Einführung in das deutsche Gesundheitssystem - Historie, Grundstrukturen und Basisdaten
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EBS Universität für Wirtschaft und Recht EBS Business School Health Care Management Institute Einführung in das deutsche Gesundheitssystem Historie, Grundstrukturen und Basisdaten Working Paper Prof. Dr. Ralph Tunder und Jan Ober 28. Februar 2017 Korrespondenz EBS Universität für Wirtschaft und Recht EBS Business School Health Care Management Institute Rheingaustr. 1 65375 Oestrich-Winkel
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................................. II Tabellenverzeichnis ................................................................................................................................. II Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................................... III 1. Einleitung............................................................................................................................................ 1 2. Historie deutsches Gesundheitswesen .............................................................................................. 2 3. GKV im System der sozialen Sicherung ............................................................................................ 12 4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall ........................................................... 14 5. Grundstrukturen des deutschen Gesundheitssystems .................................................................... 17 5.1 Regulierung............................................................................................................................... 17 5.2 Finanzierung ............................................................................................................................. 20 5.3 Leistungserbringung ................................................................................................................. 22 5.4 Regulierung, Finanzierung und Leistungserbringung im Zusammenspiel ................................ 24 6. Basisdaten des deutschen Gesundheitswesens ............................................................................... 26 7. Das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich...................................................... 34 8. Schlussbemerkung ........................................................................................................................... 39 Seite | I
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abbildung 2.1: Entwicklung der Leistungsausgaben der GKV, Anteile der Leistungsarten in Prozent, 1960-2015 ............................................................................................................................. 4 Abbildung 2.2: Entwicklung GKV Einnahme-Ausgabe-Salden in Mrd. €, 1970-2015 .............................. 7 Abbildung 5.1: Übersicht Regulierung des deutschen Gesundheitssystems ........................................ 18 Abbildung 5.2: Entwicklung Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträger in Mio., 1992-2014 ........... 22 Abbildung 5.3: Entwicklung der Anzahl ausgewählter Gesundheitseinrichtungen nach Träger .......... 23 Abbildung 5.4: Grundstruktur des deutschen Gesundheitssystems ..................................................... 24 Abbildung 7.1: Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP, 2015 ............................................................ 36 Abbildung 7.2: Gesundheitsausgaben je Einwohner (Kaufkraftparität), 2015 ..................................... 37 Abbildung 7.3: Gesundheitsausgaben nach Finanzierungsträger, 2013 ............................................... 38 Tabellenverzeichnis Tabelle 2.1: Entwicklung der Arztzahlen in Deutschland, 1955-2015 ..................................................... 3 Tabelle 2.2: Entwicklung Anzahl Krankenkassen, 1960-2015 ................................................................. 5 Tabelle 2.3: Überblick über die wichtigsten Gesundheitsreformen seit 1977 ........................................ 8 Tabelle 3.1: Überblick Versicherungszweige der Sozialversicherung ................................................... 12 Tabelle 5.1: Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträger in Mio., 1992 und 2014 .............................. 20 Tabelle 6.1: Entwicklung ausgewählter Daten des Gesundheitswesens, 1991-2015 .......................... 26 Tabelle 6.2: Entwicklung Gesundheitspersonal nach Einrichtungen in Tsd., 2000-2015...................... 28 Tabelle 6.3: Entwicklung Gesundheitspersonal nach ausgewählten Berufen in Tsd., 2012-2015 ........ 30 Tabelle 6.4: Gesundheitsausgaben nach Einrichtungen in Mio., 1995-2014 ........................................ 31 Tabelle 7.1: Ausgewählte Kennzahlen der Gesundheitsversorgung im internationalen Vergleich, 2014 ............................................................................................................ 35 Seite | II
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ABAG Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz AMNOG Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz BeitrEntlG Beitragsentlastungsgesetz BfArM Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BGBl Bundesgesetzblatt BIP Bruttoinlandsprodukt BMG Bundesministerium für Gesundheit Bpb Bundeszentrale für politische Bildung BPflV Bundespflegesatzverordnung BRD Bundesrepublik Deutschland BSSichG Beitragssatzsicherungsgesetz BVA Bundesversicherungsamt BVerfGE Bundesverfassungsgericht BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung DDR Deutsche Demokratische Republik DIMDI Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information DKG Deutsche Krankenhausgesellschaft FPG Fallpauschalengesetz G-BA Gemeinsamer Bundesausschuss GKAR Gesetz über das Kassenarztrecht GKV Gesetzliche Krankenversicherung GKV-FinG GKV-Finanzierungsgesetz GKV-NOG GKV-Neuordnungsgesetz GKV-SolG GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz GKV-VSG GKV-Versorgungsstärkungsgesetz GKV-VStG GKV-Versorgungsstrukturgesetz GKV-WSG GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz GMG GKV-Modernisierungsgesetz GRG Gesundheitsreformgesetz GSG Gesundheitsstrukturgesetz IQTIG Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen IQWiG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung KZBV Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung KHG Krankenhausfinanzierungsgesetz KHKG Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz KHNG Krankenhaus-Neuordnungsgesetz KV Kassenärztliche Vereinigung KZV Kassenzahnärztliche Vereinigung KVÄG Krankenversicherungsänderungsgesetz KVEG Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz KVKG Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz Seite | III
