Raumbezogene Bindungen und Partizipation vor dem Hintergrund städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen
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Raumbezogene Bindungen und Partizipation vor dem Hintergrund städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen – das Beispiel „Stadtumbau Ost“ Karen Sievers 1. Einleitung Insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts verweisen unterschiedliche Fachdisziplinen vermehrt auf die essentielle Bedeutung sowohl individueller wie kollektiver raumbezogener Bindungen. Ihre Relevanz wurde vor allem auch im Zusammenhang mit Maßnahmen der Stadterneuerung diskutiert sowie im Rahmen empirischer Begleitforschung herausgearbeitet. Seit 2002 verfolgt das Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ als Reaktion auf Aus- maß und Folgen der aktuellen und prognostizierten Schrumpfungsprozesse in Ostdeutschland das Ziel, die Attraktivität ostdeutscher Städte als Wohn- und Wirtschaftsstandorte zu stärken. Entsprechend der Ansiedlung des Pro- gramms im Bereich der Städtebauförderung sind die Maßnahmen – Rückbau von Gebäude- und Infrastrukturen sowie Aufwertungen – orientiert an einer Anpassung der Stadtstrukturen an sich verändernde demographische und ökonomische Rahmenbedingungen. In diesem Zusammenhang spielen auch die Aspekte ‚städtische Identität‘ und ‚Identifikation der Bevölkerung‘ eine Rolle, so dass raumbezogene Bindungen als wichtige Stellgröße der Stadtent- wicklung auch im Rahmen des Stadtumbauprogramms Bedeutung erlangen: normativ und juristisch im Hinblick auf den Anspruch einer partizipativen Pla- nung und eines – auch durch die Tradition der Europäischen Stadt wesentlich geprägten – Verständnisses von ‚Stadt‘ als eine für das Wohlergehen ihrer BürgerInnen verantwortlichen Einheit; und schließlich strategisch vor dem Hintergrund eines nachhaltigen Stadtumbaus sowie einer steigenden Kon- kurrenz von Kommunen um EinwohnerInnen. Der Beitrag versucht zunächst eine begriffliche und inhaltliche Annä- herung an das Phänomen raumbezogener Bindungen (2). Es folgt eine Be- trachtung der Rolle, die raumbezogenen Zuordnungen vor dem Hintergrund
208 Karen Sievers städtebaulicher Eingriffe zukommt und inwieweit Partizipation in diesem Zu- sammenhang eine besondere Bedeutung erhält (3). Ein Blick in Theorie und Praxis des Stadtumbaus zeigt anschließend, dass der Aspekt raumbezogener Bindung zwar konzeptionell Eingang in die Stadterneuerung gefunden hat, diesem Anspruch aber in der Umsetzungspraxis nur wenig gerecht zu werden scheint (4). Die Ausführungen schließen mit Überlegungen hinsichtlich pro- grammimmanenter Abhängigkeiten, die eine Diskrepanz zwischen Program- manspruch und Umsetzungswirklichkeit bedingen (5), sowie einem Fazit (6). 2. raumbezogene Bindungen – eine Annäherung Seit den 1960er Jahren erscheinen disziplinübergreifend vermehrt sowohl theoretische wie auch empirische Arbeiten, die raumbezogene Bindungen einerseits als fundamentales menschliches Bedürfnis interpretieren und diese andererseits (beispielsweise in Form von Studien zur Qualität und Zufrieden- heit mit der Wohnumgebung) in den (anwendungsbezogenen) Fokus sozial- wissenschaftlicher und psychologischer Forschung rücken. Das Phänomen raumbezogener Bindung verweist inhaltlich auf eine mehr oder weniger bewusste positive „emotionsbezogene Bindung von Menschen an bestimmte Orte oder Gebiete“ im Sinne ihrer sozial-physischen Gegebenheiten (Haller/Jahnke/Leue 2006: 61, Hervorhebungen im Original). Ihr Vorhanden- sein wird dabei zunächst grundsätzlich angenommen, wenn der Wohnsitz freiwillig an einem Ort behalten werden soll (Reuber 1993: 6). Diese Zuord- nungen werden weiterhin nach