VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN
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Juni 2021 DIE NACHRICHTEN FÜR MITGLIEDER Seite 2 Seite 4 Seite 8 VORLEBEN VORGEBEN VORNEHMEN Wie Internet-Idole Wenn Firmen sich Was sich nach Kinder zu ungesundem als NGOs gerieren der Bundestagswahl Essen verleiten ändern muss
2 JUNI 2021 Ein foodwatch-Report deckt auf, wie die Le- Gelenkprobleme, Bluthochdruck und Herzer- bensmittelindustrie über bekannte Social-Me- krankungen. dia-Stars Zuckerbomben und fettige Snacks gezielt an Kinder vermarktet. Bundesernäh- Die Lebensmittelindustrie nutzt den großen Ein- rungsministerin Julia Klöckner reagiert mit fluss der Social-Media-Stars schamlos aus: In- einer unzureichenden Vereinbarung mit der fluencer*innen sind für Kinder und Jugendliche Werbewirtschaft. heutzutage die größten Idole und zugleich die be- Liebe Unterstützerin, sten Freunde. Laut einer Umfrage haben 56 Pro- lieber Unterstützer, Sie haben Millionen Fans und genießen bei Kin- zent der 13- bis 19-Jährigen in den vergangenen dern und Jugendlichen hohes Vertrauen – so ge- zwölf Monaten schon einmal etwas gekauft, diese Ausgabe der foodwatch-Nachrichten ist nannte Social-Media-Influencer*innen. Lebens- was ein Internetstar zuvor empfohlen hatte. bereits die dritte, die wir unter Corona-Bedin- mittelkonzerne wie McDonald‘s und Coca-Cola, gungen produzieren. Das Virus hat die Welt noch immer fest im Griff. Für uns bei food- aber auch deutsche Familienunternehmen wie UNZUREICHENDE VEREINBARUNGEN watch heißt das: Seit mehr als einem Jahr Coppenrath & Wiese und Haribo haben deren Im April – wenige Wochen nach Erscheinen des arbeiten wir fast vollständig von zuhause aus. Potenzial erkannt: Sie beauftragen die Internet- foodwatch-Reports – kündigte der Zentralver- Das ist schwierig, aber ein Privileg im Gegen- Stars, auf Youtube, Instagram und Tiktok für band der deutschen Werbewirtschaft an, seine satz zu vielen anderen Menschen, die nicht zuckrige Getränke, fettige Snacks und Süßwa- freiwilligen Verhaltensregeln für Kinderwerbung im Homeoffice arbeiten können. Die Auswir- ren zu werben. Die Werbung landet an der elt- zu überarbeiten. Bundesernährungsministerin kungen der Pandemie spüren wir natürlich erlichen Kontrolle vorbei direkt auf den Handys Julia Klöckner verkaufte dies als großen Wurf trotzdem: Recherchen durchführen, Missstän- der Kinder. Diese dreiste Werbemasche deckt – dabei sind freiwillige Vereinbarungen nach- de aufdecken und für politische Veränderung der „Junkfluencer“-Report auf. foodwatch hat weislich unzureichend. Ein Gutachten des wis- kämpfen – das alles ist durch Corona nicht dafür mehrere Wochen lang tausende Posts, senschaftlichen Beirats des Bundesernährungs- einfacher geworden. Dabei ist es auch und gerade jetzt wichtig, dass unabhängige Orga- Stories und Videos bekannter Social-Media-Stars ministeriums zeigt: In Ländern mit gesetzlichen nisationen wie foodwatch den Verantwortli- untersucht und zahlreiche Belege für Produkt- Beschränkungen des Kindermarketings ist der chen in Politik und Lebensmittelwirtschaft