Abkürzungsverzeichnis LKG Landeskrankenhausgesellschaft OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung PEI Paul-Ehrlich Institut PKV Private Krankenversicherung RKI Robert Koch-Institut Seite | IV
1. Einleitung 1. Einleitung Das deutsche Gesundheitssystem unterliegt in den letzten Jahrzehnten einem starken Veränderungs- druck, der durch vielschichte Einflussfaktoren (Demografische Alterung, medizinischer und medizin- technischer Fortschritt) hervorgerufen wird. Der resultierende Reformdruck führte zu einer Vielzahl an Reformen und Gesetzesänderungen im Gesundheitswesen. Diese Dynamik hat aus dem deutschen Gesundheitssystem ein kompliziertes und verflochtenes Gebilde entstehen lassen. Als Folge stehen die Akteure des Gesundheitswesens vor ständig neuen Herausforderungen. Um einen Überblick zu vermitteln, möchte das vorliegende Working Paper vom Health Care Management Institute der EBS Business School über die wichtigsten Strukturen und Hintergründe des deutschen Gesundheitssystems informieren. Hierzu wird im nächsten Kapitel zunächst die geschichtliche Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems überblicksartig skizziert. Anknüpfend daran wird im 3. Kapitel die gesetzliche Krankenversicherung in das System der sozialen Sicherung eingeordnet und im sich anschließenden 4. Kapitel werden die wichtigsten Grundprinzipien in der Gesundheitsversorgung in Deutschland thematisiert. Das 5. Kapitel widmet sich den Grundstrukturen des Gesundheitssystems. Dazu werden die einzelnen Merkmale Regulierung, Finanzierung und Leistungserbringung erläutert und deren Interdependenzen herausgestellt. Im Anschluss daran werden im 6. Kapitel die Basisdaten des Gesundheitswesens, insbesondere die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen und Gesundheitsausgaben, vorgestellt und in den internationalen Kontext eingeordnet. Eine kurze Schlussbemerkung rundet das Working Paper ab. Seite | 1
2. Historie deutsches Gesundheitswesen 2. Historie deutsches Gesundheitswesen Die Vorläufer der gesetzlichen Krankenversicherung, wie wir sie heute kennen, gehen bis in das Mittelalter zurück. Zwei wesentliche Strukturmerkmale des deutschen Gesundheitswesens, die noch heute in wichtigen Bereichen anzutreffen sind, sind die zunftmäßige Organisation und die Institution der gesetzlichen Krankenversicherung (Simon 2016). Kaufleute und selbständige Handwerker schlossen sich in mittelalterlichen Städten in Gilden und Zünften zusammen, um zum einen ihre politischen Interessen wirkungsvoller vertreten zu können und zum anderen, um die Konkurrenz untereinander einzudämmen und die wirtschaftliche Existenz der Zunftmitglieder zu sichern. Diese Versorgungsgemeinschaften erhielten häufig einen rechtlichen Status, der mit den heutigen Körperschaften des öffentlichen Rechts vergleichbar ist (Simon 2016). Zu den weiteren wichtigen Merkmalen des Zunftwesens, welche auch heute noch prägend für das deutsche Gesundheitswesen sind, zählen die Zwangsmitgliedschaft und das Gegenseitigkeitsprinzip. Ohne eine Mitgliedschaft war eine Ausübung des entsprechenden Handwerks in der jeweiligen Stadt verboten. Des Weiteren waren diese Versorgungsgemeinschaften auch Institutionen der sozialen Sicherung, die sich jedoch zumeist nur auf die gegenseitige Unterstützung der in den Zünften zusammengeschlossenen Kaufleuten oder Handwerksmeistern beschränkte (Simon 2016). Mit der Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes von 1883, Gründungsakt der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, durch Reichskanzler Otto von Bismarck wurde die gesetzliche Krankenversicherung im ganzen Land vor allem für gewerbliche Arbeiter verpflichtend (Simon 2016). Von Bismarck versuchte mit seiner Sozialgesetzgebung die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erstarkte politische Arbeiterbewegung zu unterdrücken und die Not der Arbeiterschaft, die im Zuge der Industrialisierung entstanden ist, durch Sozialreformen abzuschwächen und die Arbeiterschaft dadurch an das Kaiserreich zu binden. Vorrangiges Ziel der Sozialgesetzgebung von Bismarck war es, den inneren Frieden zu sichern und die Monarchie zu erhalten. Dies war die Geburtsstunde des deutschen Sozialversicherungssystems, das oft als Bismarck-System bezeichnet wird. In den Folgejahren wurden weitere Sozialversicherungssysteme geschaffen: Unfallversicherung (1884), Rentenversicherung (1889) und die Arbeitslosenversicherung (1927). Als letzter Zweig der Sozial- versicherung wurde die Pflegeversicherung 1995 eingeführt (Porter & Guth 2012). Die neuere Geschichte des deutschen Gesundheitssystems kann in zwei Perioden unterteilt werden. In der ersten Periode lag der Schwerpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zuge des Wirtschaftswunders auf dem Wiederaufbau und Ausbau des Gesundheitssystems. Diese Periode dauerte bis ca. 1975 an. Es folgte eine zweite Periode der Kostendämpfungspolitik, die bis heute anhält (Simon 2016). Während in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ein staatliches Gesundheitssystem nach sowjetischem Vorbild errichtet wurde, stieß dieses Vorhaben in den Westzonen auf erheblichen Widerstand und schließlich entschied man sich in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) die Tradition des Bismarck`schen Sozialversicherungssystems fortzusetzen. Nach der Wiedervereinigung 1989/90 wurde das Gesundheitssystem der Bundesrepublik nahezu unverändert auf die neuen Bundesländer ausgeweitet. Für weitere Informationen zum Gesundheitssystem der DDR empfiehlt sich das Buch „Das Gesundheitssystem in Deutschland“ von Michael Simon in der aktuellen Ausgabe. Seite | 2
