Einsamkeit und Kreativität des Sammlers: Konstantin Vaginov und Bohumil Hrabal

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Ulrike Goldschweer (Bochum)

Einsamkeit und Kreativität des Sammlers: Konstantin Vaginov und
Bohumil Hrabal

        "Sammeln [...] gehört zu den letzten Sinnstiftungen in sinnarmer Zeit! Hier
        erschließen sich Reiche, zu denen Unbefugte keinen Zutritt haben, hier stellt sich, im
        intimen Kontakt mit den Relikten einer eigenen Welt, jenes stille Glück ein, das
        ausschließlich dem eigenen Daseinsentwurf dienstbar gemacht werden kann."
        (Ilgen/Schindelbeck 1997: 7)

        "Sammeln ist alles andere als unbedenklich. Sammler sind verdächtige Subjekte. [...]
        Sammeln, das scheint das Geschäft der Unproduktiven [...]. Während andere
        schöpferisch tätig sind, überdeckt der Sammler sein inneres Manko mit dem, was
        Menschen neben ihm [...] geleistet haben. Sammeln, das scheint das Geschäft der
        Gleichgültigen. Während andere auf den Barrikaden stehen und das Menschenrecht
        erkämpfen, steht der Sammler bereits vor dem nächsten Postamt und lauert auf die
        erste Überdruckausgabe. Sammeln, das scheint das Geschäft der Herzlosen und
        Sonderlinge. Während sein Nächster auf ein gutes Wort von ihm wartet, auf ein
        befreiendes Gespräch oder eine helfende Tat, sitzt der Sammler ungerührt am
        Schreibtisch und präpariert in aller Ruhe seine Schmetterlinge. Sammeln, das scheint
        das Geschäft der Habgierigen. Während andere ihr letztes Hemd verschenken, füllt der
        Sammler immer nur die eigenen Scheuern." (Hinske 1984: 2)

Ästhetisches Sammeln ist private Obsession und Kulturtätigkeit zugleich.1 Als kulturelle
Handlung erscheint das Sammeln jedoch zwiespältig: Wirkt der Sammler einerseits mit dem
Auswählen, Klassifizieren und Konservieren von Gegenständen dem Verschwinden der
materiellen Kultur und damit dem Vergessen entgegen, so erweisen sich die Kriterien seiner
Auswahl andererseits häufig als zutiefst subjektiv. In dieser Subjektivität liegt jedoch auch die
Kreativität des Sammlers begründet. Es ist diese Gemengelage aus allgemein-kulturellen und
speziell-subjektiven Eigenschaften, die den Sammler und das Sammeln zu interessanten
literarischen Motiven machen.

1. Der Sammler und seine Sammlung

Der Sammler steht immer schon unter dem Verdacht der Exzentrizität, der Triebhaftigkeit
und der Selbstbezogenheit.2 Das Sammeln erscheint als Zwangshandlung und Reaktion auf
einen Mangel; das gesammelte Objekt wird als Fetisch verdächtigt, der eine Leerstelle im
Leben des Sammlers kompensieren soll. Das Sammeln verleiht dem Leben des Sammlers
Kontinuität, die Sammlung verschafft ihm eine Identität. Sie suggeriert ihm die Kontrolle
über die Welt. Angetrieben von der Angst vor ihrer Unübersichtlichkeit, Unordnung und
Kontingenz, der Lust an der Jagd und der Freude am Zurschaustellen und Ordnen erschließt
sich der Sammler Raum und Zeit, indem er Objekte der Peripherie (= der Welt) entnimmt und
dem Zentrum (= seiner Sammlung) einverleibt; Gegenstände aus der Vergangenheit dienen
nun als Absicherung für eine ungewisse Zukunft, welcher der Sammler in der Gegenwart das

1
  Sommer unterscheidet zwischen "ökonomischem" und "ästhetischem Sammeln", vgl. Sommer 1999: 33f.
Ökonomisches Sammeln impliziert den Verzehr und damit das Verschwinden des Sammelgutes.
2
  Vgl. die Beiträge von Hahn 1984, Muensterberger 1994 (insbesondere Kap. I und II) und Stagl 1998.
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Opfer des Sparens bringt. Um den Fetischismusverdacht auszuräumen, wird das Sammeln
durch verschiedene Vorwände begründet, seien sie ökonomisch (erwarteter Wertzuwachs),
ästhetisch, wissenschaftlich oder persönlich (Erinnerung). Der Sammler knüpft soziale
Netzwerke mit anderen Sammlern, um seine Tätigkeit zu vertiefen und sich der
Autismusunterstellung zu entziehen.

