VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN

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VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN
Juni 2021

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                Wie Internet-Idole     Wenn Firmen sich    Was sich nach
                Kinder zu ungesundem   als NGOs gerieren   der Bundestagswahl
                Essen verleiten                            ändern muss
VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN
2               JUNI 2021

                                                  Ein foodwatch-Report deckt auf, wie die Le-        Gelenkprobleme, Bluthochdruck und Herzer-
                                                  bensmittelindustrie über bekannte Social-Me-       krankungen.
                                                  dia-Stars Zuckerbomben und fettige Snacks
                                                  gezielt an Kinder vermarktet. Bundesernäh-         Die Lebensmittelindustrie nutzt den großen Ein-
                                                  rungsministerin Julia Klöckner reagiert mit        fluss der Social-Media-Stars schamlos aus: In-
                                                  einer unzureichenden Vereinbarung mit der          fluencer*innen sind für Kinder und Jugendliche
                                                  Werbewirtschaft.                                   heutzutage die größten Idole und zugleich die be-
Liebe Unterstützerin,                                                                                sten Freunde. Laut einer Umfrage haben 56 Pro-
lieber Unterstützer,                              Sie haben Millionen Fans und genießen bei Kin-     zent der 13- bis 19-Jährigen in den vergangenen
                                                  dern und Jugendlichen hohes Vertrauen – so ge-     zwölf Monaten schon einmal etwas gekauft,
diese Ausgabe der foodwatch-Nachrichten ist
                                                  nannte Social-Media-Influencer*innen. Lebens-      was ein Internetstar zuvor empfohlen hatte.
bereits die dritte, die wir unter Corona-Bedin-
                                                  mittelkonzerne wie McDonald‘s und Coca-Cola,
gungen produzieren. Das Virus hat die Welt
noch immer fest im Griff. Für uns bei food-
                                                  aber auch deutsche Familienunternehmen wie         UNZUREICHENDE VEREINBARUNGEN
watch heißt das: Seit mehr als einem Jahr         Coppenrath & Wiese und Haribo haben deren          Im April – wenige Wochen nach Erscheinen des
arbeiten wir fast vollständig von zuhause aus.    Potenzial erkannt: Sie beauftragen die Internet-   foodwatch-Reports – kündigte der Zentralver-
Das ist schwierig, aber ein Privileg im Gegen-    Stars, auf Youtube, Instagram und Tiktok für       band der deutschen Werbewirtschaft an, seine
satz zu vielen anderen Menschen, die nicht        zuckrige Getränke, fettige Snacks und Süßwa-       freiwilligen Verhaltensregeln für Kinderwerbung
im Homeoffice arbeiten können. Die Auswir-        ren zu werben. Die Werbung landet an der elt-      zu überarbeiten. Bundesernährungsministerin
kungen der Pandemie spüren wir natürlich          erlichen Kontrolle vorbei direkt auf den Handys    Julia Klöckner verkaufte dies als großen Wurf
trotzdem: Recherchen durchführen, Missstän-       der Kinder. Diese dreiste Werbemasche deckt        – dabei sind freiwillige Vereinbarungen nach-
de aufdecken und für politische Veränderung
                                                  der „Junkfluencer“-Report auf. foodwatch hat       weislich unzureichend. Ein Gutachten des wis-
kämpfen – das alles ist durch Corona nicht
                                                  dafür mehrere Wochen lang tausende Posts,          senschaftlichen Beirats des Bundesernährungs-
einfacher geworden. Dabei ist es auch und
gerade jetzt wichtig, dass unabhängige Orga-
                                                  Stories und Videos bekannter Social-Media-Stars    ministeriums zeigt: In Ländern mit gesetzlichen
nisationen wie foodwatch den Verantwortli-        untersucht und zahlreiche Belege für Produkt-      Beschränkungen des Kindermarketings ist der
chen in Politik und Lebensmittelwirtschaft auf    Werbung dokumentiert.                              Konsum von Junkfood im Zeitraum von 2002
die Finger schauen – auch vom Laptop von                                                             bis 2016 um 8,9 Prozent gesunken. In Ländern
zuhause aus! Umso mehr freut es uns, dass         WERBUNG MIT FATALEN FOLGEN                         mit freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wirt-
Sie uns in dieser schwierigen Zeit die Treue      Die Industrie torpediert mit dem „Junkfluencer“-   schaft ist der Konsum im gleichen Zeitraum hin-
halten.                                           Marketing das Bemühen der Eltern, ihre Kinder      gegen um 1,7 Prozent gestiegen.
                                                  für eine gesunde Ernährung zu gewinnen. Kin-
Vielen Dank und herzliche Grüße
                                                  der essen im Schnitt nicht einmal halb so viel     Zusammen mit Kinder- und Jugendärzt*innen
Ihr
                                                  Obst und Gemüse, aber mehr als doppelt so          sowie medizinischen Fachgesellschaften fordert
                                                  viele Süßwaren oder Snacks wie empfohlen. Ak-      foodwatch deshalb schon lange, dass dem Kin-
                                                  tuell gelten etwa 15 Prozent der Kinder und Ju-    dermarketing für Junkfood ein Riegel vorgescho-
Andreas Winkler                                   gendlichen als übergewichtig und sechs Pro-        ben wird. Nur für gesunde Produkte sollte mit
Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit          zent sogar als adipös – ihnen drohen im späteren   Comicfiguren, Spielzeugbeigaben oder Kinder-
                                                  Lebensverlauf Krankheiten wie Typ-2-Diabetes,      Idolen geworben werden dürfen.
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                                                                                                Foto: Simon Desue / Instagram

