4 Claussen-Simon-Gesprächskreis - 4.1 Kunst - Apiecha

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4 Claussen-Simon-Gesprächskreis - 4.1 Kunst - Apiecha
4 Claussen-Simon-
  Gesprächskreis
4.1 Kunst

4.1.1       Alexander Piecha: Kunst, Wissen-
            schaft und Technik

Einleitung
Kunst, Wissenschaft und Technik scheinen
heute gleichermaßen in einer tiefen Krise zu
stecken. Die Kunst ist eine überaus elitäre
Angelegenheit geworden, die nur noch von
einer kleinen Anzahl von Kennern zur
Kenntnis genommen wird, da eine verstehen-
de Beschäftigung mit gegenwärtigen Kunst-
werken ein enormes Maß an mühsam zu er-
werbendem Vorwissen erfordert. Man denke
nur an Arbeiten wie von On Kawara, Hanne
Darboven oder Maria Eichhorn. Zugleich
werden im Rahmen des Post-PISA-
Aktivismus die künstlerisch-musischen Fächer                              Abb. 31. Alexander Piecha, RöntgenBild #16,
an den öffentlichen Schulen immer mehr ins                                 Mischtechnik auf Papier, DIN A 4, 2001.
Abseits gedrängt – ungeachtet positiver Mo-
dellversuche, die nachdrücklich belegen, dass                       Allerorten wird der Sinn- und Werteverlust
zum Beispiel die praktische Beschäftigung mit                       unserer Gesellschaft beklagt.
Musik neben den allgemeinen Intelligenzleis-                        Die Technik schließlich hat mit Macht Einzug
tungen auch die sozialen Fähigkeiten signifi-                       in unseren Alltag gehalten. Eine Welt ohne
kant verbessert.136                                                 Autos, Fernsehen, Handys, Computer und
Die Wissenschaften dagegen, insbesondere die                        Internet ist kaum noch vorstellbar und besten-
Naturwissenschaften im Verbund mit der                              falls im zeitlich genau umgrenzten Urlaub zu
Technik, werden dagegen immer wirkmächti-                           ertragen. Gleichzeitig sind mittlerweile die ne-
ger, was von vielen indes nicht immer nur als                       gativen Auswirkungen dieser Entwicklung al-
Segen, sondern oftmals auch als Bedrohung                           len bewusst: Um nur einige Stichworte zu
empfunden wird. Man denke nur an die öf-                            nennen, seien Waldsterben, Elektrosmog,
fentlichen Diskussionen um die Atomtechnik,                         Klimaveränderung, Ozonloch und Müllberge
um den praktischen Einsatz der Gentechnik in                        genannt.
der Landwirtschaft, in der Medizin oder um                          Besteht nun ein innerer Zusammenhang zwi-
die Stammzellenforschung.                                           schen den hier beschriebenen Entwicklungs-
Parallel zu der exponentiell ansteigenden Ak-                       tendenzen oder handelt es sich um eine
kumulation von Wissen geht anscheinend für                          schlichte Koinzidenz? Die folgende Untersu-
viele mit der nüchternen Weltsicht der Wis-                         chung der Unterschiede und Gemeinsamkei-
senschaften etwas verloren:                                         ten der Weltbezüge von Kunst, Wissenschaft
                                                                    und Technik soll Ansätze für eine Beantwor-
                                                                    tung dieser Frage liefern. Dabei kann es nicht
136
                                                                    darum gehen, eine Seite wie zum Beispiel die
      So berichtete Roland Haas (Salzburg) in seinem Beitrag        Kunst mythisch zu überhöhen und die ande-
      „Kultur der Kunst – Musik als Bildung“ zum vierten
      Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik in           ren pauschal zu verurteilen. Das Hauptau-
      Berlin 2002. Siehe hierzu auch die Untersuchungen H.          genmerk wird allerdings auf die Kunst gerich-
      G. Bastian: Musik(erziehung) und ihre Folgen. Eine            tet sein.
      Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Frank-
      furt/Main 2000.

