Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes

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Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
S chattenbericht 2019

Kind­­­­ersoldaten
           Help for Children in Need
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Schattenbericht
­Kindersoldaten 2019
von Prof. Dr. Michael Krennerich

Herausgeber: K
              indernothilfe e.V.
             terre des hommes Deutschland e.V.
             World Vision Deutschland e.V.
             Deutsches Bündnis Kindersoldaten
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Impressum

Autor
Prof. Dr. Michael Krennerich
lehrt Menschenrechte und Menschenrechtspolitik
an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist Vorsitzender
des Nürnberger Menschenrechtszentrums e.V. (NMRZ)

Koordination und Redaktion
Ralf Willinger/terre des hommes

Gestaltung
kippconcept gmbh, Bonn

Druck
Medienhaus Plump, Rheinbreitbach

Herausgeber und im Auftrag von
Kindernothilfe e.V.
terre des hommes e.V.
World Vision Deutschland e.V
Deutsches Bündnis Kindersoldaten

Mit Unterstützung von
Deutsche Friedensgesellschaft - DFG-VK e.V.
Kampagne Unter 18 Nie –
Keine Minderjährigen in der Bundeswehr

Die Herausgeberorganisationen Kindernothilfe,
terre des hommes und World Vision sind Mitglied
des Deutschen Bündnis Kindersoldaten.
www.kindersoldaten.info
                                                            Fotonachweise
                                                            Titelfoto: terre des hommes
                                                            Seite 11, 14, 16, 18, 20, 23, 25, 27: Michael Schulze von Glasser
                                                            Seite 29: Patrick Seeger/dpa picture alliance
Die Herausgeberorganisation terre des hommes                Seite 33: Gerd Faruss, terre des hommes
Deutschland ist Mitglied in der Kampagne                    Seite 45+36: terre des hommes
„Unter 18 Nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“      Seite 40: Dirk-Martin Heinzelmann
www.unter18nie.de                                           Seite 42: Dominik Butzmann
                                                            Seite 44: Kindersoldat mit deutschem G3-Gewehr,
                                                            Fotograf unbekannt

                                                            Kindernothilfe, terre des hommes, World Vision
Die in dieser Publikation vertretenen Auffassungen          © 2019 Alle Rechte vorbehalten
sind die des Autors, nicht notwendigerweise die
der unterstützenden Organisationen.                         1. Auflage, 2.000 – November 2019

Mit besonderem Dank an Michael Schulze von Glasser          ISBN-Nummer: 978-3-941553-31-6
für das zur Verfügung Stellen seiner Fotos
und an Wolfgang Buff vom Zentrum Ökumene der                Bestellbar über den Buchhandel und bei der
Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sowie             Kindernothilfe und terre des hommes (kostenlos).
Kurhessen und Waldeck für inhaltliche Beratung.             Stand: Oktober 2019
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Inhalt

     Vorwort                                                                      7

     Einleitung                                                                   9

01   Rekrutierung von ­minderjährigen ­Freiwilligen in der ­Bundeswehr           11

03   Informationspflicht vor Aufnahme in die ­Streitkräfte                       14

04   Austritt aus der ­Bundeswehr möglich?                                       18

05   Schutz von ­Minderjährigen ­während der Dienstzeit                          20

     5.1   Militärische Ausbildung von Minderjährigen                            21

     5.2 Schutz von Grundrechten                                                 22

     5.3 Schutz vor erniedrigenden „Aufnahmeritualen“ und sexuellem Missbrauch   24

06   Allgemeine ­Informations- und W
                                   ­ erbemaßnahmen der Bundeswehr                25

07   Zusammenarbeit der Bundeswehr mit S
                                       ­ chulen                                  29

08   Menschenrechtsbildung und Friedenserziehung an Schulen                      33

09   Geflüchtete ­Kindersoldatinnen und Kindersoldaten                           35

     9.1   Zwangsrekrutierung von Kindern als Verfolgungsgrund                   36

     9.2 Identifizierung und Behandlung von geflüchteten

		         Kindersoldatinnen und -soldaten                                       38

     9.3 Kindersoldatinnen und Kindersoldaten als Opfer und Täter                38

10   Waffenexporte                                                               40

     10.1 Transparenz beim Waffenhandel                                          41

     10.2 Waffenexporte in Krisengebiete                                         41

11   Internationale Zusammenarbeit                                               44

12   Zusammenfassung der Empfehlungen                                            47

	­­­­Quellen und Literatur                                                       49
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Vorwort

Zum dritten Mal nach 2007 und 2013 veröffentlicht das          Statt Waffenexporte wenigstens in Länder zu stoppen,
Deutsche Bündnis Kindersoldaten mit Mitgliedsorgani-           die direkt in schwere Menschenrechtsverletzungen oder
sationen einen Schattenbericht Kindersoldaten, diesmal         in bewaffnete Konflikte verwickelt sind, gehören Sau-
herausgegeben von Kindernothilfe, terre des hommes             di-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten,
Deutschland und World Vision Deutschland. Wieder geht es       Brasilien, die Philippinen oder Indien weiter zu den größten
darum, wie Deutschland das Zusatzprotokoll zur UN-Kin-         Empfängern deutscher Waffenlieferungen – um nur einige
derrechtskonvention betreffend Kinder in bewaffneten Kon-      Beispiele zu nennen. Kinder müssen in vielen Ländern mit
flikten („Kindersoldaten-Protokoll“) umsetzt, dass es 2004     deutschen Waffen kämpfen oder fallen diesen zum Opfer.
ratifiziert hat, und ob Deutschland Kinderrechte verletzt.     Generell ist der Anteil der besonders problematischen
                                                               deutschen Waffenlieferungen an sogenannte Drittländer
Die deutsche Bilanz 15 Jahre nach der Ratifizierung des        – weder NATO- noch EU-Staaten noch diesen gleichge-
Zusatzprotokolls ist enttäuschend, angesichts der Folgen       stellt – in den letzten Jahren fast kontinuierlich gestiegen
für die betroffenen Kinder muss man sogar sagen, katastro-     und erreichte 2017 einen Höchststand mit über 60% aller
phal. Die drei zentralen Empfehlungen des UN-Ausschusses       genehmigten Waffenexporte in diesem Jahr.
für die Rechte des Kindes, die seit der ersten Berichtsrunde
in den sogenannten Concluding Observations an Deutsch-         Und selbst bei geflüchteten Kindersoldaten und -soldatin-
land gerichtet wurden, werden immer noch nicht umge-           nen aus Kriegsländern wie Afghanistan oder Somalia, bei
setzt – im Gegenteil, die Situation hat sich sogar weiter      denen es eigentlich einen klaren Konsens gab und geben
verschlechtert:                                                sollte, dass diese schutzbedürftig sind, gab es zuletzt
                                                               Rückschritte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Statt das Rekrutierungsalter für Soldaten auf 18 Jahre anzu-   beispielsweise verweigerte ehemaligen Kindersoldaten
heben, wie es der Ausschuss seit 2008 fordert, stiegen die     aus Somalia mehrfach die Anerkennung als Flüchtling mit
Zahlen minderjähriger Soldaten der Bundeswehr bis 2017         dem Argument, in Somalia sei jedes Kind von Rekrutierung
stetig an und erreichten in dem Jahr einen Höchststand von     bedroht und deshalb handele es sich nicht um individuelle
2128 minderjährigen Rekruten. Damit ist Deutschland eines      Verfolgung – das heißt, die besonders hohe Bedrohungs-
der wenigen Länder weltweit, dessen Militär noch min-          lage wird Kindern zum Nachteil ausgelegt, eine Perver-
derjährige Soldatinnen und Soldaten rekrutiert, über 150       tierung des Schutzgedankens. Und eine Ignorierung der
Länder halten den sogenannten Straight 18-Standard (keine      allgemein bekannten Tatsache, dass geflüchtete Kinder-
Soldaten unter 18 Jahren) dagegen ein. In der Bundeswehr       soldaten in höchster Gefahr schweben, ermordet oder
sind minderjährige Soldatinnen und Soldaten regelmäßig         gefoltert zu werden, sowohl von ihrer ehemaligen Gruppe,
von schweren Kinderrechtsverletzungen betroffen.               beispielsweise der Al-Shabab-Miliz, als auch von gegne-
                                                               rischen Gruppierungen, beispielsweise den somalischen
Statt die Werbung der Bundeswehr, die sich an Minder-          Regierungstruppen.
jährige richtet, zu stoppen, wie es der UN-Ausschuss seit
2008 fordert, werden ständig neue und teurere Werbe-           Auch im Bereich Entwicklungshilfe ist die Bilanz unbefriedi-
kampagnen gestartet, viele davon in den sozialen Medien        gend: Zwar finanziert die Bundesregierung einige Entwick-
oder auf Messen wie der Computerspielemesse Games-             lungshilfeprojekte für Kindersoldatinnen und -soldaten,
com und der Jugendmesse YOU mit eindeutig minderjähri-         doch nur in geringem und eher sinkendem Maße – viel zu
ger Zielgruppe.                                                wenig angesichts des hohen Bedarfs und der international
                                                               massiven Unterfinanzierung in diesem Bereich.

