Einführung in das deutsche Gesundheitssystem - Historie, Grundstrukturen und Basisdaten

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Einführung in das deutsche Gesundheitssystem - Historie, Grundstrukturen und Basisdaten
EBS Universität für Wirtschaft und Recht
                                       EBS Business School
                                Health Care Management Institute

           Einführung in das deutsche Gesundheitssystem
                       Historie, Grundstrukturen und Basisdaten

                                            Working Paper

                                Prof. Dr. Ralph Tunder und Jan Ober

                                           28. Februar 2017

Korrespondenz
EBS Universität für Wirtschaft und Recht
EBS Business School
Health Care Management Institute
Rheingaustr. 1
65375 Oestrich-Winkel
Einführung in das deutsche Gesundheitssystem - Historie, Grundstrukturen und Basisdaten
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................................. II
Tabellenverzeichnis ................................................................................................................................. II
Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................................... III
1. Einleitung............................................................................................................................................ 1
2. Historie deutsches Gesundheitswesen .............................................................................................. 2
3. GKV im System der sozialen Sicherung ............................................................................................ 12
4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall ........................................................... 14
5. Grundstrukturen des deutschen Gesundheitssystems .................................................................... 17
   5.1 Regulierung............................................................................................................................... 17
   5.2 Finanzierung ............................................................................................................................. 20
   5.3 Leistungserbringung ................................................................................................................. 22
   5.4 Regulierung, Finanzierung und Leistungserbringung im Zusammenspiel ................................ 24
6. Basisdaten des deutschen Gesundheitswesens ............................................................................... 26
7. Das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich...................................................... 34
8. Schlussbemerkung ........................................................................................................................... 39

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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2.1: Entwicklung der Leistungsausgaben der GKV, Anteile der Leistungsarten
in Prozent, 1960-2015 ............................................................................................................................. 4
Abbildung 2.2: Entwicklung GKV Einnahme-Ausgabe-Salden in Mrd. €, 1970-2015 .............................. 7
Abbildung 5.1: Übersicht Regulierung des deutschen Gesundheitssystems ........................................ 18
Abbildung 5.2: Entwicklung Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträger in Mio., 1992-2014 ........... 22
Abbildung 5.3: Entwicklung der Anzahl ausgewählter Gesundheitseinrichtungen nach Träger .......... 23
Abbildung 5.4: Grundstruktur des deutschen Gesundheitssystems ..................................................... 24
Abbildung 7.1: Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP, 2015 ............................................................ 36
Abbildung 7.2: Gesundheitsausgaben je Einwohner (Kaufkraftparität), 2015 ..................................... 37
Abbildung 7.3: Gesundheitsausgaben nach Finanzierungsträger, 2013 ............................................... 38

Tabellenverzeichnis

Tabelle 2.1: Entwicklung der Arztzahlen in Deutschland, 1955-2015 ..................................................... 3
Tabelle 2.2: Entwicklung Anzahl Krankenkassen, 1960-2015 ................................................................. 5
Tabelle 2.3: Überblick über die wichtigsten Gesundheitsreformen seit 1977 ........................................ 8
Tabelle 3.1: Überblick Versicherungszweige der Sozialversicherung ................................................... 12
Tabelle 5.1: Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträger in Mio., 1992 und 2014 .............................. 20
Tabelle 6.1: Entwicklung ausgewählter Daten des Gesundheitswesens, 1991-2015 .......................... 26
Tabelle 6.2: Entwicklung Gesundheitspersonal nach Einrichtungen in Tsd., 2000-2015...................... 28
Tabelle 6.3: Entwicklung Gesundheitspersonal nach ausgewählten Berufen in Tsd., 2012-2015 ........ 30
Tabelle 6.4: Gesundheitsausgaben nach Einrichtungen in Mio., 1995-2014 ........................................ 31
Tabelle 7.1: Ausgewählte Kennzahlen der Gesundheitsversorgung im
internationalen Vergleich, 2014 ............................................................................................................ 35

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Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

ABAG                    Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz
AMNOG                   Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz
BeitrEntlG              Beitragsentlastungsgesetz
BfArM                   Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BGBl                    Bundesgesetzblatt
BIP                     Bruttoinlandsprodukt
BMG                     Bundesministerium für Gesundheit
Bpb                     Bundeszentrale für politische Bildung
BPflV                   Bundespflegesatzverordnung
BRD                     Bundesrepublik Deutschland
BSSichG                 Beitragssatzsicherungsgesetz
BVA                     Bundesversicherungsamt
BVerfGE                 Bundesverfassungsgericht
BZgA                    Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
DDR                     Deutsche Demokratische Republik
DIMDI                   Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information
DKG                     Deutsche Krankenhausgesellschaft
FPG                     Fallpauschalengesetz
G-BA                    Gemeinsamer Bundesausschuss
GKAR                    Gesetz über das Kassenarztrecht
GKV                     Gesetzliche Krankenversicherung
GKV-FinG                GKV-Finanzierungsgesetz
GKV-NOG                 GKV-Neuordnungsgesetz
GKV-SolG                GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz
GKV-VSG                 GKV-Versorgungsstärkungsgesetz
GKV-VStG                GKV-Versorgungsstrukturgesetz
GKV-WSG                 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
GMG                     GKV-Modernisierungsgesetz
GRG                     Gesundheitsreformgesetz
GSG                     Gesundheitsstrukturgesetz
IQTIG                   Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen
IQWiG                   Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
KBV                     Kassenärztliche Bundesvereinigung
KZBV                    Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung
KHG                     Krankenhausfinanzierungsgesetz
KHKG                    Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz
KHNG                    Krankenhaus-Neuordnungsgesetz
KV                      Kassenärztliche Vereinigung
KZV                     Kassenzahnärztliche Vereinigung
KVÄG                    Krankenversicherungsänderungsgesetz
KVEG                    Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz
KVKG                    Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz
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Abkürzungsverzeichnis

LKG                     Landeskrankenhausgesellschaft
OECD                    Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
PEI                     Paul-Ehrlich Institut
PKV                     Private Krankenversicherung
RKI                     Robert Koch-Institut

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1. Einleitung

1. Einleitung

Das deutsche Gesundheitssystem unterliegt in den letzten Jahrzehnten einem starken Veränderungs-
druck, der durch vielschichte Einflussfaktoren (Demografische Alterung, medizinischer und medizin-
technischer Fortschritt) hervorgerufen wird. Der resultierende Reformdruck führte zu einer Vielzahl
an Reformen und Gesetzesänderungen im Gesundheitswesen. Diese Dynamik hat aus dem
deutschen Gesundheitssystem ein kompliziertes und verflochtenes Gebilde entstehen lassen. Als
Folge stehen die Akteure des Gesundheitswesens vor ständig neuen Herausforderungen.
Um einen Überblick zu vermitteln, möchte das vorliegende Working Paper vom Health Care
Management Institute der EBS Business School über die wichtigsten Strukturen und Hintergründe
des deutschen Gesundheitssystems informieren. Hierzu wird im nächsten Kapitel zunächst die
geschichtliche Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems überblicksartig skizziert. Anknüpfend
daran wird im 3. Kapitel die gesetzliche Krankenversicherung in das System der sozialen
Sicherung eingeordnet und im sich anschließenden 4. Kapitel werden die wichtigsten
Grundprinzipien in der Gesundheitsversorgung in Deutschland thematisiert. Das 5. Kapitel widmet
sich den Grundstrukturen des Gesundheitssystems. Dazu werden die einzelnen Merkmale
Regulierung, Finanzierung und Leistungserbringung erläutert und deren Interdependenzen
herausgestellt. Im Anschluss daran werden im 6. Kapitel die Basisdaten des Gesundheitswesens,
insbesondere die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen und Gesundheitsausgaben, vorgestellt und in
den internationalen Kontext eingeordnet. Eine kurze Schlussbemerkung rundet das Working Paper
ab.