auf Werbung dokumentiert. Konsum von Junkfood im Zeitraum von 2002 die Finger schauen – auch vom Laptop von bis 2016 um 8,9 Prozent gesunken. In Ländern zuhause aus! Umso mehr freut es uns, dass WERBUNG MIT FATALEN FOLGEN mit freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wirt- Sie uns in dieser schwierigen Zeit die Treue Die Industrie torpediert mit dem „Junkfluencer“- schaft ist der Konsum im gleichen Zeitraum hin- halten. Marketing das Bemühen der Eltern, ihre Kinder gegen um 1,7 Prozent gestiegen. für eine gesunde Ernährung zu gewinnen. Kin- Vielen Dank und herzliche Grüße der essen im Schnitt nicht einmal halb so viel Zusammen mit Kinder- und Jugendärzt*innen Ihr Obst und Gemüse, aber mehr als doppelt so sowie medizinischen Fachgesellschaften fordert viele Süßwaren oder Snacks wie empfohlen. Ak- foodwatch deshalb schon lange, dass dem Kin- tuell gelten etwa 15 Prozent der Kinder und Ju- dermarketing für Junkfood ein Riegel vorgescho- Andreas Winkler gendlichen als übergewichtig und sechs Pro- ben wird. Nur für gesunde Produkte sollte mit Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zent sogar als adipös – ihnen drohen im späteren Comicfiguren, Spielzeugbeigaben oder Kinder- Lebensverlauf Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Idolen geworben werden dürfen.
JUNI 2021 3 Foto: Simon Desue / Instagram ube Foto: Julia Beautx / Yout Foto: Viktoria und Sarina / Youtube SIMON DESUE: DER POSER JULIA BEAUTX: VIKTORIA + SARINA: DIE GROSSE SCHWESTE R DIE PFERDEMÄDCHEN Der 29-jährige Simon Desue gehört mit 4,3 Millionen Abonnent*innen zu den reichwei- Die 21-jährige Julia Bea utx ist vor allem für chen be- tenstärksten Youtuber*innen Deutschlands Lifestyle- und Beautyvide Das insbesondere bei jungen Mäd os bekannt und ge- a hat bei Insta- und protzt in seinen Videos mit Villen und hört mit 2,2 Millionen liebte Duo Vikto ria und Sarin Abonnent*innen auf jewe ils weit über Luxusautos. Werbung macht er unter ande- Youtube und 3,3 Million gram, Tikto k und Youtu be en Follower*innen auf in einer rem für McDonald‘s und Haribo. Ein Werbe- Tiktok zu den reichwe eine Million Fans und präsentiert sich itenstärksten Influen- en. Die video für McDonald‘s unter der Überschrift cerinnen. Sie warb bereits rosa Glitzerwelt mit Hunden und Pferd für Coca-Cola. Zu- werb en auf ihren #IssmirWurstChallenge wurde auf Tiktok mehr sammen mit dem You beiden Social-Med ia-Stars tuber Jonas Ems war Coca -Cola , Mc- als eine halbe Million Mal angeschaut und sie das Gesicht der Mo Kanälen unte r ande rem für ndelez-Schokoladen- eration zählt 80.000 Likes. marke Milka. Donald’s und Dunkin Donuts. In Koop e bewe rben sie eine mit Coppenrath & Wies eigene Torte. Quelle: Youtube Quelle: Sarina / Instagram Quelle: Simon Desue / Tiktok