                                                                                                                              7
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
All diese und weitere Themen wurden vom renommierten           Wir appellieren an die Bundesregierung, diese Empfeh-
    Autor dieses Schattenberichts, dem Völkerrechtler Prof.        lungen des UN-Ausschusses endlich ernst zu nehmen und
    Dr. Michael Krennerich, Vorsitzender des Nürnberger            umzusetzen, statt wie bisher zu behaupten, sie würde die
    Menschenrechtszentrums und Dozent an der Universität           Kinderrechte und völkerrechtlichen Vorgaben alle erfüllen.
    Erlangen-Nürnberg, genau unter die Lupe genommen,              Dass dies weiter nicht der Fall ist, sondern dass in mehre-
    dem wir hiermit herzlich für die hervorragende Arbeit          ren Bereichen wesentliche Kinderrechte von der Bundesre-
    danken wollen.                                                 gierung verletzt werden, und das in tendenziell zunehmen-
                                                                   dem Maße, belegt diese Studie.
    Das Anliegen des Schattenberichts ist es, völkerrechtliche
    Defizite aufzudecken, der Öffentlichkeit und Politik, insbe-   Es bedarf keiner Glaskugel, um vorherzusehen, dass der
    sondere der Bundesregierung, den hohen Handlungsbedarf         UN-Ausschuss dies auch am Ende dieser Berichtsrunde wie-
    vor Augen zu führen - und endlich die dringend erforderli-     der feststellen wird und wieder entsprechende Empfehlun-
    chen Verbesserungen anzustoßen.                                gen an Deutschland richten wird – dann schon zum dritten
                                                                   Mal. Wir Herausgeber-Organisationen der Zivilgesellschaft
    Der Schattenbericht Kindersoldaten ist auch Teil des           werden uns weiter für deren Umsetzung einsetzen und
    sogenannten Alternativberichts der National Coalition zur      dafür Druck machen – auch mit den Ergebnissen dieses
    Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Er wird direkt      Schattenberichts.
    in das UN-Berichtsverfahren zur deutschen Umsetzung
    der UN-Kinderrechtskonvention eingespeist und von terre
    des hommes, Kindernothilfe und World Vision in Genf vor
    Ort dem UN-Kinderrechteausschuss vorgestellt werden.
    Dieses internationale Expertengremium überprüft laut
    UN-Kinderrechtskonvention (als sog. treaty body) regel-
    mäßig die Einhaltung der Konvention und ihrer Zusatzpro-
    tokolle und formuliert bei Defiziten Empfehlungen an die
    Vertragsstaaten.
                                                                   Frank Mischo, Kindernothilfe e.V.

                                                                   Ralf Willinger, terre des hommes Deutschland e.V.

                                                                   Ekkehard Forberg, World Vision Deutschland e.V.

8
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
01

Einleitung

              9
Kind ersoldaten Schattenbericht 2019 - Terre des Hommes
Die UN-Kinderrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle           Sofern die Vertragsstaaten des Zusatzprotokolls die Ein-
     gelten in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes.              ziehung von Freiwilligen unter 18 Jahren in ihre Streitkräfte
     Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts                  gestatten, sind sie verpflichtet, besondere Sicherungsmaß-
     zufolge sind sie – gemäß dem Grundsatz der völkerfreundli-        nahmen zu treffen. Diese umfassen zumindest einen ver-
     chen Auslegung – bei der Auslegung anderer Bundes­gesetze         lässlichen Altersnachweis, die Zustimmung der Eltern bzw.
     sowie der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grund-            des Vormunds, eine umfassende Aufklärung über die mit
                              1
     sätze zu berücksichtigen.                                         dem Militärdienst verbundenen Pflichten sowie vor allem
                                                                       die Bedingung, dass die Einziehung tatsächlich freiwillig
     Der vorliegende „Schattenbericht“ behandelt die Umset-            („genuinely voluntary“) erfolgt (Art. 3 ZP).
     zung des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die
     Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern          Wie der Begriff „zumindest“ („as a minimum“) im Vertrags-
     an bewaffneten Konflikten vom 25. Mai 2000. Deutschland           text darlegt, handelt es sich bei den genannten Sicherungs-
     hat das Fakultativprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll,       maßnahmen nicht um einen abschließenden Katalog. Auch
     ZP) am 13. Dezember 2004 ratifiziert.                             ist das Zusatzprotokoll in Verbindung mit der Kinderrechts-
                                                                       konvention zu lesen, die das Kindeswohl („best interests of
     Wie bereits Art. 38 der Kinderrechtskonvention (KRK) zielt        the child“) in den Vordergrund rückt und aus der sich ein
     das Zusatzprotokoll darauf ab, Kinder vor der Beteiligung         umfassender Schutzanspruch von Minderjährigen ergibt.
     an bewaffneten Konflikten und vor der Einziehung in die
     Streitkräfte zu schützen. Das Zusatzprotokoll legt das
     Mindestalter sowohl für die unmittelbare Teilnahme an
     „Feindseligkeiten“ („hostilities“) (Art. 1 ZP) als auch für die
     Einziehung zum obligatorischen Militärdienst (Art. 2 ZP) auf
     18 Jahre fest.

     Zugleich verpflichtet es die Vertragsstaaten, das in der
     Kinderrechtskonvention (Art. 38 Abs. 3 KRK) niedergelegte
     Mindestalter von 15 Jahren für die Einziehung von Freiwil­
     ligen in die Streitkräfte anzuheben. Jeder Vertragsstaat
     muss das entsprechend angehobene Mindestalter verbind-
     lich festlegen und kann es jederzeit erhöhen. Die aller­
     meisten Vertragsstaaten haben sich zu einem Mindestalter
     von 18 Jahren verpflichtet (s.u.).

     1   Siehe auch: Bundesregierung 2018, Staatenbericht, Abs. 1 a.

10
02

 Rekrutierung von
­minderjährigen
 ­Freiwilligen in der
­Bundeswehr

                         11
Die Bundesrepublik Deutschland hat bei Hinterlegung der                    die Zahl im Jahre 2018 auf 1.679 (8,4%) Minderjährige
                                                                                                                              3
     Ratifikationsurkunde erklärt, für den Beginn des freiwilligen              zurück, verblieb aber auf einem hohen Niveau.
     Dienstes in ihren Streitkräften ein Mindestalter von 17 Jah-
     ren als verbindlich im Sinne von Art. 3 Abs. 2 des Zusatz-                 Auch wenn das Zusatzprotokoll – bei entsprechenden
     protokolls anzusehen:                                                      Schutzmaßnahmen – die freiwillige Rekrutierung von 17-Jäh-
                                                                                rigen nicht verbietet, zeigte sich der UN-Kinderrechts-
                                                                                ausschuss in seinen „Abschließenden Bemerkungen“ zu
     „T H E FE DE R A L R E PU B L I C OF G E R M AN Y                          Deutschland im Jahre 2014 besorgt darüber, dass Jugend-
     ­D ECL A RE S T H AT I T C ON S I D E R S A M I N I M U M AGE              liche ab 17 Jahren eine militärische Ausbildung bei den
                                                                                Streitkräften beginnen können. Er wiederholte seine Emp-
     O F 1 7 Y E A RS TO B E B I N D I N G F OR T HE VOLUN TA RY                                  4
                                                                                fehlung von 2008 , auch das Mindestalter der freiwilligen
     RECRUI T ME N T OF S OL D I E R S I N TO I T S AR M ED                     Rekrutierung für die Streitkräfte auf 18 Jahre festzulegen,
                                                                                                                                5
     FORCE S UN DE R T HE T E R M S OF ART I C L E 3 PA R A-                    um einen höheren Kinderschutz zu erreichen. Innerhalb
     GR A P H 2 O F T HE OPT I ONAL PROTOC OL . PERS ON S                       Deutschlands wird die Forderung von zahlreichen Kinder-
                                                                                und Menschenrechtsorganisationen mit großem Nachdruck
     UN DE R T H E AG E OF 1 8 YE AR S S HALL B E R EC RU-                                   6
                                                                                unterstützt. Vor kurzem startete eine Kampagne „Unter
     ITE D I N TO T H E A R M E D F ORC E S S OL E LY F OR TH E                 18 nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“, die
     P URP O S E O F C O M M E N C I N G M I L I TARY T R AIN IN G.             von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen
                                                                                               7