unterschiedlichen Bezugskategorien differen- ziert: rational-existentielle bzw. funktionale Ortsbindung rekurriert dabei u. a. auf Aspekte der Existenzsicherung oder der infrastrukturellen Ausstattung des Ortes; Kontakte, Verwandtschaft, Freundschaften werden als Faktoren so- zialer Bindung beschreiben; und schließlich wird eine habituelle Bindung im Sinne einer durch eine lange Wohndauer bedingten, emotional bedeutsamen Gewöhnung an die spezifische Gestalt der materiellen und sozialen Umwelt beschrieben. Weiterhin lassen sich – im Hinblick auf die jeweiligen Bezugs- kategorien – unterschiedliche Bindungsintensitäten festhalten, die in einem Spektrum von rationalen Wohnstandortbindungen/-gebundenheiten, über emotionale Zuordnungen bis hin zu einem „emotionale[n] sich-Gleichsetzen- mit dem Viertel“ (Reuber 1993, 116) (lokale Identifikation) vorliegen können (vgl. Schmidt-Relenberg 1968; Siebel 1977; Bodzenta 1981: 23). Vor allem die Wohndauer wird für die Ausbildung und Aufrechterhaltung raumbezogener Bindungen als zentral angesehen, da sie u. a. Einfluss nimmt
Raumbezogene Bindungen und Partizipation 209 auf die soziale Eingebundenheit, die Gewöhnung an soziale und materielle Strukturen sowie das Erleben wichtiger biografischer Ereignisse (vgl. Reuber 1993: 7; Treinen 1965). Die emotionale Zuordnung wird dabei zwar ursächlich auf soziale Beziehungen und biografisch relevante Erlebnisse zurückgeführt (vgl. u. a. Göschel 1987; Altman/Low 1992b). Deren Repräsentation bzw. Ver- sinnbildlichung erfolgt aber über substädtische Raumeinheiten, die auch in Form ihrer physiognomisch-materiellen Struktur1 zu einem elementaren Be- zugspunkt von Ortsbindungen werden (vgl. Siebel 1977: 395; Treinen 1965: 77). Die physiognomische Struktur übernimmt demnach symbolische, ori- entierende, psychologische und soziale Funktionen: Sie erzeuge Verhaltens- und Umweltsicherheit aufgrund von Erfahrung, Aneignung und Gewohnheit; Möglichkeiten der Aneignung und Beteiligung befriedigten das Bedürfnis nach Aktivität und Stimulation; im Sinne sozialer Interaktion und Symbolik würden soziale Beziehungen und kollektive Erinnerungen repräsentiert; die materielle Kontinuität spiegele eine zeitliche personale Kontinuität sowie biographisch bedeutsame Ereignisse und nehme so Einfluss auf Identitätsbil- dung und Individuation; und schließlich könnten durch symbolisch-materi- elle Abgrenzungen2 soziale Kohäsion und Gemeinschaftsbildung gefördert werden (Weichhart/Weiske/Werlen 2006: 71ff.). Hintergrund Insbesondere wenn diese Bezugsorte in ihrem Bestand und ihrer sozialen wie materiellen Kontinuität bedroht erscheinen, sich verändern oder verschwin- den, werden (als eher unbewusste Zuordnungen beschriebene) raumbezo- gene Bindungen wahrgenommen und geraten in den Fokus individueller, gruppenspezifischer, politischer und empirisch-wissenschaftlicher Aufmerk- samkeit. So wurde im Hinblick auf die Neugestaltung städtischer Strukturen nach dem Zweiten Weltkrieg festgestellt, dass den Menschen damit etwas Wichtiges genommen worden sei: die „über Generationen vermittelte Er- fahrung der Kontinuität der räumlichen Entwicklung“ (Bertels 1997: 63; vgl. Christmann 2004: 295). Auch empirische Ergebnisse hinsichtlich der Auswir- 1 Dazu zählen u. a. die Bausubstanz, Gebäudebestände, städtebauliche Gestaltung und Gliederung sowie bauliche und naturräumliche Topographien (vgl. Reuber 1993; Raith 2000). 2 Diese Grenzverläufe seien als „kollektive Raumsymbole“ (z. B. bauliche Ensembles) den meisten BewohnerInnen bekannt „und damit für die kollektive Selbstvergewisserung und raumbezogene Identität der Wir-Gemeinschaft von entsprechender Bedeutung“ (Reuber 1993: 51; vgl. Göschel 1987).