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Die Vorläufer der gesetzlichen Krankenversicherung, wie wir sie heute kennen, gehen bis in das
Mittelalter zurück. Zwei wesentliche Strukturmerkmale des deutschen Gesundheitswesens, die noch
heute in wichtigen Bereichen anzutreffen sind, sind die zunftmäßige Organisation und die Institution
der gesetzlichen Krankenversicherung (Simon 2016).
Kaufleute und selbständige Handwerker schlossen sich in mittelalterlichen Städten in Gilden und
Zünften zusammen, um zum einen ihre politischen Interessen wirkungsvoller vertreten zu können
und zum anderen, um die Konkurrenz untereinander einzudämmen und die wirtschaftliche Existenz
der Zunftmitglieder zu sichern. Diese Versorgungsgemeinschaften erhielten häufig einen rechtlichen
Status, der mit den heutigen Körperschaften des öffentlichen Rechts vergleichbar ist (Simon 2016).
Zu den weiteren wichtigen Merkmalen des Zunftwesens, welche auch heute noch prägend für das
deutsche Gesundheitswesen sind, zählen die Zwangsmitgliedschaft und das Gegenseitigkeitsprinzip.
Ohne eine Mitgliedschaft war eine Ausübung des entsprechenden Handwerks in der jeweiligen Stadt
verboten. Des Weiteren waren diese Versorgungsgemeinschaften auch Institutionen der sozialen
Sicherung, die sich jedoch zumeist nur auf die gegenseitige Unterstützung der in den Zünften
zusammengeschlossenen Kaufleuten oder Handwerksmeistern beschränkte (Simon 2016).
Mit der Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes von 1883, Gründungsakt der gesetzlichen
Krankenversicherung in Deutschland, durch Reichskanzler Otto von Bismarck wurde die gesetzliche
Krankenversicherung im ganzen Land vor allem für gewerbliche Arbeiter verpflichtend (Simon 2016).
Von Bismarck versuchte mit seiner Sozialgesetzgebung die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erstarkte
politische Arbeiterbewegung zu unterdrücken und die Not der Arbeiterschaft, die im Zuge der
Industrialisierung entstanden ist, durch Sozialreformen abzuschwächen und die Arbeiterschaft
dadurch an das Kaiserreich zu binden. Vorrangiges Ziel der Sozialgesetzgebung von Bismarck war es,
den inneren Frieden zu sichern und die Monarchie zu erhalten. Dies war die Geburtsstunde des
deutschen Sozialversicherungssystems, das oft als Bismarck-System bezeichnet wird. In den
Folgejahren wurden weitere Sozialversicherungssysteme geschaffen: Unfallversicherung (1884),
Rentenversicherung (1889) und die Arbeitslosenversicherung (1927). Als letzter Zweig der Sozial-
versicherung wurde die Pflegeversicherung 1995 eingeführt (Porter & Guth 2012).
Die neuere Geschichte des deutschen Gesundheitssystems kann in zwei Perioden unterteilt werden.
In der ersten Periode lag der Schwerpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zuge des
Wirtschaftswunders auf dem Wiederaufbau und Ausbau des Gesundheitssystems. Diese Periode
dauerte bis ca. 1975 an. Es folgte eine zweite Periode der Kostendämpfungspolitik, die bis heute
anhält (Simon 2016). Während in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ein
staatliches Gesundheitssystem nach sowjetischem Vorbild errichtet wurde, stieß dieses Vorhaben in
den Westzonen auf erheblichen Widerstand und schließlich entschied man sich in der
Bundesrepublik Deutschland (BRD) die Tradition des Bismarck`schen Sozialversicherungssystems
fortzusetzen. Nach der Wiedervereinigung 1989/90 wurde das Gesundheitssystem der
Bundesrepublik nahezu unverändert auf die neuen Bundesländer ausgeweitet. Für weitere
Informationen zum Gesundheitssystem der DDR empfiehlt sich das Buch „Das Gesundheitssystem in
Deutschland“ von Michael Simon in der aktuellen Ausgabe.

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Im Jahr 1951 wurde zunächst mit dem GKV-Selbstverwaltungsgesetz die Selbstverwaltung der
Sozialversicherungsträger wieder vollständig hergestellt (BGBl. I, S. 124). Es folgte mit dem Gesetz
über das Kassenarztrecht (GKAR – BGBl. I, S. 513) die Wiedereinführung der Kassenärztlichen
Vereinigungen (KVen) und die Gründung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), denen eine
zentrale Rolle im Gesundheitswesen zugewiesen wurde. Fortan schlossen KVen und Kranken-
versicherungen Gruppenverträge ab, die ihnen die Möglichkeit einräumten, die ambulante
Versorgung regional selbst zu organisieren. Für alle niedergelassenen Ärzte, die gesetzlich
Versicherte behandeln wollten, war eine Mitgliedschaft in der KV verpflichtend. Weiterhin wurde
den KVen das alleinige Recht zugesprochen, Zulassungen an niedergelassene Ärzte zu vergeben
(Porter & Guth 2012).
Nach anfänglichen Nachwuchsproblemen in der Nachkriegszeit nahm das Interesse am Arztberuf
gegen Ende der 1950er Jahre wieder zu. Aufgrund der damals bestehenden Beschränkung konnten
jedoch nicht alle Ärzte eine Zulassung als Kassenarzt erhalten. Daraufhin hob das Bundes-
verfassungsgericht mit dem sogenannten Kassenarzturteil im Jahr 1961 (BVerfGE 11, S. 30 ff.) die
Zulassungsbeschränkung auf und bewirkte eine allgemeine Niederlassungsfreiheit. Dieses Urteil legte
die Grundlage für den anschließenden Anstieg der Arztzahlen (Tabelle 2.1).