     THE P ROT E CT I O N OF VOLU N TARY R
                                         ­ E C RU I T S                         getragen wird. Auch die Kinder­kommission des Deutschen
                                                                                Bundestages hat sich in der 18. Wahlperiode der Forderung
     UN DE R T H E AG E OF 1 8 YE AR S I N C ON N E CT ION
                                                                                nach Anhebung des Mindestalters auf 18 Jahre angeschlos-
     WI T H T H E I R DE C I S I ON TO J OI N T HE AR M E D                         8
                                                                                sen. Auf der Familien- und Jugendkonferenz der Bundes-
     FORCE S I S E N SU R E D BY T HE N E E D TO OBTA IN                        länder im Mai 2019 verfehlte ein Antrag, im Wehrpflicht-
     THE C O N S E N T O F T HE I R L E G AL G
                                             ­ UAR D I AN A N D                 und Soldatengesetz das gesetzliche Mindestalter für die
                                                                                Rekrutierung und die Einstellung zum militärischen Dienst
     THE I N DI S P E N SAB L E R E QU I R E M E N T T HAT TH EY
                                                                                bei der Bundeswehr auf die Vollendung des 18. Lebensjah-
     P RE S E N T A N I D E N T I F I CAT I ON CAR D OR PAS-                    res verbindlich festzusetzen (und bis zum Inkrafttreten der
                                                                        2
     S P O RT AS A RE L I AB L E PROOF OF T HE I R AG E ”.                      Gesetzesreform die militärische Ausbildung Minderjähriger
                                                                                und ihre Teilnahme an militärischen Übungen zu beenden),
                                                                                nur knapp eine Mehrheit.
     Deutschland hat momentan eine Freiwilligenarmee. Während
     das Mindestalter der – seit 1. Juli 2011 ausgesetzten – Wehr-              Der Wehrbeauftragte des Bundestages erhebt eine solche
     pflicht bei 18 Jahren lag, werden auch 17-jährige Freiwillige              Forderung zwar nicht, vertritt aber zumindest die Ansicht,
     in die Bundeswehr aufgenommen. Die Zahl der minderjäh-                     dass die Einstellung 17-Jähriger eine Ausnahme bleiben müsse
                                                                                                                   9
     rigen „Freiwillig Wehrdienstleistenden“ (FWDL) sowie der                   und nicht zur Regel werden dürfe. Wer noch nicht erwachsen
                                                                                                                         10
     minderjährigen Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten belief sich                sei, bedürfe eines besonderen Schutzes. Schon in der
     nach Aussetzung der Wehrpflicht für das restliche Jahr 2011                18. Wahlperiode hatte er darauf hingewiesen: „Mit dem
     auf 687 Personen. Das entsprach in diesem Zeitraum 4,7%                    Engagement Deutschlands bei der Wahrnehmung der völker-
     aller neuen Soldatinnen und Soldaten bei Diensteintritt.                   rechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des Kinder- und Min-
     Teils bedingt durch hohe Schulabgängerzahlen, aber auch                    derjährigenschutzes scheint es nicht ganz leicht zu vereinba-
     durch umfassende Werbemaßnahmen der Bundeswehr,
     stieg die Zahl in den Folgejahren an: 2012: 1.202 (5,7%),
     2013: 1.146 (5,9%), 2014: 1.465 (6,6%), 2015: 1.511 (7,2%),
     2016: 1.910 (8,2%), 2017: 2.126 (9,1%). Nach dem Höhe-                     3    Die Daten sind dem Staatenbericht (Bundesregierung 2018, Anhang 2, Tab.
                                                                                     79) an den UN-Kinderrechtsausschuss entnommen. Sie unterscheiden sich
     punkt 2017 ging – mit sinkenden Schulabgängerzahlen –
                                                                                     geringfügig von den Daten, die sich der BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018,
                                                                                     S. 2, entnehmen lassen: 2011: 689, 2012: 1.202 (5,7%), 2013: 1.152 (5,9%),
                                                                                     2014: 1.463 (6,6%), 2015: 1.515 (7,2%), 2016: 1.907 (8,2%), 2017: 2.126
                                                                                     (9,1%).
                                                                                4    CRC/C/OPAC/DEU/CO/1, 13.02.2008, Ziff. 11.
                                                                                5    CRC/C/DEU/CO/3-4, 25.02.2014, Ziff. 76 (a) und 77 (a).
                                                                                6    Vgl. terre des hommes et al. 2017; Deutsches Bündnis Kindersoldaten et al.
                                                                                     2019.
                                                                                7    https://unter18nie.de
                                                                                8    Deutscher Bundestag, Kommission zur Wahrnehmung der Belange der
                                                                                     Kinder, Kommissionsdrucksache 18. Wahlperiode 18/16, 21.09.2016.
     2   Abrufbar auf der Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte
         (www.ohchr.org) unter den Ratifikationen von Menschenrechtsabkommen    9    BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 28.
         (indicators.ohchr.org).                                                10   BT-Drs. 19/7200, 29.01.2919, S. 25.

12
Re kru t ie ru ng von mind e r jähr ig e n Fre iwillig e n in der Bundeswehr

ren, wenn die ausnahmsweise Rekrutierung Minderjähriger                       vorgebrachte Argument zurücktreten, dass die Bundeswehr
                                           11
zum Regelfall mit steigender Tendenz wird“. In dem jüngsten                   – im Sinne der Chancengleichheit bei der Berufswahl – jene
Bericht begrüßte er dementsprechend den Rückgang minder-                      minderjährige Schulabgänger, die eine militärische Karriere
                                    12
jähriger Freiwilliger im Jahre 2018.                                          anstreben, nicht gegenüber Gleichaltrigen durch Warte-
                                                                                                           17
                                                                              zeiten benachteiligen möchte.
Die Bundesregierung spricht sich ausdrücklich gegen eine
Anhebung des Mindestalters aus. Auf Anfrage im Bundes­
tag erachtet sie die bestehende Einstellungspraxis der                        Forderung
Bundeswehr in vollem Einklang mit den völkerrechtlichen
                                                                              Die Bundesrepublik Deutschland darf sich
Verpflichtungen Deutschlands, so dass eine Neubewertung
                                                                              nicht dem internationalen Straight-18-
unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten nicht geboten
           13                                                                 Rekrutierungstrend verschließen und soll
erscheine. Im Staatenbericht an den UN-Kinderrechtsaus-
                                                                              das Mindestalter für die freiwillige Rekrutie-
schuss wird diese Auffassung nochmals bekräftigt.
                                                                              rung in die Bundeswehr auf 18 Jahre ­an­­heben.
Ein entsprechender Antrag im Bundestag, die Rekrutierung
                                                                              Dies wäre ein wichtiger Schritt zum Schutz
von Minderjährigen für die Bundeswehr sofort zu beenden,
                                                                              von Minderjährigen
wurde in der aktuellen 19. Legislaturperiode mit den Stim-
men der Regierungskoalition (sowie von zwei Oppositions-
                     14
parteien) abgelehnt.

Damit stellt sich die Bundesregierung gegen einen welt-
weiten Trend. Einer Studie von Child Soldiers International
(2018) zufolge haben sich inzwischen 151 Staaten zum
18-Jahre-Rekrutierungsstandard (Straight 18) bekannt. Laut
der Studie haben nur noch 46 Staaten Minderjährige in den
Reihen ihrer Streitkräfte. Unter den 168 Vertragsstaaten
des Zusatzprotokolls gehören – neben Staaten wie Ägypten,
Bangladesch, Bolivien, China, Indien und Pakistan – auch
einige NATO-Staaten dazu, namentlich Belgien, Deutsch-
land, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Niederlande,
Österreich, die USA und Zypern. Im Vergleich der euro-
päischen NATO-Staaten liegt jedoch lediglich in Großbri-
tannien die absolute Zahl (2017: 2.290) und der relative
Anteil (19%) Minderjähriger an neuen Rekruten höher als in
              15
Deutschland.

Mit dem Festhalten an der Rekrutierung von minderjährigen
Freiwilligen schwächt die Bundesregierung nicht nur den
internationalen 18-Jahre-Rekrutierungsstandard (Straight
18) und untergräbt ihre eigenen intensiven Bemühungen zur
internationalen Ächtung des Einsatzes von Kindersoldaten
in anderen Weltregionen, die im Staatenbericht hervorge-
                16
hoben werden. Sie ignoriert auch völkerrechtliche und
politisch-moralische Bedenken, die gegen eine militärische
Ausbildung von Minderjährigen in Deutschland vorgebracht
werden (s.u.). Auf Grund der Besonderheit des Soldaten-
berufs muss dabei auch das von der Bundesregierung

11   BT-Drs. 18/10900, 24.01.2017, S. 13.
12   BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 25.
13   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 2 f. sowie Bundesregierung 2018:
     Staatenbericht, Kap. 11.
14   BT-Drs. 19/1747, 19.04.2018.
15   Deutsches Bündnis Kindersoldaten et al. 2019, S. 5.
16   Bundesregierung 2018: Staatenbericht, Abschnitt 11 d, S. 65 f.           17   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 3.