4 JUNI 2021 startete Petition an den Bundestag unterzeichne- Foto: Lemonaid Mit Vorsicht zu ten fast 60.000 Menschen. Klar, auch diese Initi- ative ist alles andere als uneigennützig: Im Ver- genießen gleich zu „normaler“ Kuhmilch hat Hafermilch eine deutlich bessere Klimabilanz. Werbegag hin oder her, könnte man denken: Für gesunde Le- Wenn Firmen sich als NGOs bensmittel und klimaschützende Gesetze ist es gerieren doch wunderbar, wenn auch „grüne“ Unterneh- men aktiv werden – als Gegenpol zur übermäch- tigen Auto- und Zuckerlobby. Aber die Kampa- gnen sind mit Vorsicht zu genießen. KONZERNE IN DIE PFLICHT NEHMEN So ist der Nutzen eines CO2-Siegels fraglich. Statt die Verantwortung fürs Klima auf die Verbrau- cher*innen abzuwälzen, soll für Konzerne das Verursacherprinzip gelten: Wer dem Klima scha- det, wird zur Kasse gebeten, beispielsweise durch „Achtung, wenig Zucker“ – mit diesem Warn- WAS IST SCHOKOLADE? eine wirksame CO2-Abgabe. Die Einführung ei- hinweis versah Lemonaid im Frühjahr seine Fla- Ritter Sport stellte sich im Februar als Opfer des nes Siegels hingegen könnte den politischen schen. Der Hersteller protestierte damit gegen „absurden Lebensmittelrechts“ dar. Ein neues Druck für solche Maßnahmen schwächen. Leitsätze für Lebensmittel, nach denen „Limo- Produkt dürfe nicht „Schokolade“ heißen, weil Auch die Aktionen der vermeintlichen Zucker- naden“ mindestens sieben Prozent Zucker ent- es nicht mit herkömmlichem Zucker, sondern Aktivisten sind irreführend, wie die Beispiele halten müssen. Höhepunkt der Kampagne: Le- mit Kakaosaft gesüßt worden sei. „Aufwachen!“ von Ritter Sport und Lemonaid zeigen. Das monaid stellte vor dem „süßesten Ministerium fordert der Konzernchef in einer Pressemittei- Problem hierzulande ist nicht, dass die Her- der Welt“ ein „Denk Mal“ auf: Bundesernäh- lung – und platziert seine Botschaft auf zahl- steller Zucker reduzieren möchten, dies aber rungsministerin Julia Klöckner aus Zucker. Coole reichen Titelseiten, selbst die Deutsche Presse- nicht dürfen. Im Gegenteil: Die meisten stecken Aktion – oder Werbegag? Tatsächlich ist ein agentur meldete: „Ritter Sport verkauft eine viel zu viel Zucker in ihre Produkte. Das Pro- Zuckermindestgehalt eine irrsinnige Vorgabe an- Schokolade, die nicht so heißen darf.“ Dabei blem ist, dass die Bundesregierung zu wenig gesichts der Adipositas-Epidemie. Fakt ist aber: hätte das Unternehmen laut Bundesernährungs- unternimmt, um die Unternehmen in die Pflicht Das Unternehmen hätte einfach „Erfrischungs- ministerium die Schokolade einfach als „Schoko- zu nehmen. Dafür müssen wir Verbraucher* getränk“ statt „Limonade“ ins Kleingedruckte lade“ auf den Markt bringen können – der Me- innen auf politischer Ebene kämpfen – durch schreiben können. Tatsächlich enthält die Le- dienrummel wäre dann vermutlich aber deut- Demonstrationen, Zusammenschlüsse in Ver- monaid Maracuja 5,5 Gramm Zucker – das ist lich kleiner ausgefallen. braucherorganisationen oder Petitionen. nicht wenig. In Großbritannien wäre wegen die- ses Zuckergehalts die Limo-Steuer fällig. In Chile HERSTELLER ODER KLIMA-NGO? MANUEL WIEMANN müsste das Unternehmen sogar mit dem Hin- Auch der Haferdrink-Hersteller Oatly ist unter die weis „Hoher Zuckergehalt“ warnen. In Deutsch- Polit-Aktivisten gegangen: Auf großen Plakat- Manuel Wiemann arbeitet seit Sommer 2019 als Campaigner land klebt Lemonaid den Aufkleber „Achtung, wänden warb der schwedische Konzern im ver- gegen Verbrauchertäuschung bei wenig Zucker“ auf die Verpackungen – und be- gangenen Jahr für die Kennzeichnung des CO2- foodwatch. kommt damit Gratis-PR in unzähligen Medien. Ausstoßes von Lebensmitteln. Die von Oatly ge-