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Im Jahr 1951 wurde zunächst mit dem GKV-Selbstverwaltungsgesetz die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger wieder vollständig hergestellt (BGBl. I, S. 124). Es folgte mit dem Gesetz über das Kassenarztrecht (GKAR – BGBl. I, S. 513) die Wiedereinführung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und die Gründung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), denen eine zentrale Rolle im Gesundheitswesen zugewiesen wurde. Fortan schlossen KVen und Kranken- versicherungen Gruppenverträge ab, die ihnen die Möglichkeit einräumten, die ambulante Versorgung regional selbst zu organisieren. Für alle niedergelassenen Ärzte, die gesetzlich Versicherte behandeln wollten, war eine Mitgliedschaft in der KV verpflichtend. Weiterhin wurde den KVen das alleinige Recht zugesprochen, Zulassungen an niedergelassene Ärzte zu vergeben (Porter & Guth 2012). Nach anfänglichen Nachwuchsproblemen in der Nachkriegszeit nahm das Interesse am Arztberuf gegen Ende der 1950er Jahre wieder zu. Aufgrund der damals bestehenden Beschränkung konnten jedoch nicht alle Ärzte eine Zulassung als Kassenarzt erhalten. Daraufhin hob das Bundes- verfassungsgericht mit dem sogenannten Kassenarzturteil im Jahr 1961 (BVerfGE 11, S. 30 ff.) die Zulassungsbeschränkung auf und bewirkte eine allgemeine Niederlassungsfreiheit. Dieses Urteil legte die Grundlage für den anschließenden Anstieg der Arztzahlen (Tabelle 2.1). Tabelle 2.1: Entwicklung der Arztzahlen in Deutschland, 1955-2015 Stichtag Berufstätige Einwohner je Stichtag Berufstätige Einwohner je (31.12.) Ärzte Arzt (31.12.) Ärzte Arzt 1955 84.755 832 1990 237.750 335 1960 92.028 793 1995 273.880 299 1965 107.692 709 2000 294.676 279 1970 126.695 616 2005 307.577 268 1975 149.817 524 2010 333.599 245 1980 173.346 452 2015 371.302 219 1985 198.845 391 Quelle: Bundesärztekammer Neben diesem Urteil prägte insbesondere eine weitere Reform im Jahr 1955 die Entwicklung der ambulanten ärztlichen Versorgung: Die Einführung der Einzelleistungsvergütung. Bis dahin wurden die niedergelassenen Ärzte nach dem Prinzip der Kopfpauschalen vergütet. Unabhängig von dem tatsächlichen Ressourcenverbrauch erhielten die Ärzte für jeden behandelten Patienten einen Festbetrag. Das neue System bot dem einzelnen Arzt nun einen Anreiz, sein Leistungsangebot auszuweiten (Porter & Guth 2012). Die stationäre Versorgung (Krankenhausversorgung) in den 1950er und 1960er Jahren war geprägt durch Unterfinanzierung, unzureichende Modernisierung und erheblichen Personalmangel (Simon 2016). Dringend erforderliche Modernisierungs- und Baumaßnahmen konnten nicht durchgeführt werden, da es keine gesetzliche Verpflichtung der Länder und Gemeinden zur Finanzierung der Krankenhäuser gab. Zusätzlich wurde der Personalmangel im pflegerischen und ärztlichen Bereich durch unzureichende Selbstkostendeckung verschärft. Eine im Jahr 1966 vom Bundestag in Auftrag gegebene Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauskosten nicht gedeckt wurde und das Krankenhauswesen in Deutschland nicht dem internationalen Standard entsprach (Simon 2016). Als Reaktion auf die Veröffentlichung dieser Studie im Jahr 1969 leitete die Seite | 3
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Bundesregierung 1971 die Reform der Krankenhausfinanzierung ein. Das gleichnamige Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG - BGBl. I, S. 1009) von 1972 und die anschließend erlassene Bundespflegesatzverordnung (BPflV – BGBl. I, S. 333) von 1973 gewährten den Krankenhäusern den Anspruch auf Selbstkostendeckung und führten die staatliche Krankenhausplanung, die duale Finanzierung und die tagesgleichen Pflegesätze ein (Simon 2016). Das Hauptaugenmerk der Sozialpolitik bis Ende der 1950er Jahre lag vorrangig auf der Alterssicherung. Das Rentenniveau lag lediglich bei 40 Prozent des Nettoverdienstes und die Altersarmut war ein vorherrschendes gesellschafts- und sozialpolitisches Problem (Simon 2016). Erst Ende der 1960er rückte die Gesundheitspolitik in den Mittelpunkt und neben den bereits genannten Veränderungen im ambulanten und stationären Bereich war der Ausbau der gesetzlichen Krankenversicherung im Fokus der politischen Bemühungen. Mit dem Zweiten Krankenversicherungsänderungsgesetz (2. KVÄG - BGBl. I, S. 1770) von 1970 wurde die Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze angehoben und die Möglichkeit des freiwilligen Beitritts zur GKV geschaffen. Weiterhin wurde die Finanzierung der Lohnfortzahlung – bis dato größter Ausgabenblock (Abbildung 2.1) – von den Krankenversicherungen auf die Arbeitgeber übertragen und erst nach sechs Wochen verlagerte sich die Finanzierungsverantwortung auf die Krankenkassen. Hauptziel dieser Maßnahmen war es, die Einnahmesituation der GKV zu verbessern, indem der Zugang zur GKV für Besserverdiener geschaffen wurde. In den Folgejahren wurde die Versichertenpflicht auf weitere Bevölkerungsschichten ausgeweitet wie z.B. Landwirte, Angehörige, Behinderte und Studenten (Simon 2016). Zeitgleich wurde der Leistungskatalog der GKV in den Folgejahren ausgeweitet. So wurden z.B. bereits im Jahr 1970 (2. KVÄG) Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten in den Regelleistungskatalog der GKV aufgenommen. Abbildung 2.1: Entwicklung der Leistungsausgaben der GKV, Anteile der Leistungsarten in Prozent, 1960-2015 Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage Simon (2016) und Statistisches Bundesamt (2017a) Die Ausweitung des Zugangs zur GKV zeigte in der Folge ihre Wirkung. Betrugen die Versicherten- zahlen der Gesetzlichen Krankenversicherungen im Jahr 1925 noch lediglich 51 Prozent, lag diese Seite | 4
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Zahl 1960 bereits bei 83 Prozent und erreichte im Jahr 2000 erstmals die 90-Prozent-Schwelle (Porter & Guth 2012). Während die Versichertenzahlen in der GKV über die Jahre stiegen, schrumpfte jedoch die Zahl der Krankenversicherungen infolge einer Marktkonsolidierung. Im Jahr 1960 gab es noch über 2.000 Krankenkassen – mit Bezug auf die Bevölkerungszahlen in Deutschland liegt die durchschnittliche pro Kopf Zahl bei 27.593 Einwohnern je Krankenkasse. Vierzig Jahre später im Jahr 2000 lag die Zahl der Krankenversicherungen nur noch bei 420 mit durchschnittlich 195.857 Einwohnern je Versicherung. Dieser Trend setzt sich bis heute fort (Tabelle 2.2). Tabelle 2.2: Entwicklung Anzahl Krankenkassen, 1960-2015 Bevölkerung in 1.000 Einwohner je Anzahl Krankenkassen (Stichtag 31.12) Krankenkasse 1 1960 2.028 55.958 27.593 1 1970 1.815 61.001 33.609 1 1980 1.319 61.658 46.746 1990 1.147 79.753 69.532 2000 420 82.260 195.857 2010 169 81.752 483.740 2015 123 82.176 668.098 1 Früheres Bundesgebiet (Westdeutschland) Quelle: Statistisches Bundesamt (2013) und GKV-Spitzenverband (2017), eigene Berechnungen Der wachsende Zugang zu Leistungserbringern (allgemeine Niederlassungsfreiheit), die neuen Vergütungsregeln im stationären Bereich, sowie die zunehmende Nachfrage nach Behandlungs- leistungen (Erweiterung des Leistungskataloges und steigende Versichertenzahlen) hatten einen deutlichen Anstieg der deutschen Gesundheitsausgaben zur Folge (Porter & Guth 2012). Die Gesundheitsausgaben der GKV stiegen in den Folgejahren von 12,9 Mrd. Euro (3,7 Prozent des BIP) im Jahr 1970 auf 32,7 Mrd. Euro (5,9 Prozent des BIP) im Jahr 