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Kunst und Wissenschaft als Weisen der Welterzeu-                    Das Ordnen, Kategorisieren, Ergänzen, Eli-
gung137                                                             minieren und Strukturieren der Dinge erzeugt
                                                                    neue Welten und damit in einem weiten Sinne
Beginnen wir mit einer ersten Gegenüberstel-
                                                                    des Wortes Erkenntnis. Dazu bedienen wir
lung von Kunst und Wissenschaft: Das Mus-
                                                                    uns verschiedener Symbolsysteme. Ihnen allen
terbeispiel einer modernen Naturwissenschaft
                                                                    liegt der gleiche menschliche Drang zugrunde,
ist die moderne Physik. Ihr scheint es in aus-
                                                                    nämlich unser Erkenntnisinteresse. Der Kog-
gezeichneter Weise darum zu gehen, die ob-
                                                                    nitionspsychologe Berlyne sieht die Motivati-
jektive, d.h. vom Subjekt unabhängige Wirk-
                                                                    on für Kunst wie Wissenschaft in einem über
lichkeit zu beschreiben. Ohne sich jedoch ra-
                                                                    Kindheit und Jugend hinaus bewahrten und
dikal-konstruktivistische Entgleisungen zu er-
                                                                    professionalisierten     Erkundungsverhalten,
lauben, kann man heute sagen, dass diese An-
                                                                    welches das menschliche Grundbedürfnis
sicht so nicht zutreffend ist. Nicht nur in der
                                                                    nach Information zu befriedigen strebt.140 Für
Quantenphysik gilt: Die Welt, die wir wahr-
                                                                    Goodman ist die Kunst als eines der Symbol-
nehmen und die wir mit der Physik zu erklä-
                                                                    systeme mit denen wir Welt erfassen und er-
ren versuchen, ist immer eine Welt für uns, nie
                                                                    zeugen, eine Quelle der Erkenntnis wie die
aber die Welt an sich. Dieser bereits von Kant
                                                                    Wissenschaften auch – ohne dass sich die
formulierte Gedanke äußert sich schon darin,
                                                                    Weisen der Welterzeugung in irgendeiner
dass wir die Welt immer aus unserer mensch-
                                                                    Weise hierarchisieren ließen.141 Dennoch kön-
lichen Perspektive mit unseren Sinnesorganen
                                                                    nen die Symbolsysteme der Kunst und der
wahrnehmen und mit unserem Erkenntnisap-
                                                                    Wissenschaft hinsichtlich ihrer grundsätzli-
parat hypothetisch rekonstruieren. Jede Er-
                                                                    chen Symbolisierungsweisen differenziert
kenntnis ist somit immer subjektrelativ. Damit
                                                                    werden. Auf das Vorliegen künstlerischer
ist statt der alten Unterscheidung zwischen
                                                                    Symbolsysteme weisen Goodman zufolge fünf
subjektiven und objektiven Behauptungen
                                                                    Kriterien hin. Er selbst nennt diese mit Be-
nunmehr „nur“ noch die deutlich moderatere
                                                                    dacht Symptome des Ästhetischen, da sie kei-
Frage sinnvoll, inwieweit eine Behauptung
                                                                    ne notwendigen oder hinreichenden Bedin-
intersubjektiv überprüfbar ist oder nicht.138
                                                                    gungen darstellen, deren Vorliegen ein System
                                                                    mit Gewissheit als ein künstlerisches aus-
                                                                    zeichnen würde.142 Die Goodmanschen Sym-
                                                                    ptome sind:

                                                                    140   D.E. Berlyne: Aesthetics and Psychobiology, New York
                                                                          1971, S. 295f.
                                                                    141   Scholz plädiert darum in Anknüpfung an Goodman für
                                                                          eine Erweiterung der momentan auf Wissen und Wahr-
                                                                          heit fixierten Erkenntnistheorie, damit diese der Vielfalt
                                                                          menschlicher kognitiver Aktivitäten gerecht werden
                                                                          kann, s. O.R. Scholz: Kunst, Erkenntnis und Verstehen.
                                                                          Eine Verteidigung einer kognitivistischen Ästhetik, in:
                                                                          Schmücker/Kleimann (2001), S. 34-48, hier S. 35-39.
         Abb. 32. Alexander Piecha, Ferngemalt Nr. 58                     Auch Schmücker betrachtet Kunstwerke als Zeichen
                „Anmut“, Digitales Bild, 2002                             und vergleicht ihren ontologischen Status explizit mit
                                                                          dem von Worten; vgl. R. Schmücker: Was ist Kunst? Ei-
Die Frage nach der Existenz einer objektiven                              ne Grundlegung, München 1998, S. 264-268.
Welt ist dabei wesentlich uninteressanter als                       142   Goodmans Untersuchung beschäftigt sich ausdrücklich
die Untersuchung, wie wir unsere jeweils eige-                            mit Symbolsystemen und nicht mit Kunstwerken als ma-
                                                                          teriellen Objekten. Anders als Spree und Plumpe es be-
nen Welten, in denen wir leben, erschaffen                                haupten, sind seine Symptome des Ästhetischen keine
und umgestalten - so sieht es zumindest                                   Objekteigenschaften, sondern Eigenschaften von relati-
Goodman als Vertreter eines ontologischen                                 onalen Symbolsystemen. Vgl. A. Spree: Erkenntnistheo-
                                                                          rie der Kunst. Die symboltheoretische Ästhetik Nelson
wie erkenntnistheoretischen Relativismus.139                              Goodmans, in: T. Hecken/A. Spree (Hg.): Nutzen und
                                                                          Klarheit. Anglo-amerikanische Ästhetik im 20. Jh., Pa-
137   N. Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am                  derborn 2002, S. 124-151, hier S. 137 und G. Plumpe:
      Main 1995.                                                          Kann man Kunst erkennen? Arthur C. Dantos Ästhetik
138   Vgl. hierzu A. Piecha: Die Begründbarkeit ästhetischer              der Transfiguration, in: Hecken/Spree, S. 152-172, hier
      Werturteile, Paderborn 2002, S. 222-224.                            S. 169, sowie N. Goodman: Sprachen der Kunst. Ein
139   Goodman, Weisen der Welterzeugung, S. 34.                           Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt am Main

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a) Syntaktische Dichte                                          wird. Goodman unterscheidet zwar buchstäb-
                                                                liche von metaphorischen Eigenschaften, für
Damit ist gemeint, dass die Zeichen eines
                                                                beide aber gilt, dass sie tatsächlich besessen
Symbolsystems auf der Ebene der Zeichenge-
                                                                werden können, d.h. auch die Zuschreibung
stalt nicht differenziert sind, d. h. die verschie-
                                                                von metaphorischen Eigenschaften kann tat-
denen Zeichen können nicht säuberlich in dis-
                                                                sächlich wahr sein – oder auch falsch, wenn
junkte Klassen aufgeteilt werden; jeder noch
                                                                ich zum Beispiel behaupte, das Licht einer
so marginale Unterschied in der Zeichenge-
                                                                gewöhnlichen Neonröhre sei warm oder ein
stalt kann zu einem neuen Zeichen führen.