                                                                                                                                                                                                       ube
                                                                                                                                                                              Foto: Julia Beautx / Yout
Foto: Viktoria und Sarina / Youtube

                                                                                                                                              SIMON DESUE:
                                                                                                                                                DER POSER                                                                  JULIA BEAUTX:
                                                 VIKTORIA + SARINA:                                                                                                                                                   DIE GROSSE SCHWESTE
                                                                                                                                                                                                                                         R
                                                DIE PFERDEMÄDCHEN                                                               Der 29-jährige Simon Desue gehört mit 4,3
                                                                                                                                Millionen Abonnent*innen zu den reichwei-                                      Die 21-jährige Julia Bea
                                                                                                                                                                                                                                         utx ist vor allem für
                                                                                 chen be-                                       tenstärksten Youtuber*innen Deutschlands                                      Lifestyle- und Beautyvide
                                      Das insbesondere bei jungen Mäd                                                                                                                                                                    os bekannt und ge-
                                                                         a hat   bei  Insta-                                    und protzt in seinen Videos mit Villen und                                    hört mit 2,2 Millionen
                                      liebte Duo Vikto  ria  und  Sarin                                                                                                                                                                 Abonnent*innen auf
                                                                       jewe ils weit    über                                    Luxusautos. Werbung macht er unter ande-                                      Youtube und 3,3 Million
                                      gram,  Tikto k  und   Youtu be                                                                                                                                                                  en Follower*innen auf
                                                                                   in einer                                     rem für McDonald‘s und Haribo. Ein Werbe-                                     Tiktok zu den reichwe
                                      eine Million Fans und präsentiert sich                                                                                                                                                          itenstärksten Influen-
                                                                                    en. Die                                     video für McDonald‘s unter der Überschrift                                   cerinnen. Sie warb bereits
                                       rosa Glitzerwelt mit Hunden und Pferd                                                                                                                                                              für Coca-Cola. Zu-
                                                                       werb  en  auf   ihren                                    #IssmirWurstChallenge wurde auf Tiktok mehr                                  sammen mit dem You
                                       beiden Social-Med    ia-Stars                                                                                                                                                                 tuber Jonas Ems war
                                                                          Coca  -Cola  , Mc-                                    als eine halbe Million Mal angeschaut und                                    sie das Gesicht der Mo
                                       Kanälen   unte r ande  rem    für                                                                                                                                                               ndelez-Schokoladen-
                                                                                     eration                                    zählt 80.000 Likes.                                                          marke Milka.
                                       Donald’s und Dunkin Donuts. In Koop
                                                                   e  bewe  rben   sie   eine
                                        mit Coppenrath & Wies
                                        eigene Torte.

