Munster verstarb im Juli 2017 ein Offi- 36 wurde. ziersanwärter, drei weitere mussten auf die Intensivstation eingeliefert werden, einer davon wurde schwer geschädigt, 42 Selbst die SPD-Fraktion im Bundestag, welche die Regie- weitere sieben Soldaten hatten Gesundheitsprobleme. rungskoalition aus CDU/CSU und SPD mitträgt, spricht sich Im Januar 2018 brachen bei einem Geländelauf des Ausbil- dafür aus, die Ausbildung so umzugestalten, dass es bis zur dungszentrums in Pfullendorf m ehrere Soldaten zusam- Volljährigkeit eine rein zivile Ausbildung ist, ohne Training an der Waffe und ohne jegliche militärische Ausbildungs- 37 inhalte. In dem Positionspapier „Schutzbestimmungen für 38 „Ein neuer Aufbruch für Europa Eine neue Dynamik für Deutschland Ein Minderjährige in der Bundeswehr“ von Juni 2017 forderte neuer Zusammenhalt für unser Land“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode; https://www.bundesregierung.de/breg-de/ die Fraktion, „dass für minderjährige Bewerberinnen und themen/koalitionsvertrag-zwischen-cdu-csu-und-spd-195906 Bewerber bis zum Erreichen der Volljährigkeit ein zivi- 39 Siehe etwa die Informationen unter: www.bmvg.de./de/themen/personal/ les Beschäftigungsverhältnis bei der Zivilverwaltung der die-bundeswehr-als-arbeitgeber (abgerufen am 13.04.2019) und die dort abrufbare Broschüre „Bei uns geht es um Weiterkommen. Nicht nur ums Bundeswehr geschaffen und dafür ein Ausbildungskonzept Stillstehen. Mach, was wirklich zählt. Karriere bei der Bundeswehr“. 40 Vgl. etwa BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 25. 41 So auch die Einschätzung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages 2016, S. 6. Siehe auch Deutsches Bündnis Kindersoldaten et al. 35 Siehe Spiegel-Online, 17.06.2017. 2019. 36 BT Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 26. 42 BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 37. Siehe auch Presseberichte, etwa Spiegel 37 BT-Drs. 19747/19.04.2018, S. 5. Online, 17.08.2017; Die Welt, 18.08.2017; Stern, 04.03.2018. 21
43 48 men. Auch wenn die Bundeswehr zu solchen Vorkomm- möglich, Daten werden dazu nicht erhoben. Außerdem nissen keine Altersangaben der Betroffenen veröffentlicht, gilt es offenbar weiterhin nicht bei der Unterbringung für bestehen Gefahren der Überforderung gerade auch für militärische Übungen und für „unterwegs“. Ebenso wenig minderjährige Soldatinnen und Soldaten, zumal wenn ist erkennbar, inwiefern Ansprechpartner für Minderjährige die Ausbilder – wie in Munster und Pfullendorf offenbar für diese Aufgabe eigens qualifiziert werden. geschehen – ihre Führungspflichten verletzen. In konkreten Fällen kann also die militärische Ausbildung, Forderung zumal jene an der Waffe, dem Schutzziel des Art. 32 der Minderjährige sollten keinen militärischen KRK entgegenlaufen, demzufolge Kinder (im Sinne der KRK: Dienst verrichten und keinerlei militärische Minderjährige) u.a. nicht zu Arbeiten herangezogen werden Ausbildung erhalten. Stattdessen sollten sie sollen, die Gefahren mit sich bringen oder ihre Gesundheit während der Minderjährigkeit in einem zivilen oder Entwicklung schädigen. Zudem wird international Beschäftigungsverhältnis stehen und eine inzwischen darauf hingewiesen, dass das Hantieren mit ausschließlich zivile Ausbildung genießen. gefährlichen Ausrüstungen und Materialien sowie physisch In der Ausbildung und bei der Ausübung von wie psychisch belastende Ausbildungs- und Arbeitsbedin- Dienstpflichten sollen sie nicht zu Arbeiten gungen beim Militär „gefährliche Arbeiten“ („hazardous herangezogen werden, die Gefahren bergen work“) von Minderjährigen im Sinne