1975. Bis zum Jahr 1980 haben sich die Gesundheitsausgaben bis auf 46,1 Mrd. Euro (5,9 Prozent des BIP) mehr als verdreifacht (bpb 2014 & Statistisches Bundesamt 2009, eigene Berechnung). Dieser rapide Kostenanstieg in den 1970er Jahren, damals als „Kostenexplosion“ bezeichnet, stellte eine Bedrohung für das umlagebasierte GKV-System dar. Zugespitzt wurde die Situation im Jahr 1973 als der drastische Anstieg des Weltmarktpreises für Rohöl eine Wirtschaftskrise auslöste und die Arbeitslosenzahlen in Deutschland binnen weniger Jahre wieder stark anstiegen. Dem historischen Tiefststand der Arbeitslosenquote 1970 mit 0,7 Prozent folgte nach dem Ölpreisanstieg 1973 mit einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent ein Anstieg innerhalb von zwei Jahren auf über 4,7 Prozent im Jahr 1975 (Statistisches Bundesamt 2017b). Als Folge dieser Entwicklungen kam es zu einem grundlegenden Wandel in der Gesundheitspolitik in Deutschland. Nicht mehr der Ausbau des Gesundheitssystems und die Bedarfsdeckung standen im Fokus der Politik, sondern die Entwicklung der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung. Ab Mitte der 1970er Jahre bis heute setzte somit die zweite Periode der Kostendämpfungspolitik ein, die wiederum in zwei Phasen unterteilt werden kann (bpb 2012). Die erste Phase der Kostendämpfungspolitik umfasst dabei den Zeitraum von 1975 bis zur Wiedervereinigung 1990. In diesem Zeitraum ließen die Reformen der Gesundheitspolitik die Seite | 5
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Strukturen der Gesundheitsversorgung weitgehend unberührt. Die erste Phase kann somit als traditionelle Kostendämpfungspolitik bezeichnet werden (bpb 2012). Im Jahr 1977 wurde das erste Gesetz der neuen Kostendämpfungspolitik, das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG – BGBl. I, S. 1069), verabschiedet. Weitere wichtige Gesetze, die in dieser Phase verabschiedet wurden, waren das Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz (KHKG – BGBl. I, S. 1568), das Haushalts- begleitgesetz von 1983 (BGBl. I, S. 1857) und 1984 (BGBl. I, S.1532), das Krankenhaus- Neuordnungsgesetz (KHNG – BGBl. I, S. 1716) von 1984 und das Gesundheitsreformgesetz (GRG – BGBl. I, S. 2477) von 1989, um nur die wichtigsten zu nennen. Das zentrale gesundheitspolitische Ziel war eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik, d.h. die GKV- Ausgaben sollten den Einnahmen angepasst werden. Während die Strukturen des Gesundheitssystems unverändert blieben, wurden im Zuge der genannten Reformen vor allem die Vergütungssysteme reformiert. Mit dem Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) von 1977 führte die Bundesregierung die Anbindung der Kassenärztlichen Vergütungen an die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassenmitglieder (Grundlohnsumme) ein. Seitdem ist zwischen den jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen und den Landesverbänden (wieder) eine Gesamtvergütung für die Honorierung aller ambulanten ärztlichen Leistungen zu vereinbaren. Die Erhöhung des Gesamthonorars (Ausgaben) orientiert sich dabei an der Entwicklung der Grundlohnsumme (Einnahmen). Mit Inkrafttreten des Krankenhaus-Neuordnungsgesetzes (KHNG) reformierte die Bundesregierung im Jahr 1984 die stationäre Krankenhausfinanzierung. Der Grundsatz der retrospektiven Selbstkostenerstattung wurde durch die prospektive Budgetierung abgelöst (Simon 2016). Fortan mussten Budgets und Pflegesätze zwischen den Krankenkassen und Krankenhäusern individuell für das kommende Jahr vereinbart werden, deren nachträgliche Erhöhung ausgeschlossen war. Neben den Pflegesätzen wurde zudem erstmalig die pauschalierte Vergütung eingeführt. Krankenhäuser konnten nun außerhalb des Budgets auf freiwilliger Basis und auf Grundlage der vorauskalkulierten Selbstkosten für 16 in der Bundespflegesatzverordnung (BPflV – BGBl. I, S. 1666) aufgelistete Behandlungen Sonderentgelte vereinbaren, mit denen die Behandlungskosten pauschal vergütet wurden. Das Gesundheitsreformgesetz (GRG) im Jahr 1989 lieferte die wohl bedeutendste strukturelle Veränderung im Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung in der ersten Phase. Mit Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes wurden Leistungen von Schwerpflegebedürftigen in das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Vorausgegangen waren langanhaltende Diskussionen in Deutschland über die unzureichende Absicherung im Falle der Pflegebedürftigkeit, da weder in der gesetzlichen Krankenversicherung noch in der Renten- versicherung Leistungen der Langzeitpflege Bestandteil des Leistungskataloges waren. Pflege- bedürftige und Angehörige mussten die Kosten für die ambulante und stationäre Langzeitpflege bis dahin selbst tragen. Als letztes „Auffangnetz“ der sozialen Sicherung trat die Sozialhilfe ein. Aufgrund steigender Sozialhilfeausgaben für die Hilfe zur Pflege wurden ab 1991 Pflegeleistungen zu Lasten der GKV gewährt, die jedoch nur als Übergangslösung für eine geplante Reform der Pflegeversicherung angedacht war. Nach Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurden diese Leistungen schließlich von der Pflegeversicherung übernommen (Simon 2016). Seite | 6
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Neben den veränderten Vergütungsformen in der ambulanten und stationären Versorgung sollte die Beitragssatzstabilität über die Einführung individueller Zuzahlungen und deren sukzessiver Erhöhung erreicht werden. Die steigenden Behandlungskosten sollten folglich von der gesetzlichen Krankenkasse durch Zuzahlungen auf die Versicherten übertragen werden. Einzelne Leistungen wie z.B. Bagatellarzneimittel für Versicherte über 18 Jahre, die zur Behandlung von leichteren Erkrankungen (Übelkeit, Erkältungen etc.) eingesetzt werden, wurden bereits 1983 von der Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen (bpb 2012). Betrachtet man die Ausgabenentwicklung der GKV im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der ersten Phase der Kostendämpfungspolitik, blieben diese Maßnahmen nicht erfolglos. Nachdem die Gesundheitsausgaben der GKV bis 1980 auf 5,8 Prozent des BIP gestiegen sind, haben sich die GKV-Ausgaben in den Folgejahren bis heute zwischen 6 und 7 Prozent des BIP eingependelt (bpb 2014). Trotzdem änderten die Maßnahmen der ersten Phase, charakterisiert durch die Ziele Beitragssatzstabilität und einnahmeorientierte Ausgabenpolitik, bis in die frühen 1990er wenig an den bisherigen (finanziellen) Anreizen der einzelnen Akteure (bpb 2012). Die Entwicklung der GKV Einnahme-Ausgabe-Salden (Abbildung 2.2) zeigt, dass