Tabelle 2.1: Entwicklung der Arztzahlen in Deutschland, 1955-2015

    Stichtag       Berufstätige      Einwohner je         Stichtag   Berufstätige    Einwohner je
    (31.12.)          Ärzte              Arzt             (31.12.)      Ärzte            Arzt
      1955           84.755               832              1990        237.750            335
      1960           92.028               793              1995        273.880            299
      1965           107.692              709              2000        294.676            279
      1970           126.695              616              2005        307.577            268
      1975           149.817              524              2010        333.599            245
      1980           173.346              452              2015        371.302            219
      1985           198.845              391
Quelle: Bundesärztekammer

Neben diesem Urteil prägte insbesondere eine weitere Reform im Jahr 1955 die Entwicklung der
ambulanten ärztlichen Versorgung: Die Einführung der Einzelleistungsvergütung. Bis dahin wurden
die niedergelassenen Ärzte nach dem Prinzip der Kopfpauschalen vergütet. Unabhängig von dem
tatsächlichen Ressourcenverbrauch erhielten die Ärzte für jeden behandelten Patienten einen
Festbetrag. Das neue System bot dem einzelnen Arzt nun einen Anreiz, sein Leistungsangebot
auszuweiten (Porter & Guth 2012).
Die stationäre Versorgung (Krankenhausversorgung) in den 1950er und 1960er Jahren war geprägt
durch Unterfinanzierung, unzureichende Modernisierung und erheblichen Personalmangel (Simon
2016). Dringend erforderliche Modernisierungs- und Baumaßnahmen konnten nicht durchgeführt
werden, da es keine gesetzliche Verpflichtung der Länder und Gemeinden zur Finanzierung der
Krankenhäuser gab. Zusätzlich wurde der Personalmangel im pflegerischen und ärztlichen Bereich
durch unzureichende Selbstkostendeckung verschärft. Eine im Jahr 1966 vom Bundestag in Auftrag
gegebene Studie kam zu dem Ergebnis, dass ein erheblicher Teil der Krankenhauskosten nicht
gedeckt wurde und das Krankenhauswesen in Deutschland nicht dem internationalen Standard
entsprach (Simon 2016). Als Reaktion auf die Veröffentlichung dieser Studie im Jahr 1969 leitete die
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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Bundesregierung 1971 die Reform der Krankenhausfinanzierung ein. Das gleichnamige
Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG - BGBl. I, S. 1009) von 1972 und die anschließend erlassene
Bundespflegesatzverordnung (BPflV – BGBl. I, S. 333) von 1973 gewährten den Krankenhäusern den
Anspruch auf Selbstkostendeckung und führten die staatliche Krankenhausplanung, die duale
Finanzierung und die tagesgleichen Pflegesätze ein (Simon 2016).
Das Hauptaugenmerk der Sozialpolitik bis Ende der 1950er Jahre lag vorrangig auf der
Alterssicherung. Das Rentenniveau lag lediglich bei 40 Prozent des Nettoverdienstes und die
Altersarmut war ein vorherrschendes gesellschafts- und sozialpolitisches Problem (Simon 2016). Erst
Ende der 1960er rückte die Gesundheitspolitik in den Mittelpunkt und neben den bereits genannten
Veränderungen im ambulanten und stationären Bereich war der Ausbau der gesetzlichen
Krankenversicherung im Fokus der politischen Bemühungen.
Mit dem Zweiten Krankenversicherungsänderungsgesetz (2. KVÄG - BGBl. I, S. 1770) von 1970 wurde
die Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze angehoben und die Möglichkeit des
freiwilligen Beitritts zur GKV geschaffen. Weiterhin wurde die Finanzierung der Lohnfortzahlung – bis
dato größter Ausgabenblock (Abbildung 2.1) – von den Krankenversicherungen auf die Arbeitgeber
übertragen und erst nach sechs Wochen verlagerte sich die Finanzierungsverantwortung auf die
Krankenkassen. Hauptziel dieser Maßnahmen war es, die Einnahmesituation der GKV zu verbessern,
indem der Zugang zur GKV für Besserverdiener geschaffen wurde. In den Folgejahren wurde die
Versichertenpflicht auf weitere Bevölkerungsschichten ausgeweitet wie z.B. Landwirte, Angehörige,
Behinderte und Studenten (Simon 2016). Zeitgleich wurde der Leistungskatalog der GKV in den
Folgejahren ausgeweitet. So wurden z.B. bereits im Jahr 1970 (2. KVÄG) Maßnahmen zur
Früherkennung von Krankheiten in den Regelleistungskatalog der GKV aufgenommen.

Abbildung 2.1: Entwicklung der Leistungsausgaben der GKV, Anteile der Leistungsarten in Prozent, 1960-2015

Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage Simon (2016) und Statistisches Bundesamt (2017a)

Die Ausweitung des Zugangs zur GKV zeigte in der Folge ihre Wirkung. Betrugen die Versicherten-
zahlen der Gesetzlichen Krankenversicherungen im Jahr 1925 noch lediglich 51 Prozent, lag diese

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Zahl 1960 bereits bei 83 Prozent und erreichte im Jahr 2000 erstmals die 90-Prozent-Schwelle (Porter
& Guth 2012). Während die Versichertenzahlen in der GKV über die Jahre stiegen, schrumpfte jedoch
die Zahl der Krankenversicherungen infolge einer Marktkonsolidierung. Im Jahr 1960 gab es noch
über 2.000 Krankenkassen – mit Bezug auf die Bevölkerungszahlen in Deutschland liegt die
durchschnittliche pro Kopf Zahl bei 27.593 Einwohnern je Krankenkasse. Vierzig Jahre später im Jahr
2000 lag die Zahl der Krankenversicherungen nur noch bei 420 mit durchschnittlich 195.857
Einwohnern je Versicherung. Dieser Trend setzt sich bis heute fort (Tabelle 2.2).

Tabelle 2.2: Entwicklung Anzahl Krankenkassen, 1960-2015

                                                       Bevölkerung in 1.000          Einwohner je
                             Anzahl Krankenkassen
                                                         (Stichtag 31.12)            Krankenkasse
                                                                    1
    1960                             2.028                   55.958                     27.593
                                                                    1
    1970                             1.815                   61.001                     33.609
                                                                    1
    1980                             1.319                   61.658                     46.746
    1990                             1.147                    79.753                    69.532
    2000                              420                     82.260                    195.857
    2010                              169                     81.752                    483.740
    2015                              123                     82.176                    668.098
1
    Früheres Bundesgebiet (Westdeutschland)

Quelle: Statistisches Bundesamt (2013) und GKV-Spitzenverband (2017), eigene Berechnungen

Der wachsende Zugang zu Leistungserbringern (allgemeine Niederlassungsfreiheit), die neuen
Vergütungsregeln im stationären Bereich, sowie die zunehmende Nachfrage nach Behandlungs-
leistungen (Erweiterung des Leistungskataloges und steigende Versichertenzahlen) hatten einen
deutlichen Anstieg der deutschen Gesundheitsausgaben zur Folge (Porter & Guth 2012). Die
Gesundheitsausgaben der GKV stiegen in den Folgejahren von 12,9 Mrd. Euro (3,7 Prozent des BIP)
im Jahr 1970 auf 32,7 Mrd. Euro (5,9 Prozent des BIP) im Jahr 1975. Bis zum Jahr 1980 haben sich die
Gesundheitsausgaben bis auf 46,1 Mrd. Euro (5,9 Prozent des BIP) mehr als verdreifacht (bpb 2014 &
Statistisches Bundesamt 2009, eigene Berechnung). Dieser rapide Kostenanstieg in den 1970er
Jahren, damals als „Kostenexplosion“ bezeichnet, stellte eine Bedrohung für das umlagebasierte
GKV-System dar.
Zugespitzt wurde die Situation im Jahr 1973 als der drastische Anstieg des Weltmarktpreises für
Rohöl eine Wirtschaftskrise auslöste und die Arbeitslosenzahlen in Deutschland binnen weniger Jahre
wieder stark anstiegen. Dem historischen Tiefststand der Arbeitslosenquote 1970 mit 0,7 Prozent
folgte nach dem Ölpreisanstieg 1973 mit einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent ein Anstieg
innerhalb von zwei Jahren auf über 4,7 Prozent im Jahr 1975 (Statistisches Bundesamt 2017b). Als
Folge dieser Entwicklungen kam es zu einem grundlegenden Wandel in der Gesundheitspolitik in
Deutschland. Nicht mehr der Ausbau des Gesundheitssystems und die Bedarfsdeckung standen im
Fokus der Politik, sondern die Entwicklung der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung. Ab
Mitte der 1970er Jahre bis heute setzte somit die zweite Periode der Kostendämpfungspolitik ein, die
wiederum in zwei Phasen unterteilt werden kann (bpb 2012).
Die erste Phase der Kostendämpfungspolitik umfasst dabei den Zeitraum von 1975 bis zur
Wiedervereinigung 1990. In diesem Zeitraum ließen die Reformen der Gesundheitspolitik die