                                                                Trauermarsch fröhlich. Interessanterweise re-
Gemälde – so wie sie von uns normalerweise
                                                                konstruiert Goodman künstlerischen Aus-
betrachtet werden, d. h. innerhalb des tradier-
                                                                druck als metaphorische Exemplifikation.
ten Systems der Kunst – sind syntaktisch dich-
te Zeichen, wohingegen die natürlichen                          e) Multiple und komplexe Bezugnahme
Schriftsprachen nicht syntaktisch dicht sind,                   Goodmans fünftes Symptom taucht in den
da sie aus einer endlichen Anzahl wohl defi-                    Sprachen der Kunst selbst noch nicht auf,
nierter und unterscheidbarer Zeichen beste-                     sondern wird von ihm erst bei der Welterzeu-
hen.                                                            gung formuliert.143 Es besagt, dass ein gegebe-
b) Semantische Dichte                                           nes Zeichensystem über vielfache und kom-
                                                                plexe interne und externe Bezüge verfügt. Ei-
Betraf die syntaktische Dichte die Ebene der
                                                                ne künstlerische Arbeit wie der Raum unter
Zeichengestalt, so geht es hier um die der Be-
                                                                der Treppe von Fischli und Weiss im Frank-
deutungen. Semantische Dichte meint damit,
                                                                furter Städel-Museum rekurriert nicht nur auf
dass ein Symbolsystem für jeden noch so klei-
                                                                Duchamps Readymades, sondern verweist
nen Bedeutungsunterschied Zeichen bereit-
                                                                angesichts der Tatsache, dass es sich bei den in
stellen kann. So sind beispielsweise die natürli-
                                                                dem Raum unter einer Treppe ausgestellten
chen Sprachen semantisch dicht, da wir belie-
                                                                Hausmeisterutensilien um handgefertigte und
big genau auch kleinste Differenzen wie z. B.
                                                                naturgetreu bemalte Nachbildungen aus Poly-
Farbnuancen benennen können.
                                                                urethanschaum handelt, auch auf Vorstellun-
c) Relative Fülle                                               gen vom Künstler als virtuosem Handwerker.
Dieses Symptom bezieht sich auf die Anzahl                      Ein künstlerisches Symbolsystem, welches die
der relevanten Zeichenaspekte. Während es                       Goodmanschen Symptome aufweist, stellt
bei Funktionsgraphen beispielsweise nur auf                     damit eine „Weise der Welterzeugung” dar,
die Höhe der Linie über der Abszisse an-                        die sich stark von dem Ideal einer wissen-
kommt, spielen bei künstlerischen Zeichnun-                     schaftlichen Sprache unterscheidet. Für letzte-
gen auch das verwendete Papier, die Farbe der                   re sind Eindeutigkeit und Klarheit unabding-
Linien und ihr graphischer Gestus, die Rah-                     bare Voraussetzungen, selbst wenn vollständi-
mung und viele andere Kriterien eine Rolle,                     ge syntaktische und semantische Differen-
will man die Bedeutung des Zeichens verste-                     ziertheit auch hier nicht erreicht werden. So-
hen.                                                            mit ist es nicht verwunderlich, dass es kaum
d) Exemplifikation                                              Schwierigkeiten macht, einen physikalischen
                                                                Fachtext aus dem Deutschen ins Englische zu
Hierbei handelt es sich um eine Form der Be-                    übersetzen. Versucht man allerdings ein Ge-
zugnahme, bei der das Zeichen einzelne seiner                   dicht von einer Sprache in die andere zu über-
Eigenschaften exemplifiziert. Es verweist bei-                  tragen, so ist das Resultat oft eine kreative
spielhaft auf bestimmte (nicht alle) Prädikate,                 Neuschöpfung, da es nicht nur auf die lexikali-
die ihm zukommen, so wie eine Farbprobe                         schen Kernbedeutungen der verwendeten
uns veranschaulichen kann, was „Siena ge-                       Begriffe ankommt, sondern auch auf Konno-
brannt” für ein Farbton ist. Ebenso kann uns                    tationen, Färbungen, Assoziationen und den
eine Glühbirne exemplifizieren, was „warmes                     Klang. Vor einem ähnlichen Problem stehen
Licht” ist, auch wenn die Eigenschaft der                       wir, wenn wir versuchen, ein Gemälde oder
Wärme hier nur metaphorisch verwendet                           eine Installation jemandem zu beschreiben,

   1997, insbesondere S. 232-235 sowie ders., Weisen der
   Welterzeugung, S. 88-91.                                     143   Goodman, Weisen der Welterzeugung, S. 89.

                                                           64
4 Claussen-Simon-Gesprächskreis - 4.1 Kunst - Apiecha
der das Werk nicht kennt. Aus diesem Grunde                         ist im ersten Fall subjektiver und im zweiten
spricht auch Danto in diesem Punkt in Über-                         Fall intersubjektiver Natur. Die modernen Na-
einstimmung mit Goodman davon, dass                                 turwissenschaften zielen auf die Erkenntnis
Kunstwerke so ähnlich strukturiert sind wie                         der intersubjektiven Welt, d. h. der Tatsachen,
Metaphern oder Witze. Nicht nur der Inhalt                          die nicht von rein subjektiven Faktoren ab-
zählt, sondern ebenso die Weise, in der dieser                      hängen. Die Kunst dagegen abstrahiert, wie
Inhalt präsentiert wird.144 Paraphrasiert man                       noch auszuführen sein wird, eben nicht von
den Inhalt, so gehen dabei wesentliche Aspek-                       ausschließlich subjektiven Erlebnisqualitäten,
te verloren: Der Witz verliert seine Pointe, die                    sondern bietet eine Möglichkeit, diese inter-
Metapher ihre Ausdruckskraft, und beim                              subjektiv kommunikabel zu machen.146 (Siehe
Kunstwerk geht die in der Darstellungsweise                         hierzu auch Abbildung 4)
zum Ausdruck kommende spezifische Sicht
verloren.