bis in die 1990er Jahre durch die traditionelle Kostendämpfungspolitik der damaligen Bundesrepublik Deutschland die Salden stabil gehalten werden konnte, diese Politik aber in den frühen 1990er an ihre Grenzen stieß. Der positive Effekt, den das Gesundheitsreformgesetz von 1989 anfangs erzielte, hielt nicht lange an und bereits zwei Jahre später im wiedervereinten Deutschland erwirtschaftete die GKV ein Minus von fast fünf Milliarden Euro. Abbildung 2.2: Entwicklung GKV Einnahme-Ausgabe-Salden in Mrd. €, 1970-2015 Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage Statistisches Bundesamt (2017a/2017c) seit 1991: Daten für Gesamtdeutschland (bis 1990 Daten BRD) Die Grenzen der bisherigen traditionellen Kostendämpfungspolitik veranlasste die Bundesregierung neben der Kostendämpfung den Fokus auf strukturelle Veränderungen zu richten. Die zweite bis heute andauernde Phase der Kostendämpfungspolitik, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre begann, ist durch wettbewerbsorientierte Strukturreformen gekennzeichnet. Zahlreiche neue Seite | 7
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Steuerungsinstrumente mit dem Ziel einer wettbewerblichen Steuerung des Gesundheitswesens wurden geschaffen und eingesetzt. Seitdem unterliegt das Gesundheitswesen einem starken Veränderungsdruck mit zahlreichen Reformen (bpb 2012). Mit Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG – BGBl. I, S. 2266) zum 1. Januar 1993 wurde die zweite Phase der Kostendämpfungspolitik mit einem Fokus auf strukturelle, wettbewerbs- orientierte Reformen des Gesundheitswesens eingeleitet. Ein wichtiges Merkmal dieser zweiten Phase war u.a. die Einführung der freien Kassenwahl, die einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen um Versicherte auslösen sollte. Der Beitragssatz wurde so zum entscheidenden Wettbewerbsparameter. Weiterhin wurde durch die Einführung von Pauschalen oder Individualbudgets das Finanzierungsrisiko von den Leistungsträgern (Krankenkassen) auf die Leistungserbringer (insbesondere Ärzte und Krankenhäuser) verlagert. Die Bundesregierung leitete zudem einen Privatisierungsschub von Behandlungskosten ein, die über die bisherige Praxis der sukzessiven und insgesamt moderaten Anhebung von Zuzahlungen hinausging. Neben einer drastischen Erhöhung von Zuzahlungen wurden weitere Kernelemente der privaten Krankenversicherung in die GKV übernommen wie z.B. die Einführung von Selbstbehalten, Beitrags- rückerstattungen und Kostenerstattung. Gleichzeitig war ein weiteres Ziel der Gesundheitsreformen seit Anfang der 1990er Jahre, Wettbewerbsverhältnisse zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern durch die Möglichkeit von Einzelverträgen zu schaffen. Die Liberalisierung des Vertragsrechts sollte Anreize für die Entwicklung neuer und effizienter Versorgungsformen setzen (bpb 2012). Die wichtigsten Gesundheitsreformen seit 1977 sind abschließend in Tabelle 2.3 aufgelistet. Tabelle 2.3: Überblick über die wichtigsten Gesundheitsreformen seit 1977 Jahr Reform und Eckpunkte 1977 Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) Arzneimittel-Höchstbeträge Leistungsbeschränkungen Bagatell-Medikamente werden nicht mehr bezahlt Zuzahlungen pro Arznei-, Verbands- und Heilmittel, 50 Cent pro Medikament (vorher 1,25 Euro pro Rezept) Obergrenze der Eigenbeteiligung bei Zahnersatz von 250 Euro wird gestrichen 1982 Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz (KVEG) 75 Cent pro Medikament Zwei Euro Zuzahlung bei Verordnung von Brillen und Heilmitteln wie Massagen, Bädern 1983 Haushaltsbegleitgesetz Ein Euro Zuzahlung pro Medikament Ein Krankenhaustag kostet 2,50 Euro - höchstens 35 Euro Krankenversicherung der Rentner nicht mehr beitragsfrei 1989 Gesundheitsreformgesetz (GRG) "Negativliste” für Medikamente Festbeträge, die Differenz zu höheren Preisen muss der Patient tragen. Höhere Rezeptgebühr für Arzneimittel 1,50 Euro Aufschlag bei nicht preisgebundenen Präparaten Klinik-Zuzahlung wird verdoppelt Seite | 8
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Jahr Reform und Eckpunkte Einführung der Zuzahlung im zahnärztlichen Bereich 1993 Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) Ab 1997 freie Kassenwahl für alle Versicherten Einführung der Budgetierung Erhöhte Zuzahlungen für Medikamente Höhere Zuzahlungen bei Zahnersatz und Heilmitteln sowie für die Krankenhausbehandlung Beträge für Medikamente werden nach Packungsgröße gestaffelt 1996 Beitragsentlastungsgesetz (BeitrEntlG) Streichung des Zuschusses zum Zahnersatz für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1978 geboren sind (galt bis 1998). Keine Erstattung bei Brillengestellen Höhere Zuzahlungen für Arzneimittel Leistungskürzungen und Zuzahlungserhöhungen bei Kuren Absenkung des Krankengeldes 1997 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz (GKV-NOG) Höhere Zuzahlungen für Arznei- und Heilmittel (zwischen 4,50 und 6,50 Euro) "Krankenhaus-Notopfer": Je Krankenhaustag 7 Euro - Kuren bis zu 12,50 Euro Kassenzuschuss für Zahnersatz bei vor 1979 Geborenen wird gestrichen Höhere Eigenbeteiligung bei Fahrtkosten 1999 GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz (GKV-SolG) Wiedereinführung der Budgets für Arzthonorare und Krankenhäuser Arznei- und Heilmittelbudgets Anspruch auf Versorgung mit Zahnersatz auch für nach 1978 Geborene Zuzahlungen für Medikamente und Heilmittel werden gesenkt 2000 GKV-Gesundheitsreformgesetz Budgetverschärfung für Arzthonorare, Arzneien und Krankenhäuser Regress bei Überschreitung des Budgets 2001 Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz (ABAG) Abschaffung Budgets für Heil- und Arzneimittel 2002 Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) Kürzung des Sterbegeldes Weitere Verschärfung der Budgets für Arzthonorare und Krankenhäuser Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs Kassenartenübergreifender RSA bis spätestens Ende 2016 um Morbiditätsorientierung erweitern Einrichtung zusätzlicher Risikopool 2003 Fallpauschalengesetz (FPG) Gesetzliche Grundlage für eine stufenweise Einführung der DRGs ab 2003 im Krankenhaus 2004 GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) Zehn Euro Praxisgebühr / Quartal Zehn Prozent Zuzahlung bei Arznei- und Hilfsmitteln (mindestens fünf und höchstens zehn Euro) Zehn Euro pro Krankenhaustag begrenzt auf 28 Tage Nicht verschreibungspflichtige AM, Fahrtkosten und Brillen komplett zulasten des Patienten Streichung von Entbindungs- und Sterbegeld Seite | 9