Praktisch jeder Gegenstand kann dabei für ihn zum Objekt der Begierde werden, sofern er mit
einem subjektiven Wert belegt ist. Dieser schließt natürlich einen objektiven Wert nicht aus.
Mit der Aufnahme in eine Sammlung wird der Gegenstand den ökonomischen und
ökologischen Kreisläufen entzogen (Pomian 1987: 16) und in einen neuen Kontext – der
Sammlung – eingefügt. Bei der Zusammenstellung einer Sammlung sieht sich der Sammler
mit einer Reihe von inneren Widersprüchen konfrontiert, darunter mit den Paradoxien der
Vergleichbarkeit des Unvergleichlichen, der Verfügbarkeit des Unverfügbaren und der
Zerstörung durch Konservierung (Winzen 1997: 13). Die erste Paradoxie fußt dabei auf dem
Verlust der Einzigartigkeit des Gegenstandes, sobald er in eine Gruppe ebensolcher Objekte
eingereiht wird. Der Sammler wird sich bemühen, diesem Verlust durch eine ausgefeilte
Klassifikation und die Konzentration auf das unterscheidende Detail entgegenzuwirken. Die
Folge ist möglicherweise das Ausufern der Klassifizierungskriterien, welche die drohende
"Sedimentierung" der Sammlung (Stagl 1998: 47) nicht aufhalten können oder sie sogar
befördern. Die zweite Paradoxie meint die Illusion, durch die Sammlung über Vergangenheit
(Gegenstände) und Zukunft (Wertzuwachs) verfügen zu können. Die dritte Paradoxie betrifft
schließlich den Gegenstand selbst, um dessen Restaurierung, Konservierung und sichere
Aufbewahrung sich der Sammler bemühen wird. Diese Bemühungen erweisen sich allein
schon deshalb als illusionär, weil die Entfernung des Gegenstandes aus dem Kontext und das
Stilllegen seines natürlichen Zerfallsprozesses bereits als Veränderungen aufgefasst werden
können – von der Restaurierung und Wiederherstellung eines früheren Zustandes oder der
ästhetischen Zurichtung gar nicht zu reden. Schließlich wird der Sammler seine Sammlung
möglicherweise an einem geeigneten Ort (und sei es das eigene Wohnzimmer) ausstellen und
so die Vorstufe eines Museums einrichten.
   Nicht jede Sammlung mündet jedoch in ein Museum. Ein Museum vereinigt die
Funktionen Sammeln, Konservieren und Ausstellen, wobei es vor allem letztere ist, die das
öffentliche Bild des Museums prägt. Während Sammeln im allgemeinen als dynamischer
Vorgang gilt, ist das entscheidende Merkmal der musealen Ausstellung ihre Statik: Sie
repräsentiert eine Gemeinschaft, wurde von dieser mit einem bestimmten Ziel konzipiert und
zeigt entweder das von ihr Erwünschte als Vorbild oder grenzt das von ihr Unerwünschte oder
Abgelehnte (Stichwort: Entartete Kunst!) mit Hilfe seiner "gefahrlosen Präsenz" (Pazzini
1990: 89) im Museum aus. Museen sind immer Ausdruck von Gemeinschaft, sei sie durch
gemeinsame Interessen oder Gruppenzugehörigkeit gestiftet, und sie implizieren daher im
Gegensatz zur Sammlung immer ein Publikum.

Sammeln steht im Dienste der Erinnerung. Begreift man das Gedächtnis nicht nur als
Speicher, dem man nach Belieben Erinnerungen entnehmen kann, dann bedarf die Erinnerung
eines Anlasses und der kommunikativen Elaborierung mit anderen, um sich zu konkretisieren
(Schmidt 1992: 12ff.) – und genau dies leistet das Sammelobjekt: Es stellt einen Anlass dar,
über seine Geschichte, seinen Erwerb zu reflektieren und sich darüber mit anderen
auszutauschen.

Die Kreativität des Sammlers beruht auf dem Umgang mit dem gesammelten Objekt. So rückt
der Sammler in die Nähe des Künstlers, wenn man das Heraus- oder Hinstellen eines
Gegenstandes als kreativen Akt auffasst. Das Objekt verändert als Teil einer Sammlung seine
Qualität, denn nicht mehr seine Nützlichkeit steht im Vordergrund, sondern es gewinnt eine
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neue Funktion als Bedeutungsträger – "Semiophore" – hinzu: Es besitzt einen "Tauschwert
[...], ohne einen Gebrauchswert zu haben" (Pomian 1987:17) – und diese Funktion teilt es mit
dem Kunstwerk (Pomian 1987, 13f.; Hahn 1984, 13). Weitere kreative Aspekte des Sammelns
sind von eher abstrakter Natur, etwa wenn es um die Erfindung von Sammelvorwänden und
Klassifikationskategorien geht.

2. Der Sammler als literarisches Motiv

Der Sammler wird als Sonderling durch seine verdächtige Exzentrizität zu einem Aufsehen
erregenden Protagonisten literarischer Texte. Ich möchte mich im Folgenden auf zwei
Schriftsteller – einen russischen und einen tschechischen – konzentrieren, die den Sammler in
ihren Texten verewigt haben: Konstantin Vaginov als Autor von Romanen, in denen letztlich
die "totale Sammlung" propagiert wird, und Bohumil Hrabal, in dessen Erzählung "Allzu
laute Einsamkeit" Sammler "wider Willen" porträtiert werden, deren Kreativität in der
Zerstörung wurzelt.

Konstantin Vaginov (1899-1934),3 der nach einer Odyssee durch die Avantgardegruppen der
zwanziger Jahre bei den Obėriuten seine künstlerische Heimat fand, und der selbst auf eine
beachtliche Sammlerkarriere zurückblicken konnte (Bohnet 1998a: 378; Poole 1999: 260),
schrieb – neben einer Vielzahl von Gedichten – vier Romane.4 Gemeinsam ist ihnen, dass ihre
Helden manische Sammler von Alltagsrelikten sind und dass sie formal und inhaltlich keine
kohärenten Geschichten oder gar Botschaften bereithalten, sondern sich einem
fragmentarischen Erzählgestus verschrieben haben. Die Protagonisten manövrieren durch den
sowjetischen Alltag, der jedoch hinter die durch Sammelleidenschaft und Spiel determinierte
private Welt zurücktritt. Von Roman zu Roman werden die Sammler exzentrischer, ihre
Sammelobjekte immer beliebiger, von Büchern über Relikte der Alltagskultur bis hin zu
abgeschnittenen Fingernägeln, Zigarettenkippen und nicht-materiellen Gegenständen wie
Träumen im letzten, unvollendet gebliebenen Roman5 Garpagoniana (1934), dessen Titel auf
den Helden von Molières Komödie Der Geizige, Harpagon, rekurriert. Vaginov setzt damit in
seinen Romanen dem Sammler um des Sammelns willen ein Denkmal, denn auf seine
Protagonisten treffen alle oben genannten Aspekte zu:

