Politolinguistik kontrastiv - Themenheft: Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 0117/2021 - Buske eLibrary

 
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Politolinguistik kontrastiv - Themenheft: Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 0117/2021 - Buske eLibrary
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Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur   17/2021

       Themenheft:
       Politolinguistik kontrastiv
Politolinguistik kontrastiv - Themenheft: Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 0117/2021 - Buske eLibrary
Aptum
Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur

Herausgeber:
Prof. Dr. Kersten Sven Roth                         Prof. Dr. Martin Wengeler
Germanistische Linguistik                           Fachbereich II – Germanistik
Otto-von-Guericke-Universität                       Germanistische Linguistik
Zschokkestr. 32                                     Universität Trier
39104 Magdeburg                                     54286 Trier
E-Mail: kersten.roth@ovgu.de                        E-Mail: wengeler@uni-trier.de

Wissenschaftlicher Beirat:
William Dodd (Birmingham), Heidrun Kämper (Mannheim), Andreas Musolff (Norwich),
David Römer (Trier), Georg Stötzel (Düsseldorf )

           Gastherausgeber dieses Themenhefts sind Prof. Dr. Sandro M. Moraldo (Bologna)
                               und Prof. Dr. Thomas Niehr (Aachen).
                             Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des
                       Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), Bonn.

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Sabrina Gutt
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Germanistik                                         Helmut Buske Verlag, Richardstr. 47,
Zschokkestr. 32                                     22081 Hamburg, Tel. +49 40 29 99 58-0,
39104 Magdeburg                                     Fax +49 40 29 93 61 4, E-Mail: info@buske.de
E-Mail: sabrina.gutt@ovgu.de                        sowie jede Buchhandlung entgegen.

Erscheinungsweise:                                  © 2021 Helmut Buske Verlag GmbH, Hamburg.
Drei Hefte pro Jahr.                                ISSN Print: 1614-905X / ISSN Online: 2748-5277

Preise und Bezugsbedingungen:                       Druck und Bindung: CPI Gruppe Deutschland.
Das Institutsabonnement kostet 78,00 Euro (Print)   Printed in Germany.
oder 160,00 Euro (Print- und Onlineausgabe) pro
Jahr und das Privatabonnement (Print- und Online-
ausgabe) 78,00 Euro (jeweils zzgl. Versandspesen:
Inland 9,00 Euro bzw. Ausland 18,00 Euro).
Sprache – Politik – Gesellschaft
Herausgegeben von Heidrun Kämper, Steffen Pappert und Kersten Sven Roth

Im Fokus der Reihe steht die Erforschung von               Bis zum Jahr 2020 erschien die Reihe im
politischer Sprache und politischem Sprachge-              Dr. Ute Hempen Verlag, ab 2021 wird sie im
brauch. Unterschiedlichen wissenschaftlichen               Helmut Buske Verlag fortgeführt.
Disziplinen und Perspektiven, Fragestellungen
und Erkenntnisinteressen aus diesem Umkreis
bietet sie ein wissenschaftliches Forum.

                 Steffen Pappert, Corinna Schlicht,
             Melani Schröter, Stefan Hermes (Hgg.)

        Skandalisieren, stereotypisieren,
                           normalisieren
      Diskurspraktiken der Neuen Rechten aus sprach-
           und literaturwissenschaftlicher Perspektive
               Sprache – Politik – Gesellschaft, Band 27
               VI, 268 Seiten. ISBN 978­3­96769­076­7
                                  Gebunden. 39,00 Euro
                               Auch als eBook erhältlich

   Inhalt:                                                 Corinna Schlicht: „Wir sind bereit, gegen die
   Steffen Pappert, Corinna Schlicht, Melani                 Invasion des Multikulti zu kämpfen.“
      Schröter und Stefan Hermes: Einleitung                 Die Diskurspraktiken der Neuen Rechten
                                                             im satirischen Zerrspiegel von Franzo­
   Steffen Pappert und Kersten Sven Roth:
                                                             bels dystopischem Kriminalroman Rechts-
      Überlegungen zu einer pragmalinguisti­
                                                             walzer
      schen Modellierung von Populismus – am
      Beispiel des innerdeutschen Diskurses                Derya Gür-Şeker: #identitäre. Eine multi­
                                                             modale Social­Media­Analyse über die
   Enno Stahl: „Faschistischer Stil“: Rechte
                                                             ‚Identitäre Bewegung‘ auf Instagram
     Belletristik und ihre Ideologie (Jünger,
     Drieu la Rochelle, Raspail, Di Tullio)                Vanessa Kanz: Die Echokammer als rechter
                                                             Resonanzraum: Eine Analyse von Reso­
   Melani Schröter: Diskurs als begrenzter
                                                             nanzphänomenen innerhalb der Kommen­
     Raum. Metadiskurs über den öffentli­
                                                             tarspalte eines AfD­Facebook­Beitrags
     chen Diskurs in den neurechten Periodika
     Junge Freiheit und Sezession                          Jonas Meurer: Lob der Lektüre. Die Neue
                                                              Rechte als Lesebewegung
   Kyra Palberg: Grenzziehungen. Kollektiv­
      symbole und Metaphern in der Diskurs­                Thomas Niehr: Vom „Nationalmasochismus“
      verschiebung nach rechts                                zur „Neuen Weltordnung“: Argumentati­
                                                              onsstrategien in neurechtem Schrifttum
   Constanze Spieß: Strategien sprachlicher
     Gewalt im Kontext rechtspopulistischen                Matthias N. Lorenz und Christine Riniker:
     Sprachgebrauchs                                         Christian Kracht und die (Neuen) Rech­
                                                             ten. Zum rechten Verständnis einer
                                                             abklingenden Provokation

