Europapolitik - kein vorrangiges Thema im französischen Präsidentschaftswahlkampf - Nomos eLibrary

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Europapolitik – kein vorrangiges Thema
               im französischen Präsidentschaftswahlkampf
                             Franziska Brantner und Anja Thomas*

   Die französischen Präsidentschaftswahlen werden seit dem Nein zum Vertrag über eine
Verfassung für Europa (VVE) in Frankreich und den Niederlanden im Mai 2005 mit Span-
nung erwartet. Eine Kursbestimmung für die Zukunft Europas wird nach Meinung vieler
Experten erst wieder mit einem neuen französischen Präsidenten angegangen werden kön-
nen.
   Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Stellenwert ‚Europa‘ gegenwärtig
in der öffentlichen Debatte Frankreichs hat, welche Vorschläge für die Zukunft des Verfas-
sungsvertrages diskutiert und welche europapolitischen Themen in den beiden großen und
gemäßigten Lagern im französischen Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle spielen werden.
Welche Positionen beziehen die Präsidentschaftskandidaten Sarkozy und Royal? Wird der
zu erwartende politische ‚Generationenwechsel‘ in Paris zu deutlichen Veränderungen in
der französischen Europapolitik führen oder wird Kontinuität überwiegen?

Leitbilder und Konfliktlinien der französischen Europapolitik
   Grundsätzlich lassen sich zwei Entwicklungen ausmachen: Zum einen kristallisiert sich
ein Wendepunkt in der französischen Europadebatte heraus. Seit dem Referendum von
Maastricht hat sich die entscheidende europapolitische Konfliktlinie gewandelt.1 ‚Europa‘
im Sinne der EU wird in der französischen öffentlichen Debatte als politischer Handlungs-
rahmen akzeptiert. Die Debatte verlagert sich auf Kontroversen darüber, wie diese Europäi-
sche Union aussehen soll. Dabei steht das Bild eines vermeintlich ‚neoliberalen‘ der Forde-
rung nach einem ‚sozialen‘ Europa in der französischen öffentlichen Diskussion diametral
gegenüber. Den an Einfluss verlierenden ‚Souveränisten‘ steht eine neue Gruppe von ‚Euro-
paskeptikern‘ gegenüber, die eine supranationale Integration der Europäischen Union zwar
befürwortet, die heutige Europäische Union jedoch für ein demokratisch defizitäres, neoli-
berales Gebilde hält.
   Neben dieser durchaus bedeutenden Verschiebung lassen sich jedoch auch während des
aktuellen Präsidentschaftswahlkampfes Kontinuitäten in der Debatte erkennen, die an tradi-
tionelle französische Europadebatten anknüpfen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen die
Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Rolle Europas in der Welt. Die Erweiterung und die
damit verbundene Sorge, in der EU sozialpolitisch bedroht und machtpolitisch marginali-
siert zu werden, ist ein Querschnittsthema, dass in diese Einzeldebatten in Frankreich hin-
einspielt.
   In der Debatte dominieren weiterhin Leitbilder der ‚Europe puissance‘ und des ‚Europe
sociale‘, die dem traditionellen französischen Leitbild von der Rolle Europas in der Welt als
Gegengewicht zu den USA entsprechen und versuchen, das französische Sozialstaatsver-

*1   Franziska Brantner, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin, European Studies Centre, University of Oxford.
     Anja Thomas, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Jean Monnet Lehrstuhl, Forschungsinstitut für Politische
     Wissenschaft und Europäische Fragen, Universität zu Köln.
1    Vgl. Joachim Schild: Ein Sieg der Angst – das gescheiterte französische Verfassungsreferendum, in: integra-
     tion 3/2005, S. 187-200, hier S. 192.

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ständnis auf die Europäische Union zu übertragen. Forderungen nach einem Europa, das vor
der Globalisierung ‚schützt‘ statt sie zu verstärken haben sich im Zuge des gescheiterten
Verfassungsreferendums in allen Lagern weit verbreitet. Dies zeigen besonders Äußerungen
von Nicolas Sarkozy, der seine ursprünglich ‚liberaleren‘ und kritischeren Positionen zum
bestehenden französischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell stärker auf den Diskurs
über ein soziales Europa ausrichtet und somit abschwächt.2 Das Repertoire von auf europäi-
scher Ebene schwer umsetzbaren Forderungen ist dementsprechend lang.
   Hier zeigt sich eine zweite Kontinuität: Die EU wird in Frankreich nur dann als Erfolg
gepriesen, wenn sie der ‚vision francaise‘ Europas entspricht. Einer der wichtigsten Punkte
der Referendumsdebatte war die Frage, inwieweit der Verfassungsvertrag der französischen
Vision der ‚Europe puissance‘ und des ‚Europe sociale‘ entspricht – entsprechende Kompro-
misse wurden selbst von Verfassungsbefürwortern allenfalls als ‚hinzunehmendes Übel‘ be-
schrieben.3 Statt Kompromisse zu akzeptieren und als unvermeidbaren Prozess in einer
Union von (damals) 25 Staaten zu rechtfertigen, versprachen Verfassungsbefürworter, in
Zukunft sicherzustellen, dass die EU mehr den Vorstellungen Frankreichs entsprechen
werde. Eine ähnliche Rhetorik wiederholt sich nun auch im Wahlkampf.