                                                                                                                                                                                     Quelle: Youtube

                                         Quelle: Sarina / Instagram

                                                                                                                                           Quelle: Simon Desue / Tiktok
VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN
4              JUNI 2021

                                                                                                                       startete Petition an den Bundestag unterzeichne-
Foto: Lemonaid

                 Mit Vorsicht zu                                                                                       ten fast 60.000 Menschen. Klar, auch diese Initi-
                                                                                                                       ative ist alles andere als uneigennützig: Im Ver-

                 genießen                                                                                              gleich zu „normaler“ Kuhmilch hat Hafermilch
                                                                                                                       eine deutlich bessere Klimabilanz. Werbegag hin
                                                                                                                       oder her, könnte man denken: Für gesunde Le-
                 Wenn Firmen sich als NGOs                                                                             bensmittel und klimaschützende Gesetze ist es
                 gerieren                                                                                              doch wunderbar, wenn auch „grüne“ Unterneh-
                                                                                                                       men aktiv werden – als Gegenpol zur übermäch-
                                                                                                                       tigen Auto- und Zuckerlobby. Aber die Kampa-
                                                                                                                       gnen sind mit Vorsicht zu genießen.

                                                                                                                       KONZERNE IN DIE PFLICHT NEHMEN
                                                                                                                       So ist der Nutzen eines CO2-Siegels fraglich. Statt
                                                                                                                       die Verantwortung fürs Klima auf die Verbrau-
                                                                                                                       cher*innen abzuwälzen, soll für Konzerne das
                                                                                                                       Verursacherprinzip gelten: Wer dem Klima scha-
                                                                                                                       det, wird zur Kasse gebeten, beispielsweise durch
             „Achtung, wenig Zucker“ – mit diesem Warn-           WAS IST SCHOKOLADE?                                  eine wirksame CO2-Abgabe. Die Einführung ei-
             hinweis versah Lemonaid im Frühjahr seine Fla-       Ritter Sport stellte sich im Februar als Opfer des   nes Siegels hingegen könnte den politischen
             schen. Der Hersteller protestierte damit gegen       „absurden Lebensmittelrechts“ dar. Ein neues         Druck für solche Maßnahmen schwächen.
             Leitsätze für Lebensmittel, nach denen „Limo-        Produkt dürfe nicht „Schokolade“ heißen, weil        Auch die Aktionen der vermeintlichen Zucker-
             naden“ mindestens sieben Prozent Zucker ent-         es nicht mit herkömmlichem Zucker, sondern           Aktivisten sind irreführend, wie die Beispiele
             halten müssen. Höhepunkt der Kampagne: Le-           mit Kakaosaft gesüßt worden sei. „Aufwachen!“        von Ritter Sport und Lemonaid zeigen. Das
             monaid stellte vor dem „süßesten Ministerium         fordert der Konzernchef in einer Pressemittei-       Problem hierzulande ist nicht, dass die Her-
             der Welt“ ein „Denk Mal“ auf: Bundesernäh-           lung – und platziert seine Botschaft auf zahl-       steller Zucker reduzieren möchten, dies aber