                                                                          Abb. 34. Alexander Piecha „Kosovo, analog 01, Nr. 52:
                                                                          „Lazarett“, Mischtechnik auf Papier (DIN-A4), 2003.
                                                                    Wie schon Kant festgestellt hat, kommt es
                                                                    beim Geschmacksurteil auf das aus dem freien
                                                                    Spiel der Erkenntniskräfte resultierenden
                                                                    Lust- bzw. Unlustgefühl an, mithin auf unser
                                                                    jeweils individuelles Verhältnis zu den Dingen
           Abb. 33. Alexander Piecha, „Individualität
                                                                    in unserer Lebenswelt.147 Die Emotionen spie-
                  (visueller Definitionsversuch)“,                  len hier eine wesentliche Rolle – allerdings
       Mischtechnik auf Hartfaser, ca. 21 cm x 36 cm, 200.          nicht als Gegenpart zur Kognition, sondern
                                                                    als ein wesentlicher Bestandteil letzterer, stel-
Beharrt Goodman noch darauf, dass Kunst
                                                                    len sie doch das maßgebliche Bewertungssys-
und Wissenschaft beide hinsichtlich ihrer Er-
                                                                    tem des Körpers dar. Ohne Emotionen wären
kenntnisfunktion gleich sind, so geht Koppe
                                                                    wir gezwungen, gemäß den Strategien der
darüber hinaus.145 Ihm zufolge sind nicht nur
                                                                    Spieltheorie zu entscheiden, d. h. wir müssten
ihre Erkenntnismethoden, sondern auch ihre
                                                                    in jeder Entscheidungssituation alle Hand-
Erkenntnisziele unterschiedlich, entsprechend
                                                                    lungsalternativen unter Berücksichtigung aller
ihren verschiedenen Dingbezügen. Die
                                                                    Begleitumstände durchspielen und alle sich
zugrunde liegende Annahme ist die, dass der
                                                                    ergebenden Konsequenzen bei Beachtung ih-
Unterschied in der Weise der Bezugnahme
                                                                    rer Wahrscheinlichkeitsverteilung bewerten.
auch einen Unterschied in der Weise der
                                                                    Dass diese Vorgehensweise nur in Ausnahme-
Welterzeugung impliziert, basierend auf einem
                                                                    fällen innerhalb einer angemessenen Zeit-
anderen Erkenntnisinteresse. Kunst bezieht
                                                                    spanne zu sinnvollen Entscheidungen führen
sich in personaler und Wissenschaft in a-
personaler Weise auf die Welt. Der jeweils re-
sultierende Geltungsanspruch von Kunstwer-
ken und naturwissenschaftlichen Hypothesen                          146   Wichtig ist festzuhalten, dass es weder die Kunst noch die
                                                                          Wissenschaft gibt. Kunst und Wissenschaft sind viel-
                                                                          mehr Sammelbegriffe für jeweils eine Vielzahl menschli-
144
      A.C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen: Eine                   cher Aktivitäten. Einen erschöpfenden Überblick über
      Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1999, S. 287.              die alleine mit der literarischen Wertung verbundenen
145   Für Näheres s F. Koppe: Selbstwert und Geltungsan-                  Sprachspiele und Begründungsstrategien gibt W. Strube:
      spruch der Kunst, in: B. Kleimann/R. Schmücker, R.                  Sprachanalytische Ästhetik, München 1981.
      (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion,             147   I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1963, S. 67f.,
      Darmstadt 2001, S. 104-140, insbesondere S. 111-116.                72.

                                                               65
würde, muss wohl kaum näher dargelegt wer-                                schen mit intaktem kognitiven Apparat über-
den.148                                                                   einstimmend erfahren. Dass diese intersubjek-
                                                                          tive Welt eine Abstraktion von der Reichhal-
Diese emotionale Werthaftigkeit, die insbe-
                                                                          tigkeit unseres phänomenalen Erlebens von
sondere dem ästhetischen Erleben eigen ist,
                                                                          Wirklichkeit beinhaltet, ist bereits einer der
kommt, ungeachtet der von Danto immer
                                                                          Gründe für die verbreitete Unzufriedenheit
wieder betonten grundlegenden Interpretati-
                                                                          mit dem Fortschritt der Wissenschaften.