Der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich

Die Kandidaten
   Die Präsidentschaftskandidaten der beiden großen politischen Lager4, Nicolas Sarkozy,
gegenwärtig Innenminister der konservativen Regierungspartei Union pour un Mouvement
Populaire (UMP) und die Kandidatin der Parti Socialiste (PS), Ségolène Royal, die vor ei-
nem Jahr noch als Außenseiterin galt, sich aber gegen Laurent Fabius und Dominique
Strauss-Kahn durchsetzte, sollen hier vorgestellt werden.
   Entscheidend beeinflussen könnte den Wahlausgang, ob Jean-Marie Le Pen, Kandidat
der rechtsextremen Front National, die erforderlichen Unterschriften zur Unterstützung sei-
ner Kandidatur von gewählten Repräsentanten erhalten wird. Nachdem Le Pen 2002 in die
zweite Runde der Präsidentschaftswahl eingezogen war wird vermutet, dass potenzielle Un-
terstützer diesmal zögerlicher sein werden. Vor der letzten Wahl hatte er nur 33 mehr als die
500 erforderlichen Patenschaften für seine Kandidatur erhalten.5 Die Erinnerung an die Prä-
sidentschaftswahl 2002 könnte bereits im ersten Wahlgang zu einer Konzentration der Stim-
men auf die beiden Favoriten führen.6

2    Vgl. Institut für Europäische Politik (Hrsg.): EU-25 Watch No. 2, Berlin 2006, hier S. 235.
3    Vgl. Nicolas Jabko: La France face à la Constitution européenne: un héritage mal assumé, in: Critique interna-
     tionale 29/2005, S. 135-149, hier S. 137-138.
4    Die traditionell pro-europäische Union pour la démocratie française (UDF) tritt mit ihrem Kandidaten François
     Bayrou an. Die Grünen haben sich auf die ehemalige Umweltministerin unter Lionel Jospin, Dominique
     Voynet, als Kandidatin geeinigt. Sie bekommen im Bereich der Umweltpolitik jedoch Konkurrenz von Nicolas
     Hulot, einem parteiunabhängigen Umweltrechtler, der mit einer möglichen Kandidatur spielt und in Umfragen
     überdurchschnittlich gut abschneidet. Links der Sozialisten wird eine gemeinsame Kandidatur angestrebt, die
     sich hauptsächlich aus Gegnern des Verfassungsvertrages zusammensetzt. Die kommunistische Partei hat be-
     reits ihre Parteivorsitzende Marie-George Buffet zur Kandidatin gekürt. Es sind jedoch weitere parallele Kan-
     didaturen zu erwarten. Im Lager der extremen Rechten haben sich Philippe de Villiers (Mouvement pour la
     France) und Jean-Marie Le Pen (Front national) bereits offiziell zu Kandidaten erklärt.
5    Vgl. Le Monde: Le Conseil constitutionnel ne publiera plus la liste complète des parrainages, 02.11.2006.
6    LeMonde.fr : Les intentions de vote au premier tour, Ipsos-Umfrage ‚Le Point‘ vom 01./02.12.2006, 07.12.06,
     abrufbar unter: http://lemonde.fr/web/infog/0,47-0@2-823448,54-842864,0.html (letzter Zugriff: 13.12.2006).

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Französische Europapolitik                                                              integration – 1/2007   27

Europa als Thema im Wahlkampf
    Außenpolitik und im Speziellen die Europapolitik sind für die großen Parteien in Frank-
reich nicht identitätsstiftend.7 Sie spielen deshalb in den französischen Präsidentschafts-
wahlkämpfen traditionell eine untergeordnete Rolle, obwohl dem Präsidenten laut Verfas-
sung eine starke Position in der Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch in der
Europapolitik zukommt, die nur in Zeiten der Kohabitation abgeschwächt wird. Er entschei-
det im Wesentlichen über die europapolitischen Positionen Frankreichs.8
    Die europäische Integration ist auch kein vorrangiges Thema des bisherigen Wahlkamp-
fes. So kommt in der Antrittsrede Royals als Kandidatin der PS der Begriff ‚Europäische
Union‘ nicht vor.9 Die konservative UMP versucht allerdings, dieses Thema zu lancieren
und hofft, dass es im Nachgang des gescheiterten Verfassungsreferendums politischen
Sprengstoff für das sozialistische Lager entfalten wird. Sarkozy zwang die Sozialisten durch
zwei Grundsatzreden zur Zukunft Europas10 zu einer ersten Positionierung. Royal präsen-
tierte daraufhin ihre Vorstellungen in einem ‚Sieben-Punkte-Plan‘ vor Journalisten im Rah-
men einer Plenarsitzung der Assemblée nationale.11

Vorstellungen für die Zukunft der Europäischen Union
   Nach dem gescheiterten Referendum zum Vertrag über eine Verfassung für Europa im
Mai 2005 ist die Frage nach dem weiteren Voranschreiten der europäischen Integration oder
nach möglichen Wegen aus der Krise das Kernthema, auf das die europapolitische Debatte
im Wahlkampf in Frankreich immer wieder zurückkommt.
   Nach außen hatten französische Politiker schnell signalisiert, dass es mit Frankreich
keine ‚einfachen‘ Wege aus der „Verfassungsfalle“12 geben würde.13 Eine erneute Abstim-
mung über denselben Text wurde vom französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac von
Anfang an abgelehnt. Er betonte, dass die Situation in Frankreich insofern nicht mit dem iri-
schen Präzedenzfall anlässlich der Ratifikation des Vertrags von Nizza vergleichbar sei.14
Diese Meinung wird immer noch lagerübergreifend geteilt. Nur der Präsident des Konvents
und ehemalige Präsident Frankreichs, Valery Giscard d‘Estaing, hält noch öffentlich am
Verfassungsvertrag in seiner jetzigen Form fest.15 In der Bevölkerung ist die Ablehnung des

7    Vgl. Sylvie Goulard: Französische Europapolitik und öffentliche Debatte in Frankreich, Zentrum für Europäi-
     sche Integrationsforschung, Paper C62/2000, S. 4.
8    Vgl. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden 2004, S. 16-23.
9    Vgl. Discours de Ségolène Royal au Congrès d’investiture du Parti Socialiste à la Mutualité, 26.11.2006, ab-
     rufbar unter: http://www.desirsdavenir.org/index.php?c=interventions&id=461 (letzter Zugriff: 28.12.2006).
10   Vgl. Rede von Nicolas Sarkozy vor der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Aus-
     wärtige Politik, 16.02.2006, abrufbar unter: www.botschaft-frankreich.de, Frankreich-Info (letzter Zugriff:
     17.03.2006); Rede von Nicolas Sarkozy vor den Amis de l’Europe und der Fondation Schuman, Brüssel,
     08.09.2006, abrufbar unter: http://www.robert-schuman.org/actualite/bruxelles/discours8sept.pdf (letzter Zu-
     griff: 25.11. 2006).
11   Vgl. Pressekonferenz von Ségolène Royal: „L’Europe par la preuve (avec les 7 propositions)“, Assemblée Na-
     tionale, 11.10.2006, abrufbar unter: http://www.desirsdavenir.org/index.php?c=interventions&id=191 (letzter
     Zugriff: 25.11. 2006).
12   Udo Diedrichs/Wolfgang Wessels: Die Europäische Union in der Verfassungsfalle? Analysen, Entwicklungen
     und Optionen, in: integration 4/2005, S. 287-306, hier S. 287.
13   Vgl. Schild: Ein Sieg der Angst, S. 187.
14   Vgl. Pressekonferenz von Jacques Chirac am Ende des Europäischen Rates, Brüssel, 17.06.2005.
15   Vgl. Valéry Giscard d’Estaing: La Constitution européenne n’est pas morte, Interview mit der Redaktion von
     Toute l’Europe, 26.10.2006, abrufbar unter: http://www.touteleurope.fr/fr/actualite-europeenne/questions-a/
     valery-giscard-destaing.html (letzter Zugriff: 10.11.2006).