             rungsministerin Julia Klöckner aus Zucker. Coole     reichen Titelseiten, selbst die Deutsche Presse-     nicht dürfen. Im Gegenteil: Die meisten stecken
             Aktion – oder Werbegag? Tatsächlich ist ein          agentur meldete: „Ritter Sport verkauft eine         viel zu viel Zucker in ihre Produkte. Das Pro-
             Zuckermindestgehalt eine irrsinnige Vorgabe an-      Schokolade, die nicht so heißen darf.“ Dabei         blem ist, dass die Bundesregierung zu wenig
             gesichts der Adipositas-Epidemie. Fakt ist aber:     hätte das Unternehmen laut Bundesernährungs-         unternimmt, um die Unternehmen in die Pflicht
             Das Unternehmen hätte einfach „Erfrischungs-         ministerium die Schokolade einfach als „Schoko-      zu nehmen. Dafür müssen wir Verbraucher*
             getränk“ statt „Limonade“ ins Kleingedruckte         lade“ auf den Markt bringen können – der Me-         innen auf politischer Ebene kämpfen – durch
             schreiben können. Tatsächlich enthält die Le-        dienrummel wäre dann vermutlich aber deut-           Demonstrationen, Zusammenschlüsse in Ver-
             monaid Maracuja 5,5 Gramm Zucker – das ist           lich kleiner ausgefallen.                            braucherorganisationen oder Petitionen.
             nicht wenig. In Großbritannien wäre wegen die-
             ses Zuckergehalts die Limo-Steuer fällig. In Chile   HERSTELLER ODER KLIMA-NGO?
                                                                                                                                           MANUEL WIEMANN
             müsste das Unternehmen sogar mit dem Hin-            Auch der Haferdrink-Hersteller Oatly ist unter die
             weis „Hoher Zuckergehalt“ warnen. In Deutsch-        Polit-Aktivisten gegangen: Auf großen Plakat-                            Manuel Wiemann arbeitet seit
                                                                                                                                           Sommer 2019 als Campaigner
             land klebt Lemonaid den Aufkleber „Achtung,          wänden warb der schwedische Konzern im ver-
                                                                                                                                           gegen Verbrauchertäuschung bei
             wenig Zucker“ auf die Verpackungen – und be-         gangenen Jahr für die Kennzeichnung des CO2-                             foodwatch.
             kommt damit Gratis-PR in unzähligen Medien.          Ausstoßes von Lebensmitteln. Die von Oatly ge-
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                                                                                                     Foto: Adobe stock _ euthymia
                                                                                                                                    * * * KU R Z G E M E L D E T * * *
ERNÄHRUNGSFRAGE:
„Ist Dicksein ungesund?“                                                                                                               Amazon verliert gegen foodwatch.
                                                                                                                                    Auch Online-Lebensmittelhändler müssen
                                                                                                                                    sich an die Kennzeichnungsregeln halten.
Kann man Menschen am Körperumfang an-              tes-Typ-2, Schlaganfall und bestimmten                                           Das hat das Oberlandesgericht München
sehen, ob sie gesundheitliche Probleme             Krebsarten erhöht, wird noch darüber debat-                                      im Februar entschieden. foodwatch hatte
haben?                                             tiert, inwieweit Übergewicht einen Schutz dar-                                   gegen Amazon geklagt, weil der Konzern
                                                   stellen kann, nachdem eine Erkrankung ein-                                       und sein Online-Lieferdienst „Amazon Fresh“
Oliver Huizinga, Leiter Recherche und Kam-         getreten ist. Fest steht: Am besten ist es, das                                  bei Obst und Gemüse die Vorgaben für die
pagnen bei foodwatch: Nein. Auf individu-          Krankheitsrisiko von vornherein zu senken,                                       Herkunftskennzeichnung missachtet hatten.
eller Ebene kann man das so pauschal nicht         indem „Normalgewicht“ gehalten wird.