onsbedürftigkeit der Kunst,149 auch der Rezep-
tion von Kunstwerken zu. Jedes Kunstwerk                                  Im Gegensatz zu Kant, der annahm, dass die
präsentiert nicht nur seinen Inhalt, sondern                              „kognitive Normalausstattung” des Menschen
immer auch die Art und Weise der Präsentati-                              bereits ausreiche, seine Geschmacksurteile
on. Der Inhalt und die Präsentationsweise ver-                            intersubjektiv zu normieren,153 legen die aktu-
schmelzen zum Gehalt des Werkes.150 Kunst-                                ellen Resultate der Emotionsforschung den
werke sind darum prädestiniert dafür, be-                                 Schluss nahe, dass unser ästhetisches Werter-
stimmte subjektive Gehalte einer individuel-                              leben eben nicht in dieser Weise intersubjektiv
len, werthaften Erlebnisperspektive in der                                übereinstimmend ausgeprägt ist.154 Parallel zu
Weise zu objektivieren, dass diese Sicht der                              dieser zunehmenden Objektivierung des wis-
Welt an ihnen für den Rezipienten nachvoll-                               senschaftlichen Weltbildes verläuft darum die
ziehbar wird.151                                                          genau entgegen gesetzte Entwicklung der
                                                                          Kunst hin zum Medium für subjektive Erleb-
Der exponentielle Fortschritt insbesondere
                                                                          nisgehalte: Man denke nur an so unterschiedli-
der Naturwissenschaften beruht dagegen ganz
                                                                          che Künstler und Künstlerinnen wie Louise
wesentlich auf der Definition eines normalen
                                                                          Bourgeois, Christian Boltanski oder Nan Gol-
Beobachters, d. h. einer Person, welche mit
                                                                          din.
einem durchschnittlichen kognitiven Apparat
ohne alle Defekte ausgestattet ist. Unter stan-                           Selbst ein so konzeptuell arbeitender Künstler
dardisierten      Wahrnehmungsbedingungen                                 wie On Kawara lotet in seinen meist spröden
kann dieser normale Beobachter, ungeachtet                                Arbeiten Fragen aus, wie die nach der indivi-
aller sonstigen Befindlichkeiten, genau die Er-                           duellen Existenz in Raum und Zeit. Anders als
fahrungen zu machen, die eine zur Prüfung                                 einem Psychologen geht es ihm aber nicht um
stehende Theorie bestätigen oder widerle-                                 statistisch belegbare und empirisch überprüf-
gen.152 Dabei spielen, wie oben schon ange-                               bare Erklärungsmodelle. Stattdessen macht er
deutet, nur die Aspekte der phänomenalen                                  sein raum-zeitliches Dasein zum Thema von
Welt eine Rolle, die gegenüber rein subjekti-                             Werken, die es dem Rezipienten erlauben, be-
ven Faktoren invariant sind. Die Naturwissen-                             stimmte Aspekte erlebend nachzuvollziehen.
schaften befassen sich also mit einer Art                                 Somit lässt sich der Schluss ziehen, dass hier
Durchschnittswelt, einer Welt, die alle Men-                              von einer zunehmenden Arbeitsteilung ge-
                                                                          sprochen werden kann. In der Renaissance
148   Für Näheres s. A. Damasio: Descartes Irrtum, München                waren Persönlichkeiten wie beispielsweise Le-
      1997 und Piecha, S. 30-33.
149   Danto, S. 208. Zur Bedeutung der Interpretation in der
                                                                          onardo da Vinci noch Künstler und Wissen-
      Literatur vgl. A. Spree: Kritik der Interpretation. Analyti-        schaftler zugleich. Künstlerisches und wissen-
      sche Untersuchungen zu interpretationskritischen Litera-            schaftliches Werk sind oftmals nicht klar zu
      turtheorien, Paderborn/Wien/München u.a. 1995.
150   Danto, S. 264-268.
                                                                          trennen. War anschließend noch über lange
151
      Vgl. F. v. Kutschera: Ästhetik, Berlin 1988, S. 271. Die            Jahrhunderte die naturalistische Darstellung
      Präsentation individueller Sichtweisen begreift auch                eine wesentliche Aufgabe der Kunst, so hat sie
      Kleimann als eine wesentliche Funktion von Kunst; vgl.              sich spätestens im Verlauf des 20. Jahrhun-
      B. Kleimann: Erfülltes Interesse. Worin der Reiz der
      Kunst besteht, in: Kleimann/Schmücker, S. 68-87, S. 87.             derts davon emanzipieren können.155 Aber
      An anderer Stelle betont er die Werthaftigkeit ästheti-             schon zuvor war, wie sich besonders gut an
      scher Erfahrung als wichtiges Unterscheidungskriterium              den Gemälden Rembrandts oder Goyas erfah-
      im Vergleich zu propositionaler Erkenntnis; B. Klei-
      mann: Das ästhetische Weltverhältnis. Eine Untersu-                 ren lässt, die künstlerische Abbildung immer
      chung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästheti-
      schen, München 2002, S. 356.
152   Vgl. R.W. Trapp: Sind moralische Aussagen objektiv                  153   Siehe Kant, S. 208 und 212.
      wahr?, in: Das weite Spektrum der Analytischen Philo-               154   Eine differenziertere Darlegung findet sich bei Piecha, S.
      sophie. Festschrift für F. v. Kutschera, hg. von W. Len-                  154-165.
      zen, Berlin/New York 1997, S. 408-428, hier S. 420f.                155   Vgl. E. Gombrich: Kunst und Illusion, Stuttgart 1993.