3
  Konstantin Konstantinovič Vaginov (Vagengejm, 1899-1934) gab 1921 sein Debüt im literarischen Kreis um
N. Gumilev. Er war Mitglied verschiedener Avantgardegruppen, bis er sich schließlich der 1927 von D. Charms,
A. Vvedenskij und N. Zabolockij gegründeten "Vereinigung der realen Kunst" (Obėriu – Ob-edinenie real'nogo
iskusstva) anschloss. Nach seinem Tuberkulose-Tod 1934 geriet sein Werk zunächst in Vergessenheit, um nach
der politischen Wende eine Renaissance zu erleben (alle Angaben vgl. Bohnet 1998a: 375f., Lauer 1993: 181f.,
Nikol'skaja/Ėrl' 2002: 183-190). Es liegen zwei Monografien zu seinem Prosawerk vor (von Heyl 1993 und
Bohnet 1998b).
4
  (1) Kozlinaja pesn' (Bocksgesang), 1928; (2) Trudi i dni Svistonova (Werke und Tage des Svistonov), 1929; (3)
Bambočada (Bambocciade) 1931 und (4) Garpagoniana (dt. Auf der Suche nach dem Gesang der Nachtigall),
1934. Die letzten beiden Romane überschneiden sich im Figureninventar; Bohnet (1998b: 25) liest
Garpagoniana daher als Fortsetzung von Bambočada. Alle Texte liegen mittlerweile auch auf deutsch vor (Vgl.
Vaginov 1928b, 1929b, 1931b und 1934b). – "Bambocciade" bezeichnet eine Gattung von grotesken
Genreszenen, wie auch aus Vaginovs Motto zu diesem Roman hervor geht (il bamboccio = Krüppel, Beiname
des Künstlers P. van Laer [17. Jh]).
5
  Vaginov hatte den Roman fertig gestellt, aber zur "Überarbeitung" zurück erhalten. Er erschien erstmals 1983
unter dem Titel Garpagoniada in Ann Arbor in den USA (vgl. Nikol'skaja/Ėrl' 2002: 189).
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(1) Für sie alle ist Sammeln die Kompensation eines Mangels;6 es gleicht die mangelhafte
sowjetische Wirklichkeit aus, die durch Langeweile und Gleichförmigkeit charakterisiert und
zu einem Reservoir für Sammelobjekte degradiert wird (von Heyl 1993: 84f.). Das Sammeln
okkupiert nach und nach ganze Lebensbereiche und überwuchert jede berufliche Tätigkeit.7

(2) Sammeln ist Anlass für Gemeinschaft, die einerseits – vor allem in "Bambočada" (1931)8
– als eine Art Theaterwelt gelebt, andererseits – in Garpagoniada – aber auch als Konkurrenz
bei dem Erwerb der Sammelobjekte erfahren wird. Die Welt der Sammler erscheint als
Paralleluniversum, in dem die Gesetze der normalen Welt nicht gelten.

(3) Der Fetischismusverdacht wird durch verschiedene Vorwände ausgeräumt: Sammeln ist
aus der Sicht des Sammlers von sozialer und wissenschaftlicher Bedeutung; so argumentiert
etwa der Gourmet und Sammler von im weitesten Sinne kulinarisch-gastronomischen
Objekten Toropulo aus Bambočada:

    "Ich möchte eine interessante Seite unseres Lebens dem Vergessen entreißen: denn all
    diese Bonbonpapierchen vergehen spurlos; dabei kommt in ihnen die Ästhetik des Volkes
    zum Ausdruck, und es ist ein Feld des menschlichen Geistes, nicht weniger ergiebig als
    jedes andere: Darin steckt Politik ebenso wie Geschichte und Ikonographie." (Vaginov
    1931b: 55)I

Ein anderer Vorwand ist die persönliche Erinnerung, die ich von der kollektiven trennen
möchte: So ist die Sammlung Ermilovs, der dem gleichen Kreis angehört, ganz der
Erinnerung an seine Tocher, eine früh verstorbene Ballerina, gewidmet. Für den
"Systematisator" Žulonbin, einen Protagonisten aus Garpagoniada, ist es hingegen die
Klassifikation, die als Rechtfertigung herhalten muss, um ihn vom Verdacht der Habgier, die
im Titel des Romans anklingt, zu befreien:

    "Die Klassifikation ist die erhabenste Schöpfung, [...] die Klassifikation ist im Grunde
    genommen die Formgebung der Welt. Ohne Klassifikation gäbe es keine Erinnerung. Ohne
    Klassifikation wäre jegliches Erfassen der Realität unmöglich. Die Menschen verteilen
    alles unbewußt in Schubladen. Ich tue es bewußt. Der Klassifikator ist der beste Mensch.
    [...] Halten Sie mich für keinen Geizhals, [...] ich bin der Menschheit äußerst nützlich. Es
    ist wahr, daß ich mich seelisch kastriert habe, doch habe ich dies alles für das erhabene
    Werk des Systematisierens getan. [...] Denn wäre ich ein Geizkragen, würde ich Dinge
    sammeln, die einen realen Wert haben. Ich aber sammle, wie Sie sehen, allen möglichen
    Kram, oder das, was für Kram gehalten wird. [...] Ein Geizhals würde Ihnen seine Schätze
    niemals zeigen. [...] Während ich sie Ihnen vorführe, erinnere ich mich, wieviel Mühe es
    mich gekostet hat, sie zu erwerben [...]. Das alles tat ich um der Klassifikation willen."
    (Vaginov 1934b: 82f.)II