                                                                                                                                                                       13
03

      Informationspflicht
      vor Aufnahme in die
     ­Streitkräfte

14
Infor mat ions pflicht vor Au fnahme in die S treitkräf te

ZU D E N I M Z USATZ PROTOKOLL AU F G E L I ST ET EN SIC H ERU N GSMAS SNA H MEN ZÄ H LT D IE GEWÄ H R-
LEISTUN G , DAS S VOR AU F NAHM E I N D I E ST R EITK RÄ F TE D IE MIN D ERJ Ä H RIGEN F REIWILLIGEN Ü B ER
D IE M I T DE M M I L I T ÄR D I E N ST V E R BU N D E N E N P F LIC H TEN U MFAS SEN D AU F GEK LÄ RT WERD EN U N D D IE
ZUSTI M M UN G DE R E LT E R N (OD E R D E S VOR M U N D S) MIT K EN N TN IS D ER SAC H L AGE ERF OLGT. H IER AUS
ERGE B E N S I CH VO R D E R AU F NAHM E I N D I E STREITK RÄ F TE U MFAS SEN D E IN F ORMATION SP F LIC H TEN
GEGE N ÜB E R MI N DE R J ÄHR I G E N U N D I HR E N E LTERN .

Die Sicherungsmaßnahmen des Zusatzprotokolls verdeut-                              Zeit sowie 25 Prozent der befragten Freiwillig Wehrdienst-
lichen, dass nationale Streitkräfte kein Arbeitgeber wie                           leistenden gaben als Grund für ihr Ausscheiden an, ihnen
jeder andere sind. Mit der Verpflichtung zum Militärdienst                         sei durch die Karriereberatung ein anderes Bild ihrer
                                                                                                                           19
ordnen sich die Minderjährigen der Weisungs- und Gehor-                            künftigen Tätigkeit vermittelt worden.“ Auch der raue
samspflicht in den Streitkräften unter und akzeptieren                             Umgang mit Rekruten, Über- oder Unterforderung sowie die
dienstpflichtbedingte Einschränkungen ihrer Grundrechte.                           mangelnde Förderung vorhandener Fähigkeiten werden als
                                                                                                                        20
Vor allem aber nehmen sie langfristig ein deutlich erhöhtes                        Gründe für einen Abbruch angeführt.
Risiko für Leben und Gesundheit in Kauf. Im Unterschied zu
zivilen Arbeitsverträgen können zudem in Deutschland die                           Hohe Abbruchzahlen verweisen zumindest indirekt auf
oft langfristigen Dienstverträge nach der Probezeit nicht                          Unzulänglichkeiten bei den berufsbezogenen Informationen
mehr regulär gekündigt werden (s.u.).                                              und Auswahlverfahren der Bundeswehr hin. Abgesehen
                                                                                   davon, dass von den eingeplanten Bewerberinnen und
Bei den individuellen Beratungen müssen daher über                                 Bewerbern im Jahr 2017 zwei Prozent ihren Dienst gar
Ausbildung, Arbeitsplätze und Karrierewege hinaus gerade                           nicht erst antraten, haben weitere 18 Prozent innerhalb
auch die Pflichten und Risiken umfassend dargelegt                                 der ersten sechs Dienstmonate von ihrem Widerrufsrecht
werden, die mit einer – zumal langfristigen – Verpflichtung                        Gebrauch gemacht. Von weiteren zwei Prozent hat sich
bei den Streitkräften einhergehen. Dahinter steht die                              die Bundeswehr innerhalb der ersten sechs Dienstmonate
                                                                                             21
Erkenntnis, dass Minderjährige sich leicht beeinflussen und                        getrennt. Das Phänomen betrifft auch Minderjährige: Aus
begeistern lassen und möglicherweise die Tragweite ihrer                           der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage
Entscheidung noch nicht angemessen überschauen können.                             im Bundestag des Jahres 2016 geht hervor, dass im Zeit-
Jugendlichen und ihren Eltern muss daher ein realistisches                         raum von 2011 bis 2015 insgesamt 1518 bei der Einstellung
Bild des militärischen Charakters des Dienstes vermittelt                          minderjährige Soldatinnen und Soldaten während ihrer
                                                                                                                          22
werden.                                                                            Probezeit den Dienst beendet haben. Bei einer ähnlichen
                                                                                   kleinen Anfrage aus dem Jahre 2018 wurde leider nur nach
Der Bundesregierung zufolge wird im Vorfeld einer Ein-                             Soldatinnen und Soldaten auf Zeit gefragt, die im Zeitraum
stellung „durch eine umfassende Aufklärung und Beratung                            von 2011 bis 2017 als Minderjährige eine militärische Aus-
bezüglich der Chancen und Risiken des Soldatenberufs und                           bildung bei der Bundeswehr aufgenommen hatten. Davon
ein intensives, wissenschaftsbasiertes und eignungsdiag-                           hatten insgesamt 785 Personen ihre Widerspruchoption
                                                                                                                                       23
nostisches Assessmentverfahren sichergestellt, dass nur                            ausgeübt und sind aus dem Dienst ausgeschieden. Die
17-Jährige eingestellt werden, die sich eingehend mit den                          „Freiwilligen Wehrdienstleistenden“ wurden hier offen-
Anforderungen des Soldatenberufs auseinandergesetzt                                bar nicht mitgezählt. (Nur) für letztere liegen wiederum
                                                 18
haben und die erforderliche Eignung aufweisen“.                                    Daten für 2018 vor: Demnach wurden 232 minderjährig
                                                                                   eingestellte FWDLer auf eigenen Wunsch und 31 durch die
                                                                                                           24
In der Praxis jedoch gibt es reichlich Kritik an der Berufsbe-                     Bundeswehr entlassen.
ratung. Selbst der Wehrbeauftragte des Bundestags führt
in seinem Bericht 2018 eine vom Verteidigungsministerium
durchgeführte interne Befragung von Soldatinnen und
Soldaten an, die die Bundeswehr wieder verlassen haben:
„36 Prozent der befragten Soldatinnen und Soldaten auf
                                                                                   19   BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 24.
                                                                                   20   terre des hommes et al. 2016, S. 4.
                                                                                   21   BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 23.
                                                                                   22   BT-Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 8.
18   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 3. Fast wortgleich die Antwort des
     Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung,      23   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 5.
     Dr. Peter Tauber, am 8. Februar 2019 auf eine schriftliche Frage (1/345) im   24   Information des Bundeministeriums der Verteidigung an den
     Deutschen Bundestag; vgl. BT-Drs. 19/7585, 08.02.2019.                             Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages.

                                                                                                                                                                          15
Auch nach der Probezeit haben noch viele minderjährige                            nicht so eingehend mit den Anforderungen und Pflichten
     Soldatinnen und Soldaten oder volljährige Soldatinnen                             des Soldatenberufs vertraut gemacht worden sind, wie von
     und Soldatinnen, die bei der Einstellung noch minderjährig                        der Regierung behauptet wird.
     waren, ihren Dienst vorzeitig abgebrochen oder entspre-
     chende Anträge gestellt, verbunden mit den unten genann-                          Summiert man die Kündigungen und Abbrüche minderjäh-
     ten Schwierigkeiten, den Dienst zu quittieren. Zwischen                           rig eingestellter Soldatinnen und Soldaten in und nach der
     2011 und 2015 waren dies 442 Personen (davon allein 203                           Probezeit, so kommt man in den drei Jahren 2013-2015, in
                                                          25
     im Jahre 2015) bzw. 952 Personen (davon 2015: 316).                               denen dazu alle Daten vorliegen, auf folgende Gesamtzah-
     Zudem wurden zwischen 2013 und 2017 insgesamt 3.104                               len: 1069 (2013), 1203 (2014) und 1494 (2015). Dies sind
     Soldatinnen und Soldaten, die zum Zeitpunkt ihrer Ein-                            extrem hohe Zahlen, wenn man bedenkt, dass in densel-
     stellung noch minderjährig waren, von ihrem Dienstherrn                           ben Jahren insgesamt 1152 (2013), 1463 (2014) und 1515
                26
     gekündigt. Obwohl es hierfür unterschiedliche Gründe                              (2015) minderjährige Soldaten eingestellt wurden. Es ist
     gibt, legen die Daten nahe, dass sie als Minderjährige doch                       offensichtlich, dass ein sehr hoher Anteil der minderjährig
                                                                                       eingestellten Soldatinnen und Soldaten die Bundeswehr vor
                                                                                       Ablauf ihrer Dienstzeit verlässt. Eine genaue prozentuale
                                                                                       Abbrecher- und Kündigungsquote kann mit den vorlie-
     25   Addition der Daten in BT-Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 9f. Für den Zeitraum
          danach wurden entsprechend aufgeschlüsselte Daten nicht mehr abgefragt.      genden Daten jedoch nicht errechnet werden, da nicht
     26   Addition der Daten in: BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 5.              bekannt ist, in welchem Jahr die Soldatinnen und Soldaten