                                                                     66
auch Präsentation einer bestimmten Erlebnis-               Ganz in diesem Sinne finden sich auch theore-
weise.156 In unseren Tagen haben die Künstler              tische Positionen, welche der „künstlerischen
das dahingehend erweitert, dass sie nicht nur              Vernunft” in emphatischer Weise die höhere
ihre spezifische Sicht in ihren Werken verge-              Dignität zusprechen.159 Darum fällt es auch so
genständlichen, sondern darüber hinaus auch                leicht, der technischen Entwicklung beispiels-
offene Erlebnisräume schaffen, die andere                  weise die Schuld an unseren Umweltproble-
füllen müssen.                                             men oder an der Unmenschlichkeit der zu-
                                                           nehmenden Rationalisierung der Arbeitswelt
Christian Boltanski formuliert das so:
                                                           zuzuschreiben, wohingegen der Künstler ger-
„Ein Kunstwerk muß eine gewisse Undefi-                    ne als der Prototyp des kreativen Visionärs
niertheit haben; damit jeder seine eigenen Ge-             präsentiert wird.
schichten, seine eigenen Erinnerungen daran
                                                           Ganz abgesehen davon, dass Kreativität nicht
festmachen kann. Ein gutes Kunstwerk be-
                                                           nur in den Künsten sondern auch in Wissen-
steht zu Dreiviertel aus den Emotionen des-
                                                           schaft und Technik vorkommt,160 liegt hier
sen, der es anschaut.“157
                                                           eine begriffliche Verwirrung vor: „Technik”
Wie bei jeder Form der Arbeitsteilung aber                 meint im normalen Sprachgebrauch lediglich
sind die Produkte hoch spezialisierter Tätig-              so etwas wie Verfahrensweise oder Methode.
keiten meist nicht ohne weiteres durchschau-               Kunst dagegen ist ein primär positiv werten-
bar. So kostet es in gewisser Weise ebenso                 der Begriff, der sich bislang dem definieren-
Mühe, einen aktuellen Aufsatz zur Quanten-                 den Zugriff der philosophischen Ästhetik
physik zu verstehen, wie Gregor Schneiders                 recht erfolgreich verweigert.161 In diesem Sin-
Haus „u r“ in Rheydt angemessen zu rezipie-                ne sprechen wir auch von Handwerks- oder
ren.158 Rührt die verbreitete Unzufriedenheit              Ingenieurskunst. Auf der anderen Seite liegt
mit der naturwissenschaftlichen Weltsicht da-              jedem künstlerischen Schaffen notwendiger-
her, dass alle werthaften und damit subjekti-              weise eine gewisse Technik im Sinne einer
ven Erlebnisqualitäten ignoriert werden, so                Verfahrensweise zugrunde – man denke nur
erfordert die Auseinandersetzung mit Kunst-                zum Beispiel an die ausgefeilte Technik der
werken, neben nicht unerheblichem kunsthis-                klassischen Ölmalerei. Mithin handelt es sich
torischem Vorwissen, die Offenheit, sich auf               bei Kunst und Technik gar nicht um zwei
subjektive und oftmals provozierende Per-                  voneinander abgrenzbare Bereiche menschli-
spektiven einzulassen.                                     chen Handelns. Allenfalls ließe sich ein Ge-
Kunst und Technik                                          gensatz zwischen den Ingenieurwissenschaften
                                                           und der Kunst konstruieren. Dieser verliefe
Die folgenden, auf obigen Überlegungen auf-                dann aber weitgehend parallel der bereits oben
bauenden Ausführungen zu diesem Thema                      untersuchten Unterscheidung zwischen Kunst
teilen sich in zwei Bereiche, nämlich a) eine              und Naturwissenschaft. Es mag durchaus sein,
theoretisch-analysierende Betrachtung und                  dass in den Ingenieurwissenschaften anders als
b) praktisch-künstlerisch motivierte Erwägun-              in der theoretischen Physik Überlegungen
gen:                                                       zum Nutzen und zur Anwendbarkeit eine
a) Das auf den ersten Blick so einleuchtende               größere Rolle spielen. Allerdings können der-
Begriffspaar „Kunst und Technik” ist bei nä-               artige pragmatische Aspekte ebenfalls zu einer
herer Betrachtung schon als solches proble-                Normierung individueller Weltsichten führen.
matisch. Es impliziert nämlich einen Gegen-
satz von technischer Weltbeherrschung auf                  159   So z.B. Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt
der einen und künstlerischem Schaffen auf der                    a. M. 1992, S. 428f., oder M. Heidegger: Der Ursprung
anderen Seite. Ersteres würde sich in diesem                     des Kunstwerks, Stuttgart 1960, S. 80f.
                                                           160   Zum Begriff der Kreativität vgl. z.B. A. Koestler: Der
Verständnis an Nützlichkeitserwägungen ori-                      Göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und
entieren und auf praktische Anwendbarkeit                        Wissenschaft, Bern-München-Wien 1966 und M. A. Bo-
abzielen. Zweiteres wäre dann dagegen ein                        den: Die Flügel des Geistes. Kreativität und künstliche
                                                                 Intelligenz, München 1992.
Sammelbegriff für freies kreatives Schaffen.               161   Siehe hierzu Alexander Piecha, „Was ist Kunst? Grund-
                                                                 legung einer analytischen Theorie des Kunstwerkes“ in
156   Vgl. die Interpretation bei Danto, S. 294-297              „Proceedings der Sektionsbeiträge des 5. Kongresses der Gesell-
157   Boltanski im Kunstforum Bd. 113, 324.                      schaft für Analytische Philosophie (GAP)“ Hrsg. von Roland
158   S. Kunstforum Bd. 156, 294.                                Bluhm und Christian Nimtz. Paderborn 2003, 568-581

                                                      67
In unserem Alltag sehen wir aus eben solchen                        kaum noch eine bemerkenswerte Intelligenz-
Gründen in den meisten Fällen von den                               leistung dar und erfordert meist keine nen-
grundsätzlichen Unterschieden unserer Le-                           nenswerten Fertigkeiten. Somit ist die Beherr-
benswelten ab.162 Folglich ist zu erwarten, dass                    schung vorhandener Techniken und damit
uns eine detaillierte Analyse von Ingenieurwis-                     auch Problemlösungsstrategien zwar grundle-
senschaften und Kunst keine neuen Einsich-                          gende Bedingung für die professionelle Betäti-
ten liefern würde, weshalb sie an dieser Stelle                     gung als Künstler, aber nicht für den einzelnen
auch unterbleiben soll.                                             konkreten Produktionsprozess.