6
  Bohnet (1998a: 381f.) fasst das Sammeln als Phänomen am Beispiel von Bambočada unter fünf Aspekte: "(1)
das Sammeln und das Zufallsprinzip oder die Leidenschaft des Sammlers ist immer wach; (2) das Sammeln und
die Nivellierung oder die Verhinderung eines 'echten' Dilemmas, eines 'echten' Konflikts; (3) das Museum des
Mülls [...] (4) Sammeln als kulturologische Instanz oder die Gemeinsamkeiten von Sammeln und Spielen; (5)
Sammeln und Spielen oder Textmuseum und Textspiel." Dies entspricht in etwa den von mir eingangs
dargestellten Kriterien. Vgl. dazu auch von Heyl 1993: 83.
7
  Vgl. die Beschreibung von Toropulos Arbeitsplatz (Bambočada, Vaginov 1931a: 323ff.).
8
  So trifft sich der Gourmet Toropulo in Bambočada mit anderen Sammlern, um Gelage zu feiern und sich über
ihre Sammlungen auszutauschen (vgl. etwa Vaginov 1931a: 283). Zusammen mit dem Spieler Punševič gründet
Toropulo eine "Gesellschaft für das Sammeln und Studieren von Kleinodien des im Wandel begriffenen Alltags"
(Obščestvo sobiranija i izučenija meločej izmenjajuščegosja byta", Vaginov 1931a: 315).
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Was Žulonbin jedoch so sorgfältig klassifiziert, ist objektiv betrachtet Müll jeglicher Art und
Provenienz – außer den bereits erwähnten Fingernägeln und Zigarettenkippen handelt es sich
z.B. um

     "beschriebenes und unbeschriebenes Papier, Weinflaschen, die Figuren darstellten,
     eingetrocknete Arzneifläschchen mit Doppeladler, vertrocknete Blätter, getrocknete
     Blumen, Käfer, übersät mit kleinen Spinnen, Schmetterlinge, von Motten zerfressen,
     Hochzeitsbillets, Visitenkarten von Kindern, Damen und Herren mit und ohne Kronsiegel,
     Brotstücke mit einem Nagel, Papirossy mit einem Bindfaden, der wie ein Horn aus dem
     Tabak herausragte, Brötchen mit Küchenschaben, Proben von imperialistischem und
     revolutionärem Gebäck, Muster von bourgeoisen und proletarischen Tapeten,
     Bleistiftstummel staatlicher und privater Herstellung, Ansichtskarten mit jedermann
     bekannten Gemälden, benutzte und unbenutzte Schreibfedern, Kupferstiche,
     Lithographien, ein Siegel des heiligen Johannes von Kronstadt, eine Garnitur
     Klistierspritzen, unechte und echte Steine ([...]), Einladungen zu Komsomolzen- und
     antireligiösen Veranstaltungen, zu einer Tasse Tee anläßlich des Eintreffens einer
     Delegation, zu Vorträgen über die internationale Lage, Packen von Straßenbahnlosungen,
     1.-Mai-Plakate, eine Wanderfahne, die sich amortisiert hatte, sogar ein Schildkrötenorden
     für das sklavische Tempo bei der Bekämpfung des Analphabetismus [...]." (Vaginov
     1934b: 8f.)III

Die Zwangshandlung des Sammelns wird durch den Auftrag, die Welt zu ordnen, den sich der
Sammler selbst stellt, gerechtfertigt, das Klassifizieren wird in eine kreative Tätigkeit
umgedeutet. Letztlich findet sich für jedes Objekt eine Rechtfertigung – und sein Erwerb
heiligt jedes Mittel:

     "Einige Pfennigfuchser gaben sich stolzen Wunschträumen hin, wobei sie den ästhetischen
     Wert einiger Dinge (den von Spitzen) übertrieben, andere erklärten ihr Anhäufen (von
     Damenhandschuhen) mit dem Wunsch, ein Fachbuch zur 'Geschichte des
     Damenhandschuhs' zu verfassen, andere wiederum mit der Liebe für einen das Auge
     erfreuenden Anblick (von Brokatstoffen). So lebte der Systematiker inmitten dieser
     eigenartigen Kapitalisten, Banditen und Räuber, sie empfanden keine Abscheu vor
     Diebstahl und davor, Gegenstände zu rauben, [...]. Diese Sammler waren wahre Ausbeuter,
     ungeahndet, grausam und habgierig. [...] Diese Ausbeuter lebten ohne Konzession in freien
     räuberischen Verbänden. Unter Bedingungen, die eine private Bereicherung eigentlich
     ausschlossen, befriedigten sie, sämtliche Gesetze umgehend, ihre Leidenschaft." (Vaginov
     1934b: 12f.)IV

Hier gerät der auf jedweden Zivilisationsmüll gerichtete Sammeltrieb zur Parodie eines
Kapitalismus, der auch unter sozialistischen Lebensbedingungen seine Nische findet; Habgier
wird zum differenzierenden Merkmal und zum Antrieb von Menschen, die sich dem
sozialistischen Lebensentwurf verweigern.