sagen. Es gibt auch gesunde Dicke und kranke                                                                                           Aus für Werbelüge auf Grünländer
Schlanke. Auf Bevölkerungsebene ist der An-        Eine Welt, die dick macht                                                        Käse. Hochland wird seinen Grünländer
stieg von starkem Übergewicht tatsächlich ein      Und das ist gar nicht so einfach: Denn wir le-                                   Käse nicht mehr mit „Freilaufkühen“ be-
großes Problem. Die Weltgesundheitsorgani-         ben in einer Welt, die eine gesunde Ernährung                                    werben. Denn die Tiere stehen im Stall.
sation (WHO) spricht von einer „globalen Adi-      erschwert. Hochkalorische, stark verarbeitete                                    2020 hatte die Großkäserei für diese dreiste
positas-Epidemie.“                                 und zuckerreiche Lebensmittel sind jederzeit                                     Werbelüge von foodwatch den Negativpreis
                                                   im Übermaß verfügbar. Das Angebot in Kan-                                        Goldener Windbeutel erhalten. Nun reagier-
Gesunde Speckröllchen?                             tinen, Schulmensen oder Kitas ist häufig alles                                   te das Unternehmen auf eine Abmahnung.
Vor einigen Jahren machten Studien Schlagzei-      andere als ausgewogen. Die Industrie adres-                                      Bis September sollen die Packungen geän-
len, die besagten, dass ein paar Kilo zuviel auf   siert mit ausgeklügelten Marketingstrategien                                     dert sein.
der Waage gesundheitliche Vorteile bringen         schon Kinder und wirbt dabei fast ausschließ-
könnten. Diese überraschende These wurde           lich für zuckrige Limo, Snacks und Süßwaren.
als „Adipositas-Paradoxon“ bezeichnet. Aller-
dings ließ die Kritik nicht lange auf sich         Fat Shaming, nein danke!
warten: Zum Teil waren Raucher*innen und           Ärzt*innen fordern deshalb wirksame politi-
Menschen, bei denen eine Erkrankung zu Ge-         sche Maßnahmen, um eine gesunde Ernäh-
wichtsverlust geführt hatte, nicht ausreichend     rung zu fördern. Appelle an den Einzelnen
berücksichtigt worden. Zudem untermauerten         lösen das Problem nachweislich nicht. Und
in der Folge zahlreiche Studien die negativen      erst recht kein „fat shaming“. Die Stigmatisie-                                      Europäische Wissenschaftler*innen
Auswirkungen von Übergewicht: So zeigte            rung von Übergewichtigen hilft niemandem                                         wollen Nutri-Score. Mehr als 400 namhaf-
eine im European Heart Journal veröffentlich-      dabei, abzunehmen. Im Gegenteil: Diskrimi-                                       te europäische Wissenschaftler*innen so-
te Untersuchung der Daten von fast 300.000         nierung kann sehr negative gesundheitliche                                       wie 30 medizinische Fachverbände haben
Menschen, dass bereits geringes Überge-            Folgen für die Betroffenen haben. Die frühere                                    die EU-Kommission dazu aufgefordert, den
wicht das Risiko einer Herz-Kreislauferkran-       Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan,                                        Nutri-Score verbindlich in Europa einzufüh-
kung erhöht. Andere Forschungsergebnisse           hat es in einer Rede im Jahr 2013 auf den                                        ren. In Deutschland können Hersteller die
deuteten jedoch auf eine positive Wirkung von      Punkt gebracht: „Kein einziger Staat hat es                                      verbraucherfreundliche Lebensmittelampel
leichtem Übergewicht bei Patient*innen hin,        geschafft, die Adipositas-Epidemie in allen                                      seit Herbst 2020 verwenden. Weil ein ver-
die etwa an bestimmten Krebsarten erkrankt         Altersgruppen zu stoppen. Hier mangelt es                                        pflichtendes Label allein auf nationaler Ebe-
waren. Während wissenschaftlich großer Kon-        nicht an individueller Willenskraft. Hier man-                                   ne nach europäischem Recht nicht möglich
sens darüber besteht, dass Übergewicht das         gelt es am politischen Willen, sich mit einer                                    ist, ist die Kennzeichnung bislang rein frei-
Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, Diabe-      großen Industrie anzulegen.“                                                     willig.
VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN
Illu: Adobe Stock_MircoOne