210 Karen Sievers kungen von Umweltveränderungen auf raumbezogene Bindungen wurden u. a. im Rahmen von Forschungen zu sanierungsbedingten Erneuerungen, Umbauten und Umsiedlungen gewonnen. Fried (1963) kam in seiner Unter- suchung eines Bostoner Sanierungsgebietes zu dem Ergebnis, dass Befragte nach einem Umzug Reaktionen zeigten, die der Trauer um geliebte Personen glichen, was vor allem mit der Unterbrechung des individuellen Kontinuitäts- sinns und einer damit einhergehenden Identitätsfragmentierung begrün- det wurde (Giuliani 2003: 144ff.). Im Hinblick auf Veränderungen der Umwelt müssten folglich räumliche Bezugspunkte erhalten bleiben, wenn Bindungen überhaupt aufrecht erhalten werden sollen (Oertel 1982: 160). Vor diesem Hin- tergrund erklärt sich, dass Veränderungen – ob nun durch Ortswechsel oder Wandel des Ortes – Abwehr- und Gegenreaktionen hervorrufen (Twigger- Ross/Bonaiuto/Breakwell 2003: 210; Proshansky/Fabian/Kaminoff 1983: 70ff.). Diese Proteste gegen die – örtliche Lebensbedingungen teilweise erheblich verbessernden – baulich-räumlichen Veränderungen werden einerseits mit einer funktionalen Angewiesenheit der BewohnerInnen auf die Ausstattung des Ortes begründet. Darüber hinaus erklärten sie sich aber auch aus der „Angst, daß die vertrauten Symbole und räumlichen Ensembles verloren ge- hen und damit auch die Reaktivierung von Erinnerungen“ verhindert sowie ein Stück Biographie getilgt bzw. ortlos werde (Reuber 1993: 110). Eingedenk dieser individuellen und gruppenspezifischen sowie stadtentwicklungs- politischen Relevanz verwundert es, dass die Bedeutung raumbezogener Bindungen und ihrer materiellen Bezugspunkte zwar in wiederkehrenden Konjunkturen durchaus thematisiert, sie häufig aber nicht systematisch in Un- tersuchungen oder stadtentwicklungspolitische Maßnahmen integriert wer- den (vgl. Giuliani 2003). 3. Eingriff und Verlust – raumbezogene Bindungen und Partizipation vor dem Hintergrund städtebaulicher Erneuerungsmaßnahmen Gerade städtische Orte raumbezogener Bindungen sind immer auch geplan- te bzw. fremdbestimmte Umgebungen – durch ungeregeltes Wachstum, ho- heitliche Regulierung, schließlich durch eine professionalisierte, demokratisch legitimierte und auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen zielende Stadtplanung. Dabei wiederholt sich häufig – zumindest aus Sicht der ansässi- gen Bevölkerung – ein Zyklus von Problemwahrnehmung, Eingriff und Verlust, der Aspekte räumlicher Verortung in den Fokus individueller, öffentlicher und politischer Betrachtung rückt. Verlust bezieht sich dabei auf die Beeinträch-
Raumbezogene Bindungen und Partizipation 211 tigung oder den Wegfall jener Bindungskategorien im Sinne einer Angewie- senheit auf infrastrukturelle Ausstattungen und Orientierungsfreundlichkeit, lokale soziale Netzwerke, Gewöhnung an eine bestimmte städtebaulich-ma- terielle Struktur sowie deren Symbol- und Repräsentationsfunktion. Das aktuellste Beispiel für einen derartigen Prozess stellt die Umsetzung des Bund-Länder-Programms „Stadtumbau Ost“ dar, das im Rahmen der Städtebauförderung seit 2002 Fördermittel für den Abriss und Rückbau von Gebäude- und Infrastrukturen sowie für städtebauliche Aufwertungsmaß- nahmen zur Verfügung stellt. Es reagiert damit auf Ergebnisse einer von der Bundesregierung auf Initiative der Wohnungswirtschaft eingerichteten Kom- mission, die einen ‚Überhang‘ von einer Million leer stehender Wohnungen und damit einen dringenden (politischen) Handlungsbedarf festgestellt hatte (Pfeiffer/Simons/Porsch 2000). In diesem Kontext waren angesichts ungekann- ter Bevölkerungs-, Arbeitsplatz- und Kaufkraftverluste ‚schrumpfende‘ Städte und Regionen in der breiten (auch politischen und v.a. wohnungswirtschaft- lichen) Öffentlichkeit thematisiert und als Handlungsfeld anerkannt worden. Das Programm und seine Umsetzung sollen im Folgenden daraufhin betrachtet werden, inwiefern sie raumbezogenen Bindungen Bedeutung zumessen bzw. diese berücksichtigen sollten. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei einerseits – auch im Hinblick auf den städtebaulichen Ansatz des Programms – Bindungen an die materielle Struktur und andererseits der Aspekt der Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten der ansässigen Bevöl- kerung. Denn im Hinblick auf bindungsrelevante Raumausschnitte nehmen auch Gestaltungs- und Aneignungsmöglichkeiten eine zentrale Position ein: Sie förderten Bindung und Identifikation, während ein Gefühl der Machtlosig- keit bzw. der Ausschluss von Entscheidungsstrukturen negativen Einfluss auf die Ortsbindung habe (Thum 1981: 100; vgl. dazu auch Sinning 2006). Diesem Zusammenhang wird dann wiederum Einfluss auf das Engagement vor Ort zugeschrieben, indem eine emotionale „Bindung (…) eher eine Basis für In- teresse und Beteiligung an der Entwicklung des Ortes“ sei (Weeber 1971: 108; Winter/Church 1984: 89f.). In Anwendung auf das Stadtumbauprogramm wird so die Relevanz raum- bezogener Bindungen an sich sowie die Notwendigkeit ihrer systematischen Berücksichtigung deutlich. Darüber hinaus stellen Proshansky/Fabian/Kami- noff (1983: 66) im Hinblick auf die Gefährdung raumbezogener Bindungen fest: „what is at stake is the well-being of the person” – und verweisen damit quasi auch auf eine (gesellschaftliche bzw. städtische) Verantwortung gegen- über dem Wohl der Allgemeinheit und des Einzelnen. Im Rahmen städtebau- licher Veränderungen oder abrissbedingter Umzüge stellt sich also für die
212 Karen Sievers Umsetzung des Stadtumbaus die Frage nach der Gefährdung und möglichen Erhaltung bestehender Bindungen bzw. nach der Ausbildung neuer Bindun- gen – u. a. auch durch die Möglichkeit der Mitbestimmung und Mitgestaltung. Im Sinne einer strategischen Planung nehmen raumbezogene Bindungen in diesem Zusammenhang folglich darüber hinaus auch Einfluss auf die Effizi- enz und Nachhaltigkeit des Stadtumbaus: Städte – vor allem jene kleiner und mittlerer Größe – stehen vor der Herausforderung, Bevölkerung zu halten, Engagement zu fördern und langfristig nachhaltige Strukturen zu etablieren. Städtische Lebensqualität werde dabei wesentlich durch das subjektive Wohl- befinden der BürgerInnen geprägt und daher ginge es beim Stadtumbau im Sinne eines offenen Prozesses auch darum, „den Gestaltungsfragen der Stadt und des gebauten Umfeldes Beachtung [zu] schenken, damit er zur Sache des ganzen Gemein- wesens wird, breite Akzeptanz findet und so zur Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen beitragen kann“ (IRS 2003: 7; vgl. Bundestransferstelle 2008: 1). Konzeptionell rekurriert die Zielsetzung des Programms sowohl auf die (sym- bolische) Bedeutung der materiellen Struktur als auch entsprechender Bin- dungen: So sollen durch ‚intakte Stadtstrukturen‘ und Wohnungsmärkte „die Identität der Städte erhöht und die Bindung an städtische Strukturen verstärkt werden“. Dies ist mit dem Ziel verbunden, dass sich BürgerInnen „in ihrer Stadt wohl fühlen und wieder stärker mit ihr identifizieren“ (Kabinettsvorlage 2001). Auch die möglichst frühzeitige Einbeziehung der Bevölkerung in den Umbau- prozess wird in diesem Zusammenhang besonders betont (Hagemeister/Hal- ler 2009: 261ff.). Ingesamt nehmen Bindungen – hier überwiegend verstanden als Zuordnungen zur Gesamtstadt, nicht an eher bindungsrelevante substäd- tische Einheiten – und Bürgerbeteiligung im Rahmen des Stadtumbaus eher eine funktional-strategische Position ein. So betont ein Sondergutachten zur Bürgermitwirkung im Stadtumbau: „Letztendlich geht es darum, zu klären, inwieweit ein dialogori- entiertes Vorgehen im Stadtumbau helfen kann, die Akzeptanz und das Verständnis der betroffenen Bewohner für Vorhaben des Stadtumbaus zu erhöhen und die Identifikation der Bürger mit Pro- jekten und Zielen der Stadtentwicklung zu fördern“ (BMVBS/BBSR 2009: 6).