16
Infor mat ions pflicht vor Au fnahme in die S treitkräf te

eingestellt wurden, die in einem bestimmten Jahr gekündigt                          Anpassungsstörungen und Suchterkrankungen leiden. Nach
wurden oder ihren Dienst abbrachen.                                                 Einschätzung des Psychotraumazentrums der Bundeswehr
                                                                                    sind die PTBS auf Belastungen im Einsatz, wie das Erleben
Es ist zu prüfen, inwieweit die Minderjährigen im Laufe der                         von Armut, Bürgerkriegen und Gräueltaten, zurückzufüh-
                                                                                        30
Anwerbung durch Karriereberater oder in Karriere- und                               ren. Bei einer mutmaßlich hohen Dunkelziffer beliefen sich
Assessment-Centern sachgerecht beraten und informiert                               die offiziell gemeldeten PTBS-Neuerkran­kungen nach Aus-
werden. Einiges deutet darauf hin, dass ein beschönigendes                          landseinsätzen auf 235 (2015), 175 (2016), 170 (2017) und
Bild von den beruflichen Möglichkeiten und Herausforde-                             182 (2018) Personen. Im gleichen Zeitraum kam es jährlich
                                                                                                                                          31
rungen in den Streitkräften vermittelt wird und die Pflichten                       zu rund 1.600 bis 1.900 PTBS-Behandlungskontakten.
und Risiken des Militärdiensts nicht allen Angeworbenen im
Vorfeld des Dienstantritts hinreichend deutlich sind. Ist den                       Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, die individuellen
angeworbenen Minderjährigen und ihren Eltern (oder Vor-                             (nichtöffentlichen) Informations- und Beratungsverfahren
mündern) tatsächlich klar, a) dass sich der Militärdienst –                         einer kritischen Prüfung zu unterziehen – und zugleich in
nach Ablauf der Probezeit – nicht einfach kündigen lässt, b)                        Zusammenhang mit den allgemeinen, öffentlichen Werbe-
dass er dauerhaft mit durch Dienstpflichten eingeschränk-                           maßnahmen der Bundeswehr zu betrachten (s.u.), welche
ten Rechten einhergeht und c) dass er langfristig erhebliche                        die Entscheidung von Jugendlichen stark beein­f lussen, sich
Risiken für Leben und Gesundheit birgt? Oder wird ihnen                             bei der Bundeswehr freiwillig zu bewerben.
die Tragweite der Entscheidung erst später im Rahmen des
Dienstes bewusst?
                                                                                    Forderungen
Dabei stellt sich auch die Frage, ob nicht nur über den
                                                                                    Im Lichte der Informationspflichten des
Reiz, sondern auch über die Gefahren von Auslandsein-
                                                                                    Zusatzprotokolls ist zu gewährleisten, dass
sätzen angemessen informiert wird, die perspektivisch
                                                                                    bei der Anwerbung von Minderjährigen ein
Jugendliche anlocken können. Selbst wenn nur Volljährige
                                                                                    realistisches Bild von der Ausbildung und
Auslandseinsätze wahrnehmen können, spielt die Perspek-
                                                                                    dem Dienst in der Bundeswehr, einschließlich
tive von Auslandseinsätzen bereits bei der Anwerbung von
                                                                                    der damit verbundenen Pflichten und Risiken,
Jugendlichen eine Rolle. Immerhin haben seit Aussetzung
                                                                                    vermittelt wird. Eine kritische Evaluierung
der Wehrpflicht (2011) insgesamt 485 Soldatinnen und
                                                                                    der Informations- und Beratungsleistungen
Soldaten, die bei ihrer Einstellung noch minderjährig waren,
                                                                                    von Karriereberatern, Karriere- und Assess-
später als Volljährige, teils mehrmals, an Auslandseinsätzen
                27                                                                  mentcentern im Hinblick auf Minderjährige ist
teilgenommen. Werden Risiken von Traumatisierung, Ver-
                                                                                    geboten.
letzung und Tod dargelegt, die mit militärischen Einsätzen
einhergehen? Immerhin starben seit 1992 insgesamt 110
Bundeswehrangehörige, die zu Auslandseinsätzen entsandt
worden waren, davon 37 durch Fremdeinwirkungen. 22
Bundeswehrangehörige nahmen sich während der Ausland-
                      28
seinsätze das Leben. Laut Angaben der Bundesregierung
vom 12. September 2018 wurden zudem seit 2010 insge-
samt 418 Soldatinnen und Soldaten wegen Verletzungen
                                                         29
oder Verwundungen aus Einsatzgebieten zurückgeführt.
Noch höher ist die Zahl jener Bundeswehrangehörigen, die
wegen „Posttraumatischer Belastungsstörungen“ (PTBS)
behandelt werden oder an anderen einsatzbezogenen phy-
sischen Erkrankungen wie Angstzustände, Depressionen,

27   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 7.
28   Stand Juli 2017. Quelle: Presse- und Informationsstab BMVg. Insgesamt sind
     die Suizidzahlen von Bundeswehrangehörigen vor allem im Vergleich zu
     den 1980er und 1990er Jahren gesunken und beliefen sich seit Aussetzung
     der Wehrpflicht auf: 2011: 19, 2012: 24, 2013: 21, 2014: 29, 2015: 34, 2016:
     17, 2017: 10, 2018: 20; https://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/
     gedenken/todesfaelle_in_der_bundeswehr/                                        30   BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 92. Siehe auch: https://www.bundeswehr.
29   BT-Drs. 19/4253, 12.09.2018, S. 7. Laut BMVg werden seit 2010 die                   de/portal/a/bwde/start/einsaetze/ueberblick/belastungsstoerungen/
     Zahlen verletzter und verwundeter Soldatinnen und Soldaten, die aus            31   Quelle: Presse- und Informationsstab BMVg, Berlin, 26.04.2019; https://
     medizinischen Gründen in das Heimatland rückgeführt werden, in Form                 www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/einsaetze/ueberblick/
     eines Meldewesens erfasst.                                                          belastungsstoerungen/

                                                                                                                                                                          17
04

      Austritt aus der
     ­Bundeswehr möglich?

18
Au st r itt au s d e r Bu ndeswehr mö g l ic h?

EINE ÜB E R AUS WI C HT I G E S
                              ­ C HU TZ M AS S NAHM E IM            Potenziell betroffen sind – neben erwachsenen Soldatinnen
FALL E DE R RE KRUT I E RU N G VON M I N D E R ­J ÄHRIGEN           und Soldaten – eben auch alle „Freiwilligen Wehrdienst­
                                                                    leistenden“ sowie Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten, die
FREIWILLIGEN IST, DASS DER MILITÄR­D IENST
                                                                    nach Ablauf der Probezeit immer noch minderjährig sind.
AUCH TAT S Ä CH L I C H F R E I W I LL I G E R F OLGT. I N          2017 waren dies 173 Soldatinnen und Soldaten, in den Jah-
D ER E N GL I S CH E N VE R B I N D L I C HE N FAS S U N G DE S     ren zuvor: 31 (2011), 110 (2012), 139 (2013), 169 (2014), 212
                                                                                            34

ZUSATZP ROTO KO LLS W I R D G E F OR D E RT: „ S U CH               (2015) und 222 (2016).

REC RUI T M E N T I S G E N U I N E LY VOLU N TARY“ (ART.
                                                                    In der Praxis kommt hinzu, dass die Soldatinnen und Solda-
3 A B S . 3A Z P) . DE M R E I N E N WORT L AU T NAC H              ten teilweise von sich aus die Probezeit von sechs Monaten
KÖ NN T E DI E N O RM S O AU S G E L E GT W E R D E N , A LS        verkürzen, um nach der dreimonatigen Grundausbildung
BE ZÖGE S I E S I CH LE D I G L I C H AU F D E N AKT D ER           zu weiterführenden Lehr- und Ausbildungs- und Studien-
                                                                    gängen angemeldet werden zu können. Wer noch zur Probe
EINZI E H UN G ( „ RE C RU I T M E N T “ ). D I E S W Ü R D E
                                                                    angestellt ist, dem bleiben entsprechende Fortbildungs-
A BER B E DE UT E N , DAS S M I N D E R J ÄHR I G E G G F.          und Karrieremaßnahmen mitunter verstellt. Möglicher-
GEGE N I H RE N WI LLE N I N D E N ST R E I T K R ÄF T E N          weise unterliegen die Jugendlichen dabei auch einem Grup-
V ERB L E I B E N M ÜS ST E N , W E N N S I E E I N M AL F R EI-    pendruck und ist auch den Vorgesetzten oder den Eltern an
                                                                    einer raschen Zusage gelegen. Dies führt mitunter zu einer
WILLI G RE KRUT I E RT W U R D E N . DAS W Ü R D E D E M
                                                                    Verpflichtung vor Ablauf der Probezeit.
ZW ECK DE R N O RM U N D D E S Z U SATZ PROTOKO LLS
WID E RS P RE CH E N . E I N E R SYST E M AT I S C HE N U N D       Grundsätzlich ist zu fordern, dass Minderjährige nach Errei-
TELE O LO G I S CH E N I N T E R PR ETAT I ON Z U F OLG E           chen der Volljährigkeit nochmals selbst den Dienstvertrag
                                                                    mit der Bundeswehr unterschreiben, der zuvor lediglich
S CH L I E S ST DI E FR E I W I LL I G K E I T DAHE R N I C HT
                                                                    stellvertretend durch die Erziehungsberechtigten (oder den
NUR DE N E I N T RI T T I N D E N M I L I T ÄR D I E N ST E I N ,   jeweiligen Vormund) unterzeichnet worden war. So wäre
S O NDE RN V E RL A N GT AU C H D I E M ÖG L I C HK E I T,          eine eigenständige Willenserklärung des/der dann Volljäh-
D IE S E N WI E DE R Z U V E R L AS S E N .                         rigen gegeben.