JUNI 2021 5 Foto: Adobe stock _ euthymia * * * KU R Z G E M E L D E T * * * ERNÄHRUNGSFRAGE: „Ist Dicksein ungesund?“ Amazon verliert gegen foodwatch. Auch Online-Lebensmittelhändler müssen sich an die Kennzeichnungsregeln halten. Kann man Menschen am Körperumfang an- tes-Typ-2, Schlaganfall und bestimmten Das hat das Oberlandesgericht München sehen, ob sie gesundheitliche Probleme Krebsarten erhöht, wird noch darüber debat- im Februar entschieden. foodwatch hatte haben? tiert, inwieweit Übergewicht einen Schutz dar- gegen Amazon geklagt, weil der Konzern stellen kann, nachdem eine Erkrankung ein- und sein Online-Lieferdienst „Amazon Fresh“ Oliver Huizinga, Leiter Recherche und Kam- getreten ist. Fest steht: Am besten ist es, das bei Obst und Gemüse die Vorgaben für die pagnen bei foodwatch: Nein. Auf individu- Krankheitsrisiko von vornherein zu senken, Herkunftskennzeichnung missachtet hatten. eller Ebene kann man das so pauschal nicht indem „Normalgewicht“ gehalten wird. sagen. Es gibt auch gesunde Dicke und kranke Aus für Werbelüge auf Grünländer Schlanke. Auf Bevölkerungsebene ist der An- Eine Welt, die dick macht Käse. Hochland wird seinen Grünländer stieg von starkem Übergewicht tatsächlich ein Und das ist gar nicht so einfach: Denn wir le- Käse nicht mehr mit „Freilaufkühen“ be- großes Problem. Die Weltgesundheitsorgani- ben in einer Welt, die eine gesunde Ernährung werben. Denn die Tiere stehen im Stall. sation (WHO) spricht von einer „globalen Adi- erschwert. Hochkalorische, stark verarbeitete 2020 hatte die Großkäserei für diese dreiste positas-Epidemie.“ und zuckerreiche Lebensmittel sind jederzeit Werbelüge von foodwatch den Negativpreis im Übermaß verfügbar. Das Angebot in Kan- Goldener Windbeutel erhalten. Nun reagier- Gesunde Speckröllchen? tinen, Schulmensen oder Kitas ist häufig alles te das Unternehmen auf eine Abmahnung. Vor einigen Jahren machten Studien Schlagzei- andere als ausgewogen. Die Industrie adres- Bis September sollen die Packungen geän- len, die besagten, dass ein paar Kilo zuviel auf siert mit ausgeklügelten Marketingstrategien dert sein. der Waage gesundheitliche Vorteile bringen schon Kinder und wirbt dabei fast ausschließ- könnten. Diese überraschende These wurde lich für zuckrige Limo, Snacks und Süßwaren. als „Adipositas-Paradoxon“ bezeichnet. Aller- dings ließ die Kritik nicht lange auf sich Fat Shaming, nein danke! warten: Zum Teil waren Raucher*innen und Ärzt*innen fordern deshalb wirksame politi- Menschen, bei denen eine Erkrankung zu Ge- sche Maßnahmen, um eine gesunde Ernäh- wichtsverlust geführt hatte, nicht ausreichend rung zu fördern. Appelle an den Einzelnen berücksichtigt worden. Zudem untermauerten lösen das Problem nachweislich nicht. Und in der Folge zahlreiche Studien die negativen erst recht kein „fat shaming“. Die Stigmatisie- Europäische