(4) Das Museum ist hingegen der Tod der Sammlung, weil sie dadurch in einen statischen
Zustand – die Ausstellung mit einem didaktischen Ziel – überführt wird.9 Verräterisch ist
dabei schon die Wortwahl, wenn etwa Toropulo von einem Museum träumt, "wo Konfekt-
und Apfelsinenpapierchen und Speisekarten ihre Ruhe finden würden":V10

9
 "Die Wahrheit des Museums ist demnach der Tod" (Bohnet 1998: 398).
10
  Übersetzung und Hervorhebung von mir, UG. A. Tretner übersetzt hier "pokoit'sja" ungenau mit "magaziniert
werden", vgl. Vaginov 1931b, 86.
                                                                                                         5
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     "In Analogie dazu ist auch das Museum, das Toropulo gründen will, [...] einem Friedhof
     der vergangenen und noch vergehenden Lebenskultur vergleichbar, wobei die Assoziation
     des Museums mit dem Friedhof bereits im Verb 'pokoit'sja' angedeutet ist, das sowohl
     'aufbewahren' als auch 'begraben liegen' bedeutet [...]." (von Heyl 1993: 88)

Ruhe aber bedeutet also hier den Tod. Deshalb wird diese Idee auch nicht in die Tat
umgesetzt.

(5) Formal gerät der Text dabei selbst zu einer Sammlung: "[E]r vereint heterogenste Teile /
Texte / Zitate, entreißt sie ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang und stellt sie wie
zufällig nebeneinander." (Bohnet 1998a: 386).

Vaginovs Sammler sind also durchaus kreativ – zumindest was die Erfindung von Kategorien
und Sammelvorwänden angeht. Diese Tätigkeit erscheint vor dem Hintergrund des
Verschwindens sowohl der vorrevolutionären wie auch der wenig haltbaren gegenwärtigen
Alltagskultur als existenziell notwendig; sie verleiht dem Leben der Sammler einen Sinn
jenseits des offiziell verordneten (der im Übrigen keine Rolle spielt). Das Sammeln ist mehr
als nur Spiel, okkupiert ganze Lebensbereiche und führt Menschen zusammen, die ansonsten
nichts gemeinsam haben.11 Einsam bleibt der Sammler nur dann, wenn es um die Jagd nach
dem einzelnen, begehrten Gegenstand geht.

Dies ist bei Bohumil Hrabal (1914-1997) anders: Nicht die Gemeinschaft der Sammler und
die Klassifizierung als Basis und Rechtfertigung der Sammeltätigkeit stehen im Vordergrund,
sondern die Einsamkeit des Individuums. In [Samá] Hlučná samotá12 (Allzu laute Einsamkeit,
1976) verarbeitete Hrabal seine Erfahrungen als Arbeiter in einer Altpapiersammelstelle, wo
er zwischen 1954 und 1959 beschäftigt war (Zgustová 1997: 145).13 Im Gegensatz zu
Vaginovs Protagonisten begnügen sich Hrabals Helden nicht mit dem Anhäufen von

11
   Vgl. Poole 1999: 260ff.: Die Sammlung werde für Vaginov zum "poetologischen Prinzip", das über den
Roman hinausgreift und verschiedene, "räumlich und ideologisch getrennte Großstadtbewohner" in einer "Poetik
der Begegnung" im Bachtinschen Sinne zusammenführt.
12
   Der Roman existiert in mehreren Varianten (alle tragen das Datum Juli 1976); der Titel variiert zwischen
Samá Hlučná samotá und Hlučná samotá (also Allzu laute Einsamkeit und Laute Einsamkeit). In der deutschen
Übersetzung wurde der längere Titel übernommen. Als endgültige Version gilt die dritte, die in den achtziger
Jahren im Samizdat kursierte. Die erste tschechische Buch-Version erschien 1980 in Köln. Die Varianten
unterscheiden sich vor allem auf der Sprachebene: die erste Fassung wurde in Versen abgefasst (und stellt einen
einzigen endlosen Satz dar), die zweite nach Auskunft des Autors in Prager Umgangssprache, und die dritte
schließlich in Schrifttschechisch und "normaler" Syntax. Auch der Schluss ist unterschiedlich: Besteht in den
ersten beiden Fassung am Selbstmord des Protagonisten kein Zweifel, so wird dies in der letzten Fassung durch
einen Traum abgemildert. Der Selbstzensur zum Opfer fielen zeitkritische, sexuell-erotische und/oder
körperbezogene sowie philosophisch-religiöse Passagen. Zur Geschichte dieses Textes vgl. Roth 1986: 137-179.
Alle drei Varianten sind in Band 9 von Hrabals 1994 erschienenen gesammelten Werken veröffentlicht, vgl.
auch die editorischen Anmerkungen (Hrabal 1976a: 243ff.).
13
   Bohumil Hrabal (1914-1997) hat neben dieser Tätigkeit nach seinem Jurastudium viele Berufe ausgeübt:
Schreiber, Fahrdienstleiter, Versicherungsagent, Handlungsreisender, Spielwarenverkäufer, Stahlarbeiter,
Kulissenschieber. 1963 erschien sein erstes Buch. 1965 wird er Mitglied des – 1970 aufgelösten –
Schriftstellerverbandes. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings steht Hrabal unter starkem Druck,
entscheidet sich aber anders als andere Schriftsteller gegen das Exil. Hrabal steht unter Publikationsverbot und
verbreitet seine Texte im Samizdat. 1975 erscheint in der Zeitschrift Tvorba ein gefälschtes Interview, das ihn
als linientreuen Mitläufer ausweist und ihn in den Augen vieler anderer Schriftsteller diskreditiert (vgl. Zgustová
1997: 235f.). 1997 stirbt er nach einem Sturz aus dem Fenster eines Krankenhauses.
Zu Hrabals Leben und Werk vgl. auch die Web-Site der Bohumil-Hrabal-Gesellschaft unter
http://hrabal.eunet.cz/hrabal/bh.htm, die biografische Angaben, eine ausführliche Werkbibliografie (unter
Einbeziehung von Samizdat-Veröffentlichungen, Theater- und Filmbearbeitungen sowie Internetquellen) und
eine Zusammenstellung der Sekundärliteratur seit 1956 umfasst (leider nur in tschechischer Sprache).
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Gegenständen; sie werden durch Zerstörung umgestaltet und erst so mit einem Wert
ausgestattet.