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Strukturen der Gesundheitsversorgung weitgehend unberührt. Die erste Phase kann somit als
traditionelle Kostendämpfungspolitik bezeichnet werden (bpb 2012). Im Jahr 1977 wurde das erste
Gesetz der neuen Kostendämpfungspolitik, das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz
(KVKG – BGBl. I, S. 1069), verabschiedet. Weitere wichtige Gesetze, die in dieser Phase verabschiedet
wurden, waren das Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz (KHKG – BGBl. I, S. 1568), das Haushalts-
begleitgesetz von 1983 (BGBl. I, S. 1857) und 1984 (BGBl. I, S.1532), das Krankenhaus-
Neuordnungsgesetz (KHNG – BGBl. I, S. 1716) von 1984 und das Gesundheitsreformgesetz (GRG –
BGBl. I, S. 2477) von 1989, um nur die wichtigsten zu nennen.
Das zentrale gesundheitspolitische Ziel war eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik, d.h. die GKV-
Ausgaben sollten den Einnahmen angepasst werden. Während die Strukturen des
Gesundheitssystems unverändert blieben, wurden im Zuge der genannten Reformen vor allem die
Vergütungssysteme reformiert. Mit dem Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) von
1977 führte die Bundesregierung die Anbindung der Kassenärztlichen Vergütungen an die
Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Krankenkassenmitglieder (Grundlohnsumme) ein.
Seitdem ist zwischen den jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen und den Landesverbänden
(wieder) eine Gesamtvergütung für die Honorierung aller ambulanten ärztlichen Leistungen zu
vereinbaren. Die Erhöhung des Gesamthonorars (Ausgaben) orientiert sich dabei an der Entwicklung
der Grundlohnsumme (Einnahmen).
Mit Inkrafttreten des Krankenhaus-Neuordnungsgesetzes (KHNG) reformierte die Bundesregierung
im Jahr 1984 die stationäre Krankenhausfinanzierung. Der Grundsatz der retrospektiven
Selbstkostenerstattung wurde durch die prospektive Budgetierung abgelöst (Simon 2016). Fortan
mussten Budgets und Pflegesätze zwischen den Krankenkassen und Krankenhäusern individuell für
das kommende Jahr vereinbart werden, deren nachträgliche Erhöhung ausgeschlossen war. Neben
den Pflegesätzen wurde zudem erstmalig die pauschalierte Vergütung eingeführt. Krankenhäuser
konnten nun außerhalb des Budgets auf freiwilliger Basis und auf Grundlage der vorauskalkulierten
Selbstkosten für 16 in der Bundespflegesatzverordnung (BPflV – BGBl. I, S. 1666) aufgelistete
Behandlungen Sonderentgelte vereinbaren, mit denen die Behandlungskosten pauschal vergütet
wurden.
Das Gesundheitsreformgesetz (GRG) im Jahr 1989 lieferte die wohl bedeutendste strukturelle
Veränderung im Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung in der ersten Phase. Mit
Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes wurden Leistungen von Schwerpflegebedürftigen in
das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Vorausgegangen waren
langanhaltende Diskussionen in Deutschland über die unzureichende Absicherung im Falle der
Pflegebedürftigkeit, da weder in der gesetzlichen Krankenversicherung noch in der Renten-
versicherung Leistungen der Langzeitpflege Bestandteil des Leistungskataloges waren. Pflege-
bedürftige und Angehörige mussten die Kosten für die ambulante und stationäre Langzeitpflege bis
dahin selbst tragen. Als letztes „Auffangnetz“ der sozialen Sicherung trat die Sozialhilfe ein. Aufgrund
steigender Sozialhilfeausgaben für die Hilfe zur Pflege wurden ab 1991 Pflegeleistungen zu Lasten der
GKV gewährt, die jedoch nur als Übergangslösung für eine geplante Reform der Pflegeversicherung
angedacht war. Nach Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahr 1995 wurden diese
Leistungen schließlich von der Pflegeversicherung übernommen (Simon 2016).

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Neben den veränderten Vergütungsformen in der ambulanten und stationären Versorgung sollte die
Beitragssatzstabilität über die Einführung individueller Zuzahlungen und deren sukzessiver Erhöhung
erreicht werden. Die steigenden Behandlungskosten sollten folglich von der gesetzlichen
Krankenkasse durch Zuzahlungen auf die Versicherten übertragen werden. Einzelne Leistungen wie
z.B. Bagatellarzneimittel für Versicherte über 18 Jahre, die zur Behandlung von leichteren
Erkrankungen (Übelkeit, Erkältungen etc.) eingesetzt werden, wurden bereits 1983 von der
Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen (bpb 2012).
Betrachtet man die Ausgabenentwicklung der GKV im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in
der ersten Phase der Kostendämpfungspolitik, blieben diese Maßnahmen nicht erfolglos. Nachdem
die Gesundheitsausgaben der GKV bis 1980 auf 5,8 Prozent des BIP gestiegen sind, haben sich die
GKV-Ausgaben in den Folgejahren bis heute zwischen 6 und 7 Prozent des BIP eingependelt (bpb
2014). Trotzdem änderten die Maßnahmen der ersten Phase, charakterisiert durch die Ziele
Beitragssatzstabilität und einnahmeorientierte Ausgabenpolitik, bis in die frühen 1990er wenig an
den bisherigen (finanziellen) Anreizen der einzelnen Akteure (bpb 2012). Die Entwicklung der GKV
Einnahme-Ausgabe-Salden (Abbildung 2.2) zeigt, dass bis in die 1990er Jahre durch die traditionelle
Kostendämpfungspolitik der damaligen Bundesrepublik Deutschland die Salden stabil gehalten
werden konnte, diese Politik aber in den frühen 1990er an ihre Grenzen stieß. Der positive Effekt,
den das Gesundheitsreformgesetz von 1989 anfangs erzielte, hielt nicht lange an und bereits zwei
Jahre später im wiedervereinten Deutschland erwirtschaftete die GKV ein Minus von fast fünf
Milliarden Euro.