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aktuellen Textes weiterhin hoch. 74 Prozent der Gesamtbevölkerung lehnen selbst eine teil-
weise Umsetzung des Verfassungsvertrages ohne neues Referendum ab.16
    Die Debatte, die dem Verfassungsreferendum voranging, markierte dennoch einen ent-
scheidenden Wendepunkt der öffentlichen Debatte in Frankreich und der sie dominierenden
Leitbilder um die Europäische Union. Es zeigte sich, dass seit 1992 eine Veränderung der
entscheidenden Konfliktlinien der Europapolitik stattgefunden hatte. Beim Referendum zum
Vertrag von Maastricht dominierte in der öffentlichen Diskussion die Konfliktlinie zwischen
den überwiegend dem gaullistischen Lager und der nationalen Linken angehörenden ‚Sou-
veränisten‘ und dem europabefürwortenden überwiegend mitte-links angesiedelten Lager
unter Führung von François Mitterrand.17 Während erstere in der ‚Nation‘ den entscheiden-
den politischen Handlungsrahmen sahen und vor einer Übertragung von weiteren Kompe-
tenzen auf die europäische Ebene warnten, sahen die Europabefürworter in der europäischen
Integration die Möglichkeit, nach der deutschen Wiedervereinigung französische Interessen
auf der europäischen und internationalen Ebene zu wahren.18
    Die souveränistische Argumentationsweise findet sich aktuell vor allem noch bei den
Parteien des extremen rechten und linken Flügels19 und vereinzelt in der UMP. In der De-
batte um den Verfassungsvertrag zeigte sich jedoch, dass ein großer Teil der Verfassungs-
gegner nicht aus integrationsskeptischen Motiven handelte, sondern lediglich eine ‚andere‘
Europäische Union forderte. Im Diskurs der Verfassungsgegner stand besonders ein ge-
wünschtes ‚soziales‘ Europa dem vermeintlich im Verfassungsvertrag festgeschriebenen
‚neoliberalen‘ Europa gegenüber. Prominente Verfassungsgegner wie Laurent Fabius bei
den Sozialisten forderten im Gegenteil sogar, die Europäische Union solle mehr supranatio-
nale Kompetenzen erhalten, um eine europäische Sozialpolitik besser und kohärenter voran-
treiben zu können.20 Wenn diese neue Konstellation der politischen Fronten sicherlich auch
der Tatsache geschuldet war, dass ein neo-gaullistischer Präsident und nicht wie 1992 ein
sozialistischer Präsident den Verfassungsvertrag zur Abstimmung stellte, so schien und
scheint sich doch abzuzeichnen, dass die EU als notwendiger Handlungsrahmen französi-
scher Politik im öffentlichen Diskurs weitgehend akzeptiert wird. Dies zeigt sich auch in
entsprechenden Umfragen in der Bevölkerung. Trotz des gescheiterten Referendums spre-
chen sich 67 Prozent der Franzosen generell für die Notwendigkeit einer Verfassung für die
Europäische Union aus.21
    Im Präsidentschaftswahlkampf schlagen die beiden Favoriten als Ausweg aus der konsti-
tutionell-institutionellen Malaise der Europäischen Union zunächst jedoch vor allem prag-
matische kurzfristige Lösungen vor.22 Sarkozy präsentierte im Februar 2006 in Berlin einen

16 Die von „Open Europe“ durchgeführte Umfrage ergab, dass 74% der Interviewten meinen, selbst eine teilweise Um-
   setzung des VVE ohne neues Referendum dürfte den Politikern nicht erlaubt sein, abrufbar unter: www.openeu-
   rope.org.uk/mediacentre/pressrelease.aspx?pressreleaseeid=18 (letzter Zugriff: 30.05.2006). Die Ergebnisse der
   jüngsten Eurobarometer-Umfrage (Dezember 2006) deuten allerdings darauf hin, dass die Zustimmung in der franzö-
   sischen Öffentlichkeit gestiegen ist. 56% der Befragten sind laut Eurobarometer für den Verfassungsvertrag. Abruf-
   bar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb66/eb66_highlights_de.pdf (letzter Zugriff: 09.01.2007).
17 Vgl. Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik, S. 118-122.
18 Ebenda, S. 88-96.
19 Vgl. Franziska Brantner/Michael Knoll: Constitution „attac-ed“: Nach dem gescheiterten Referendum zur EU-
   Verfassung in Frankreich, in: Kommune – Forum für Politik, Ökonomie und Kultur 4/2005, S. 29-32.
20 Vgl. Schild: Ein Sieg der Angst, S. 193.
21 Vgl. La Croix: Comment relancer l’Europe, 29.05.2006, abrufbar unter :
   http://www.la-croix.com/documents/doc.jsp?docId=2270452&rubId=786 (letzter Zugriff: 31.05.2006).
22 Vgl. beispielsweise Le Figaro: Tribune de M. Jacques Chirac, Président de la République, 26.10.2005, abruf-
   bar unter: http://www.elysee.fr/elysee/francais/interventions/interviews_articles_de_presse_et_interventions_
   televisees./2005/octobre/tribune_de_m_jacques_chirac_president_de_la_republique_parue_dans_le_figaro_et
   _plusieurs_journaux_europeens.31690.html (letzter Zugriff: 21.10.2006).