Wissenschaftler*innen Auswirkungen von Übergewicht: So zeigte rung von Übergewichtigen hilft niemandem wollen Nutri-Score. Mehr als 400 namhaf- eine im European Heart Journal veröffentlich- dabei, abzunehmen. Im Gegenteil: Diskrimi- te europäische Wissenschaftler*innen so- te Untersuchung der Daten von fast 300.000 nierung kann sehr negative gesundheitliche wie 30 medizinische Fachverbände haben Menschen, dass bereits geringes Überge- Folgen für die Betroffenen haben. Die frühere die EU-Kommission dazu aufgefordert, den wicht das Risiko einer Herz-Kreislauferkran- Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, Nutri-Score verbindlich in Europa einzufüh- kung erhöht. Andere Forschungsergebnisse hat es in einer Rede im Jahr 2013 auf den ren. In Deutschland können Hersteller die deuteten jedoch auf eine positive Wirkung von Punkt gebracht: „Kein einziger Staat hat es verbraucherfreundliche Lebensmittelampel leichtem Übergewicht bei Patient*innen hin, geschafft, die Adipositas-Epidemie in allen seit Herbst 2020 verwenden. Weil ein ver- die etwa an bestimmten Krebsarten erkrankt Altersgruppen zu stoppen. Hier mangelt es pflichtendes Label allein auf nationaler Ebe- waren. Während wissenschaftlich großer Kon- nicht an individueller Willenskraft. Hier man- ne nach europäischem Recht nicht möglich sens darüber besteht, dass Übergewicht das gelt es am politischen Willen, sich mit einer ist, ist die Kennzeichnung bislang rein frei- Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, Diabe- großen Industrie anzulegen.“ willig.
Illu: Adobe Stock_MircoOne 6 JUNI 2021 WAS LANGE WÄHRT... Januar 2017: Als Reaktion auf unseren großen Test kündigt die EU-Kommission ein Monitoring- Programm für Mineralöl in Lebensmitteln an. Unser Kampf gegen Mineralölrückstände in Lebensmitteln Hinter den Kulissen sind Expert*innen höchst unzufrieden über den weitgehenden Stillstand. Es gibt foodwatch-Kampagnen, die lassen sich matischen“ Mineralöle, die in Verdacht stehen, Sie machen dafür vor allem zwei Player verant- vorhersehen. Und dann gibt es Kampagnen krebserregend und erbgutschädigend zu sein. In wortlich: Nestlé und Danone, die die Aussa- wie unsere Mineralölkampagne. Als wir sie Deutschland sind unter anderem die Kellogg’s gekraft der Analyseverfahren anzweifeln. Uns starteten, konnten wir nicht wissen, was wir Cornflakes belastet. Unsere Forderung an die wird klar: Dagegen müssen wir angehen, und damit ins Rollen bringen – und welche Kreise EU-Kommission: Endlich Grenzwerte einführen zwar mit neuen Tests! sie ziehen würde. Eins ist sicher: Um echte und sogenannte „funktionelle Barrieren“ für alle Fortschritte für den Gesundheitsschutz der Lebensmittelverpackungen aus Papier vorschrei- Oktober 2019: Wir veröffentlichen gemeinsam Verbraucher*innen zu erzielen, ist ein langer ben! mit den foodwatch-Büros in Amsterdam und Atem nötig. Paris einen weiteren großen Test: Jetzt zu Baby- Der Test schlägt Wellen: Mehr als 115.000 Bür- milch-Pulver. Drei Labore mit exzellenten Re- ABER ZUM ANFANG: ger*innen aus Frankreich, Deutschland und den ferenzen untersuchen unabhängig