Der Held der Erzählung, Haň'ta, arbeitet seit 35 Jahren im Kellergeschoss einer
Altpapiersammelstelle, wo er das angelieferte Papier – von blutigen Fleischereipapierabfällen
über alte Bibliotheken bis hin zu ganzen Auflagen nagelneuer, aber der Zensur zum Opfer
gefallener Bücher – in einer mechanischen Presse zu Paketen für die Papiermühle verarbeitet:
Kulturstoff wird wieder zu Rohstoff. Seinen historischen Hintergrund hat dieses Szenario in
der Vernichtung von über 30 Millionen Büchern allein zwischen 1948 und 1955 nach der
kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslovakei (Zgustová 1997: 109) sowie in
der Degradierung zahlloser Intellektueller während der Zeit der "Normalisierung" nach 1968.

Haňt'a ist fasziniert von den Mengen an Büchern, die täglich in seinen Keller geschüttet
werden – und verzweifelt fast an der Aufgabe ihrer Zerstörung. Er nimmt viele davon mit
nach Hause, wo er ständig in der Gefahr lebt, von ihnen erschlagen zu werden (Hrabal 1976a:
19 bzw. 1976b: 21f.) – eine Gefahr, die seinen Tod in der Papierpresse vorwegnimmt. Andere
Bücher trägt er zu "Seinesgleichen", aus dem offiziellen Leben heraus gefallenen
Intellektuellen, die ebenfalls in irgendwelchen Kellerlöchern und Kloaken arbeiten (Hrabal
1976a: 22f. bzw. Hrabal 1976b: 27) und mit denen er vielleicht eine Art
Sammlergemeinschaft eingegangen ist (Roth 1986: 189). Diese "Mitsammler" stehen jedoch
nicht im Mittelpunkt seines Interesses; Haňt'a sucht vielmehr die Gemeinschaft der
vernichteten Autoren und ist sich ansonsten selbst genug: Er klassifiziert nicht und hat keinen
wissenschaftlichen Anspruch oder Vorwand, er ist, wie er ständig wiederholt, "weise gegen
seinen Willen" – und er ist auch Sammler gegen seinen Willen. Er muss den begehrten
Objekten nicht nachjagen, sie kommen zu ihm, sie überfluten ihn geradezu, die Sammlung
wird ihm von außen aufgezwungen. Da er mit dem Sammeln der Menge an Büchern nicht
Herr werden und seine Trauer über die Zerstörung nicht kompensieren kann, wandelt er das
Zerstörungswerk in einen kreativen Akt um:14 Haňt'a gestaltet die Pakete, indem er ihnen ein
aufgeschlagenes Buch eines großen Dichters als "Herz" einverleibt und die Außenseiten mit
Kunstdrucken verkleidet. Seine Arbeit wird so zu einer rituellen Tätigkeit, zu einer
Zwangshandlung, die sein Leben strukturiert, ihm einen Sinn gibt und als Reverenz an die so
vernichteten Autoren verstanden werden kann:

     "Das ist dann meine Messe, mein Ritual, dass ich all die Bücher nicht bloß lese, sondern
     nach dem Lesen in eines der Pakete lege, denn jedes Paket will ausstaffiert sein, muß etwas
     von meinem Charakter haben, meine Unterschrift tragen. [...] Vorigen Monat brachte man
     und schüttete mir in den Keller sechs Zentner alte Meister [...], und so rahme ich jetzt jedes
     Paket seitlich mit Reproduktionen ein [...]. Und nur ich allein auf der ganzen Welt weiß
     auch, daß jedes Paket ein Buch im Herzen trägt, da einen aufgeschlagenen Faust, dort
     einen Don Carlos, hier mitten im abscheulichen Wust blutiger Pappdeckel Hyperion, und
     hier in dem Paket aus Zementsäcken Also sprach Zarathustra. [...] So bin einzig und allein
     ich selbst gewissermaßen Künstler und Zuschauer zugleich [...]." (Hrabal 1976b: 11f.)VI

Diese Pakete sind seine eigentliche Leistung; er kann die Bücher nicht alle vor der
Vernichtung in der Papiermühle bewahren, aber er kann ihnen in den Paketen ein rituelles
Begräbnis ausrichten. Das Sammeln wird damit auf eine andere Ebene transzendiert; der
Sammler tut etwas, was seiner Natur eigentlich widerspricht: er lässt los. Als Haňt'as Arbeit

14
  "Hanta verwirklicht in seinen Papierballen in einem schöpferischen Akt der Zerstörung einerseits ewige
Variationen, andererseits eine feste Welt, die der Zerstörung zum Trotz stehen bleibt." (Roth 1986: 187).