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Dreistufenplan, den er im folgenden September weiter ausführte. In einem ersten Schritt
sollten diejenigen institutionellen und prozeduralen Verbesserungen umgesetzt werden, die
nicht einer Ratifizierung bedürften. Anschließend solle ein kurzer institutioneller Vertrag,
der den bestehenden Vertrag von Nizza modifiziere, eine Reihe institutioneller Veränderun-
gen des VVE übernehmen, wie die Ausweitung der qualifizierten Mehrheit, die Einführung
der ‚doppelten Mehrheit‘ im Ministerrat, die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das
Parlament, die Einführung eines Präsidenten des Europäischen Rates sowie die Stärkung na-
tionaler Parlamente.
   Dieser „traité pour un meilleur fonctionnement de l’Union“23 solle während der deut-
schen Ratspräsidentschaft verabschiedet und dann während der französischen Ratspräsident-
schaft von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden. In einem letzten Schritt solle dann
eine breite und demokratische Debatte über die Ziele, Grenzen und Aufgaben der EU statt-
finden, die in einen neuen Verfassungskonvent einmünden könnte. Für diese Phase bringt
Nicolas Sarkozy neue Vorschläge ein, so zum Beispiel die Einführung einer ‚Supermehr-
heit‘ (70-80 Prozent der gewogenen Stimmen im Ministerrat), die das Einstimmigkeitsver-
fahren in einzelnen politisch hochsensiblen Bereichen ersetzen würde, und die Bestimmung
der Kommissionsmitglieder durch den Kommissionspräsidenten.
   Royal unterstreicht die hohe Bedeutung einer erneuten Orientierungsdebatte zu Zielen
der EU und die Entwicklung von konsensfähigen Politiken, die den Bürgern das europäische
Projekt wieder näher bringen können („L’Europe par la preuve“).24 Diese ‚funktionalisti-
sche‘ Herangehensweise birgt weniger politischen Sprengstoff für die eigene Partei.25 Die
Kandidatin ist dem Parteimanifest der PS verpflichtet. Das Wahlprogramm zur Präsident-
schaftswahl und zur Wahl der Assemblée nationale war Anfang Juli 2006 in der während der
Referendumskampagne gespaltenen Partei überraschend im Konsens verabschiedet wor-
den.26 Die Sozialisten lehnen darin die ‚Wiedervorlage‘ des Vertrags über eine Verfassung
für Europa ab, selbst wenn dieser mit einer neuen Präambel ausgestattet sein sollte. Auch die
Umsetzung einzelner Teile des VVE wird abgelehnt. Nach der Devise „le traité constitution-
nel est mort - vive la constitution!“27 schlagen sie stattdessen die Ausarbeitung eines neuen
Verfassungsvertrages vor, der sich auf die institutionelle Organisation der EU konzentriert.
Dabei heben sie besonders die Stärkung des Europäischen Parlamentes hervor.28 Dies würde
denjenigen aus der ‚Nein‘-Kampagne in Frankreich entgegenkommen, die vor allem in den
konkreten Regeln für einzelne Politikbereiche des Teil III des VVE unter der Etikette ‚Ver-
fassung‘ eine Gefahr für die demokratische (und soziale) Funktionsweise der Europäischen
Union sahen.29
   Bei einem Treffen mit dem luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker im
Januar 2007 deutete Royal allerdings erstmals an, dass es mit ihr 2009 ein erneutes Referen-
dum über einen ‚traité fondmanetal de base‘ geben könne, wenn sozialpolitische und arbeits-

23 Rede von Nicolas Sarkozy vor den Amis de l’Europe, S. 2.
24 Vgl. Pressekonferenz von Ségolène Royal: L’Europe par la preuve (avec les 7 propositions).
25 Vgl. zu verschiedenen Herangehensweisen an die Verfassungskrise Anne Faber/Wolfgang Wessels: Strategien
   und institutionelle Perspektiven nach der Verfassungskrise: „Funktionalistische“ und „institutionalistische“
   Wege zu einem neuen europäischen Verhandlungspaket, in: Politische Vierteljahresschrift 2/2006, S. 252–263,
   hier S. 258.
26 Vgl. Antoine Colombani: Modernisation or Reconciliation? The New Agenda of the French Socialists, 2006,
   abrufbar unter: http://www.policy-network.net/php/article.php?sid=3&aid=639 (letzter Zugriff: 20.11.2006).
27 Vgl. Diedrichs/Wessels: Die Europäische Union in der Verfassungsfalle?, S. 293.
28 Vgl. Parti Socialiste: Réussir ensemble le changement. Le projet socialiste pour la France, abrufbar unter:
   http://projet.parti-socialiste.fr (letzter Zugriff: 07.11.2006).
29 Vgl. l’Humanité: Le discours sur l’impossibilité de la renégociation relève du mensonge, 11.05.2006.