Raumbezogene Bindungen und Partizipation 213 Demgegenüber tritt der Aspekt individueller und gruppenspezifischer Be- troffenheit in den Hintergrund – bzw. erfährt insgesamt eigentlich keinerlei diskursive oder praktische Berücksichtigung. Dabei wurden inzwischen über 800 Stadtumbaugebiete gefördert, und gut zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung leben in Stadtumbaukommunen (BMVBS/BBR 2008, III). Etwa 100.000 Haushalte seien zu einem Umzug gezwungen gewesen (Hagemeis- ter/Haller 2009: 268), und von ihnen und insbesondere von den ‚Dagebliebe- nen‘ haben viele nicht nur den Rückbau von Gebäudeteilen, sondern oft den flächenhaften Abriss ganzer Stadtviertel miterlebt.3 Bereits im Hinblick auf die sanierungsbedingten Umbauten und Umzüge der 1960er bis 1980er Jah- re verweisen einerseits Untersuchungen auf das Ausmaß der Folgen für die Sanierungsbetroffenen (vgl. Fried 1963; Tessin et al. 1983; Becker/Schulz zur Wisch 1982). Darüber hinaus führten andererseits gerade die Praxis der Flä- chensanierung sowie entsprechende Proteste und Widerstände gegen derart massive Eingriffe in bestehende Strukturen zur normativen und gesetzlichen Verankerung aktiver und passiver Bürgerbeteiligung in Planungstheorie und -praxis. 4. Stadtumbau in der Praxis Theorie, historische Praxis und letztlich auch die Konzeption des Stadtum- bauprogramms verweisen auf die normative und strategische Bedeutung lokaler Bindungen sowie die Notwendigkeit der BewohnerInnenbeteiligung. Nichtsdestotrotz betonen nahezu sämtliche bisher durchgeführten Analysen und Berichte zum Stand der Umsetzung erhebliche Defizite insbesondere hin- sichtlich der aktiven und passiven Einbeziehung der ansässigen Bevölkerung und ihrer Interessen (vgl. insb. BMVBS/BBSR 2009). Zwar wurden nach den ersten Abrisswellen vereinzelte Stimmen laut, die auf den Wert symbolischer Bausubstanz verwiesen, und es bildeten sich ein- zelne Initiativen betroffener AnwohnerInnen, die sich gegen Abrisse zur Wehr setzten. Allerdings fanden diese Aufrufe und Aktionen nur zum Teil Resonanz in der Öffentlichkeit und entfalteten darüber hinaus selten auch politische Wirksamkeit – Aufmerksamkeit wurde ihnen v.a. dann zuteil, wenn sich die Kritik auf den Rückbau historischer, innerstädtischer Gebäudebestände be- zog (vgl. bspw. Hagemeister/Haller 2009: 269ff.). 3 Zwischen 2002 und 2007 wurden in fast allen Bundesländern insgesamt mehr Finanz- mittel für Rückbau- als für Aufwertungsmaßnahmen eingesetzt (BMVBS/BBR 2008: 66)
214 Karen Sievers Demgegenüber lassen sich seit Programmbeginn klare Prioritäten hin- sichtlich des (flächenhaften) Rückbaus ganzer Viertel des industriell erstellten Wohnungsbestandes der DDR feststellen, obwohl die Leerstände dort viel- fach noch lange sehr viel niedriger waren als in innerstädtischen Bereichen (vgl. Willinger 2006: I). Diese Schwerpunktsetzung lässt sich praxisnah an der stadtraum- bzw. gebäudestrukturbezogenen Verteilung der Fördermittel für Rückbau- und Aufwertungsmaßnahmen nachverfolgen: Mittel für den Rück- bau flossen zwischen 2002 und 2006 zu 42,7 % in Maßnahmen am Stadtrand – vielfach gleichbedeutend mit Plattenbausiedlungen – und zu 29,6 % in in- nerstädtische Gebiete. Für Aufwertungen zeigt sich ein umgekehrtes Bild: 62,3 % der Mittel gingen in innerstädtische, 20,9 % in randstädtische Gebiete. Dem entspricht, dass im selben Zeitraum 65,5% der Bundesfinanzhilfen für den Rückbau in Gebäudebestände flossen, die nach 1960 errichtet wurden (also in der Hochphase des industriellen Wohnungsbaus der DDR); bei Gebäuden mit einem Errichtungsdatum vor 1918 – überwiegend innerstädtische oder zent- rumsnahe Strukturen – lag dieser Anteil bei lediglich vier Prozent4 (BMVBS/BBR 2008: 71). In diesem Zusammenhang erklären sich die geringeren Aufwertungs- mittel für randstädtische Gebiete wohl teilweise auch damit, dass nahezu zwei Drittel des Wohnungsbestandes in DDR-Großsiedlungen bereits in den 1990er Jahren mit umfangreichen Fördermitteln saniert bzw. modernisiert worden waren (vgl. Rietdorf 2002; Kuder 2005: 15; BMVBW 1999: I). Wurden diese Ge- biete noch 1999 als unverzichtbarer Bestandteil der Wohnungsversorgung an- gesehen (BMVBW 1999: 4), orientierte sich seit der Programmeinführung rund zwei Jahre später die Mehrheit der kommunalen Entwicklungskonzepte an ei- ner Stärkung der (historischen) Stadtkerne nach dem Ideal der europäischen Stadtgestalt – historisch, dicht und kompakt – und an einem konzentrierten Rückbau und Abriss in den Plattenbausiedlungen. Nur vereinzelt – und vor al- lem in den Anfangsjahren – wurde darauf verwiesen, dass sich baukulturelle Qualitäten keineswegs nur auf „städtebaulich-historische bzw. architekturhis- torische Werte im Stadtraum“ beschränkten, sondern dass es vielmehr auf die Nutzung und Bewertung durch unterschiedliche Gruppen ankäme (IRS 2003: 9; vgl. insbesondere auch Göschel 2003). In diesem Zusammenhang würden auch industriell errichtete Stadtteile „oftmals inzwischen selbst eine eigene Ge- schichte und erhaltungswürdige öffentliche Räume aufweisen“ (IRS 2003: 11). 4 Der Rückbau von Altbausubstanz wurde seit 2005 kontinuierlich erschwert, und seit 2008 ist der Rückbau „von vor 1919 errichteten Gebäuden in straßenparalleler Blockrandbebauung (Vorderhäuser) und anderen Stadtbild prägenden Gebäuden so- wie von denkmalgeschützten Gebäuden“ von der Förderung ausgeschlossen (BMVBS/ BBR 2008: 34).