Abbildung 2.2: Entwicklung GKV Einnahme-Ausgabe-Salden in Mrd. €, 1970-2015

Quelle: Eigene Darstellung, Datengrundlage Statistisches Bundesamt (2017a/2017c)
seit 1991: Daten für Gesamtdeutschland (bis 1990 Daten BRD)

Die Grenzen der bisherigen traditionellen Kostendämpfungspolitik veranlasste die Bundesregierung
neben der Kostendämpfung den Fokus auf strukturelle Veränderungen zu richten. Die zweite bis
heute andauernde Phase der Kostendämpfungspolitik, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre
begann, ist durch wettbewerbsorientierte Strukturreformen gekennzeichnet. Zahlreiche neue

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Steuerungsinstrumente mit dem Ziel einer wettbewerblichen Steuerung des Gesundheitswesens
wurden geschaffen und eingesetzt. Seitdem unterliegt das Gesundheitswesen einem starken
Veränderungsdruck mit zahlreichen Reformen (bpb 2012).
Mit Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG – BGBl. I, S. 2266) zum 1. Januar 1993 wurde
die zweite Phase der Kostendämpfungspolitik mit einem Fokus auf strukturelle, wettbewerbs-
orientierte Reformen des Gesundheitswesens eingeleitet. Ein wichtiges Merkmal dieser zweiten
Phase war u.a. die Einführung der freien Kassenwahl, die einen Wettbewerb zwischen den
Krankenkassen um Versicherte auslösen sollte. Der Beitragssatz wurde so zum entscheidenden
Wettbewerbsparameter. Weiterhin wurde durch die Einführung von Pauschalen oder
Individualbudgets das Finanzierungsrisiko von den Leistungsträgern (Krankenkassen) auf die
Leistungserbringer (insbesondere Ärzte und Krankenhäuser) verlagert. Die Bundesregierung leitete
zudem einen Privatisierungsschub von Behandlungskosten ein, die über die bisherige Praxis der
sukzessiven und insgesamt moderaten Anhebung von Zuzahlungen hinausging.
Neben einer drastischen Erhöhung von Zuzahlungen wurden weitere Kernelemente der privaten
Krankenversicherung in die GKV übernommen wie z.B. die Einführung von Selbstbehalten, Beitrags-
rückerstattungen und Kostenerstattung. Gleichzeitig war ein weiteres Ziel der Gesundheitsreformen
seit Anfang der 1990er Jahre, Wettbewerbsverhältnisse zwischen Leistungsträgern und
Leistungserbringern durch die Möglichkeit von Einzelverträgen zu schaffen. Die Liberalisierung des
Vertragsrechts sollte Anreize für die Entwicklung neuer und effizienter Versorgungsformen setzen
(bpb 2012). Die wichtigsten Gesundheitsreformen seit 1977 sind abschließend in Tabelle 2.3
aufgelistet.

Tabelle 2.3: Überblick über die wichtigsten Gesundheitsreformen seit 1977

 Jahr                                         Reform und Eckpunkte

 1977    Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG)
           Arzneimittel-Höchstbeträge
           Leistungsbeschränkungen
           Bagatell-Medikamente werden nicht mehr bezahlt
           Zuzahlungen pro Arznei-, Verbands- und Heilmittel, 50 Cent pro Medikament (vorher 1,25 Euro
             pro Rezept)
           Obergrenze der Eigenbeteiligung bei Zahnersatz von 250 Euro wird gestrichen

 1982    Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz (KVEG)
           75 Cent pro Medikament
           Zwei Euro Zuzahlung bei Verordnung von Brillen und Heilmitteln wie Massagen, Bädern

 1983    Haushaltsbegleitgesetz
           Ein Euro Zuzahlung pro Medikament
           Ein Krankenhaustag kostet 2,50 Euro - höchstens 35 Euro
           Krankenversicherung der Rentner nicht mehr beitragsfrei

 1989    Gesundheitsreformgesetz (GRG)
           "Negativliste” für Medikamente
           Festbeträge, die Differenz zu höheren Preisen muss der Patient tragen.
           Höhere Rezeptgebühr für Arzneimittel
           1,50 Euro Aufschlag bei nicht preisgebundenen Präparaten
           Klinik-Zuzahlung wird verdoppelt
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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

 Jahr                                        Reform und Eckpunkte
           Einführung der Zuzahlung im zahnärztlichen Bereich

 1993   Gesundheitsstrukturgesetz (GSG)
          Ab 1997 freie Kassenwahl für alle Versicherten
          Einführung der Budgetierung
          Erhöhte Zuzahlungen für Medikamente
          Höhere Zuzahlungen bei Zahnersatz und Heilmitteln sowie für die Krankenhausbehandlung
          Beträge für Medikamente werden nach Packungsgröße gestaffelt

 1996   Beitragsentlastungsgesetz (BeitrEntlG)
          Streichung des Zuschusses zum Zahnersatz für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1978
            geboren sind (galt bis 1998).
          Keine Erstattung bei Brillengestellen
          Höhere Zuzahlungen für Arzneimittel
          Leistungskürzungen und Zuzahlungserhöhungen bei Kuren
          Absenkung des Krankengeldes

 1997   1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz (GKV-NOG)
          Höhere Zuzahlungen für Arznei- und Heilmittel (zwischen 4,50 und 6,50 Euro)
          "Krankenhaus-Notopfer": Je Krankenhaustag 7 Euro - Kuren bis zu 12,50 Euro
          Kassenzuschuss für Zahnersatz bei vor 1979 Geborenen wird gestrichen
          Höhere Eigenbeteiligung bei Fahrtkosten

 1999   GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz (GKV-SolG)
          Wiedereinführung der Budgets für Arzthonorare und Krankenhäuser
          Arznei- und Heilmittelbudgets
          Anspruch auf Versorgung mit Zahnersatz auch für nach 1978 Geborene
          Zuzahlungen für Medikamente und Heilmittel werden gesenkt

 2000   GKV-Gesundheitsreformgesetz
          Budgetverschärfung für Arzthonorare, Arzneien und Krankenhäuser
          Regress bei Überschreitung des Budgets

 2001   Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz (ABAG)
          Abschaffung Budgets für Heil- und Arzneimittel

 2002   Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG)
          Kürzung des Sterbegeldes
          Weitere Verschärfung der Budgets für Arzthonorare und Krankenhäuser
        Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs
          Kassenartenübergreifender RSA bis spätestens Ende 2016 um Morbiditätsorientierung erweitern
          Einrichtung zusätzlicher Risikopool

 2003   Fallpauschalengesetz (FPG)
          Gesetzliche Grundlage für eine stufenweise Einführung der DRGs ab 2003 im Krankenhaus

 2004   GKV-Modernisierungsgesetz (GMG)
          Zehn Euro Praxisgebühr / Quartal
          Zehn Prozent Zuzahlung bei Arznei- und Hilfsmitteln (mindestens fünf und höchstens zehn Euro)
          Zehn Euro pro Krankenhaustag begrenzt auf 28 Tage
          Nicht verschreibungspflichtige AM, Fahrtkosten und Brillen komplett zulasten des Patienten
          Streichung von Entbindungs- und Sterbegeld

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

 Jahr                                         Reform und Eckpunkte
           Belastungsobergrenze für Zuzahlungen beträgt zwei Prozent (für chronisch Kranke ein Prozent)
            des jährlichen Bruttoeinkommens