                                                                                                       7
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von Maschinen und effizienteren Brigaden in oberirdischen Hallen übernommen werden soll,
zieht er einer anderen Arbeit den Tod in der eigenen Presse vor – und nimmt damit selbst den
Platz der Autoren ein, die er symbolisch über ihre Bücher in den Paketen begraben hat; er
wird quasi Teil seiner Sammlung, die auf dem Umweg über die Papiermühle in allen
Papierprodukten weiterlebt.

Haňt'a ist jedoch nicht der einzige Sammler in dieser Erzählung; im Schicksal seines Onkels,
eines pensionierten Eisenbahners, der nach seinem Tod ebenfalls eine Sammlung hinterlässt,
wird die oben ausgeführte Idee des Sammelns durch kreative Zerstörung weiter akzentuiert.
Die Sammlung des Onkels besteht aus seltsam geformten Metallplättchen:

     "Und als ich den Wandschrank geöffnet hatte, jawoll, da war sie, diese Sammlung, die mir
     der Onkel so oft gezeigt hatte, aber dafür hatte ich nie Verständnis gehabt, eine Sammlung
     von Metallplättchen in allen Farben, ganze Kisten voll davon waren's gewesen, und mein
     Onkel hatte sich noch im Dienst die Zeit auch damit vertrieben, daß er Stücke von Kupfer
     und Messing und Zinn und Eisen und anderem Metall auf die Schienen legte, und wenn der
     Zug vorbeigefahren war, sammelte er die bizarr verformten Stückchen wieder auf, jeden
     Abend stellte sie der Onkel dann zu ganzen Zyklen zusammen, und jedes dieser
     Blechstücke bekam auch seinen Namen, je nach Assoziation, die es hervorrief, wie
     Schaukästen mit asiatischen Schmetterlingen sahen all diese Kisten und Kassetten aus, sie
     sahen aus wie leere Bonbonieren voller bunter und zerknüllter Nougatpackungen aus
     Stanniol." (Hrabal 1976b: 58f.)VII

Zum begehrenswerten Sammelobjekt wird hier der Gegenstand erst durch seine Zerstörung.
Diese Sammlung bedarf keines (pseudo-)rationalen Vorwandes oder übergeordneten Zweckes
mehr; ihre ästhetische Qualität aus der Sicht des Sammlers ist vollkommen ausreichend und
wird auch zur Basis der Klassifikation. Für Haňt'a, den Neffen und Erben, ist die Sammlung
jedoch nichts weiter als Müll – ihr ästhetischer Sinn erschließt sich ihm nicht. Damit wird der
selbstgestellte Auftrag, den Büchern ein rituelles Begräbnis auszurichten und die Erinnerung
an die Autoren zu bewahren, der zum Vorwand seiner eigenen Sammlung wird, noch einmal
unterstrichen. Schließlich bekommt der Onkel seine Sammlung mit ins Grab, so dass auch
hier Sammler und Sammlung im Tode vereint sind.

Auch hier wird der Text letzlich formal zur Sammlung: Anekdoten aus Haňt'as Leben
wechseln mit philosophischen Exkursen, die Haňt'a den Büchern entnimmt, und Erlebnissen
aus dem Alltag – oder wie es Hrabals Biografin Monika Zgustová (1997: 142) formuliert:

     "Hrabals Literatur war ein Abbild all dessen, was ihn ungemein faszinierte, die Prager
     Hinterhöfe, angekramt mit vergessenen Resten alter Materialien, Drähten, Schrauben,
     Maschinenbestandteilen und Schrott; seine Texte ähneln alten verkommenen Fabriken mit
     eingeschlagenen Fensterscheiben und mit weißer Kreide und schwarzem Spray
     beschmierten Wänden."15

15
  Vgl. auch Bock (1993: 144): "Typischerweise sieht Hrabal sich selbst als einen 'Fotoapparat', einen 'Sammler'
und sogar als einen 'Taschendieb', der darauf aus sei, den Menschen ihre Sprache und ihre Geschichten 'vom
Mund abzuschneiden'."
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3. Schlussfolgerungen

In beiden Fällen entspringt die Sammelleidenschaft einer ausweglosen Situation: Neben dem
freudlosen sozialistischen Alltag ist es vor allem das Bewusstsein der um sich greifenden
Zerstörung, der Einhalt geboten werden soll. Obwohl das Sammeln zu einem existenziellen
Bedürfnis wird, bedarf es eines rationalen Vorwandes, der in einem Bewahrungs- und
Weltordnungsauftrag, den sich die Sammler selbst stellen, besteht. Sammeln allein genügt
nicht; es wird durch weitere kreative Tätigkeiten ergänzt, sei es eher abstrakt durch das
Erfinden neuer Klassifikationskategorien (Vaginov), sei es konkret durch die Umgestaltung
oder Herstellung eines Sammelobjektes (Hrabal). Objektiver und subjektiver Wert der
Objekte fallen in eins: Bücher und Müll stehen auf einer ontologischen Ebene. Jede
Sammlung entpuppt sich letztlich als Müll – bei der Klassifizierung als "Kultur-" oder
"Schadstoff" kommt es auf den Standpunkt an, der in diesem Kontext nur ideologisch sein
kann. Das Sammeln von scheinbar wertlosen Objekten wird zum letztmöglichen Ausdruck
von Individualität. Die Sammlergemeinschaft spielt für den Sammler nur bedingt eine Rolle;
bei der Wahl, dem Erwerb und der Umgestaltung des Objektes handelt jeder für sich allein.
Das Sammeln okkupiert dabei letztlich das Leben des Sammlers: Hrabals Protagonist
integriert diese Tätigkeit in seine eigentliche Arbeit und trägt durch den daraus resultierenden
Verlust an Produktivität zur Vernichtung seines Arbeitsplatzes bei. Bei Vaginovs Helden wird
das Sammeln sogar zum einzigen relevanten Lebenszweck. Einer im Verschwinden
begriffenen Welt wird so das Bewahren entgegengestellt – und wo dies nicht mehr möglich
ist, wächst der Sammler über sich hinaus und ersetzt das Anhäufen durch ein systematisches
Loslassen – durch ein symbolisches Begräbnis. Das Klassifizieren und Ordnen einer Welt, die
nur aus Trödel besteht, in der es nur noch subjektive Wertzuschreibungen gibt, gerät
schließlich zur Parodie eines kapitalistischen Lebensentwurfs unter sozialistischen
Bedingungen.