Raumbezogene Bindungen und Partizipation 215 Eine Beteiligung der Bevölkerung wird dabei in der Praxis bis heute über- wiegend nicht als unabdingbares und selbstverständliches Element von Pla- nung und Umsetzung angesehen (vgl. Hagemeister/Haller 2009). Bisher zeigt sich, dass „Beteiligungsmodelle, bei denen die Bewohner tatsächlich Einfluss auf die (Rückbau-)Entscheidungen gehabt hätten, (…) die absolute Ausnahme“ sind (Liebmann 2007: 27). Auch nach erfolgten Rückbau- und Abrissmaßnahmen bleiben BewohnerIn- nen häufig von Mitwirkungsmöglichkeiten ausgeschlossen, und selbst die bloße ‚Information‘ über geplante Eingriffe – die im engeren Sinne noch nicht zur Beteiligung gezählt werden kann – wird durchweg als verbesserungswür- dig eingestuft (BMVBS/BBR 2008: 151f.). Inzwischen existieren Fallstudien, Sta- tusberichte, eine Evaluation des Stadtumbaus samt eines Sondergutachtens zur Bürgerbeteiligung sowie kommunale BürgerInnenbefragungen, die sich mit der Wahrnehmung und der Akzeptanz des Stadtumbaus durch die Be- völkerung auseinandersetzen. Diese stellen aber zunächst einmal ‚nur‘ eine eher passive Einbeziehung der Bevölkerung dar – inwiefern die Ergebnisse in der Zukunft tatsächlich Eingang in städtische Entwicklungskonzepte und Um- setzungen finden werden, bleibt abzuwarten und muss Gegenstand weiterer Forschungen sein. Die Orientierung des Umbaus an übergeordneten städtebaulichen Leitbil- dern sowie wohnungsökonomischen Interessen führt – so scheint es – zu ei- ner systematischen Vernachlässigung raumbezogener Bindungen und damit zu einer sowohl strategisch (Nachhaltigkeit politischer und planerischer Ent- scheidungen, Programmziele) als auch normativ (Verbesserung der Lebens- bedingungen, Minderung negativer Auswirkungen, Beteiligungsanspruch) sehr fragwürdigen Umsetzungspraxis. 5. Stadtumbau, raumbezogene Bindungen und Partizipation – Wunsch ohne Wirklichkeit? Aus der Verbindung von konzeptionellem Anspruch mit dem Wissen um die Be- deutung und die Funktion raumbezogener Bindungen ergeben sich hinsicht- lich der Umsetzungspraxis einige Fragen und grundsätzliche Ambivalenzen. Bisher spricht aus wissenschaftlicher Sicht – trotz eines eher mäßigen For- schungsstandes – wenig dagegen, dass sich die Relevanz raumbezogener Bindungen auch auf Großsiedlungen und ‚neue Städte‘ übertragen lässt (vgl.