b) Auf der Basis meines eigenen künstleri-                          Zu 2. Waren früher die tradierten Techniken
schen Schaffens163 und vor dem viel beschwo-                        über lange Zeiträume allgemein verbindlich,
renen Hintergrund der „Neuen Medien” erge-                          so stehen dem Künstler heute alle Verfahren
ben sich folgende Fragen: 1. Hat der Kunst-                         zur freien Verfügung. Insbesondere die digita-
charakter eines Gegenstandes etwas mit der                          len Medien reduzieren die zuvor vielfältigen
(virtuosen) Beherrschung bestimmter Techni-                         technischen Fertigkeiten auf das nunmehr of-
ken seitens des Produzenten zu tun?                                 fenbar universale Vermögen, einen Computer
2. Welche Bedeutung haben die modernen                              zu bedienen (s. insbesondere Abbildung 2).
Technologien und die Einsichten der Wissen-                         Das hat zur Folge, dass die Verwendung kei-
schaften für das künstlerische Schaffen? Und                        ner Technik mehr selbstverständlich ist und
3. Welche Bedeutung hat die Kunst für die                           folglich jede Verfahrensweise künstlerisch re-
technische respektive die wissenschaftliche                         flektiert werden muss. Waren die ersten Sola-
Entwicklung der Gegenwart beziehungsweise                           risationen Man Rays sozusagen in sich selbst
welche Bedeutung könnte sie haben?                                  begründet, so kann jeder Besitzer eines Bild-
                                                                    bearbeitungsprogramms diesen Effekt heute
Zu 1. Die Produktion von Kunst als ein krea-
                                                                    einfach per Mausklick erzielen. Diese Beein-
tiver Akt im Sinne Bodens oder Koestlers
                                                                    flussung der Kunst durch die technischen
kann als bestimmte Art der Problemlösung
                                                                    Möglichkeiten ihrer Zeit war natürlich zu je-
verstanden werden, bei der die traditionellen
                                                                    dem Zeitpunkt der Geschichte gegeben. Den-
Suchräume und ihre heuristischen Verfahren
                                                                    noch hat sie heute eine neue Dimension ange-
grundlegend modifiziert oder gar verlassen
                                                                    nommen. Damit einher geht die Gefahr der
werden. Damit werden neue Lösungsmöglich-
                                                                    Beliebigkeit, die nur durch sorgfältige Reflexi-
keiten erschlossen, die vorher prinzipiell nicht
                                                                    on auf die verwendeten Techniken gebannt
erreichbar waren.164 Der paradigmatische Fall
                                                                    werden kann. Die Tatsache indes, dass eine
eines kreativen Aktes ist die Entdeckung des
                                                                    Arbeit beispielsweise im Internet realisiert
Archimedischen Prinzips: Archimedes sollte
                                                                    wurde, ist kein Garant für ihre künstlerische
herausfinden, ob eine bestimmte Krone tat-
                                                                    Qualität. Vielmehr haben hier die „Alten Me-
sächlich aus reinem Gold war. Da das spezifi-
                                                                    dien” einen deutlichen Vorsprung, kann in
sche Gewicht von Gold bekannt war, galt es,
                                                                    ihnen doch auf eine zum Teil Jahrtausende
das Volumen zu messen – allerdings natürlich
                                                                    alte Tradition zurückgegriffen werden.
ohne die Krone einschmelzen zu dürfen.
Nach langer und erfolgloser Lösungssuche                            In analoger Weise fließen jeweils aktuelle wis-
brachte ihn eine alltägliche Beobachtung zu                         senschaftliche Entwicklungen oftmals in die
der entscheidenden Einsicht: Beim Einsteigen                        Kunst ein, bilden sie doch immer eine Art
in ein Bad steigt der Wasserspiegel an; das Vo-                     Hintergrundfolie für die Weltsicht der Gesell-
lumen der Krone war durch die von ihr ver-                          schaft, in der die Künstler leben und arbeiten.
drängte Wassermenge zu bestimmen. Charak-                           Angesichts der beschriebenen Arbeitsteilung
teristisch ist bei diesem Beispiel, dass im                         zwischen den Symbolsystemen erzeugen aller-
Nachhinein alles trivial scheint. Das Nachvoll-                     dings selbst Künstler, die sich explizit mit Wis-
ziehen solcher kreativer Akte stellt darum                          senschaft befassen, immer nur wieder Kunst
                                                                    und keine neue und womöglich gar bessere
162   Zur pragmatisch motivierten Intersubjektivität der Le-
                                                                    Art von Wissenschaft, auch wenn sie mit ihren
      benswelt vgl. das soziale Apriori von Schütz, in: A.          Werken etwas möglicherweise Relevantes über
      Schütz/T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt,                die Gesellschaft und deren Wissenschaft zum
      Darmstadt 1975, insbesondere S. 73f. und 245f.