der ILO-Konvention 44 oder ihre Gesundheit oder Entwicklung schä- 182 und der dazu gehörigen Empfehlung 190 darstellen. digen können. Bei der im Koalitionsvertrag Letztere empfiehlt, dass die Arbeit von Kindern ab 16 Jahren vereinbarten Evaluierung der Bundeswehr- nur erlaubt wird, wenn die Gesundheit, die Sicherheit und ausbildung sollte die Ausbildung minderjäh- die Sittlichkeit der betreffenden Kinder voll geschützt wird. riger Soldatinnen und Soldaten gesondert untersucht werden, auch hinsichtlich Kinder- Erschwerend kommt hinzu, dass das deutsche Jugend- rechtsverletzungen. arbeitsschutzgesetz auf minderjährige Soldatinnen und Soldaten keine Anwendung findet. Dem Bundesministerium der Verteidigung zufolge würden zwar zahlreiche Vorgaben 45 des Gesetzes durch bestehende Maßnahmen umgesetzt. Auch wird auf die geltenden Bestimmungen des allgemei- 5.2 nen Arbeitsschutzgesetzes und entsprechende Belehrungen Schutz von Grundrechten für alle Soldatinnen und Soldaten hingewiesen. Doch der Jugendarbeitsschutz greift eben nicht so, wie dies in zivilen Über den Arbeitsschutz hinaus ist zu prüfen, inwieweit Ausbildungs- und Berufsverhältnissen der Fall ist. Auch die weitere Rechte und Schutzgarantien für Minderjährige, zu Handlungshilfe für Vorgesetzte zum Umgang mit Minder- denen sich Deutschland mit der Ratifikation der Kinder- 46 jährigen in der Bundeswehr , die derzeit aktualisiert wird rechtskonvention verpflichtet hat, bei der Bundeswehr und noch 2019 in Form einer Zentralen Dienstvorschrift eingeschränkt werden können. Zwar haben Soldatinnen 47 herausgeben werden soll , weist ohne jegliche Erklä- und Soldaten grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen rung darauf hin, dass das Jugendschutzgesetz nicht greift Rechte wie andere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, und dass beispielsweise keine Einschränkungen bei der doch werden diese „im Rahmen der Erfordernisse des Nacht- oder der Biwakausbildung gemacht werden. Selbst militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten wenn dort vorgesehen ist, dass Minderjährige getrennte Pflichten beschränkt“ (§ 6 SG). Stuben zugewiesen bekommen, so ist dies nach Angaben der Bundesregierung weder verpflichtend noch immer Es gilt beispielsweise eine strenge Verschwiegenheits- pflicht. Laut Soldatengesetz hat eine Soldatin oder ein Sol- dat, selbst nach seinem Ausscheiden aus dem Wehrdienst, über die ihm bei seiner dienstlichen Tätigkeit bekannt 43 Vgl. etwa Zeit Online, 20.02.2018; FAZ, 21.03.2018. gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu wahren 44 Vgl. CRIN 2019. Siehe auch Abschnitt 2, Abs. 3, der ILO-Empfehlung 190 betreffend das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der (§ 14 Abs. 1 SG). Ohne Genehmigung durch den – aktuellen schlimmsten Formen der Kinderarbeit. oder letzten – Disziplinarvorgesetzten darf er/sie über sol- 45 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium che Angelegenheiten sogar weder vor Gericht noch außer- der Verteidigung, Dr. Peter Tauber, am 8. Februar 2019 auf eine schriftliche Frage (1/345) im Deutschen Bundestag; vgl. BT-Drs. 19/7585, 08.02.2019, gerichtlich aussagen oder Erklärungen abgeben (§ 14 Abs. S. 88 f. Siehe auch bereits BT Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 8 f. 46 „Information für Disziplinarvorgesetzte in Einheiten und Verbänden sowie Dienststellenleiter und Dienststellenleiterinnen zum Umgang mit zivilen und militärischen Minderjährigen in der Bundeswehr“ vom 22. Mai 2018. 47 BT Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 26. 48 BT-Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 5. 22