                                6              JUNI 2021

                             WAS LANGE WÄHRT...                                                                                            Januar 2017: Als Reaktion auf unseren großen
                                                                                                                                           Test kündigt die EU-Kommission ein Monitoring-
                                                                                                                                           Programm für Mineralöl in Lebensmitteln an.
                             Unser Kampf gegen Mineralölrückstände in Lebensmitteln                                                        Hinter den Kulissen sind Expert*innen höchst
                                                                                                                                           unzufrieden über den weitgehenden Stillstand.
                             Es gibt foodwatch-Kampagnen, die lassen sich       matischen“ Mineralöle, die in Verdacht stehen,             Sie machen dafür vor allem zwei Player verant-
                             vorhersehen. Und dann gibt es Kampagnen            krebserregend und erbgutschädigend zu sein. In             wortlich: Nestlé und Danone, die die Aussa-
                             wie unsere Mineralölkampagne. Als wir sie          Deutschland sind unter anderem die Kellogg’s               gekraft der Analyseverfahren anzweifeln. Uns
                             starteten, konnten wir nicht wissen, was wir       Cornflakes belastet. Unsere Forderung an die               wird klar: Dagegen müssen wir angehen, und
                             damit ins Rollen bringen – und welche Kreise       EU-Kommission: Endlich Grenzwerte einführen                zwar mit neuen Tests!
                             sie ziehen würde. Eins ist sicher: Um echte        und sogenannte „funktionelle Barrieren“ für alle
                             Fortschritte für den Gesundheitsschutz der         Lebensmittelverpackungen aus Papier vorschrei-             Oktober 2019: Wir veröffentlichen gemeinsam
                             Verbraucher*innen zu erzielen, ist ein langer      ben!                                                       mit den foodwatch-Büros in Amsterdam und
                             Atem nötig.                                                                                                   Paris einen weiteren großen Test: Jetzt zu Baby-
                                                                                Der Test schlägt Wellen: Mehr als 115.000 Bür-             milch-Pulver. Drei Labore mit exzellenten Re-
                             ABER ZUM ANFANG:                                   ger*innen aus Frankreich, Deutschland und den              ferenzen untersuchen unabhängig voneinander
                                                                                Niederlanden unterstützen unsere E-Mail-Pro-               und mit unterschiedlichen Analysemethoden
                             Ende 2012: Die Stiftung Warentest nimmt Ad-        testaktion. Erste Hersteller ändern daraufhin              die Produkte. Wir achten penibel darauf, dass
                             ventskalender unter die Lupe. Viele Schokola-      ihre Verpackung, Handelsketten geben ihren Lie-            die Testverfahren exakt den im April 2019 ver-
                             denfüllungen enthalten Bestandteile gesund-        feranten vor, Mineralölbelastungen zu vermei-              öffentlichten Vorschriften der EU-Kommission
                             heitsschädlicher Mineralöle. Quelle ist die Kar-   den. Doch der erhoffte Durchbruch – endlich                entsprechen. Das erschreckende Ergebnis: Säug-
                             tonverpackung: Das Recycling-Papier ist mit        wirksame Grenzwerte – bleibt aus. Wir lassen               lingsmilch von Nestlé und Novalac ist mit Mi-
                             zahlreichen chemischen Rückständen belastet,       uns nicht entmutigen, testen weitere Produkte              neralöl belastet. Dann geht alles ganz schnell:
                             unter anderem von mineralölhaltigen Farben.        und fordern deren Rückrufe.                                Einen Tag später informiert die EU-Kommission
                             Damals existieren keine gesetzlichen Höchst-
                             werte für den Mineralöl-Gehalt in Lebensmit-
                             teln – noch nicht einmal in Kinderprodukten.