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rechtliche Aspekte unterstrichen würden. Trotz der Unterschiede zwischen den Vorschlägen
von Royal und Sarkozy zeigt sich eine entscheidende Übereinstimmung. Beide Kandidaten
für das Präsidentenamt fordern auch nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum als
notwendige institutionelle Reformen nicht nur die im Konvent von Frankreich geforderte
Einführung des Präsidenten des Europäischen Rates, sondern vor allem auch die Stärkung
des Europäischen Parlaments. Sarkozy fordert darüber hinaus die Einführung der ‚doppelten
Mehrheit‘. In beiden Punkten war Jacques Chirac bereits im Konvent zu Zugeständnissen
bereit gewesen, die von den traditionellen Positionen Frankreichs abwichen.30 In der Tradi-
tion de Gaulles stand Frankreich im europäischen Integrationsprozess für das Prinzip eines
intergouvernementalen Europas der Nationen ein und lehnte die Stärkung supranationaler
Elemente der institutionellen Architektur ebenso ab wie die Ausweitung der qualifizierten
Mehrheit.31 Zur Erreichung übergeordneter politischer Ziele – wie dem Schulterschluss mit
Deutschland in der Irak-Krise und weiterer Schritte in der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik in Richtung auf das von Frankreich seit langem verfolgte Leitbild der
‚Europe puissance‘ als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten – war Chirac im Konvent
jedoch zu größeren Zugeständnissen vor allem an Deutschland bereit gewesen.32
    Bei der Abweichung von traditionellen französischen Positionen könnte jedoch im aktu-
ellen Präsidentschaftswahlkampf noch ein anderes Motiv eine Rolle spielen: Umfragen nach
dem gescheiterten Referendum zeigen, dass die französische Bevölkerung eine Stärkung des
Europäischen Parlaments mehrheitlich befürwortet.33 Dass Frankreich nun aber noch nicht
„vollständig in das Lager der Supranationalisten übergelaufen sei“34, zeigt sich dann, wenn
man die Vorschläge der Parteien für die langfristige Lösung der Verfassungsfrage genauer
betrachtet.
    Das UMP-Wahlprogramm für 2007, auf das Sarkozy als Parteivorsitzender einen erhebli-
chen Einfluss hatte, spricht im Gegensatz zu seiner Brüsseler Rede nicht mehr von einem
neuen Verfassungsprozess, sondern nur von einem Reflexionsprozess, der in der Erarbei-
tung eines Textes münden soll, der die „fundamental politische Dimension des europäischen
Projektes besiegelt“.35 Dies weist eher auf das Aufgeben der Idee eines ‚Verfassungstextes‘
durch die französischen Konservativen hin. Beobachter vermuten, dass Sarkozy die Verfas-
sungsidee in seiner Brüsseler Rede aufnahm, um sein „Image des Euroskeptikers [zu] zer-
schmetter[n], das ihm in gewissen Kreisen hartnäckig anhaftete“.36 Außerdem könnte er dar-
auf hoffen, dass ihm während seiner Amtszeit ein entsprechendes Referendum erspart
bliebe.
    Die Debatte um langfristige Lösungen innerhalb des linken Lagers zeichnet sich oftmals
durch eine Kluft zwischen Forderungen und europapolitischer Realität aus. Ob ein kurzer in-
stitutioneller Verfassungsvertrag, wie vom Parteiprogramm gefordert, auf der europäischen
Ebene ausreichende Unterstützung finden könnte, ist fraglich. Gleichzeitig scheinen die
‚neuen Euroskeptiker‘ als ‚bekennende Europäer‘ Vergemeinschaftungen dort zu fordern,

30 Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik, S. 266.
31 Vgl. Hans Stark: Frankreichs Rolle in der Welt, in: Frankreich – Informationen zur politischen Bildung, Heft
   285, 2004.
32 Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, S. 266.
33 Gesa-Stefanie Brincker: Country study: Leitbilder for the enlarged European Union in France, Studie im Rah-
   men des Forschungsprojekts „Leitbilder (key concepts) for the European Union after Enlargement: Fragmenta-
   tion, Continuity or Reinvention?”, Institut für Europäische Politik, Oktober 2006 (unveröffentlicht), S. 43.
34 Vgl. Müller-Brandeck-Bocquet: Frankreichs Europapolitik, S. 267.
35 Contrat de législature 2007-2012, abrufbar unter: http://viphttp.yacast.net/ump/projet-ump2007.pdf (letzter
   Zugriff: 28.12.2006).
36 Neue Zürcher Zeitung: Klares Bekenntnis Sarkozys zur EU, 09.09.2006.

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wo es um eine Art Übertragung eigener nationaler französischer Konzepte besonders im Be-
reich der Sozialpolitik auf die europäische Ebene geht.
   Im Wahlkampf lässt Ségolène Royal außerdem seit ihrer Kür zur Kandidatin bisweilen
souveränistische Töne verlauten. In ihrer Antrittsrede zur Kandidatin der PS betonte sie die
Bedeutung der ‚Nation‘ und Frankreichs als Zentrum des politischen Handels. In ihrer Rede
forderte sie, dass die Linke den Begriff ‚Nation‘ wieder positiv für sich definieren müsse
und ihn nicht der Rechten überlassen dürfe.37 Jean-Pierre Chevènement, der 1993 aus der PS
austrat um das Mouvement des Citoyens in eine links-nationale Partei umzubilden, war
2002 als Präsidentschaftskandidat angetreten und hatte 5,3 Prozent der Stimmen erreicht.
Als vehementer Gegner des Verfassungsvertrags verzichtete er im Dezember zugunsten von
Royal auf eine eigene Kandidatur und bekam im Gegenzug sichere Mandate für Kandidaten
seiner Partei bei den Parlamentswahlen zugesprochen. Sein Einfluss auf den inhaltlichen
Verlauf des Wahlkampfes bleibt abzuwarten.
   In Kontinuität mit traditionellen Ideen der französischen Europapolitik wird die europäi-
sche Einigung auf der einen Seite zwar befürwortet, auf der anderen Seite wird sie jedoch als
Möglichkeit betrachtet, eben gerade die Besonderheit Frankreichs zu erhalten.38 Ein Verfas-
sungsvertrag im Sinne eines kleinsten gemeinsamen gesamteuropäischen Nenners scheint
nicht dem französischen Politikverständnis zu entsprechen.