                                                                    Forderung

In Deutschland ist indes nach Ablauf von sechs Monaten
                                                                    Sofern freiwillige Minderjährige in die
Probezeit die völkerrechtlich erforderliche tatsächliche
                                                                    Bundes­wehr aufgenommen werden, muss
Freiwilligkeit nicht mehr gegeben. Eine Entlassung auf
                                                                    es ihnen gesetzlich ermöglicht werden, bis
Antrag bzw. ein Widerruf der Verpflichtungserklärung ist
                                                                    zur Erlangung der Volljährigkeit ihren Dienst
lediglich innerhalb der Probezeit bzw. der ersten sechs
                                                                    bei der Bundeswehr jederzeit durch einsei-
Dienstmonate möglich (vgl. §58h Soldatengesetz). Nach
                                                                    tige Erklärung zu beenden. Es ist zu gewähr-
der Probezeit lässt sich das Dienstverhältnis nicht mehr
                                                                    leisten, dass ein Verstoß gegen die Pflicht zur
regulär kündigen, sondern allenfalls noch über Härte-
                                                                    militärischen Dienstleistung nach dem WStG
fälle-Anträge (§55 Abs. 3, §75 Abs. 2 SG) auflösen oder,
                                                                    für Minderjährige nicht unter Strafe steht.
verbunden mit großen Schwierigkeiten, aus Gewissens-
                                                                    Nach Erreichen der Volljährigkeit sollen die
gründen verweigern. Die Entlassung ist dann ggf. mit hohen
                                                                    Rekrutinnen und Rekruten den Dienstvertrag
Rückzahlungen für bereits in Anspruch genommene Ausbil-
                                                                    mit der Bundeswehr nochmals eigenständig
dungen verbunden.
                                                                    unterschreiben.
Zwar ist seit Aussetzung der Wehrpflicht kein Verfahren
wegen eigenmächtiger Abwesenheit (§15 WStG) oder
­„Fahnenflucht“ (§16 WStG) gegen minderjährige Solda-
                                           32
 tinnen oder Soldaten eingeleitet worden, doch ist das
 Fernbleiben junger Soldatinnen oder Soldaten von der
 Bundeswehr grundsätzlich strafrechtlich bewehrt. Die
 Gefahr, sich nach der Probezeit strafbar zu machen, erfüllte
                                                        33
 den UN-Kinderrechtsausschuss bereits 2014 mit Sorge.

32   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 7.
33   CRC/C/DEU/CO/3-4, 25.02.2014, Ziff. 76 (a).                    34   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 4.

                                                                                                                                                              19
05

      Schutz von ­
      Minderjährigen
     ­während der Dienstzeit

20
S chu t z von M ind e r jähr ig e n während der Dienst zeit

5.1                                                              entwickelt wird“ – und keine Beschäftigung in einem militä-
Militärische Ausbildung von                                      rischen Dienstverhältnis erfolgt. Auch im Koalitionsvertrag
                                                                                                          38
Minderjährigen                                                   von 2018 der aktuellen Bundesregierung ist vereinbart,
                                                                 dass die Ausbildung bei der Bundeswehr evaluiert und
Sofern minderjährige Freiwillige rekrutiert werden, sind sie     angepasst werden soll. Hierbei empfiehlt es sich, die
angemessen zu schützen. Im Rahmen des freiwilligen Wehr-         Situation und Erfahrungen minderjähriger Rekrutinnen und
dienstes (von sieben bis zu 23 Monaten) erhalten bereits         Rekruten besonders zu untersuchen und unter Berück-
minderjährige Freiwillige eine vollständige militärische         sichtigung des besonderen Schutzbedarfs Minderjähriger
Grundausbildung und verrichten ab dem vierten Monat              getrennt zu bewerten.
ihren Dienst in einer der militärischen Einheiten (Heer, Luft-
waffe, Marine, Sanitätsdienst, Streitkräftebasis). Sofern sie    Dies ist auch deswegen wichtig, weil dem Bundesministe-
sich als Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten für einen längeren     rium für Verteidigung zufolge der Dienst in den Streitkräften
                                                                                                                          39
Zeitraum verpflichten, schlagen sie eine militärische Karri-     besonderer physischer und psychischer Stärken bedarf.
ere ein. (Darüber hinaus bietet die Bundeswehr rein zivile       Demgemäß ist der Grundausbildung bereits funktional
Ausbildungen für den Bereich der Bundeswehrverwaltung            ein gewisser Drill eigen, zumal, wenn es sich um Spezial-
an. Diese sind nur insofern Thema des Schattenberichts, als      grundausbildungen handelt. Das heißt im Umkehrschluss
sie eine Alternative zur militärischen Ausbildung darstel-       aber auch, dass die Ausbildung – zumindest zeitweise – mit
len). Die militärische Ausbildung und der Soldatenberuf          großen physischen und psychischen Anforderungen und
jedoch gehen mit besonderen Anforderungen einher, wel-           Belastungen einhergeht, und zwar auch im Falle von min-
che die Schutzrechte von Minderjährigen verletzen können.        derjährigen Soldatinnen und Soldaten. Es bedarf also einer
                                                                 gewissen mentalen Reife und körperlichen Konstitution,
Minderjährige dürfen in der Bundeswehr zwar keinen               selbst, wenn bei der Einstellung dabei inzwischen auch Ein-
                                                                                                  40
Dienst an der Waffe leisten, weder im Ausland noch im            schränkungen gemacht werden. Hier ist hervorzuheben,
Inland, auch nicht als Wachdienst. Allerdings erhalten die       dass Minderjährige, die an Waffen ausgebildet werden,
minderjährigen Freiwilligen bei der Bundeswehr dieselbe          gewaltbasierte Handlungsstrategien bis hin zum Töten
militärische Grundausbildung wie erwachsene Rekruten.            anderer Menschen erlernen oder gar eigene Gewalterfah-
Das heißt, sie werden an der Waffe ausgebildet, und zwar         rungen machen, deutlich anfälliger für physische Störungen
                                                                                              41
auch mit scharfer Munition, lernen Krieg zu führen und           und Traumatisierungen sind.
zu töten und werden militärisch gedrillt. Selbst, wenn die
Ausbildung an der Waffe unter strenger Aufsicht erfolgt,         Dass junge Rekrutinnen und Rekruten den Anforderungen
ist zudem der Gebrauch von Waffen mit scharfer Munition          (trotz Einstellungstests) auch physisch nicht immer gewach-
stets mit Gefahren verbunden. Medienberichte wiesen im           sen sind, zeigte u.a. die Notwendigkeit, ein neues Konzept
Juni 2017 auf eklatante Verstöße der Sicherheitsbestimmun-       der „aktivierenden Sportausbildung“ der Bundeswehr
gen und auf erniedrigende Behandlung der Rekruten bei der        aufzusetzen; es wurde im Jahr 2017 als Reaktion auf Vorfälle
Schießausbildung am Bundeswehrstandort Sondershausen             der Überforderung von Rekruten eingeführt: Infolge einer
     35
hin. Auch wurde 2017 ein Einzelfall bekannt, bei der eine        Marschübung bei hohen Temperaturen im Rahmen der
17-jährige Soldatin zum Wachdienst mit der Waffe eingeteilt      Grundausbildung in Munster verstarb im Juli 2017 ein Offi-
        36
wurde.                                                           ziersanwärter, drei weitere mussten auf die Intensivstation
                                                                 eingeliefert werden, einer davon wurde schwer geschädigt,
                                                                                                                        42
Selbst die SPD-Fraktion im Bundestag, welche die Regie-          weitere sieben Soldaten hatten Gesundheitsprobleme.
rungskoalition aus CDU/CSU und SPD mitträgt, spricht sich        Im Januar 2018 brachen bei einem Geländelauf des Ausbil-
dafür aus, die Ausbildung so umzugestalten, dass es bis zur      dungszentrums in Pfullendorf m ­ ehrere Soldaten zusam-
Volljährigkeit eine rein zivile Ausbildung ist, ohne Training
an der Waffe und ohne jegliche militärische Ausbildungs-
        37
inhalte. In dem Positionspapier „Schutz­bestimmungen für         38   „Ein neuer Aufbruch für Europa Eine neue Dynamik für Deutschland Ein
Minderjährige in der Bundeswehr“ von Juni 2017 forderte               neuer Zusammenhalt für unser Land“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU
                                                                      und SPD, 19. Legislaturperiode; https://www.bundesregierung.de/breg-de/
die Fraktion, „dass für minderjährige Bewerberinnen und               themen/koalitionsvertrag-zwischen-cdu-csu-und-spd-195906
Bewerber bis zum Erreichen der Volljährigkeit ein zivi-          39   Siehe etwa die Informationen unter: www.bmvg.de./de/themen/personal/
les Beschäftigungsverhältnis bei der Zivilverwaltung der              die-bundeswehr-als-arbeitgeber (abgerufen am 13.04.2019) und die dort
                                                                      abrufbare Broschüre „Bei uns geht es um Weiterkommen. Nicht nur ums
Bundeswehr geschaffen und dafür ein Ausbildungskonzept                Stillstehen. Mach, was wirklich zählt. Karriere bei der Bundeswehr“.
                                                                 40   Vgl. etwa BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 25.
                                                                 41   So auch die Einschätzung der Kinderkommission des Deutschen
                                                                      Bundestages 2016, S. 6. Siehe auch Deutsches Bündnis Kindersoldaten et al.
35   Siehe Spiegel-Online, 17.06.2017.                                2019.
36   BT Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 26.                         42   BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 37. Siehe auch Presseberichte, etwa Spiegel
37   BT-Drs. 19747/19.04.2018, S. 5.                                  Online, 17.08.2017; Die Welt, 18.08.2017; Stern, 04.03.2018.