216 Karen Sievers Willinger 2006; Kabisch/Bernt/Fritzsche 2005). Vielmehr wird (wieder) betont, wie sehr auch gerade diese Siedlungen nicht nur zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Wohnungsversorgung, sondern v.a. auch zur Heimat für viele Menschen geworden seien.5 Die Stadtumbaupraxis setzt aber weniger auf den ‚Erhalt‘ bestehender, sondern auf die Etablierung ‚neuer‘ Identifikationen im Rekurs auf ‚klassische‘ städtische Identitäten der ‚historischen‘ Zentren. In diesem Zusammenhang ergeben sich meines Erachtens mit Bezug auf die Bedeutung raumbezogener Bindungen drei Problematiken: Erstens ist anzunehmen, dass die Stadtzentren weiterhin für viele StadtbewohnerInnen weniger Wohn- und Lebensort, sondern eher das kommerziell-kulturelle Zen- trum der Kommune darstellen und damit gerade nicht der Ort alltäglicher Erfahrungen und Assoziationen – und damit affektiver Bindungen – sein wer- den. Diese Annahme wird gestützt durch Ergebnisse, die darauf verweisen, dass Ortsbindungen sich auf gesamtstädtischer Ebene – die das (historische) Zentrum wohl vielfach symbolisiert – eher abstrakt als grober Gesamteindruck zeigten (Reuber 1993: 41), jedoch weniger im Sinne einer Primärerfahrung räumlicher Zuordnung. Zweitens wird auf die besondere Rolle raumbezoge- ner Bindungen in Zeiten gesellschaftlichen Wandels verwiesen – ‚Heimat‘ gilt auch in einem modernen Sinne und bezogen auf den alltäglichen Nahbereich als „Kompensationsraum“ (Bausinger 1990; vgl. Willinger 2006). Antworten auf die Frage, wie BewohnerInnen, die bereits häufige Arbeitsplatzverluste sowie allgemeine ‚Niedergangstendenzen‘ erfahren und kompensieren mussten (und müssen), den Verlust dieses Kompensationsraumes verarbeiten sollen, finden sich nicht in ‚integrierten Stadtentwicklungskonzepten‘. Drittens steht zu vermuten, dass neue Bindungen sich nicht ad hoc durch markante Gestal- tungen aufbauen bzw. ‚transferieren‘ lassen, sondern vielmehr über lange Zeit und in aktiver Auseinandersetzung mit der Lebensumwelt entstehen (s.o.). Der Blick auf die Umbaupraxis scheint in diesem Zusammenhang allerdings eine konstruktive Betrachtungsweise der festgestellten Defizite zu erschwe- ren. Denn die festgestellte Vernachlässigung von Bindungen der ansässigen BewohnerInnen sowie deren fehlende Einbeziehung in Umbauplanungen und -umsetzungen verweisen auf programminterne Ambivalenzen, bei de- nen einem hohen konzeptionellen Anspruch des Programms schwierige Effi- zienz- und Ressourcenlagen vor Ort gegenüberstehen. 5 Hier scheint sich gegenwärtig ein Diskurswandel hin zu einer wiederum positiven Bewertung der Siedlungsform abzuzeichnen (vgl. dazu die Beiträge im Rahmen der Fachkonferenz „Stadtumbau in Großwohnsiedlungen“, veranstaltet von der Senats- verwaltung für Stadtentwicklung Berlin, am 8. Juli 2009).
Raumbezogene Bindungen und Partizipation 217 Exemplarisch kann dies am sog. „Dilemma der Bürgerbeteiligung“ erläu- tert werden: Dieses Dilemma ergibt sich aus dem Gegenüber von „Nutzen“ und „Gefahren“ von (frühzeitigen) Partizipationsprozessen. Das Zugeständnis von Einspruchs- und Mitwirkungsmöglichkeiten an die lokale Bevölkerung könne demnach unter Umständen zu einer Blockierung und Fragmentierung des Stadtumbauprozesses führen (Bundestransferstelle 2008: 7). Dabei wer- den allerdings Beteiligungen an Aufwertungs- und Rückbaumaßnahmen im Hinblick auf ihren Kosten-Nutzen-Faktor durchaus unterschiedlich bewertet: Während Partizipationsverfahren im Rahmen von Aufwertungen teilweise als sehr akzeptanzfördernd hervorgehoben werden, gelten sie im Rückbaupro- zess als problematisch (vgl. ebd.: 4). Dem entsprechen sowohl die vorange- gangenen Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung und Bewusstwerdung raumbezogener Bindungen angesichts ihrer Gefährdung als auch einschlä- gige Befragungsergebnisse: Diese verdeutlichen, dass der Stadtumbau umso kritischer eingeschätzt wird, je näher Rückbau- und Abrissmaßnahmen an das eigene Wohnhaus heranrücken (vgl. Kabisch/Peter/Bernt 2007: 42; Beer 2002: 