S chu t z von M ind e r jähr ig e n während der Dienst zeit 2 SG). Im Hinblick auf die Meinungsäußerungsfreiheit stellt dies einen erheblichen Eingriff dar, der jeweils einer Ver- hältnismäßigkeitsprüfung standhalten muss. Anekdotische Evidenzen legen nahe, dass in Einzelfällen die eingeforderte Verpflichtung zur Verschwiegenheit überzogen sein kann. Allerdings gibt es dazu keine empirischen Untersuchungen. Weiterhin darf sich eine Soldatin und ein Soldat im Dienst beispielsweise nicht zu Gunsten oder zu Ungunsten einer bestimmten politischen Richtung betätigen. Das Recht, im Gespräch mit Kameraden seine eigene Meinung zu äußern, bleibt zwar unberührt. Innerhalb der dienstlichen Anlagen findet es aber auch in der Freizeit seine Schranken an den „Grundregeln der Kameradschaft“ und der gegenseitigen Achtung, damit die Gemeinsamkeit des Dienstes nicht ernstlich gestört wird. Insbesondere dürfen eine Soldatin und ein Soldat nicht „als Werber für eine politische Gruppe wirken, indem er Ansprachen hält, Schriften verteilt oder als Vertreter einer politischen Organisation arbeitet“ (vgl. § 15 Abs. 1 und 2 SG). Die gesetzlichen Einschränkungen lassen sich zwar mit Art. 13 Abs. 2 der KRK in Einklang brin- gen. Doch gilt es zu prüfen, ob in der Praxis die Meinungs- äußerungs- oder auch die Versammlungsfreiheit unverhält- nismäßig stark eingeschränkt wird. Der jüngste Bericht des Wehrbeauftragten geht darauf nicht ein. Umgekehrt weist der Wehrbeauftragte aber auf – 63 (2016), 167 (2017) und 150 (2018) – gemeldete Vorfälle in der Kategorie „Verdacht auf Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, unzulässige politische Betätigung und Volks- verhetzung“ hin. Vorwiegend handle es sich hierbei um Propaganda-Delikte wie ausländerfeindliche und antisemiti- sche Äußerungen, das Hören rechtsextremistischer Musik, Hakenkreuzschmierereien, das Zeigen des verbotenen „Deutschen-Grußes“, „Sieg-Heil“-Rufe sowie die Nutzung gespeicherter Bilder, Texten oder Musik mit extremistischen 49 Inhalt. Sofern diese Vorkommnisse gemäß dem Grund- prinzip der Inneren Führung nicht konsequent gemeldet, geahndet und unterbunden werden, setzt dies gerade minderjährige Soldatinnen und Soldaten einem erheblichen Meinungsdruck aus – und beeinträchtigt die Persönlich- keitsentfaltung im Geiste der in der Charta der Vereinten Nationen und der Kinderrechtskonvention verkündeten Ideale. Generell stellt sich die Frage, ob im Rahmen einer militärischen Ausbildung das Recht auf Bildung im Geiste von Frieden, Toleranz und Freundschaft zwischen den Völ- kern stets gewährt werden kann. Bundeswehr-Werbeplakat an Bushaltestelle in der Nähe einer Schule 49 BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 56. 23
Forderung bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall, in der Kaserne Todendorf oder in der Kaserne Hain bei Gera, um nur einige Minderjährige sind in der Bundeswehr vor 54 zu nennen. Auch die jährlichen Berichte des Wehrbe- unverhältnismäßigen Eingriffen in ihre auftragten weisen auf Probleme bei der Vermittlung der Grundrechte sowie vor Propaganda-Delikten Grundsätze der Inneren Führung hin und mahnen an, dass durch Kameraden und Vorgesetzte effektiv zu Vorgesetzte entsprechendes Fehlverhalten nicht herunter- schützen. 