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Jahr Reform und Eckpunkte Belastungsobergrenze für Zuzahlungen beträgt zwei Prozent (für chronisch Kranke ein Prozent) des jährlichen Bruttoeinkommens 2007 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) Krankenversicherungspflicht für alle (ab 01.01.2009) Rechtsanspruch auf Rehabilitation und häusliche Krankenpflege Verbesserung der Palliativmedizin Krankenhäuser dürfen ambulant behandeln Impfungen und Kuren werden Pflichtleistungen Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimittel Zweitmeinung bei speziellen Arzneimittelverordnungen Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Herstellern von Arzneimitteln Mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen Ein Spitzenverband statt bisher sieben Ermöglichung von kassenartenübergreifenden Fusionen Einführung eines einheitlichen Beitragssatzes ab 1. Januar 2009 in der GKV Gesundheitsfonds 2011 GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) Erhöhung einheitlicher Beitragssatz von 14,9 auf 15,5 Prozent Arbeitgeberbeitrag auf 7,3 Prozent festgeschrieben Neugestaltung Zusatzbeiträge mit Sozialausgleich Vereinfachter Wechsel von der GKV in die PKV Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) Regelungen zur Preissteuerung bei patentgeschützten Medikamenten Vorgaben zur Frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln Bestimmungen zu Erstattungsbeträgen für neue Arzneimittel Präzise Vorgaben zur Veröffentlichung klinischer Studienergebnisse Neuregelung der Großhandelszuschläge 2012 GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) Sicherung einer wohnortnahen ambulanten Versorgung auf dem Land Flexiblere regionale Bedarfsplanung und stärkere Einbeziehung der Krankenhäuser in die ambulante Versorgung 2015 GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) Termingarantie für Facharzttermine binnen vier Wochen; Einrichtung einer Terminservicestelle Verschärfung des Abbaus von Überversorgung Stärkung von Praxisnetzen Fachgruppengleiche medizinische Versorgungszentren und Einrichtung von MVZs durch Kommunen Neuregelung der Rechtsgrundlage für Selektivverträge Einführung des Rechts auf Zweitmeinung Verbesserung des Entlassmanagements bei Kliniken Einführung eines Innovationsfonds zur Förderung von Innovationen in der Gesundheitsversorgung mit einem Volumen von 300 Millionen Euro pro Jahr Verbesserung der Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und Einstieg in die Förderung der ambulanten Weiterbildung bei grundversorgenden Facharztgruppen Neuregelung der Wirtschaftlichkeitsprüfung mit Wegfall der verpflichtenden Richtgrößenprüfung und Regionalisierung der Wirtschaftlichkeitsprüfung Quelle: Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (2017) und AOK Bundesverband (2017) Seite | 10
2. Historie deutsches Gesundheitswesen Literatur AOK Bundesverband (2017). Geschichte der GKV-Reformen. Online verfügbar unter: http://aok- bv.de/hintergrund/reformgeschichte/index.html (10.01.2017). Bundesärztekammer (2017). Ergebnisse der Ärztestatistik. Online verfügbar unter: http://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/ ( 05.01.2017). bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012). Etappen der Gesundheitspolitik 1975 bis 2012. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72874/etappen?p=0 (07.01.2017). bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2014). Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung – Kostenexplosion oder moderater Ausgabenanstieg?. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/179084/ausgabenentwicklung-in-der-gkv (08.01.2017). GKV-Spitzenverband (2017). Entwicklung der Krankenkassenzahl seit 1970. Online verfügbar unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/presse/zahlen_und_grafiken/zahlen_und_grafiken.jsp#lightbox (08.01.2017). Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (2017). Gesundheitsreformen seit 1976. Überblick über 40 Jahre Gesundheitspolitik. Online verfügbar unter: https://www.kvb.de/ueber- uns/gesundheitspolitik/gesundheitsreformen/ (10.01.2017). Porter, M. E. & Guth, C. (2012). Chancen für das deutsche Gesundheitssystem: Von Partikularinteressen zu mehr Patientennutzen. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg. Simon, M. (2016). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 5. unveränderte Auflage, Hogrefe Verlag, Göttingen. Statistisches Bundesamt (2009). Rezessionen in historischer Betrachtung. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/VGR/RezessionBetrachtung.pdf?__blob=publica tionFile (08.01.2017). Statistisches Bundesamt (2013). Datenreport 2013. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/ Datenreport2013.pdf?__blob=publicationFile (08.01.2017). Statistisches Bundesamt (2017a). Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Ad-hoc- Tabelle frei gestaltbar unter: http://www.gbe-bund.de (08.01.2017). Statistisches Bundesamt (2017b). Arbeitsmarkt. Registrierte Arbeitslose, Arbeitsquote nach Gebietsstand. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/ lrarb003.html (08.01.2017). Statistisches Bundesamt (2017c). Einnahmen und Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland. Zeitreihe (1970-1993). Online verfügbar unter: http://www.gbe- bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gast&p_aid=0&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchst ring=4262 (08.01.2017). Seite | 11
3. GKV im System der sozialen Sicherung 3. GKV im System der sozialen Sicherung Aus den Artikeln 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes (GG – BGBl. I, S. 1) der Bundesrepublik Deutschland leitet sich das sogenannte Sozialstaatsprinzip ab. Hier heißt es, dass die Bundesrepublik Deutschland ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG) ist, dessen verfassungsmäßige Ordnung „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“ (Art. 28 Abs. 1 GG) muss. Die konkreten Ziele, Aufgaben und sozialen Rechte des Sozialstaates sind wiederum im Sozialgesetzbuch (SGB) formuliert. Danach ist die Aufgabe des Sozialstaates für soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit zu sorgen und ein menschenwürdiges Dasein zu sichern (§ 1 Abs. 1 SGB V). Die soziale Sicherung für den einzelnen ist wiederum in den einzelnen Zweigen der Sozial- versicherung in Deutschland organisiert. Zu den einzelnen gesetzlichen Sozialversicherungszweigen zählen die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung, die gesetzliche Arbeitslosenversicherung und die gesetzliche Pflege- versicherung. Die GKV ist folglich Teil des umfassenden Systems der sozialen Sicherung. In Tabelle 3.1 sind die einzelnen Versicherungszweige der Sozialversicherung überblicksartig