163   Siehe http://www.apiecha.de.
                                                                    Ausdruck zu bringen vermögen. Umgekehrt
164   Siehe Koestler und Boden.                                     resultiert aus der wissenschaftlichen Beschäfti-

                                                               68
gung mit Kunst immer Wissenschaft und kei-                         Die Akzeptanzprobleme von Kunst einerseits
ne Kunst. Auch die Kunstwissenschaft ist                           und Wissenschaft und Technik andererseits
zwar eine völlig legitime, aber wissenschaftli-                    beruhen auf gegensätzlichen Problemen.
che Disziplin. Für Kunst wesentliche Erleb-                        Letztlich aber gehen sie auf die historisch un-
nisqualitäten bleiben ihr wesensfremd.                             vermeidliche Arbeitsteilung und eine daraus
                                                                   resultierende Ausdifferenzierung unterschied-
Zu 3. Zum einen bietet sich in der Kunst mit
                                                                   licher Systeme zurück. Keinem kann dabei
der heute gegebenen weitgehenden Freiheit
                                                                   seine Unzugänglichkeit als Verschulden ange-
von externen Nutzen- und Zweckorientierun-
                                                                   rechnet werden – zumindest nicht vor dem
gen die Möglichkeit, neue Techniken in gewis-
                                                                   Hintergrund einer zunehmend sich arbeitstei-
ser Weise spielerisch zu hinterfragen. Zum
                                                                   lig spezialisierenden sozialen Gemeinschaft.
anderen ist in der Kunst mindestens seit dem
20. Jahrhundert das Kunstwerk als Kommu-                           Die Lösung des gleichwohl vorhandenen
nikationsmedium nie transparent hinsichtlich                       Problems liegt womöglich im Bildungssystem,
seiner Bedeutung. Stattdessen bilden Form                          welches nicht einseitig auf eine Weise der
und Inhalt in untrennbarer Verschmelzung                           Welterzeugung reduziert werden darf. Aus der
den Gehalt.165 Jede produzierende wie rezipie-                     beschriebenen Arbeitsteilung folgt schließlich
rende Beschäftigung mit einem Kunstwerk                            nicht, dass einer der resultierenden Bereiche
beinhaltet mithin eine Reflexion des Mediums                       ephemer sei. Wir brauchen als Menschen so-
als Teil der Botschaft. Einer solchen Reflexion                    wohl Wissenschaft als auch Kunst. Damit aber
bedarf es aber heute mehr denn je: Man denke                       ist der Frage der Vermittlung beider insbeson-
nur beispielsweise an den hysterischen und                         dere an den Schulen viel größeres Augenmerk
völlig konzeptlosen Schlachtruf „Schulen ans                       zu schenken. Anstatt Lehrer zu Vollwissen-
Netz”, der derzeit als Antwort auf das desolate                    schaftlern auszubilden, müsste man sie zu
Ergebnis der PISA-Studie erschallt. Aus die-                       Vermittlungsprofis machen. In diesem Sinne
sem Grunde schon dürfen meiner Ansicht                             müsste auch das Selbstverständnis universitä-
nach professionelle Künstler das Feld der                          rer Pädagogik und Fachdidaktik zumindest im
„Neuen Medien” nicht technophilen Freizeit-                        Rahmen der Lehrerbildung einer grundlegen-
gestaltern überlassen. Hier kommt der Kunst                        den Revision unterzogen werden: Weg vom
als erlebnisorientiertem Reflexionsmedium für                      Idealbild einer unabhängigen theoretischen
Weltsichten eine gesellschaftlich durchaus                         Wissenschaft und hin zu einer praxisorientier-
wichtige Aufgabe zu. Indirekt mag das dann in                      ten Disziplin.
seltenen Einzelfällen auch wieder sogar Aus-                       Während in Bereich der naturwissenschaftli-
wirkungen auf das Wissenschaftsverständnis                         chen Fächer bereits neue Ansätze der Vermitt-
und damit auf die Wissenschaft haben.                              lung erprobt werden, könnte eine Intensivie-
Dennoch ist als allgemeine Aussage festzuhal-                      rung der künstlerisch-musischen Fächer nicht
ten, dass Wissenschaftler aus der Beschäfti-                       nur der Kunst aus ihrem Dilemma helfen.
gung mit Kunst keinen unmittelbaren Gewinn                         Durch die Konfrontation mit in Kunstwerken
für ihre Arbeit als solche erlangen können.                        verkörperten fremden Sichtweisen können
Mittelbar mag das vielleicht möglich sein, bei-                    neben Kreativität und Bildkompetenz auch
spielsweise wenn die Rezeption von Kunst                           soziale Kompetenz und Toleranz erübt und
ihre kognitiven Fähigkeiten in Bezug auf krea-                     geschult werden.166
tive Problemlösungen schult oder für sie eine
Möglichkeit der aktiven Ablenkung von aktu-
ellen Problemen darstellt. Insbesondere Letz-
teres vermag unter Umständen eine Denkblo-
ckade angesichts einer komplexen Aufgabe
lösen zu helfen, aber insgesamt bleibt den-                        166   Siehe hierzu auch Alexander Piecha, „Wozu Kunstpäda-
noch die prinzipielle Schwelle zwischen Kunst                            gogik? Zur kognitiven Bedeutung ästhetischer Erfah-
                                                                         rung“ in „bilden mit kunst“, hrsg. v. Landesverband der
und Wissenschaft unberührt.                                              Kunstschulen Niedersachsen e.V., transcript Verlag, Bie-
Fazit                                                                    lefeld, 2004, 177-184 und ders. „Die Kunst der Wahr-
                                                                         nehmung & die Wahrnehmung der Kunst. Arnheim &
                                                                         Damasio“ in „Rudolf Arnheim oder die Kunst der Wahrneh-
165   Vgl. v. Kutschera, S. 43, 255-258 oder auch Danto, S.              mung. Ein interdisziplinäres Porträt“ Hrsg. von Christian Al-
      264-267.                                                           lesch & Otto Neumaier, Wien 2004, 53-68

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