                                                                                                                                                         21
43                                                                                                                        48
     men. Auch wenn die Bundeswehr zu solchen Vorkomm-                                   möglich, Daten werden dazu nicht erhoben. Außerdem
     nissen keine Altersangaben der Betroffenen veröffentlicht,                          gilt es offenbar weiterhin nicht bei der Unterbringung für
     bestehen Gefahren der Überforderung gerade auch für                                 militärische Übungen und für „unterwegs“. Ebenso wenig
     minderjährige Soldatinnen und Soldaten, zumal wenn                                  ist erkennbar, inwiefern Ansprechpartner für Minderjährige
     die Ausbilder – wie in Munster und Pfullendorf offenbar                             für diese Aufgabe eigens qualifiziert werden.
     geschehen – ihre Führungspflichten verletzen.

     In konkreten Fällen kann also die militärische Ausbildung,                          Forderung
     zumal jene an der Waffe, dem Schutzziel des Art. 32 der
                                                                                         Minderjährige sollten keinen militärischen
     KRK entgegenlaufen, demzufolge Kinder (im Sinne der KRK:
                                                                                         Dienst verrichten und keinerlei militärische
     Minderjährige) u.a. nicht zu Arbeiten herangezogen werden
                                                                                         Ausbildung erhalten. Stattdessen sollten sie
     sollen, die Gefahren mit sich bringen oder ihre Gesundheit
                                                                                         während der Minderjährigkeit in einem zivilen
     oder Entwicklung schädigen. Zudem wird international
                                                                                         Beschäftigungsverhältnis stehen und eine
     inzwischen darauf hingewiesen, dass das Hantieren mit
                                                                                         ausschließlich zivile Ausbildung genießen.
     gefährlichen Ausrüstungen und Materialien sowie physisch
                                                                                         In der Ausbildung und bei der Ausübung von
     wie psychisch belastende Ausbildungs- und Arbeitsbedin-
                                                                                         Dienstpflichten sollen sie nicht zu Arbeiten
     gungen beim Militär „gefährliche Arbeiten“ („hazardous
                                                                                         herangezogen werden, die Gefahren bergen
     work“) von Minderjährigen im Sinne der ILO-Konvention
                                                              44                         oder ihre Gesundheit oder Entwicklung schä-
     182 und der dazu gehörigen Empfehlung 190 darstellen.
                                                                                         digen können. Bei der im Koalitionsvertrag
     Letztere empfiehlt, dass die Arbeit von Kindern ab 16 Jahren
                                                                                         vereinbarten Evaluierung der Bundeswehr-
     nur erlaubt wird, wenn die Gesundheit, die Sicherheit und
                                                                                         ausbildung sollte die Ausbildung minderjäh-
     die Sittlichkeit der betreffenden Kinder voll geschützt wird.
                                                                                         riger Soldatinnen und Soldaten gesondert
                                                                                         untersucht werden, auch hinsichtlich Kinder-
     Erschwerend kommt hinzu, dass das deutsche Jugend-                                  rechtsverletzungen.
     arbeitsschutzgesetz auf minderjährige Soldatinnen und
     Soldaten keine Anwendung findet. Dem Bundesministerium
     der Verteidigung zufolge würden zwar zahlreiche Vorgaben
                                                                45
     des Gesetzes durch bestehende Maßnahmen umgesetzt.
     Auch wird auf die geltenden Bestimmungen des allgemei-                              5.2
     nen Arbeitsschutzgesetzes und entsprechende Belehrungen                             Schutz von Grundrechten
     für alle Soldatinnen und Soldaten hingewiesen. Doch der
     Jugendarbeitsschutz greift eben nicht so, wie dies in zivilen                       Über den Arbeitsschutz hinaus ist zu prüfen, inwieweit
     Ausbildungs- und Berufsverhältnissen der Fall ist. Auch die                         weitere Rechte und Schutzgarantien für Minderjährige, zu
     Handlungshilfe für Vorgesetzte zum Umgang mit Minder-                               denen sich Deutschland mit der Ratifikation der Kinder-
                                  46
     jährigen in der Bundeswehr , die derzeit aktualisiert wird                          rechtskonvention verpflichtet hat, bei der Bundeswehr
     und noch 2019 in Form einer Zentralen Dienstvorschrift                              eingeschränkt werden können. Zwar haben Soldatinnen
                               47
     herausgeben werden soll , weist ohne jegliche Erklä-                                und Soldaten grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen
     rung darauf hin, dass das Jugendschutzgesetz nicht greift                           Rechte wie andere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger,
     und dass beispielsweise keine Einschränkungen bei der                               doch werden diese „im Rahmen der Erfordernisse des
     Nacht- oder der Biwakausbildung gemacht werden. Selbst                              militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten
     wenn dort vorgesehen ist, dass Minderjährige getrennte                              Pflichten beschränkt“ (§ 6 SG).
     Stuben zugewiesen bekommen, so ist dies nach Angaben
     der Bundesregierung weder verpflichtend noch immer                                  Es gilt beispielsweise eine strenge Verschwiegenheits-
                                                                                         pflicht. Laut Soldatengesetz hat eine Soldatin oder ein Sol-
                                                                                         dat, selbst nach seinem Ausscheiden aus dem Wehrdienst,
                                                                                         über die ihm bei seiner dienstlichen Tätigkeit bekannt
     43   Vgl. etwa Zeit Online, 20.02.2018; FAZ, 21.03.2018.
                                                                                         gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu wahren
     44   Vgl. CRIN 2019. Siehe auch Abschnitt 2, Abs. 3, der ILO-Empfehlung 190
          betreffend das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der          (§ 14 Abs. 1 SG). Ohne Genehmigung durch den – aktuellen
          schlimmsten Formen der Kinderarbeit.                                           oder letzten – Disziplinarvorgesetzten darf er/sie über sol-
     45   Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium
                                                                                         che Angelegenheiten sogar weder vor Gericht noch außer-
          der Verteidigung, Dr. Peter Tauber, am 8. Februar 2019 auf eine schriftliche
          Frage (1/345) im Deutschen Bundestag; vgl. BT-Drs. 19/7585, 08.02.2019,        gerichtlich aussagen oder Erklärungen abgeben (§ 14 Abs.
          S. 88 f. Siehe auch bereits BT Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 8 f.
     46   „Information für Disziplinarvorgesetzte in Einheiten und Verbänden sowie
          Dienststellenleiter und Dienststellenleiterinnen zum Umgang mit zivilen und
          militärischen Minderjährigen in der Bundeswehr“ vom 22. Mai 2018.
     47   BT Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 26.                                            48   BT-Drs. 18/7459, 02.02.2016, S. 5.

22
S chu t z von M ind e r jähr ig e n während der Dienst zeit

2 SG). Im Hinblick auf die Meinungsäußerungsfreiheit stellt
dies einen erheblichen Eingriff dar, der jeweils einer Ver-
hältnismäßigkeitsprüfung standhalten muss. Anekdo­tische
Evidenzen legen nahe, dass in Einzelfällen die eingeforderte
Verpflichtung zur Verschwiegenheit über­zogen sein kann.
Allerdings gibt es dazu keine empirischen Untersuchungen.