Sozial- und Wirtschaftspolitik – dominierendes europapolitisches Thema

    Das dominante europapolitische Thema des Wahlkampfes ist die Wirtschafts- und Sozi-
alpolitik. Die sozialen Krisenbewegungen, wie die Probleme in den Vorstädten im Novem-
ber 2005 oder die Massenbewegung gegen den so genannten Contrat de Première Embauche
(CPE), einen speziellen Vertrag, der den Kündigungsschutz für Berufsanfänger aufgehoben
hätte, sowie eine steigende Anzahl von Protestwählern zeigen, dass in der französischen Be-
völkerung Ängste in Bezug auf steigenden Wettbewerb und Sozialdumping existieren. Be-
reits in der Debatte um den Verfassungsvertrag hatten sozio-ökonomische Fragestellungen
einen hohen Stellenwert. So gaben 31 Prozent der Befragten aus dem Lager der ‚Nein‘-
Wähler an, ihre Ablehnung resultiere aus der Einschätzung, dass der Verfassungsvertrag ne-
gative Konsequenzen für die Arbeitsplatzsituation in Frankreich habe. Weitere 19 Prozent
gaben an, Europa sei zu ‚liberal‘ während 16 Prozent befanden, dass es nicht genug sozial-
politische Elemente im Verfassungsvertrag gebe.39
    Die europapolitische Debatte zu sozial- und wirtschaftspolitischen Themen wird in bei-
den Lagern von Schlagwörtern beherrscht wie ‚Sozialdumping‘ innerhalb der (erweiterten)
Europäischen Union, der Forderung nach einer „préférence communautaire“ als aktiver Po-
litik zum Schutz der europäischen Wirtschaft nach außen, und der Forderung nach einem
„gouvernement économique“ mit der wirtschaftspolitischen Zielsetzung von Beschäftigung
und Wachstum in der Eurogruppe40, wenn sich die Vorschläge im Detail auch unterschied-

37 Discours de Ségolène Royal au Congrès d’investiture du Parti Socialiste à la Mutualité, 26.11.2006, abrufbar
   unter: http://www.desirsdavenir.org/index.php?c=interventions&id=461 (letzter Zugriff: 28.12.2006).
38 Brincker: Country study: Leitbilder for the enlarged European Union in France, S. 15.
39 Europäische Kommission: La Constitution européenne: sondage post-référendum en France, Eurobarometer
   171, 2005, S. 17.
40 Vgl. Parti Socialiste: Réussir ensemble le changement, S. 31; LeMonde.fr: Texte élaboré par la commission char-
   gée du programme du parti gaulliste pour les éléctions législatives de 2007, 14.11.2006, abrufbar unter: http://
   www.lemonde.fr/web/article/0,1-0@2-823448,36-834320@51-834373,0.html (letzter Zugriff: 16.11.2006).

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lich gestalten. Dies knüpft an die französischen Vorstellungen einer stärkeren politischen
Kontrolle der Europäischen Zentralbank (EZB) an.
    In Anbetracht der öffentlichen Debatte nach dem Verfassungsreferendum schwenkt sogar
der vergleichsweise ‚liberale‘ Politiker Nicolas Sarkozy auf einen protektionistischen Dis-
kurs um.41 Die EU solle die Aufgabe des „Schutzes“42 der Bürger vor den negativen Folgen
der Globalisierung übernehmen.43 Sarkozy hatte sich ursprünglich für größere Wettbewerbs-
fähigkeit, ein Wahrnehmen der Globalisierung als Chance und das angelsächsische EU-Leit-
bild ausgesprochen.44
    Im Zentrum des europapolitischen Teils des Wahlprogramms der PS steht ein „Plan zur
Wiederbelebung Europas“, dessen wichtigster Vorschlag ein „Sozialvertrag“ ist, der eine
Harmonisierung der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten, eine Richtlinie zum Öffentlichen
Dienst und die Verabschiedung von „sozialpolitischen Konvergenzkriterien“ zwischen den
Mitgliedstaaten zum Inhalt hätte.45 Aus Sicht der PS gefährdet der liberale Kurs der Europä-
ischen Union das Projekt einer „solidarischen Integration“.46 Die Frage, inwieweit man eine
liberale Wirtschaftspolitik der EU mitträgt, ist innerhalb der PS in der Vergangenheit schon
häufig diskutiert worden. Die oben erwähnte Verschiebung der dominierenden europapoliti-
schen Konfliktlinie basierte unter anderem auf einer Spaltung innerhalb der PS zwischen
Anhängern der sozialistischen Tradition und der Sozialdemokratie.47 Nicht alle Mitglieder
und Wähler der sozialistischen Partei teilen die sozialdemokratischen Prinzipien Europas.
Gemäß der marxistischen und trotzkistischen Tradition der Linken in Frankreich haben sich
Teile der Wählerschaft der PS noch nicht von ihren sozialistischen Ideen entfernt und halten
selbst eine regulierte Marktwirtschaft nicht für das beste ökonomische System.48 Bereits un-
ter Mitterrand hatte sich bezüglich der künftigen französischen Europapolitik zwischen die-
sen beiden Strömungen ein Konflikt innerhalb der Partei entzündet.
    Die PS war daher bis zum Sommer 2006 vor allem darum bemüht, wieder eine einheitli-
che Position zu finden. Die Spaltung scheint nun teilweise überwunden, wichtige Vertreter
des ‚Nein‘ unterstützen aktuell Ségolène Royal, so beispielsweise Arnaud Montebourg und
Vincent Peillon, die Köpfe der liberalismuskritischen und linksgerichteten Strömung der
Parti Socialiste namens Nouveau Parti Socialiste. Sie kann jedoch jederzeit wieder aufbre-
chen, da eine endgültige Entscheidung über die Ausrichtung der Partei in Richtung Sozial-
demokratie immer noch bevorsteht.

Vorstellungen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik – ‚l’Europe puissance‘
oder transatlantischer Frühling?
   In Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik ist erstaunlich, mit welcher Einhelligkeit
sowohl die Sozialisten wie auch die Konservativen eine stärkere gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik als eines der Zukunftsprojekte der Europäischen Union betonen. Ein sol-

41 Vgl. Institut für Europäische Politik (Hrsg.): EU-25 Watch No. 2, Berlin 2006, S. 69.
42 Vgl. Rede des Parteivorsitzenden Nicolas Sarkozy „La France dans la mondialisation“, Saint-Etienne,
   09.11.2006, abrufbar unter: http://www.u-m-p.org/site/GrandDiscoursAffiche.php?IdGrandDiscours=269
   (letzter Zugriff: 10.11. 2006).
43 Vgl. Institut für Europäische Politik (Hrsg.): EU-25 Watch No. 2, S. 69.
44 Vgl. Brincker: Country study: Leitbilder for the enlarged European Union in France, S. 61.
45 Vgl. Parti Socialiste: Réussir ensemble le changement, S. 31-32.
46 Vgl. Parti Socialiste: Réussir ensemble le changement, S. 31.
47 Vgl. Brantner/Knoll: Constitution „attac-ed“.
48 Florence Deloche-Gaudez/Christian Lequesne: Frankreich, in: Wolfgang Wessels/Werner Weidenfeld (Hrsg.):
   Jahrbuch der Europäischen Integration 2005, Baden-Baden 2006, S. 329-336, hier S. 331.