 2007   GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)
          Krankenversicherungspflicht für alle (ab 01.01.2009)
          Rechtsanspruch auf Rehabilitation und häusliche Krankenpflege
          Verbesserung der Palliativmedizin
          Krankenhäuser dürfen ambulant behandeln
          Impfungen und Kuren werden Pflichtleistungen
          Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimittel
          Zweitmeinung bei speziellen Arzneimittelverordnungen
          Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Herstellern von Arzneimitteln
          Mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen
          Ein Spitzenverband statt bisher sieben
          Ermöglichung von kassenartenübergreifenden Fusionen
          Einführung eines einheitlichen Beitragssatzes ab 1. Januar 2009 in der GKV
          Gesundheitsfonds

 2011   GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG)
          Erhöhung einheitlicher Beitragssatz von 14,9 auf 15,5 Prozent
          Arbeitgeberbeitrag auf 7,3 Prozent festgeschrieben
          Neugestaltung Zusatzbeiträge mit Sozialausgleich
          Vereinfachter Wechsel von der GKV in die PKV
        Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG)
          Regelungen zur Preissteuerung bei patentgeschützten Medikamenten
          Vorgaben zur Frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln
          Bestimmungen zu Erstattungsbeträgen für neue Arzneimittel
          Präzise Vorgaben zur Veröffentlichung klinischer Studienergebnisse
          Neuregelung der Großhandelszuschläge

 2012   GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG)
          Sicherung einer wohnortnahen ambulanten Versorgung auf dem Land
          Flexiblere regionale Bedarfsplanung und stärkere Einbeziehung der Krankenhäuser in die
           ambulante Versorgung

 2015   GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG)
          Termingarantie für Facharzttermine binnen vier Wochen; Einrichtung einer Terminservicestelle
          Verschärfung des Abbaus von Überversorgung
          Stärkung von Praxisnetzen
          Fachgruppengleiche medizinische Versorgungszentren und Einrichtung von MVZs durch
           Kommunen
          Neuregelung der Rechtsgrundlage für Selektivverträge
          Einführung des Rechts auf Zweitmeinung
          Verbesserung des Entlassmanagements bei Kliniken
          Einführung eines Innovationsfonds zur Förderung von Innovationen in der
           Gesundheitsversorgung mit einem Volumen von 300 Millionen Euro pro Jahr
          Verbesserung der Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und Einstieg in die
           Förderung der ambulanten Weiterbildung bei grundversorgenden Facharztgruppen
          Neuregelung der Wirtschaftlichkeitsprüfung mit Wegfall der verpflichtenden
           Richtgrößenprüfung und Regionalisierung der Wirtschaftlichkeitsprüfung

Quelle: Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (2017) und AOK Bundesverband (2017)

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2. Historie deutsches Gesundheitswesen

Literatur

AOK Bundesverband (2017). Geschichte der GKV-Reformen. Online verfügbar unter: http://aok-
bv.de/hintergrund/reformgeschichte/index.html (10.01.2017).

Bundesärztekammer (2017). Ergebnisse der Ärztestatistik. Online verfügbar unter:
http://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/ ( 05.01.2017).

bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012). Etappen der Gesundheitspolitik 1975 bis 2012. Online
verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72874/etappen?p=0 (07.01.2017).

bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2014). Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen
Krankenversicherung – Kostenexplosion oder moderater Ausgabenanstieg?. Online verfügbar unter:
http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/179084/ausgabenentwicklung-in-der-gkv
(08.01.2017).

GKV-Spitzenverband (2017). Entwicklung der Krankenkassenzahl seit 1970. Online verfügbar unter:
https://www.gkv-spitzenverband.de/presse/zahlen_und_grafiken/zahlen_und_grafiken.jsp#lightbox
(08.01.2017).

Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (2017). Gesundheitsreformen seit 1976. Überblick über 40 Jahre
Gesundheitspolitik. Online verfügbar unter: https://www.kvb.de/ueber-
uns/gesundheitspolitik/gesundheitsreformen/ (10.01.2017).

Porter, M. E. & Guth, C. (2012). Chancen für das deutsche Gesundheitssystem: Von Partikularinteressen zu
mehr Patientennutzen. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg.

Simon, M. (2016). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 5.
unveränderte Auflage, Hogrefe Verlag, Göttingen.

Statistisches Bundesamt (2009). Rezessionen in historischer Betrachtung. Online verfügbar unter:
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/VGR/RezessionBetrachtung.pdf?__blob=publica
tionFile (08.01.2017).

Statistisches Bundesamt (2013). Datenreport 2013. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland.
Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/
Datenreport2013.pdf?__blob=publicationFile (08.01.2017).

Statistisches Bundesamt (2017a). Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Ad-hoc-
Tabelle frei gestaltbar unter: http://www.gbe-bund.de (08.01.2017).

Statistisches Bundesamt (2017b). Arbeitsmarkt. Registrierte Arbeitslose, Arbeitsquote nach Gebietsstand.
Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/
lrarb003.html (08.01.2017).

Statistisches Bundesamt (2017c). Einnahmen und Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in
Deutschland. Zeitreihe (1970-1993). Online verfügbar unter: http://www.gbe-
bund.de/gbe10/abrechnung.prc_abr_test_logon?p_uid=gast&p_aid=0&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_suchst
ring=4262 (08.01.2017).

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3. GKV im System der sozialen Sicherung

3. GKV im System der sozialen Sicherung

Aus den Artikeln 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes (GG – BGBl. I, S.
1) der Bundesrepublik Deutschland leitet sich das sogenannte Sozialstaatsprinzip ab. Hier heißt es,
dass die Bundesrepublik Deutschland ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1
GG) ist, dessen verfassungsmäßige Ordnung „den Grundsätzen des republikanischen,
demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“ (Art. 28
Abs. 1 GG) muss. Die konkreten Ziele, Aufgaben und sozialen Rechte des Sozialstaates sind wiederum
im Sozialgesetzbuch (SGB) formuliert. Danach ist die Aufgabe des Sozialstaates für soziale
Gerechtigkeit und soziale Sicherheit zu sorgen und ein menschenwürdiges Dasein zu sichern (§ 1 Abs.
1 SGB V).
Die soziale Sicherung für den einzelnen ist wiederum in den einzelnen Zweigen der Sozial-
versicherung in Deutschland organisiert. Zu den einzelnen gesetzlichen Sozialversicherungszweigen
zählen die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Unfallversicherung, die gesetzliche
Rentenversicherung, die gesetzliche Arbeitslosenversicherung und die gesetzliche Pflege-
versicherung. Die GKV ist folglich Teil des umfassenden Systems der sozialen Sicherung. In Tabelle 3.1
sind die einzelnen Versicherungszweige der Sozialversicherung überblicksartig aufgelistet.

Tabelle 3.1: Überblick Versicherungszweige der Sozialversicherung

                                 Gesetzl.
  Versicherungszweig     Jahr                        Träger                Aufgaben und Leistungen
                                 Grundl.