Weiterhin darf sich eine Soldatin und ein Soldat im Dienst
beispielsweise nicht zu Gunsten oder zu Ungunsten einer
bestimmten politischen Richtung betätigen. Das Recht, im
Gespräch mit Kameraden seine eigene Meinung zu äußern,
bleibt zwar unberührt. Innerhalb der dienstlichen Anlagen
findet es aber auch in der Freizeit seine Schranken an den
„Grundregeln der Kameradschaft“ und der gegenseitigen
Achtung, damit die Gemeinsamkeit des Dienstes nicht
ernstlich gestört wird. Insbesondere dürfen eine Soldatin
und ein Soldat nicht „als Werber für eine politische Gruppe
wirken, indem er Ansprachen hält, Schriften verteilt oder
als Vertreter einer politischen Organisation arbeitet“ (vgl.
§ 15 Abs. 1 und 2 SG). Die gesetzlichen Einschränkungen
lassen sich zwar mit Art. 13 Abs. 2 der KRK in Einklang brin-
gen. Doch gilt es zu prüfen, ob in der Praxis die Meinungs-
äußerungs- oder auch die Versammlungsfreiheit unverhält-
nismäßig stark eingeschränkt wird. Der jüngste Bericht des
Wehrbeauftragten geht darauf nicht ein.

Umgekehrt weist der Wehrbeauftragte aber auf – 63 (2016),
167 (2017) und 150 (2018) – gemeldete Vorfälle in der
Kategorie „Verdacht auf Gefährdung des demokratischen
Rechtsstaates, unzulässige politische Betätigung und Volks-
verhetzung“ hin. Vorwiegend handle es sich hierbei um
Propaganda-Delikte wie ausländerfeindliche und antisemiti-
sche Äußerungen, das Hören rechtsextremistischer Musik,
Hakenkreuzschmierereien, das Zeigen des verbotenen
„Deutschen-Grußes“, „Sieg-Heil“-Rufe sowie die Nutzung
gespeicherter Bilder, Texten oder Musik mit extremistischen
       49
Inhalt. Sofern diese Vorkommnisse gemäß dem Grund-
prinzip der Inneren Führung nicht konsequent gemeldet,
geahndet und unterbunden werden, setzt dies gerade
minderjährige Soldatinnen und Soldaten einem erheblichen
Meinungsdruck aus – und beeinträchtigt die Persönlich-
keitsentfaltung im Geiste der in der Charta der Vereinten
Nationen und der Kinderrechtskonvention verkündeten
Ideale. Generell stellt sich die Frage, ob im Rahmen einer
militärischen Ausbildung das Recht auf Bildung im Geiste
von Frieden, Toleranz und Freundschaft zwischen den Völ-
kern stets gewährt werden kann.

                                                                Bundeswehr-Werbeplakat an Bushaltestelle in der Nähe einer Schule
49   BT-Drs. 19/7200, 29.01.2019, S. 56.

                                                                                                                                                    23
Forderung                                                              bei den Gebirgsjägern in Bad Reichenhall, in der Kaserne
                                                                            Todendorf oder in der Kaserne Hain bei Gera, um nur einige
     Minderjährige sind in der Bundeswehr vor                                          54
                                                                            zu nennen. Auch die jährlichen Berichte des Wehrbe-
     unverhältnismäßigen Eingriffen in ihre
                                                                            auftragten weisen auf Probleme bei der Vermittlung der
     Grundrechte sowie vor Propaganda-Delikten
                                                                            Grundsätze der Inneren Führung hin und mahnen an, dass
     durch Kameraden und Vorgesetzte effektiv zu
                                                                            Vorgesetzte entsprechendes Fehlverhalten nicht herunter-
     schützen.                                                                                                                           55
                                                                            spielen oder als vernachlässigbare Einzelfälle abtun sollen.

                                                                            Die Zahl der meldepflichtigen Ereignisse und besonderen
                                                                            Vorkommnisse wegen des Verdachts auf Straftaten gegen
     5.3                                                                    die sexuelle Selbstbestimmung ist stark angestiegen:
     Schutz vor erniedrigenden                                              86 (2015), 131 (2016), 235 (2017), 288 (2018). Darunter
     „Aufnahmeritualen“ und sexuellem                                       fallen gerade auch sexuelle Übergriffe und Belästigungen
     Missbrauch                                                             gegenüber Soldatinnen und Soldaten innerhalb der Bundes-
                                                                            wehr, von verbalen sexuellen Belästigungen über sexuelle
     Von besondere Bedeutung ist – im Sinne des Art. 34 KRK                 Belästigungen durch Berührungen bis hin zu versuchten
     – der Schutz von Minderjährigen vor Misshandlung und                   oder tatsächlichen Nötigungen und Vergewaltigungen.
     Missbrauch. Besonderer Schutzbedarf besteht dabei gerade               Die tatsächliche Zahl sexuell motivierter Übergriffe dürfte
     auch für weibliche Minderjährige. Deren Anzahl stieg seit              noch deutlich höher liegen, da viele Fälle – aus Scham oder
     Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 von 57 im Jahr             aus Sorge vor beruflichen oder persönlichen Nachteilen –
     2011 (Halbjahr) auf: 152 (2012), 153 (2013), 193 (2014), 247           mutmaßlich nicht gemeldet werden. Davon geht auch der
                                                     50                                                                    56
     (2015), 356 (2016), 448 (2017) und 313 (2018).                         Wehrbeauftragte in seinem Bericht 2016 aus. Laut der
                                                                            Studie „Truppenbild ohne Dame?“, die das Zentrum für Mili-
     Das Verteidigungsministerium betont, dass minderjährige                tärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr im
     Soldatinnen und Soldaten im Rahmen der Ausbildung der                  Jahre 2014 herausgab, haben 55 Prozent der Frauen und 12
     besonderen Dienstaufsicht ihrer Vorgesetzten unterliegen.              Prozent der Männer in der Bundeswehr eine Form von sexu-
     Der Schutzbedarf minderjähriger Soldatinnen und Sol-                   eller Belästigung erlebt. Meist waren dies verbale sexuelle
     daten vor sexueller Diskriminierung und vor Übergriffen                Belästigungen oder unerwünschte Berührungen. Doch drei
                                                           51
     werde durch diese Dienstaufsicht wirksam umgesetzt.                    Prozent der Frauen gaben auch an, mindestens ein Mal
     Im Rahmen des Meldewesens Innere und Soziale Lage der                  Opfer einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung in der
     Bundeswehr müssten zudem Verdachtsfälle auf entwürdi-                  Bundeswehr geworden zu sein und auch bei den Männern
                                                                                                 57
     gende Aufnahmerituale oder gewalttätige Übergriffe von                 gab es solche Fälle.
     den jeweiligen Dienststellen gemeldet werden. Allerdings
     werden erst seit 2018 gesondert Daten zur Minderjährigkeit
     der betroffenen Soldaten und Soldatinnen erhoben. Im Zeit-             Forderung
     raum vom 1. Januar bis zum 8. August 2018 wurden keine
                                               52                           Da minderjährige Soldatinnen und Soldaten
     entsprechenden Verdachtsfälle gemeldet. 2017 war jedoch
                                                                            in Armeen – auch in der Bundeswehr – nicht
     mindestens ein minderjähriger Rekrut vom Skandal um
                                                                            wirksam gegen erniedrigende Rituale und
     sexuellen Missbrauch und demütigende Aufnahmerituale
                                                                            sexuellen Missbrauch geschützt werden
     in der Staufer-Kaserne in Pfullendorf (Baden-Württemberg)
                                                                            (können), sollten Minderjährige nicht als
     betroffen.
                                                                            ­Soldatinnen und Soldaten rekrutiert werden.

     Dass es über Pfullendorf hinaus weitere Hinweise für Ver-
     stöße gibt und das Meldesystem innerhalb der Bundeswehr
     insgesamt Defizite aufweist, legte nicht nur ein Bericht des
     Generalinspekteurs Volker Wieker an die Mitglieder des
     Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages
                 53
     (2017) nahe , sondern lassen auch zahlreiche Medienbe-
     richte erkennen. So kam es etwa zu sexuellen Übergriffen

                                                                            54   Vgl. etwa: Spiegel-Online, 21.03.2017; NDR, 04.07.2018;
     50   Staatenbericht an den Kinderrechtsausschuss, Anlage 2, Tab. 79.        Thüringer Allgemeine, 11.07.2018.
     51   BT-Drs. 19/3965 (neu),24.08.2018, S. 6.                           55   Siehe etwa BT-Drs. 19/700, 20.02.2018, S. 11 ff.
     52   BT-Drs. 19/3965 (neu), 24.08.2018, S. 6.                          56   BT-Drs. 18/10900, S. 55.
     53   Vgl. Berliner Zeitung, 30.03.2017.                                57   Vgl. Kümmel 2014, S. 49 ff.

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