aufgelistet. Tabelle 3.1: Überblick Versicherungszweige der Sozialversicherung Gesetzl. Versicherungszweig Jahr Träger Aufgaben und Leistungen Grundl. Gesetzliche 1883 SGB V Gesetzliche kümmert sich um die Erhaltung, Krankenversicherung Krankenkassen Wiederherstellung oder (u.a. Orts-, Betriebs-, Verbesserung der Gesundheit der Innungs- und Versicherten Ersatzkrankenkassen) übernimmt in der Regel die Leistungen für die medizinisch notwendige Hilfe im Falle einer Krankheit, mit Ausnahme von Arbeitsunfällen zahlt Krankengeld, wenn der Arbeitgeber das Gehalt während einer Arbeitsunfähigkeit nicht weiterbezahlt Gesetzliche 1884 SGB VII Gewerbliche und kümmert sich um die Verhütung Unfallversicherung landwirtschaftliche von Arbeitsunfällen, Berufs- Berufsgenossenschaften krankheiten sowie arbeits- bedingten Gesundheitsgefahren Unfallversicherungs- träger der öffentlichen zielt darauf ab, bei Arbeitsunfällen Hand (Gemeindeunfall- oder Berufskrankheiten die Gesundheit und die Leistungs- versicherungsverbände und Unfallkassen) fähigkeit wiederherzustellen entschädigt die Versicherten oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen Seite | 12
3. GKV im System der sozialen Sicherung Gesetzl. Versicherungszweig Jahr Träger Aufgaben und Leistungen Grundl. Gesetzliche 1889 SGB VI Bundesweite Träger zahlt Altersrenten Rentenversicherung (Deutsche Renten- sichert die Versicherten vor den versicherung Bund, finanziellen Folgen der Deutsche Renten- verminderten Erwerbsfähigkeit versicherung und des Todes des Ehepartners Knappschaft Bahn See) oder der Eltern ab. Regionalträger sorgt mit Rehabilitations- („Deutsche Renten- maßnahmen dafür, die versicherung“ und Erwerbsfähigkeit kranker und Name der Region z.B. behinderter Menschen positiv zu „Bayern Süd“) beeinflussen und, wenn möglich, wiederherzustellen. Gesetzliche 1927 SGB III Bundesagentur für Erbringt u.a. Leistungen zur Arbeitslosen- Arbeit und regionale Integration der Menschen in versicherung Arbeitsagenturen Berufsausbildungen und Arbeitsverhältnisse Sicherstellung des Lebensunterhalts während der Arbeitslosigkeit Gesetzliche 1995 SGB XI Pflegekassen der sichert das finanzielle Risiko der Pflegeversicherung Krankenkassen Pflegebedürftigkeit ab will dem Pflegebedürftigen ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen erbringt, je nach Grad der Pflege- bedürftigkeit, Geld- oder Sachleistungen, mit denen die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung finanziert werden Quelle: Stiftung Jugend und Bildung (2016) Literatur Stiftung Jugend und Bildung (2016). Hintergrund: Sozialversicherung im Überblick. Online verfügbar unter: http://www.sozialpolitik.com/artikel/hintergrund-sozialversicherung-im-ueberblick (11.01.2017). bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012). Die gesetzliche Krankenversicherung im System der sozialen Sicherung. Online Verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72496/gkv- soziale-sicherung?p=all (11.01.2017). Seite | 13
4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall 4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall Das System der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall baut auf einer Reihe von Grundprinzipien auf, die nicht erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, sondern tief in der Geschichte und Kultur Deutschlands verwurzelt sind. Obwohl die nachfolgend genannten Grundprinzipien zumeist nicht oder nur sehr allgemein in der Verfassung oder im Sozialrecht ausformuliert wurden, besitzen diese eine hohe Bedeutung und werden von den grundlegenden Werthaltungen und Überzeugungen in der Gesellschaft getragen (Simon 2016). Viele Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens wurzeln in der Konzeption der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Zuge der Sozialgesetzgebung von Bismarck im Jahr 1983 und den daran anknüpfenden Entwicklungen (bpb 2012a). So handelt es sich bei den nachfolgend aufgeführten Grundprinzipien vor allem um Prinzipien, die für die gesetzliche Krankenversicherung konstitutiv sind. Da jedoch über 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gesetzlich kranken- versichert sind, haben diese Grundprinzipien eine zentrale Bedeutung für das gesamte System der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall (Simon 2016). Die aktuellen Grundprinzipien sind jedoch keine unveränderbaren Größen, sondern im Laufe der Jahrzehnte entstanden und können durch die Bundesregierung jederzeit modifiziert oder sogar abgeschafft werden. Solidarprinzip Das zentrale und wichtigste Prinzip der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall und Basis der GKV ist das Solidarprinzip (auch Solidaritätsprinzip). Solidarität bedeutet vereinfacht formuliert, dass sich Mitglieder einer definierten Solidargemeinschaft gegenseitig Hilfe und Unterstützung gewähren (Simon 2016). Die Beitragshöhe der Versicherten in der Solidar- gemeinschaft richtet sich dabei nach dem persönlichen Einkommen und somit nach der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit (geregelt in § 3 SGB V). Der Leistungsanspruch orientiert sich jedoch an der individuellen Bedürftigkeit und folglich ist der Anspruch auf und Umfang von Gesundheits- leistungen unabhängig von der Beitragshöhe (Simon 2016). Da Leistungen nach dem Bedarf gewährt werden, sich die Finanzierung jedoch an der Leistungs- fähigkeit orientiert, kommt es somit zu Umverteilungseffekten (bpb 2013). In der Solidar- gemeinschaft kann somit zwischen zwei Versichertentypen unterschieden werden. Auf der einen Seite gibt es die Nettoeinzahler/innen, die mehr einzahlen als sie verbrauchen, und auf der anderen Seite gibt es die Nettoempfänger/innen, die mehr Leistungen mit höheren Kosten beanspruchen als sie über ihre Beiträge einzahlen. Nettoeinzahler/innen sind zumeist junge, gesunde Erwerbstätige ohne oder mit wenigen beitragsfreien Mitversicherten. Nettoempfänger/innen sind hingegen zumeist chronisch Kranke, ein Großteil der Rentner/innen und Mitglieder mit geringem Einkommen und vielen Mitversicherten (bpb 2013). Subsidiaritätsprinzip Als weiteres Prinzip der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall ist Deutschland geprägt durch das Subsidiaritätsprinzip. Die vorab beschriebene Solidarität soll und kann dabei die Eigen- verantwortung und Selbsthilfe nicht vollständig ersetzen. Daher wird dem Solidarprinzip das Subsidiaritätsprinzip ergänzend zur Seite gestellt. Dieses Prinzip besagt, dass Lasten, die von Individuen und kleineren Solidargemeinschaften getragen werden können, auch von diesen Seite | 14