voneinander Niederlanden unterstützen unsere E-Mail-Pro- und mit unterschiedlichen Analysemethoden Ende 2012: Die Stiftung Warentest nimmt Ad- testaktion. Erste Hersteller ändern daraufhin die Produkte. Wir achten penibel darauf, dass ventskalender unter die Lupe. Viele Schokola- ihre Verpackung, Handelsketten geben ihren Lie- die Testverfahren exakt den im April 2019 ver- denfüllungen enthalten Bestandteile gesund- feranten vor, Mineralölbelastungen zu vermei- öffentlichten Vorschriften der EU-Kommission heitsschädlicher Mineralöle. Quelle ist die Kar- den. Doch der erhoffte Durchbruch – endlich entsprechen. Das erschreckende Ergebnis: Säug- tonverpackung: Das Recycling-Papier ist mit wirksame Grenzwerte – bleibt aus. Wir lassen lingsmilch von Nestlé und Novalac ist mit Mi- zahlreichen chemischen Rückständen belastet, uns nicht entmutigen, testen weitere Produkte neralöl belastet. Dann geht alles ganz schnell: unter anderem von mineralölhaltigen Farben. und fordern deren Rückrufe. Einen Tag später informiert die EU-Kommission Damals existieren keine gesetzlichen Höchst- werte für den Mineralöl-Gehalt in Lebensmit- teln – noch nicht einmal in Kinderprodukten. 2013: Wir erhalten den Anruf eines Branchenin- siders, der wichtige Hintergrundinformationen zu Mineralölen in Lebensmitteln liefert. Wir ar- beiten uns immer tiefer in das Thema ein, bauen Kontakte auf, besuchen Fachveranstaltungen, führen zahlreiche Gespräche mit Expert*innen. Herbst 2015: Wir veröffentlichen den ersten gro- ßen internationalen Mineralöltest. Gemeinsam mit unseren Kolleg*innen aus den foodwatch- Büros in Frankreich und den Niederlanden las- sen wir 120 Lebensmittel analysieren – 43 Pro- Weil Supermärkte den Verkauf mineralölbelasteter Lebensmittel nicht stoppten, nahmen wir den Rückruf krebsver- zent enthalten die besonders gefährlichen „aro- dächtiger Produkte 2015 selbst in die Hand.
JUNI 2021 7 über ihr Schnellwarnsystem alle Mitgliedsstaa- Speiseöl. Wir wissen jetzt, dass die Mineralöl- Foto: Darek Gontarski ten. Während im foodwatch-Büro die Anrufe be- verunreinigung in der Babymilch maßgeblich sorgter Eltern die Telefone heiß laufen lassen, aus dem Palmöl stammen muss. Und sind über- verkauft Nestlé ungerührt weiter seine Produk- zeugt: Nestlé und Co. hätten genau das schon te. Das Milchpulver sei „absolut sicher“, behaup- viel früher wissen können – und müssen. tet der Großkonzern. Juni 2020: Das zuständige Gremium der EU- November 2019: Die Europäische Behörde für Kommission einigt sich erstmals auf einen Lebensmittelsicherheit veröffentlicht ein Son- Grenzwert für Mineralöl. Dieser ist noch nicht dergutachten zu unserem Test. streng genug und vor allem: nur für Baby- milchpulver gültig. Aber dennoch: Wir sind un- „Zeit für neue Aufgaben“ Dezember 2019: Industrievertreter*innen sind serem langjährigen Ziel eines strikten Höchst- auf einem eigens anberaumten Meeting der werts für gefährliche Mineralöle in allen Lebens- Geschäftsführer Martin Rücker hat food- EU-Kommission auffällig kleinlaut. Denn um mitteln einen Schritt näher gekommen. watch verlassen. Martin