52). Häufig ist daher zu beobachten, dass BewohnerInnen aus Angst vor ‚Panikreaktionen‘ oder Protesten erst über die Planungen informiert werden, nachdem Entscheidungen über die zukünftige Entwicklung von Quartieren oder Gebäuden bereits getroffen wurden (vgl. Kabisch/Peter/Bernt 2007: 40). Wohnungsunternehmen und Kommunen befinden sich hier in einer Zwick- mühle zwischen Nachhaltigkeit und Umsetzungseffizienz: Zwar würde eine verstärkte Abwanderung aufgrund jener ‚Panikreaktionen‘ Abrisse verein- fachen, gleichzeitig gefährden aber massive Fortzüge die Zukunftsfähigkeit eines Quartiers, das nicht vollständig rückgebaut werden soll (vgl. Beer 2002: 52). 6. Fazit Das Modell der Europäischen Stadt und ihrer ‚Urbanität‘ umfasst sowohl das Versprechen, sich durch die Stadtgestalt der individuellen und kollektiven Identität zu versichern, als auch das Ideal einer integrativen, partizipativen und verantwortlichen Bürgergesellschaft (vgl. Siebel 2004b). Diese Grund- pfeiler eines europäischen Stadtverständnisses haben sowohl Eingang in Stadtpolitik, Planungstheorie und -praxis als auch in ihre konkrete Umset- zung vor Ort gefunden. Sie spiegeln sich in der konzeptionellen Gestaltung aktueller Programme der Städtebauförderung. Das Beispiel des Bund-Länder- Programms „Stadtumbau Ost“ jedoch zeigt, dass Anspruch und Wirklichkeit häufig weit auseinander liegen. Sowohl die Frage nach einer denkmalpfle-
218 Karen Sievers gerischen Erhaltungswürdigkeit der Zeugnisse einer sozialistischen Moderne wie auch die Folgen erheblicher städtebaulicher Eingriffe für raumbezogene Bindungen der BewohnerInnen bleiben in diesem Zusammenhang größten- teils unberücksichtigt. War es schon seit Anfang der 1990er Jahre zu Umbe- wertungen v.a. im Hinblick auf diese städtebaulichen Strukturen gekommen (vgl. Liebmann 2004), so bedeuten Rückbau und Abriss deren unüberseh- bare alltagsweltliche Manifestation. Wenn also bis 2016 der Abriss von etwa 600.000 Wohnungen (inklusive der 350.000 bis 2009 bereits abgerissenen) als zwingend erforderlich angesehen wird (BMVBS/BBR 2008: IV), stärkt dies vermutlich einerseits die Sorge der BürgerInnen um ihre ‚Heimaten‘. Gut 80 % der Befragten stimmten in einem Sondergutachten zur Bürgermitwirkung im Stadtumbau der Aussage: „In letzter Zeit sind sehr viele Wohngebäude ab- gerissen worden. Das reicht erst einmal“ voll oder teilweise zu (BMVBS/BBSR 2009: 11). Andererseits entstehen im Rahmen einer generellen Fortführung des Programms aber auch Möglichkeiten für eine veränderte Umsetzungs- praxis. Dabei sollte Berücksichtigung finden, dass (nur) eine frühzeitige und planungsrelevante Beteiligung und Berücksichtigung von BewohnerInnen- interessen den Anforderungen einer sozial ausgerichteten, integrativen Stadt(umbau)politik genügen kann. Darüber hinaus bieten diese Prozesse die Chance eines nachhaltigen und damit nicht nur in seiner Umsetzung, sondern auch in seiner langfristigen Ergebnisorientierung effektiven und effizienten Stadtumbaus. Die theoretischen Grundlagen und Instrumente derartiger Ver- fahren sind seit den 1970er Jahren vorhanden und stetig erweitert worden – es würde also gelten, sie zu nutzen. Allerdings hieße dies wohl nicht nur, Ressourcen aufzustocken und etablierte Strukturen zu überdenken. Vielmehr wäre damit wohl auch die Notwendigkeit verbunden, sich an den Gedanken zu gewöhnen – und ihn in die Praxis umzusetzen – , dass Beteiligung über die umsetzungsorientierte Schaffung von Akzeptanz hinausgehen und ein Um- denken hinsichtlich (der Aufstellung) städtebaulicher Leitbilder beinhalten könnte. Raumbezogene Zuordnungen und Bindungen entziehen sich in die- sem Zusammenhang einer strategisch-ökonomisch orientierten Rationalität. Wenn also die Europäische Stadt auch in Zukunft die Stadt ihrer BürgerInnen sein soll, dann sollte auch im Rahmen des Umbaus ein umfassenderes Kon- zept der europäischen Stadtidee als Maßstab angelegt werden, anstatt die bauliche von der sozialen Form zu trennen.
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