                             2013: Wir erhalten den Anruf eines Branchenin-
                             siders, der wichtige Hintergrundinformationen
                             zu Mineralölen in Lebensmitteln liefert. Wir ar-
                             beiten uns immer tiefer in das Thema ein, bauen
                             Kontakte auf, besuchen Fachveranstaltungen,
                             führen zahlreiche Gespräche mit Expert*innen.

                             Herbst 2015: Wir veröffentlichen den ersten gro-
                             ßen internationalen Mineralöltest. Gemeinsam
                             mit unseren Kolleg*innen aus den foodwatch-
                             Büros in Frankreich und den Niederlanden las-
                             sen wir 120 Lebensmittel analysieren – 43 Pro-     Weil Supermärkte den Verkauf mineralölbelasteter Lebensmittel nicht stoppten, nahmen wir den Rückruf krebsver-
                             zent enthalten die besonders gefährlichen „aro-    dächtiger Produkte 2015 selbst in die Hand.
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JUNI 2021             7

über ihr Schnellwarnsystem alle Mitgliedsstaa-      Speiseöl. Wir wissen jetzt, dass die Mineralöl-

                                                                                                                                                               Foto: Darek Gontarski
ten. Während im foodwatch-Büro die Anrufe be-       verunreinigung in der Babymilch maßgeblich
sorgter Eltern die Telefone heiß laufen lassen,     aus dem Palmöl stammen muss. Und sind über-
verkauft Nestlé ungerührt weiter seine Produk-      zeugt: Nestlé und Co. hätten genau das schon
te. Das Milchpulver sei „absolut sicher“, behaup-   viel früher wissen können – und müssen.
tet der Großkonzern.
                                                    Juni 2020: Das zuständige Gremium der EU-
November 2019: Die Europäische Behörde für          Kommission einigt sich erstmals auf einen
Lebensmittelsicherheit veröffentlicht ein Son-      Grenzwert für Mineralöl. Dieser ist noch nicht
dergutachten zu unserem Test.                       streng genug und vor allem: nur für Baby-
                                                    milchpulver gültig. Aber dennoch: Wir sind un-                „Zeit für neue Aufgaben“
Dezember 2019: Industrievertreter*innen sind        serem langjährigen Ziel eines strikten Höchst-
auf einem eigens anberaumten Meeting der            werts für gefährliche Mineralöle in allen Lebens-             Geschäftsführer Martin Rücker hat food-
EU-Kommission auffällig kleinlaut. Denn um          mitteln einen Schritt näher gekommen.                         watch verlassen. Martin war 12 Jahre bei
unsere Tests zu kontern, hatten sie eigene Ana-                                                                   uns – nun möchte er sich neuen Aufga-
lysen in Auftrag gegeben. Die Expert*innen          Soweit, so gut? Jein. Im deutschsprachigen Raum               ben widmen. Bis eine Nachfolger*in ge-
aber sind sich einig: Die Industrielabors fanden    und vermutlich in der gesamten EU dürften                     funden ist, wird Thilo Bode, Gründer von
nur dank falscher Methodik keine Rückstände.        heute alle Babymilchprodukte frei von krebsver-               foodwatch und Geschäftsführer von food-
                                                    dächtigen Mineralölen sein. Gut für Millionen                 watch International, die Geschäfte führen.
Anfang 2020: Auch staatliche Labore analysie-       Neugeborene, die damit gefüttert werden. Und
ren Säuglingsmilch – und finden gesundheitsge-      ein großer Erfolg unserer Arbeit und des Ein-                 „Mehr als zwölf Jahre lang hatte ich die
fährdende Mineralöle in Produkten von Nestlé,       satzes zahlreicher Expert*innen in vielen Labors              Ehre, Teil dieser fantastischen Organisa-
Rossmann, Novalac und Humana. Statt öffent-         und einigen Behörden, national wie europäisch.                tion zu sein, ihren internationalen Aufbau
lich zurückzurufen und die Eltern zu warnen,                                                                      mitzugestalten und foodwatch Deutsch-
verschweigen Ernährungsministerien in Bund          Doch es spricht Bände über das Niveau des Ver-                land zuletzt rund vier Jahr lang als Ge-
und Ländern die Ergebnisse. Offenbar ist es         braucherschutzes in Deutschland und der EU,                   schäftsführer zu leiten. Ich bedanke mich
bequemer, sich auf „Eigenkontrolluntersuchun-       dass eine von Bürger*innen finanzierte NGO die                bei meinem großartigen Team und bei
gen“ von Nestlé zu verlassen. Nur durch eine        Qualität der Laboranalyseverfahren vorantrei-                 allen tollen Kolleg*innen in Berlin, Am-
Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz        ben muss. Und Lebensmittelgiganten wie Nestlé                 sterdam, Paris, Brüssel und Wien für die
gelangen wir Monate später an die Ergebnisse.       und Danone dazu zwingen muss, die seit vielen                 inspirierende Zusammenarbeit – und
                                                    Jahren bekannten Gesundheitsgefahren in ihren                 bei den Unterstützer*innen und Mit-
Februar 2020: Von einer Journalistin der Nach-      Produkten endlich zu beseitigen. Für uns steht                gliedern für ihr Vertrauen und die wach-
richtenagentur Reuters aus Malaysia erfahren        fest: Wir können das Thema Mineralöle noch                    sende Unterstützung für foodwatch. Ich
wir, dass Nestlé Druck auf Palmöllieferanten aus-   nicht zu den Akten legen.                                     bin davon überzeugt, dass eine starke,
übt. Diese sollen die Mineralölrückstände in                                                                      internationale Organisation, die mit
Palmöl reduzieren. Produzenten hatten offen-                                                                      schlauen Kampagnen für Verbraucher-
                                                                       MATTHIAS WOLFSCHMIDT
bar Palmkerne auf heißen Asphaltflächen aufge-                                                                    rechte kämpft, bitter Not tut. Ich wün-
schlagen und nicht-lebensmittelgeeignete Ma-                           Matthias ist seit der Gründung von
                                                                                                                  sche foodwatch daher von Herzen den
                                                                       foodwatch für die strategische Kam-
schinenschmierstoffe verwendet. Dadurch si-                            pagnenplanung zuständig. Seit 2017         größtmöglichen Erfolg!“
ckerten gesundheitsschädliche Rohölverbindun-                          ist er stellvertretender Geschäftsführer
gen in das weltweit am meisten konsumierte                             von foodwatch International.
VORLEBEN Wie Internet-Idole Kinder zu ungesundem Essen verleiten - VORGEBEN
8                    JUNI 2021

                        „Mit der Zuckerindustrie Programme gegen Adipositas
                         entwickeln – das ist absurd“
                                                                                               der individuellen Entscheidung. Die Lebens-                             um sage und schreibe 35 Prozent zu reduzieren.
Foto: Sabrina Weniger