war 12 Jahre bei unsere Tests zu kontern, hatten sie eigene Ana- uns – nun möchte er sich neuen Aufga- lysen in Auftrag gegeben. Die Expert*innen Soweit, so gut? Jein. Im deutschsprachigen Raum ben widmen. Bis eine Nachfolger*in ge- aber sind sich einig: Die Industrielabors fanden und vermutlich in der gesamten EU dürften funden ist, wird Thilo Bode, Gründer von nur dank falscher Methodik keine Rückstände. heute alle Babymilchprodukte frei von krebsver- foodwatch und Geschäftsführer von food- dächtigen Mineralölen sein. Gut für Millionen watch International, die Geschäfte führen. Anfang 2020: Auch staatliche Labore analysie- Neugeborene, die damit gefüttert werden. Und ren Säuglingsmilch – und finden gesundheitsge- ein großer Erfolg unserer Arbeit und des Ein- „Mehr als zwölf Jahre lang hatte ich die fährdende Mineralöle in Produkten von Nestlé, satzes zahlreicher Expert*innen in vielen Labors Ehre, Teil dieser fantastischen Organisa- Rossmann, Novalac und Humana. Statt öffent- und einigen Behörden, national wie europäisch. tion zu sein, ihren internationalen Aufbau lich zurückzurufen und die Eltern zu warnen, mitzugestalten und foodwatch Deutsch- verschweigen Ernährungsministerien in Bund Doch es spricht Bände über das Niveau des Ver- land zuletzt rund vier Jahr lang als Ge- und Ländern die Ergebnisse. Offenbar ist es braucherschutzes in Deutschland und der EU, schäftsführer zu leiten. Ich bedanke mich bequemer, sich auf „Eigenkontrolluntersuchun- dass eine von Bürger*innen finanzierte NGO die bei meinem großartigen Team und bei gen“ von Nestlé zu verlassen. Nur durch eine Qualität der Laboranalyseverfahren vorantrei- allen tollen Kolleg*innen in Berlin, Am- Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz ben muss. Und Lebensmittelgiganten wie Nestlé sterdam, Paris, Brüssel und Wien für die gelangen wir Monate später an die Ergebnisse. und Danone dazu zwingen muss, die seit vielen inspirierende Zusammenarbeit – und Jahren bekannten Gesundheitsgefahren in ihren bei den Unterstützer*innen und Mit- Februar 2020: Von einer Journalistin der Nach- Produkten endlich zu beseitigen. Für uns steht gliedern für ihr Vertrauen und die wach- richtenagentur Reuters aus Malaysia erfahren fest: Wir können das Thema Mineralöle noch sende Unterstützung für foodwatch. Ich wir, dass Nestlé Druck auf Palmöllieferanten aus- nicht zu den Akten legen. bin davon überzeugt, dass eine starke, übt. Diese sollen die Mineralölrückstände in internationale Organisation, die mit Palmöl reduzieren. Produzenten hatten offen- schlauen Kampagnen für Verbraucher- MATTHIAS WOLFSCHMIDT bar Palmkerne auf heißen Asphaltflächen aufge- rechte kämpft, bitter Not tut. Ich wün- schlagen und nicht-lebensmittelgeeignete Ma- Matthias ist seit der Gründung von sche foodwatch daher von Herzen den foodwatch für die strategische Kam- schinenschmierstoffe verwendet. Dadurch si- pagnenplanung zuständig. Seit 2017 größtmöglichen Erfolg!“ ckerten gesundheitsschädliche Rohölverbindun- ist er stellvertretender Geschäftsführer gen in das weltweit am meisten konsumierte von foodwatch International.