55 spielen oder als vernachlässigbare Einzelfälle abtun sollen. Die Zahl der meldepflichtigen Ereignisse und besonderen Vorkommnisse wegen des Verdachts auf Straftaten gegen 5.3 die sexuelle Selbstbestimmung ist stark angestiegen: Schutz vor erniedrigenden 86 (2015), 131 (2016), 235 (2017), 288 (2018). Darunter „Aufnahmeritualen“ und sexuellem fallen gerade auch sexuelle Übergriffe und Belästigungen Missbrauch gegenüber Soldatinnen und Soldaten innerhalb der Bundes- wehr, von verbalen sexuellen Belästigungen über sexuelle Von besondere Bedeutung ist – im Sinne des Art. 34 KRK Belästigungen durch Berührungen bis hin zu versuchten – der Schutz von Minderjährigen vor Misshandlung und oder tatsächlichen Nötigungen und Vergewaltigungen. Missbrauch. Besonderer Schutzbedarf besteht dabei gerade Die tatsächliche Zahl sexuell motivierter Übergriffe dürfte auch für weibliche Minderjährige. Deren Anzahl stieg seit noch deutlich höher liegen, da viele Fälle – aus Scham oder Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 von 57 im Jahr aus Sorge vor beruflichen oder persönlichen Nachteilen – 2011 (Halbjahr) auf: 152 (2012), 153 (2013), 193 (2014), 247 mutmaßlich nicht gemeldet werden. Davon geht auch der 50 56 (2015), 356 (2016), 448 (2017) und 313 (2018). Wehrbeauftragte in seinem Bericht 2016 aus. Laut der Studie „Truppenbild ohne Dame?“, die das Zentrum für Mili- Das Verteidigungsministerium betont, dass minderjährige tärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr im Soldatinnen und Soldaten im Rahmen der Ausbildung der Jahre 2014 herausgab, haben 55 Prozent der Frauen und 12 besonderen Dienstaufsicht ihrer Vorgesetzten unterliegen. Prozent der Männer in der Bundeswehr eine Form von sexu- Der Schutzbedarf minderjähriger Soldatinnen und Sol- eller Belästigung erlebt. Meist waren dies verbale sexuelle daten vor sexueller Diskriminierung und vor Übergriffen Belästigungen oder unerwünschte Berührungen. Doch drei 51 werde durch diese Dienstaufsicht wirksam umgesetzt. Prozent der Frauen gaben auch an, mindestens ein Mal Im Rahmen des Meldewesens Innere und Soziale Lage der Opfer einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung in der Bundeswehr müssten zudem Verdachtsfälle auf entwürdi- Bundeswehr geworden zu sein und auch bei den Männern 57 gende Aufnahmerituale oder gewalttätige Übergriffe von gab es solche Fälle. den jeweiligen Dienststellen gemeldet werden. Allerdings werden erst seit 2018 gesondert Daten zur Minderjährigkeit der betroffenen Soldaten und Soldatinnen erhoben. Im Zeit- Forderung raum vom 1. Januar bis zum 8. August 2018 wurden keine 52 Da minderjährige Soldatinnen und Soldaten entsprechenden Verdachtsfälle gemeldet. 2017 war jedoch in Armeen – auch in der Bundeswehr – nicht mindestens ein minderjähriger Rekrut vom Skandal um wirksam gegen erniedrigende Rituale und sexuellen Missbrauch und demütigende Aufnahmerituale sexuellen Missbrauch geschützt werden in der Staufer-Kaserne in Pfullendorf (Baden-Württemberg) (können), sollten Minderjährige nicht als betroffen. Soldatinnen und Soldaten rekrutiert werden. Dass es über Pfullendorf hinaus weitere Hinweise für Ver- stöße gibt und das Meldesystem innerhalb der Bundeswehr insgesamt Defizite aufweist, legte nicht nur ein Bericht des Generalinspekteurs Volker Wieker an die Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages 53 (2017) nahe , sondern lassen auch zahlreiche Medienbe- richte erkennen. So kam es etwa zu sexuellen Übergriffen 54 Vgl. etwa: Spiegel-Online, 21.03.2017; NDR, 04.07.2018; 50 Staatenbericht an den Kinderrechtsausschuss, Anlage 2, Tab. 79. Thüringer Allgemeine, 11.07.2018. 51 BT-Drs. 19/3965 (neu),24.08.2018, S. 6. 55 Siehe etwa BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 11 ff. 52 BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 6. 56 BT-Drs. 18/10900, S. 55. 53 Vgl. Berliner Zeitung, 30.03.2017. 57 Vgl. Kümmel 2014, S. 49 ff. 24
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