4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall übernommen werden. Die größere Solidargemeinschaft tritt folglich erst ein, wenn die kleinere Gemeinschaft überfordert ist (Simon 2016). Das Zusammenspiel von Solidarität und Eigen- verantwortung in der GKV sind in § 1 SGB V gesetzlich festgeschrieben. Für die Inanspruchnahme von Solidargemeinschaften lässt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip eine nach ihrer Leistungsfähigkeit gestufte Pyramide ableiten (Simon 2016). Das betroffene Individuum hat zunächst die Lasten selbst zu tragen, die seiner Leistungsfähigkeit entsprechen und ihm zumutbar sind (1). Lebens-, Ehepartner und die Familie erbringen danach ihre Unterstützungsleistungen (2). Werden auch diese durch die notwendigen Unterstützungsleistungen überfordert, tritt eine größere Solidargemeinschaft wie z.B. die GKV ein (3). Erst als letzte Instanz sollte die Gemeinschaft aller Staatsbürger als größte Solidargemeinschaft in Anspruch genommen werden (4). Das Prinzip der Subsidiarität findet sich in der GKV vor allem im Ausschluss von Bagatellarzneimitteln und Zuzahlungs-, Härtefall- und Überforderungsregelungen wieder. Bedarfsdeckungsprinzip Im Krankheitsfall wird den Versicherten der GKV ein Anspruch auf die medizinisch notwendigen Leistungen gewährt (Simon 2013). Das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) besagt, dass Sach- und Dienstleistungen im Rahmen der Krankenbehandlung „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein müssen und „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ dürfen. Gleichzeitig werden Leistungserbringer und Krankenkassen in § 70 Abs. 1 SGB V verpflichtet, „eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten“. Das Bedarfsdeckungsprinzip wird auch nicht durch den Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) außer Kraft gesetzt, sondern in § 1 Abs. 1 SGB V wird ausdrücklich der Vorrang des Bedarfs- deckungsprinzips herausgestellt. Hier heißt es explizit, dass eine Beitragssatzerhöhung zulässig ist, wenn die notwendige medizinische Versorgung anders nicht zu gewährleisten ist. Sachleistungsprinzip Im gesetzlichen Krankenversicherungssystem werden den Versicherten die Leistungen im Krankheits- fall überwiegend als Sachleistungen gewährt. Um dies zu gewährleisten, schließen Krankenkassen mit Leistungserbringern Verträge ab, in denen sich die Leistungserbringer zur Behandlung von Versicherten und die Krankenkassen zur Zahlung von vereinbarten Vergütungen rechtlich verpflichten. Gegen Vorlage einer Versichertenkarte, den die Versicherten jeweils von ihrer Krankenkasse erhalten, können z.B. von Vertragsärzten, Krankenhäusern und Apotheken Leistungen kostenlos in Anspruch genommen werden. Die erbrachten Leistungen werden den Krankenkassen durch die Leistungserbringer in Rechnung gestellt (Simon 2016). Versicherte der GKV können somit medizinische Leistungen in Anspruch nehmen, ohne selbst in Vorleistung treten zu müssen. Gegenstück des Sachleistungsprinzips ist das Kostenerstattungsprinzip, bei dem der Empfänger der medizinischen Leistung die Rechnung vom Leistungserbringer direkt erhält und bezahlt und diese danach bei seiner Versicherung einreicht (Simon 2016). Das Prinzip der Kostenerstattung kommt überwiegend in der privaten Krankenversicherung zum Einsatz. Nach § 13 SGB V Abs. 2 gibt es jedoch auch in der GKV die Möglichkeit der Kostenerstattung als Wahlleistung, die durch eine Satzungs- änderung der jeweiligen Krankenkasse geschaffen werden kann. Seite | 15
4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall Versicherungspflicht Im Kern ist die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland eine Zwangsversicherung. Für alle Arbeiter und Angestellte, die ein Einkommen unterhalb einer gesetzlich festgelegten Einkommens- grenze (Versicherungspflichtgrenze) haben, gilt eine Versicherungspflicht. Mit Eintritt in ein Beschäftigungsverhältnis müssen diese Personen Pflichtmitglied in einer der gesetzlichen Krankenkassen werden (Simon 2016). Mit Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG – BGBl. I, S. 378) im Jahr 2007 wurde die Versicherungspflicht schrittweise geändert und seit dem Jahr 2009 gilt eine allgemeine Versicherungspflicht für alle Personen mit Wohnsitz in Deutschland. Die gesetzliche Grundlage zur Versicherungspflicht in der GKV bildet § 5 SGB V. Im Jahr 1993 wurde mit Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG – BGBl. I, S. 2266) die Wahlfreiheit zwischen allen Krankenkassen, die mittels Gesetz oder Satzungsbeschluss geöffnet wurden, ab dem Jahr 1997 eingeführt. Die mittels Gesetz oder Satzungsbeschluss geöffneten Krankenkassen sind dazu verpflichtet, alle versicherungspflichtigen Personen der GKV aufzunehmen (Kontrahierungszwang). Selbstverwaltung Der Grundsatz der Selbstverwaltung ist ebenfalls ein tief in die Geschichte verwurzelter Grundsatz der Gesundheitsversorgung in Deutschland und reicht bis in das mittelalterliche Zunft- und Gilden- wesen zurück. Die staatlichen Aktivitäten beschränken sich demnach auf die Rahmensetzung und Rechtsaufsicht. Die direkte Ausführung und Durchführung von Gesetzen im Bereich der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall wurde auf die Organe der sogenannten Selbstverwaltung übertragen (Simon 2016). Zu den einzelnen Akteuren der Selbstverwaltungen im Gesundheitswesen zählen die Landesverbände der Krankenkassen, Kassen(zahn)ärzte sowie die Krankenhausgesellschaften und deren bundesweite Spitzenorganisationen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bildet das höchste und zugleich wichtigste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen (bpb 2012b). Literatur bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012a). Bismarcks Erbe: Besonderheiten und prägende Merkmale des deutschen Gesundheitswesens. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/ gesundheitspolitik/72553/deutsche-besonderheiten?p=3 (12.01.2017). bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012b). Die wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen. Teil 2: Verbände und Körperschaften der gemeinsamen Selbstverwaltung. Online Verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72575/verbaende-und-koerperschaften?p=all (12.01.2017. bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2013). Einer für alle, alle für einen – Das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72358/solidarprinzip?p=all (12.01.2017). Simon, M. (2016). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 5. unveränderte Auflage, Hogrefe Verlag, Göttingen. Seite | 16
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