8 JUNI 2021 „Mit der Zuckerindustrie Programme gegen Adipositas entwickeln – das ist absurd“ der individuellen Entscheidung. Die Lebens- um sage und schreibe 35 Prozent zu reduzieren. Foto: Sabrina Weniger mittelindustrie hat einen großen Einfluss. Durch Das sind sinnvolle und wichtige Maßnahmen, die an Kinder gerichtetes Marketing prägt die In- auch vom wissenschaftlichen Beirat des Bun- dustrie schon früh die Essgewohnheiten. Durch desernährungsministeriums empfohlen werden. irreführende Werbung lässt die Industrie Pro- Doch die Bundesregierung scheut es bislang, dukte gesünder erscheinen als sie sind. Und sich mit der Industrie anzulegen. Frau Klöckner durch geschickte Lobby-Kampagnen verhindert setzt fast ausschließlich auf sogenannte „freiwil- sie wirksame politische Maßnahmen, die eine lige Selbstverpflichtungen“. Diese Strategie darf gesunde Ernährung fördern könnten. Die Welt- von der künftigen Regierung nicht weiter fortge- gesundheitsorganisation und zahlreiche medizi- setzt werden, denn sie ist wirkungslos. nische Fachgesellschaften fordern, dass die Re- gierung die Branche in die Pflicht nimmt. Doch Wie optimistisch bist du, dass endlich Im September sind Bundestagswahlen. stattdessen holt Frau Klöckner die Zuckerindu- wirksame Maßnahmen kommen? Oliver Huizinga, Leiter der Abteilung strie an den Tisch, und entwickelt gemeinsam Recherche und Kampagnen bei food- mit ihr Programme gegen Adipositas. Das ist Es ist nicht die Frage „ob“, sondern „wann“ sich watch, erklärt, was er von der künftigen absurd. Programme zur Tabakprävention ent- die Erkenntnis auch in Deutschland durchsetzt. Ernährungsminister*in erwartet. wickelt man doch auch nicht gemeinsam mit Wir können es uns als Gesellschaft gar nicht an- Phillip Morris. ders erlauben. Zum einen, weil es um Millionen Menschen geht, die von vermeidbaren Krank- Ungesunde Ernährung ist eines der größten Was müsste die neue Regierung als erstes heiten betroffen sind. Zum anderen, weil auch Gesundheitsprobleme in Deutschland – anpacken? die volkswirtschaftlichen Kosten immens sind. was hat Bundesernährungsministerin Julia Allein Adipositas kostet uns schätzungsweise Klöckner in ihrer Amtszeit unternommen? Die künftige Bundesregierung muss auf die Stim- 63 Milliarden (!) Euro jedes Jahr, beispielsweise men aus der Ärzteschaft hören und von den Er- durch Gesundheitsausgaben oder auch durch Ungesunde Ernährung wird als Problem mas- fahrungen anderer Länder lernen. In Chile ist die Produktivitätsausfälle. Der Druck auf die Re- siv unterschätzt, auch von Bundesministerin Werbung an Kinder nur noch für gesunde Pro- gierenden wird immer mehr zunehmen, eine Klöckner. Jede*r Vierte in Deutschland ist stark dukte erlaubt. Comicfiguren und Spielzeugbei- gesunde Ernährung wirksam zu fördern. Chile übergewichtig. Etwa 10 Millionen Menschen gaben, die Zuckerbomben für Kinder attraktiv oder Großbritannien zeigen, wohin die Reise haben Typ-2-Diabetes. Jeder fünfte Todesfall in machen, gibt es dort nicht mehr. In Großbritan- geht. Das ist das Gute an dieser Krise: Es liegt Deutschland ist auf eine ungesunde Ernährung nien wurde eine Limosteuer eingeführt. Plötzlich kein Informationsdefizit vor, sondern „nur“ ein zurückzuführen. Das ist nicht nur eine Frage war es der Industrie möglich, den Zuckergehalt Handlungsdefizit. IMPRESSUM ––––––––– Herausgeber Dr. Thilo Bode ∙ foodwatch e. V. · Anschrift Brunnenstr. 181 ∙ 10119 Berlin · Telefon 030 / 28 44 52 96 · Fax 030 / 24 04 76 26 E-Mail service@foodwatch.de · Internet www.foodwatch.de · Redaktion Sarah Häuser, Andreas Winkler (V.i.S.d.P.) · Gestaltung Annette Klusmann, puredesign. Spendenkonto foodwatch e. V. ∙ IBAN DE 5043 0609 6701 0424 6400 · BIC GENO DEM 1 GLS Gedruckt mit mineralölfreier Farbe auf 100 Prozent chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier. Die foodwatch-Nachrichten erscheinen zweimal jährlich und werden per Post an alle Förderinnen und Förderer geschickt.
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