                                                                                               mittelindustrie hat einen großen Einfluss. Durch                        Das sind sinnvolle und wichtige Maßnahmen, die
                                                                                               an Kinder gerichtetes Marketing prägt die In-                           auch vom wissenschaftlichen Beirat des Bun-
                                                                                               dustrie schon früh die Essgewohnheiten. Durch                           desernährungsministeriums empfohlen werden.
                                                                                               irreführende Werbung lässt die Industrie Pro-                           Doch die Bundesregierung scheut es bislang,
                                                                                               dukte gesünder erscheinen als sie sind. Und                             sich mit der Industrie anzulegen. Frau Klöckner
                                                                                               durch geschickte Lobby-Kampagnen verhindert                             setzt fast ausschließlich auf sogenannte „freiwil-
                                                                                               sie wirksame politische Maßnahmen, die eine                             lige Selbstverpflichtungen“. Diese Strategie darf
                                                                                               gesunde Ernährung fördern könnten. Die Welt-                            von der künftigen Regierung nicht weiter fortge-
                                                                                               gesundheitsorganisation und zahlreiche medizi-                          setzt werden, denn sie ist wirkungslos.
                                                                                               nische Fachgesellschaften fordern, dass die Re-
                                                                                               gierung die Branche in die Pflicht nimmt. Doch                          Wie optimistisch bist du, dass endlich
                        Im September sind Bundestagswahlen.
                                                                                               stattdessen holt Frau Klöckner die Zuckerindu-                          wirksame Maßnahmen kommen?
                        Oliver Huizinga, Leiter der Abteilung
                                                                                               strie an den Tisch, und entwickelt gemeinsam
                        Recherche und Kampagnen bei food-
                                                                                               mit ihr Programme gegen Adipositas. Das ist                             Es ist nicht die Frage „ob“, sondern „wann“ sich
                        watch, erklärt, was er von der künftigen
                                                                                               absurd. Programme zur Tabakprävention ent-                              die Erkenntnis auch in Deutschland durchsetzt.
                        Ernährungsminister*in erwartet.
                                                                                               wickelt man doch auch nicht gemeinsam mit                               Wir können es uns als Gesellschaft gar nicht an-
                                                                                               Phillip Morris.                                                         ders erlauben. Zum einen, weil es um Millionen
                                                                                                                                                                       Menschen geht, die von vermeidbaren Krank-
                        Ungesunde Ernährung ist eines der größten                              Was müsste die neue Regierung als erstes                                heiten betroffen sind. Zum anderen, weil auch
                        Gesundheitsprobleme in Deutschland –                                   anpacken?                                                               die volkswirtschaftlichen Kosten immens sind.
                        was hat Bundesernährungsministerin Julia                                                                                                       Allein Adipositas kostet uns schätzungsweise
                        Klöckner in ihrer Amtszeit unternommen?                                Die künftige Bundesregierung muss auf die Stim-                         63 Milliarden (!) Euro jedes Jahr, beispielsweise
                                                                                               men aus der Ärzteschaft hören und von den Er-                           durch Gesundheitsausgaben oder auch durch
                        Ungesunde Ernährung wird als Problem mas-                              fahrungen anderer Länder lernen. In Chile ist die                       Produktivitätsausfälle. Der Druck auf die Re-
                        siv unterschätzt, auch von Bundesministerin                            Werbung an Kinder nur noch für gesunde Pro-                             gierenden wird immer mehr zunehmen, eine
                        Klöckner. Jede*r Vierte in Deutschland ist stark                       dukte erlaubt. Comicfiguren und Spielzeugbei-                           gesunde Ernährung wirksam zu fördern. Chile
                        übergewichtig. Etwa 10 Millionen Menschen                              gaben, die Zuckerbomben für Kinder attraktiv                            oder Großbritannien zeigen, wohin die Reise
                        haben Typ-2-Diabetes. Jeder fünfte Todesfall in                        machen, gibt es dort nicht mehr. In Großbritan-                         geht. Das ist das Gute an dieser Krise: Es liegt
                        Deutschland ist auf eine ungesunde Ernährung                           nien wurde eine Limosteuer eingeführt. Plötzlich                        kein Informationsdefizit vor, sondern „nur“ ein
                        zurückzuführen. Das ist nicht nur eine Frage                           war es der Industrie möglich, den Zuckergehalt                          Handlungsdefizit.

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