 Gesetzliche            1883     SGB V      Gesetzliche                kümmert sich um die Erhaltung,
 Krankenversicherung                        Krankenkassen               Wiederherstellung oder
                                            (u.a. Orts-, Betriebs-,     Verbesserung der Gesundheit der
                                            Innungs- und                Versicherten
                                            Ersatzkrankenkassen)       übernimmt in der Regel die
                                                                        Leistungen für die medizinisch
                                                                        notwendige Hilfe im Falle einer
                                                                        Krankheit, mit Ausnahme von
                                                                        Arbeitsunfällen
                                                                       zahlt Krankengeld, wenn der
                                                                        Arbeitgeber das Gehalt während
                                                                        einer Arbeitsunfähigkeit nicht
                                                                        weiterbezahlt

 Gesetzliche            1884     SGB VII    Gewerbliche und            kümmert sich um die Verhütung
 Unfallversicherung                         landwirtschaftliche         von Arbeitsunfällen, Berufs-
                                            Berufsgenossenschaften      krankheiten sowie arbeits-
                                                                        bedingten Gesundheitsgefahren
                                            Unfallversicherungs-
                                            träger der öffentlichen    zielt darauf ab, bei Arbeitsunfällen
                                            Hand (Gemeindeunfall-       oder Berufskrankheiten die
                                                                        Gesundheit und die Leistungs-
                                            versicherungsverbände
                                            und Unfallkassen)           fähigkeit wiederherzustellen
                                                                       entschädigt die Versicherten oder
                                                                        ihre Hinterbliebenen durch
                                                                        Geldleistungen

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3. GKV im System der sozialen Sicherung

                                 Gesetzl.
  Versicherungszweig      Jahr                       Träger                  Aufgaben und Leistungen
                                 Grundl.

 Gesetzliche             1889    SGB VI      Bundesweite Träger          zahlt Altersrenten
 Rentenversicherung                          (Deutsche Renten-           sichert die Versicherten vor den
                                             versicherung Bund,           finanziellen Folgen der
                                             Deutsche Renten-             verminderten Erwerbsfähigkeit
                                             versicherung                 und des Todes des Ehepartners
                                             Knappschaft Bahn See)        oder der Eltern ab.
                                             Regionalträger              sorgt mit Rehabilitations-
                                             („Deutsche Renten-           maßnahmen dafür, die
                                             versicherung“ und            Erwerbsfähigkeit kranker und
                                             Name der Region z.B.         behinderter Menschen positiv zu
                                             „Bayern Süd“)                beeinflussen und, wenn möglich,
                                                                          wiederherzustellen.

 Gesetzliche             1927    SGB III     Bundesagentur für         Erbringt u.a. Leistungen zur
 Arbeitslosen-                               Arbeit und regionale        Integration der Menschen in
 versicherung                                Arbeitsagenturen              Berufsausbildungen und
                                                                           Arbeitsverhältnisse
                                                                         Sicherstellung des
                                                                           Lebensunterhalts während der
                                                                           Arbeitslosigkeit

 Gesetzliche             1995    SGB XI      Pflegekassen der            sichert das finanzielle Risiko der
 Pflegeversicherung                          Krankenkassen                Pflegebedürftigkeit ab
                                                                         will dem Pflegebedürftigen
                                                                          ermöglichen, ein selbstbestimmtes
                                                                          Leben zu führen
                                                                         erbringt, je nach Grad der Pflege-
                                                                          bedürftigkeit, Geld- oder
                                                                          Sachleistungen, mit denen die
                                                                          Grundpflege und die
                                                                          hauswirtschaftliche Versorgung
                                                                          finanziert werden

Quelle: Stiftung Jugend und Bildung (2016)

Literatur

Stiftung Jugend und Bildung (2016). Hintergrund: Sozialversicherung im Überblick. Online verfügbar unter:
http://www.sozialpolitik.com/artikel/hintergrund-sozialversicherung-im-ueberblick (11.01.2017).

bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012). Die gesetzliche Krankenversicherung im System der sozialen
Sicherung. Online Verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72496/gkv-
soziale-sicherung?p=all (11.01.2017).

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4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall

4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall

Das System der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall baut auf einer Reihe von
Grundprinzipien auf, die nicht erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland entstanden
sind, sondern tief in der Geschichte und Kultur Deutschlands verwurzelt sind. Obwohl die
nachfolgend genannten Grundprinzipien zumeist nicht oder nur sehr allgemein in der Verfassung
oder im Sozialrecht ausformuliert wurden, besitzen diese eine hohe Bedeutung und werden von den
grundlegenden Werthaltungen und Überzeugungen in der Gesellschaft getragen (Simon 2016).
Viele Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens wurzeln in der Konzeption der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) im Zuge der Sozialgesetzgebung von Bismarck im Jahr 1983 und den
daran anknüpfenden Entwicklungen (bpb 2012a). So handelt es sich bei den nachfolgend
aufgeführten Grundprinzipien vor allem um Prinzipien, die für die gesetzliche Krankenversicherung
konstitutiv sind. Da jedoch über 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gesetzlich kranken-
versichert sind, haben diese Grundprinzipien eine zentrale Bedeutung für das gesamte System der
sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall (Simon 2016). Die aktuellen Grundprinzipien
sind jedoch keine unveränderbaren Größen, sondern im Laufe der Jahrzehnte entstanden und
können durch die Bundesregierung jederzeit modifiziert oder sogar abgeschafft werden.

Solidarprinzip
Das zentrale und wichtigste Prinzip der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall und
Basis der GKV ist das Solidarprinzip (auch Solidaritätsprinzip). Solidarität bedeutet vereinfacht
formuliert, dass sich Mitglieder einer definierten Solidargemeinschaft gegenseitig Hilfe und
Unterstützung gewähren (Simon 2016). Die Beitragshöhe der Versicherten in der Solidar-
gemeinschaft richtet sich dabei nach dem persönlichen Einkommen und somit nach der individuellen
finanziellen Leistungsfähigkeit (geregelt in § 3 SGB V). Der Leistungsanspruch orientiert sich jedoch
an der individuellen Bedürftigkeit und folglich ist der Anspruch auf und Umfang von Gesundheits-
leistungen unabhängig von der Beitragshöhe (Simon 2016).
Da Leistungen nach dem Bedarf gewährt werden, sich die Finanzierung jedoch an der Leistungs-
fähigkeit orientiert, kommt es somit zu Umverteilungseffekten (bpb 2013). In der Solidar-
gemeinschaft kann somit zwischen zwei Versichertentypen unterschieden werden. Auf der einen
Seite gibt es die Nettoeinzahler/innen, die mehr einzahlen als sie verbrauchen, und auf der anderen
Seite gibt es die Nettoempfänger/innen, die mehr Leistungen mit höheren Kosten beanspruchen als
sie über ihre Beiträge einzahlen. Nettoeinzahler/innen sind zumeist junge, gesunde Erwerbstätige
ohne oder mit wenigen beitragsfreien Mitversicherten. Nettoempfänger/innen sind hingegen
zumeist chronisch Kranke, ein Großteil der Rentner/innen und Mitglieder mit geringem Einkommen
und vielen Mitversicherten (bpb 2013).