                                                                                                  buske.de
Aptum, Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur
Band 17/2021, Heft 01

Sandro M. Moraldo / Thomas Niehr
Editorial: Politolinguistik kontrastiv                        1

Ubaldo Villani-Lubelli
Der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Italien
und in Deutschland: ein Vergleich                             3

Riccardo Gualdo
Euroenthusiasten werden zu Euroskeptikern:
die Wende in der italienischen Politik von 2011 bis heute    15

Carolina Flinz
Wahldiskurs in der Presse: eine korpusbasierte
vergleichende Untersuchung zu den Parlamentswahlen
in Deutschland und Italien                                   39

Eugenio Verra
Volk/popolo: die Verwendung eines populistischen Begriffs
bei der deutschen AfD und dem italienischen M5S              63

Vincenzo Gannuscio
Metaphorische Perspektivierung im populistischen
Steuer- und Immigrationsdiskurs der AfD und
der Lega (Nord)                                              95

Sandro M. Moraldo
Deutschland zuerst! und PRIMA GLI ITALIANI.
Ein politolinguistischer Versuch über die
Wahlkampfparolen der Alternative für
Deutschland (AfD) und der Lega                              112

                                                                  www.buske.de

                                                                    ISBN 978-3-96769-100-9

ISSN: 1614-905X
Sandro M. Moraldo / Thomas Niehr

Editorial: Politolinguistik kontrastiv

Im September 2019 kamen Linguist*innen aus Italien und Deutschland zu-
sammen, um über Möglichkeiten und Grenzen einer internationalen kon-
trastiven Politolinguistik zu diskutieren. Unter dem Titel Diskurs- und Kom-
munikationsstrategien bei den Parlamentswahlen in Deutschland und Italien fand
ein zweitägiges Symposium in der schönen Atmosphäre der Villa Vigoni in
Menaggio am Comer See statt.
Thematischer Ausgangspunkt der Diskussionen waren die Wahlen in
Deutschland (September 2017) und Italien (März 2018). Bereits im Vorfeld
der Wahlen wurden nicht von ungefähr in Deutschland wie in Italien Be-
fürchtungen über ein Erstarken rechtsnationaler bzw. -populistischer Strö-
mungen geäußert. Die Wahlergebnisse zeigen, dass diese Befürchtungen be-
rechtigt waren. Nationalstaatlich-konservative Grundsatzprogramme
rechtspopulistischer Gruppierungen, wie etwa das der Alternative für
Deutschland (AfD) und der Lega (früher Lega Nord), wurden ‚unters Volk ge-
bracht’. Sie erwecken zwar teilweise den Eindruck demokratischer Ausge-
wogenheit, sind aber nichts weiter als rassistisch kodierte Äußerungen, die
ein breites Spektrum an populistischen Kräften und Bewegungen mobilisie-
ren sollen. Letztlich dienen sie dazu, potentielle Wähler*innen aus einem
rechten bzw. rechtsextremen Spektrum zu erreichen. Deswegen müssen Be-
griffskarrieren, Argumentationsmuster, semantische Strategien, rhetorische
Mittel u.a.m. gerade aus politolinguistischer Sicht kritisch hinterfragt wer-
den. Diesem Ziel widmete sich das Symposium.
Einige der an den Diskussionen in Menaggio beteiligten Politolinguist*innen
haben ihre Überlegungen und Analysen zu Aufsätzen ausgearbeitet, die in
diesem Themenheft zusammengefasst werden.
UBALDO VILLANI-LUBELLI (Salento) vergleicht in seinem Beitrag aus politik-
wissenschaftlicher Perspektive den Aufstieg rechtsextremer Parteien in
Deutschland und Italien. Er arbeitet heraus, dass nicht nur die Migrations-
bewegungen nach Europa, sondern insbesondere auch die aus der Globali-
sierung resultierenden sozio-ökonomischen Folgen für das Erstarken von
Lega und AfD von entscheidender Bedeutung sind.
Die in den letzten 10 Jahren zu beobachtende Entwicklung von Euro-Enthu-
siasten zu Euro-Skeptikern in Italien nimmt RICCARDO GUALDO (Viterbo) un-
ter die Lupe. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es in Italien eine Kluft zwi-
schen Politikern und Bevölkerung gibt, die nie wirklich überbrückt werden
konnte. Auch anhand der politischen Sprache in Italien lasse sich zeigen,