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ches Projekt reflektiert das seit de Gaulle existierende Leitbild der ‚Europe puissance‘49, das
in der Europäischen Union einen Akteur auf der internationalen Bühne sieht.
   Dabei sei jedoch auf einen Unterschied hingewiesen, den Sylvie Goulard schon im Wahl-
kampf 2000 zwischen der damaligen Rassemblement pour la République (RPR) und der PS
ausmachte. Die RPR spreche sich für eine stärkere Außenpolitik der Europäischen Union
aus, um diese in eine intergouvernementale Richtung zu stärken.50 Auch in der jetzigen De-
batte ist nicht eindeutig, inwieweit die UMP und Sarkozy wirklich Ansätze einer Verge-
meinschaftung in diesem Feld befürworten.
   Das Parteimanifest der PS fordert eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Vertei-
digungspolitik, ausgehend von den drei großen Mitgliedstaaten: Frankreich, Großbritannien
und Deutschland. Es bleibt vage in Bezug auf deren Umsetzung und der Frage, ob dies in-
nerhalb oder außerhalb der bestehenden Verträge geschehen solle.
   Die Unterschiede zwischen Ségolène Royal und Nicolas Sarkozy liegen vorwiegend in
der Einschätzung der Rolle der Europäischen Union gegenüber den USA. Eines der wich-
tigsten Leitbilder in der französischen Europapolitik ist die Vision eines starken Europas ge-
genüber den USA51 und Frankreichs Rolle als wichtiger außenpolitischer Akteur als Nukle-
armacht und mit einem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.52 In dieser Tradition
steht auch weiterhin Royal. Sie vertritt das „europäische (also autonome) Europa“53 als Al-
ternative zum transatlantischen Europa.
   Im Gegensatz dazu sieht Nicolas Sarkozy in den USA einen Partner. Auch wenn er keine
„Hörigkeit“ gegenüber den USA will, so sieht er doch zum Beispiel retrospektiv die Andro-
hung des Vetos durch Frankreich in der Irakfrage als überzogen an.54 In einem Interview mit
der Tageszeitung Le Monde führte er aus, dass die USA auch ein Modell für Frankreich sein
könne. Eine Reise in die USA Anfang September wurde auch prompt als pro-amerikani-
sches Signal verstanden. Sarkozy nimmt damit eine Position ein, die in Frankreich nicht ge-
rade populär ist und nicht der französischen Tradition entspricht.

Erweiterung und Grenzen der Europäischen Union – das Querschnittsthema
   Die Erweiterung der Europäischen Union ist in der französischen europapolitischen De-
batte ein Querschnittsthema. Mit der Erweiterung verbindet sich in Frankreich die Sorge,
ökonomisch, machtpolitisch und geografisch marginalisiert zu werden.55
   Seit einer Verfassungsänderung unterliegt die Ratifikation von Beitritten zur Europäi-
schen Union in Frankreich einem Referendum.56 Nicolas Sarkzoy hat sich in seiner Europa-
rede am 8. September 2006 eindeutig gegen eine Beitrittsperspektive für die Türkei ausge-
sprochen. Er sprach sich gegen ein „Europa ohne Grenzen“ aus und forderte eine Debatte
um einen „geografischen und politischen Rahmen“ der Europäischen Union. Die Vorausset-
zung für weitere Erweiterungen sei die Aufnahmefähigkeit der Union, die er als nicht „un-
endlich ausdehnbar“ qualifiziert. Für Sarkozy können der Europäischen Union solche Staa-
ten beitreten, die „klar dem europäischen Kontinent angehören“. Für andere Staaten,

49 Vgl. Sabine Jung: Europa, made in France: eine Analyse des politischen Diskurses Frankreichs zur Zukunft der
   Europäischen Gemeinschaft: von den Anfängen bis heute, Baden-Baden 1999.
50 Vgl. Goulard: Französische Europapolitik und öffentliche Debatte, S. 6.
51 Vgl. Stark: Frankreichs Rolle in der Welt.
52 Brincker: Country study: Leitbilder for the enlarged European Union in France, S. 13.
53 Vgl. Stark: Frankreichs Rolle in der Welt.
54 Le Monde : J’aime l’énergie et la fluidité de l’Amérique, Interview mit Nicolas Sarkozy, 09.09.2006.
55 Brincker: Country study: Leitbilder for the enlarged European Union in France, S. 12.
56 Vgl. La Constitution du 4 octobre 1958, Art. 88-5.

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darunter die Türkei, die „Nachbarn sind, ohne Europäer zu sein“, fordert Sarkozy die Ab-
kehr von der Vision einer Vollmitgliedschaft. Stattdessen sollen diese Staaten in einer privi-
legierten Partnerschaft an die EU gebunden werden.57 Dies ist auch die von der UMP in ih-
rem Wahlkampf vertretene Position. Die Kandidaten der extremen Rechten, wie der
nationalkonservative Villiers und der rechtsextreme Le Pen, sprechen sich gegen den Beitritt
der Türkei aus.
   Auch die sozialistische Partei steht weiteren Erweiterungen skeptisch gegenüber. Sie for-
dert in ihrem Programm eine „Klärung und Definition der Grenzen Europas“. Getroffene
Beschlüsse sind zwar einzuhalten, die Erweiterung solle sich jedoch auf die Prüfung der bis-
herigen offiziellen Kandidaturen beschränken. Über die Grenzen Europas hinaus sollen
„strategische Partnerschaften“ angestrebt werden.58