Subsidiaritätsprinzip
Als weiteres Prinzip der sozialen Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall ist Deutschland geprägt
durch das Subsidiaritätsprinzip. Die vorab beschriebene Solidarität soll und kann dabei die Eigen-
verantwortung und Selbsthilfe nicht vollständig ersetzen. Daher wird dem Solidarprinzip das
Subsidiaritätsprinzip ergänzend zur Seite gestellt. Dieses Prinzip besagt, dass Lasten, die von
Individuen und kleineren Solidargemeinschaften getragen werden können, auch von diesen
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4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall

übernommen werden. Die größere Solidargemeinschaft tritt folglich erst ein, wenn die kleinere
Gemeinschaft überfordert ist (Simon 2016). Das Zusammenspiel von Solidarität und Eigen-
verantwortung in der GKV sind in § 1 SGB V gesetzlich festgeschrieben.
Für die Inanspruchnahme von Solidargemeinschaften lässt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip eine
nach ihrer Leistungsfähigkeit gestufte Pyramide ableiten (Simon 2016). Das betroffene Individuum
hat zunächst die Lasten selbst zu tragen, die seiner Leistungsfähigkeit entsprechen und ihm zumutbar
sind (1). Lebens-, Ehepartner und die Familie erbringen danach ihre Unterstützungsleistungen (2).
Werden auch diese durch die notwendigen Unterstützungsleistungen überfordert, tritt eine größere
Solidargemeinschaft wie z.B. die GKV ein (3). Erst als letzte Instanz sollte die Gemeinschaft aller
Staatsbürger als größte Solidargemeinschaft in Anspruch genommen werden (4).
Das Prinzip der Subsidiarität findet sich in der GKV vor allem im Ausschluss von Bagatellarzneimitteln
und Zuzahlungs-, Härtefall- und Überforderungsregelungen wieder.

Bedarfsdeckungsprinzip
Im Krankheitsfall wird den Versicherten der GKV ein Anspruch auf die medizinisch notwendigen
Leistungen gewährt (Simon 2013). Das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) besagt, dass
Sach- und Dienstleistungen im Rahmen der Krankenbehandlung „ausreichend, zweckmäßig und
wirtschaftlich“ sein müssen und „das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ dürfen. Gleichzeitig
werden Leistungserbringer und Krankenkassen in § 70 Abs. 1 SGB V verpflichtet, „eine
bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten“.
Das Bedarfsdeckungsprinzip wird auch nicht durch den Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB
V) außer Kraft gesetzt, sondern in § 1 Abs. 1 SGB V wird ausdrücklich der Vorrang des Bedarfs-
deckungsprinzips herausgestellt. Hier heißt es explizit, dass eine Beitragssatzerhöhung zulässig ist,
wenn die notwendige medizinische Versorgung anders nicht zu gewährleisten ist.

Sachleistungsprinzip
Im gesetzlichen Krankenversicherungssystem werden den Versicherten die Leistungen im Krankheits-
fall überwiegend als Sachleistungen gewährt. Um dies zu gewährleisten, schließen Krankenkassen mit
Leistungserbringern Verträge ab, in denen sich die Leistungserbringer zur Behandlung von
Versicherten und die Krankenkassen zur Zahlung von vereinbarten Vergütungen rechtlich
verpflichten. Gegen Vorlage einer Versichertenkarte, den die Versicherten jeweils von ihrer
Krankenkasse erhalten, können z.B. von Vertragsärzten, Krankenhäusern und Apotheken Leistungen
kostenlos in Anspruch genommen werden. Die erbrachten Leistungen werden den Krankenkassen
durch die Leistungserbringer in Rechnung gestellt (Simon 2016). Versicherte der GKV können somit
medizinische Leistungen in Anspruch nehmen, ohne selbst in Vorleistung treten zu müssen.
Gegenstück des Sachleistungsprinzips ist das Kostenerstattungsprinzip, bei dem der Empfänger der
medizinischen Leistung die Rechnung vom Leistungserbringer direkt erhält und bezahlt und diese
danach bei seiner Versicherung einreicht (Simon 2016). Das Prinzip der Kostenerstattung kommt
überwiegend in der privaten Krankenversicherung zum Einsatz. Nach § 13 SGB V Abs. 2 gibt es jedoch
auch in der GKV die Möglichkeit der Kostenerstattung als Wahlleistung, die durch eine Satzungs-
änderung der jeweiligen Krankenkasse geschaffen werden kann.

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4. Grundprinzipien des Versorgungssystems im Krankheitsfall

Versicherungspflicht
Im Kern ist die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland eine Zwangsversicherung. Für alle
Arbeiter und Angestellte, die ein Einkommen unterhalb einer gesetzlich festgelegten Einkommens-
grenze (Versicherungspflichtgrenze) haben, gilt eine Versicherungspflicht. Mit Eintritt in ein
Beschäftigungsverhältnis müssen diese Personen Pflichtmitglied in einer der gesetzlichen
Krankenkassen werden (Simon 2016).
Mit Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG – BGBl. I, S. 378) im Jahr 2007
wurde die Versicherungspflicht schrittweise geändert und seit dem Jahr 2009 gilt eine allgemeine
Versicherungspflicht für alle Personen mit Wohnsitz in Deutschland. Die gesetzliche Grundlage zur
Versicherungspflicht in der GKV bildet § 5 SGB V.
Im Jahr 1993 wurde mit Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG – BGBl. I, S. 2266) die
Wahlfreiheit zwischen allen Krankenkassen, die mittels Gesetz oder Satzungsbeschluss geöffnet
wurden, ab dem Jahr 1997 eingeführt. Die mittels Gesetz oder Satzungsbeschluss geöffneten
Krankenkassen sind dazu verpflichtet, alle versicherungspflichtigen Personen der GKV aufzunehmen
(Kontrahierungszwang).

Selbstverwaltung
Der Grundsatz der Selbstverwaltung ist ebenfalls ein tief in die Geschichte verwurzelter Grundsatz
der Gesundheitsversorgung in Deutschland und reicht bis in das mittelalterliche Zunft- und Gilden-
wesen zurück. Die staatlichen Aktivitäten beschränken sich demnach auf die Rahmensetzung und
Rechtsaufsicht. Die direkte Ausführung und Durchführung von Gesetzen im Bereich der sozialen
Sicherung und Versorgung im Krankheitsfall wurde auf die Organe der sogenannten Selbstverwaltung
übertragen (Simon 2016).
Zu den einzelnen Akteuren der Selbstverwaltungen im Gesundheitswesen zählen die Landesverbände
der Krankenkassen, Kassen(zahn)ärzte sowie die Krankenhausgesellschaften und deren bundesweite
Spitzenorganisationen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bildet das höchste und zugleich
wichtigste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen (bpb 2012b).

Literatur

bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012a). Bismarcks Erbe: Besonderheiten und prägende Merkmale
des deutschen Gesundheitswesens. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/
gesundheitspolitik/72553/deutsche-besonderheiten?p=3 (12.01.2017).

bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2012b). Die wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen.
Teil 2: Verbände und Körperschaften der gemeinsamen Selbstverwaltung. Online Verfügbar unter:
http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72575/verbaende-und-koerperschaften?p=all
(12.01.2017.

bpb, Bundeszentrale für politische Bildung (2013). Einer für alle, alle für einen – Das Solidarprinzip in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Online verfügbar unter:
http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72358/solidarprinzip?p=all (12.01.2017).

Simon, M. (2016). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. 5.
unveränderte Auflage, Hogrefe Verlag, Göttingen.
                                                                                                         Seite | 16
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