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___________
I
   "Я хотел бы спасти от забвения интересную сторону нашей жизни; ведь все эти конфетные бумажки
пропадают бесследно; между тем в них проявляется и народная эстетика, и вообще эта область
человеческого духа не менее богата, чем всякая другая: здесь и политика, и история, и иконография."
(Vaginov 1931a: 267)
II
    "Классификация – величайщее творчество [...] Классификация, собственно, – оформление мира. Без
классификации не было бы и памяти. Без классификации невозможно никакое осмысление
действительности. Все люди невольно размещают все по ящичкам. Я это делаю сознательно.
Классификатор – лучший человек. […] Не считайте меня скупцом, я приношу великую пользу
человечеству. Это верно, что я духовно оскопил себя, но все это для великого дела систематизации.
Систематизация – это моя великая страсть. […] Ведь если б я был скопидомом, то я собирал бы
предметы, имеющие реальную ценность. Я же, как вы видите, собираю всякую чепуху или то, что
считается чепухой. […] Ведь скупец не показал бы вам своего богатства. [...] Показывая, я вспоминаю,
сколько трудностей доставило мне его приобретение […]. Все это я делал ради классификации."
(Vaginov 1934a: 389)
III
     "[...] бумажки исписанные и неисписанные, фигурные бутылки из-под вина, высохшие лекарства с
двуглавыми орлами, сухие листья, засушенные цветы, жуки, покрытые паучками, бабочки, пожираемое
молью, свадебные билеты, детские, дамские, мужские визитные карточки с коронами и без них, кусочки
хлеба с гвоздем, папиросы с веревкой, наподобие рога торчащей из табаку, булки с тараканом, образцы
империалистического и революционного печенья, образцы буржуазных и пролетарских обоев, огрызки
государственных и концессионых карандашей, открытки, воспроизводящие известные всему миру
картины, использованные и неиспользованные перья, гравюры, литографии, печать Иоанна
Кронштадтского, набор клизм, поддельные и настоящие камни [...], пригласительные билеты на
комсомольские и антирелигиозные вечера, на чашку чая по случаю прибытия делегации, на доклады о
международном положении, пачки трамвайных лозунгов, первомайских плакатов, одно
амортизированное переходящее знамя, даже орден черепахи за рабские темпы ликвидации
неграмотности [...]". (Vaginov 1934a: 339-340)
IV
     "Одни из скопидомов погружались в гордые мечты, преувеличивая эстетическую ценность некоторых
предметов (кружев), другие объясняли свое накопление (дамские перчатки) желанием написать особую
книгу «История дамских перчаток», третьи – любовь к зрелищам, радующим глаз (парча). Так жил
систематизатор среди этих своеобразных капиталистов, бандитов и разбойников, не брезговавших
кражей [...] предметов. Эти собиратели были настоящие эксплуататоры, неуловимые, жестокие и
жадные. [...] Эти эксплуататоры не брали патента, они жили вольной разбойничьей ассоциацией. В
невозможных для частного накопления условиях они все же, обойдя все законы, удовлетворяли свою
страсть." (Vaginov 1934a: 342)
V
    "[...] где будут покоиться конфетные, апельсинные бумажки, меню" (Vaginov 1931a: 287).
VI
     "To je moje potom mše, můj rituál, abych každou takovou knížku neje si přečetl, ale pro přečtení ji uložil do
každýho balíku, protože já každý balík musím vyčabrakovat, musím mu dát můj charakter, můj podpis. [...]
Minulý měsíc mi přivezli a shodili do sklepa šest metrických centů reprodukcí slavných mistrů [...], a tak každý
balík ted' rámcuji bočními reprodukcemi [...]. A já jediný na světe vím navíc, že v srdci každého balíku spočívá
ti otevřený Faust, tu Don Carlos, tady obklopen hnusným papírem zakrvácených deklů leží Hyperion a tady
uvnitř balíku z pytlů od cementu odpočívá Tak mluvil Zarathustra. [...] Tak jedině já sám sobě jsem v jistém
smyslu současně umělcem i divákem [...]." (Hrabal 1976a: 11f.)
VII
     "A když jsem otevřel almárku, ano, tady byla ta sbírka, kterou mi strýc často ukazoval, ale já jsem neměl pro
to pochopení, sbirka takových plišků všech barev, plné krabice toho byly, to strýc se ve službě ještě bavil tím, že
kladl na kolejnice kousky mědi a mosazi a cínu a železa a jiných barevných kovů, a když přejel vlak, tak zvedal
ty kousky, který se proměnily v roztepané bizarní tvary, že stryc každý večer je sestavoval v cykly a každý ten
plíšek měl svůj názv podle asociace, kterou ten plíšek vyvolal, jako skříňky s asiatskými motýly vypadaly ty
krabice a skříňky, jako prázdné bonboniery plné zmačkaných barevných staniolových obalů s čokoládových
nugátů." (Hrabal 1976a: 43)
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