Der deutsch-französische Motor – Relikt einer anderen Generation?
   Einer der Hauptpfeiler französischer Europapolitik seit de Gaulle war die Einbindung
Deutschlands in die europäischen Strukturen.59 Nachdem das deutsch-französische Tandem
unter Chirac und Schröder, besonders unter dem Eindruck des Irakkonfliktes, einen erneuten
Auftrieb erlebte, scheint es seit dem Amtsantritt von Kanzlerin Merkel geschwächt, da sie
einen transatlantischeren Kurs eingeschlagen hat und von Anfang an ihren Willen bekun-
dete, auch andere Partner stärker miteinzubeziehen.
   Weder in den Debattenbeiträgen von Sarkozy noch von Royal taucht die besondere Be-
deutung des deutsch-französischen Motors auf. Sarkozy zieht sogar dessen Leistungsfähig-
keit in Zweifel. Der Motor sei alt und überholt. Stattdessen schlug er 2004 eine Hinwendung
zu Großbritannien und Spanien beziehungsweise auch Italien und Polen vor.60 Als neuen
Motor bezeichnet er stattdessen Kooperationen von Staaten, die bereit sind, je nach Politik-
feld im Sinne einer variablen Geometrie gemeinsam voranzuschreiten.61
   Im Gegensatz zur einem altgedienten Politiker wie beispielsweise Dominique Strauss-
Kahn, bei dem die Wiederbelebung des deutsch-französischen Motors im Zentrum einer ge-
lungenen Europapolitik stand und in dessen „klinischem Tod“ er einen der Hauptgründe für
die aktuelle Krise der EU sah62, könnte sich eine neue – wenn auch gar nicht unbedingt jün-
gere – Politikergeneration Royal/Sarkozy von einem privilegierten deutsch-französischen
Verhältnis abwenden und neue Verbündete suchen.
   In Bezug auf den deutsch-französischen Motor wird so in nächster Zeit mehr denn je
fraglich bleiben, welchen Stellenwert und welche Zugkraft dieser in einer EU von 27 Staaten
hat und haben wird. Es wird mühsam sein, tragbare Koalitionen mit anderen Mitgliedstaaten
zu schmieden. Deutschland und Frankreich konnten in einer EU mit 15 Mitgliedstaaten ihre
Kompromissfähigkeit gerade aus der Tatsache generieren, dass ihre Positionen häufig rela-
tiv weit auseinander lagen. In Anbetracht einer steigenden Heterogenität der erweiterten
Union rücken deutsch-französische Positionen bisweilen enger zueinander und sind für die
anderen Mitgliedstaaten unter Umständen dann weniger anschlussfähig. Gegensatzpaare bil-

57 Vgl. Rede von Nicolas Sarkozy vor den Amis de l’Europe.
58 Parti Socialiste: Réussir ensemble le changement.
59 Vgl. Wichard Woyke: Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem fasst wie-
   der Tritt, Opladen 2000, S. 15.
60 Müller-Brandeck-Bocquet : Frankreichs Europapolitik, S. 271.
61 Vgl. Rede von Nicolas Sarkozy vor den Amis de l’Europe, S. 5.
62 Vgl. Vorschläge von Dominique Strauss-Kahn zu Europa, abrufbar unter: http://www.dsk2007.net/-Mes-pro-
   positions-.html (letzter Zugriff: 20.11.2006).

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den sich neu.63 Zusammen gesehen wirft dies die Frage auf, ob das deutsch-französische
Paar als Relikt einer alten Politikergeneration gelten kann.

Zwischen Wandel und Kontinuität
    In Bezug auf die Ziele und Leitbilder französischer Europapolitik zeichnet sich ein Wan-
del in Richtung auf eine neue Akzeptanz der Europäischen Union als politischer Handlungs-
rahmen und für supranationale Elemente des institutionellen Gefüges der EU in der öffentli-
chen Debatte ab. Auch der nächste Präsident wird sich für ein starkes Frankreich in einem zu
stärkenden Europa einsetzen – für letzteres jedoch nur, so lange ein starkes Europa nicht
französische Traditionen der Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik schwächt.
    Obwohl beide Kandidaten für sich einfordern, ‚neuartig‘ zu sein und einer ‚neuen Gene-
ration‘ von Politikern anzugehören, sind jedoch Kontinuitäten in Bezug auf europapolitische
Leitbilder unverkennbar. Zwar sah es zeitweilig so aus, als könne mit Sarkozy ein liberalerer
Diskurs in die französische Wirtschaftspolitik einziehen, doch ist nach dem Referendumsde-
bakel auch die UMP zu einem Diskurs zurückgekehrt, der mehr ‚Schutz‘ durch die Europäi-
sche Union einfordert. Bei Royal scheint es, als müsse sie sich nach der schwierigen Zer-
reißprobe ihrer Partei erst recht auf bekannte Zielorientierungen zurückbesinnen. Im Bereich
der Außenpolitik wird sich noch zeigen müssen, ob es mit einem Präsidenten Sarkozy eine
neue transatlantische Annäherung geben könnte, was jedoch aufgrund der Stimmungslage in
der Öffentlichkeit zweifelhaft scheint.
    Beide Kandidaten führen einen Wahlkampf, der häufig als ‚populistisch‘ beschrieben
wird. Sie versuchen, auch die Stimmen der Extreme zu gewinnen, die immerhin meist je-
weils 15 bis 20 Prozent der Stimmen erhalten. Gleichzeitig beanspruchen beide Kandidaten
jedoch auch für sich, für einen ‚pragmatischen‘ Politikstil zu stehen. Es bleibt demnach ab-
zuwarten, was von der Wahlkampfrhetorik an konkreter Politik übrig bleibt.
    Die fehlende diskursive Unterstützung der Idee einer auf Kompromissen fußenden Euro-
päischen Union birgt die Gefahr, dass weiterhin bei den französischen Bürgern unrealisier-
bare Hoffnungen genährt werden, die nur enttäuscht werden können. Dies könnte zu einer
Negativ-Spirale führen, die langfristig die Akzeptanz der EU in Frankreich unterminieren
könnte.

   Der Beitrag ist in Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt „Europapolitische Leitbil-
der in der erweiterten Europäischen Union“ entstanden, das vom Institut für Europäische
Politik, dem Jean Monnet Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen
der Universität zu Köln sowie der Karls Universität Prag durchgeführt und von der Volks-
wagenStiftung gefördert wird.

63 Vgl. Daniela Schwarzer : Deutschland und Frankreich – Duo ohne Führungswillen. Das bilaterale Verhältnis
   in der europäischen Union, SWP-Studie S15/2006, S. 25-26.

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