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 1-2.
2                                               Sandro M. Moraldo / Thomas Niehr

dass der anfänglich durchaus vorhandene Euro-Enthusiasmus langsam ge-
schwunden sei.
CAROLINA FLINZ (Mailand) unternimmt eine korpusbasierte Analyse von
Pressetexten aus den Wahlkämpfen in Deutschland und Italien, um Unter-
schiede und Gemeinsamkeiten der Wahldiskurse identifizieren zu können.
Sie zeigt die wichtige Rolle der Außenpolitik für den deutschen Wahlkampf
auf, die in Italien nahezu keine Rolle zu spielen scheint. Auch auf der Ebene
der Akteure zeigen sich deutliche Unterschiede: Während sich in Deutsch-
land die Presseberichterstattung auf Angela Merkel und ihren Herausforde-
rer Martin Schulz fokussiert, wird in der italienischen Presse eine ganze Rei-
he von Politiker*innen genannt (Silvio Berlusconi, Matteo Renzi, Matteo Sal-
vini, Luigi Di Maio, Paolo Gentiloni, Emma Bonino).
EUGENIO VERRA (Mailand) geht in seiner Untersuchung der Verwendung ei-
nes für Rechtspopulisten zentralen Ausdrucks nach. Volk bzw. popolo wird
von der AfD in Deutschland wie von den MoVimento 5 Stelle in Italien als
mehrdeutiges Konzept verwendet, mit dem an die Gefühle der Leserschaft
appelliert werden kann. Weiterhin wird das Volk bzw. il popolo vorzugweise
als Opfer dargestellt, das gegen Migranten und/oder Eliten beschützt wer-
den muss.
VINCENZO GANNUSCIO (Modena) analysiert die Metaphernverwendung im
Steuer- und Immigrationsdiskurs bei der AfD wie der Lega. Er zeigt auf, wie
in den Kommunikaten beider Parteien Metaphern dazu verwendet werden,
bestimmte Wertvorstellungen zu aktivieren. Statt mit politisch zu beurtei-
lenden Sachverhalten werden die Rezipient*innen auf diese Weise eher mit
einem moralischen System konfrontiert.
SANDRO M. MORALDO (Bologna) untersucht die Verwendung der Slogans
Deutschland zuerst! und PRIMA GLI ITALIANI. Die an Donald Trumps Ame-
rica first! erinnernden Slogans deutet er als Formeln, die Komplexes auf ei-
nen einfachen Nenner bringen und mit deren Hilfe AfD bzw. Lega sich zu
alleinigen rechtmäßigen Vertretern des Volkes stilisieren.
Die Gastherausgeber dieses Heftes danken allen Teilnehmer*innen des Sym-
posiums für ihre Beteiligung an den Diskussionen und den Beiträger*innen
dieses Heftes für die Ausarbeitung ihrer Analysen. Nicht zuletzt danken wir
dem DAAD, der das Symposium innerhalb des Programms Hochschuldialog
mit Südeuropa förderte und sowohl die Finanzierung des Symposiums über-
nahm wie auch einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährte.

                                        Sandro M. Moraldo und Thomas Niehr
Ubaldo Villani-Lubelli

Der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Italien und in
Deutschland: ein Vergleich

1      Einleitung

Deutschland und Italien haben eine zum Teil ähnliche und parallel verlau-
fende Geschichte, sowohl was den Aufbau des Nationalstaates als auch die
Entstehung eines demokratischen Staates nach einer Diktatur betrifft. In bei-
den Ländern herrschte in der Ära unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg
trotz der Vielfalt der historischen Aufarbeitung der faschistischen Erfahrung
vergleichsweise große Zurückhaltung in Bezug auf die nationale Identität.
Zudem sind Italien und Deutschland zwei sehr aufschlussreiche Fallstudien,
weil einerseits Italien zu den Ländern gehört, in denen sich die traditionel-
lerweise vollzogene Hinwendung zur europäischen Idee in den letzten drei-
ßig Jahren langsam zugunsten eines akzentuierten politischen Rechtsnatio-
nalismus aufgelöst hat. Andererseits ist in Deutschland in jüngster Zeit eine
öffentlich anerkannte rechtsextreme Partei entstanden, die sich so sehr ver-
breitet hat, dass diese Orientierung zum ersten Mal in der Geschichte der
Bundesrepublik auf allen Ebenen der politischen Institutionen vertreten ist.
Die Absicht des vorliegenden Beitrages besteht darin, den Aufstieg rechts-
extremer Parteien in Italien (Lega) und in Deutschland (Alternative für
Deutschland, kurz AfD) zu untersuchen, um Auswirkungen auf den innen-
politischen Diskurs aufzuzeigen. Erstens wird ein kurzer Abriss des histo-
risch-politischen Hintergrunds sowie des gesellschaftspolitischen Kontextes
gegeben, innerhalb dessen die italienische Lega entstanden ist und sich ge-
rade in letzter Zeit entwickelt hat. Dabei lassen sich Ähnlichkeiten und Un-
terschiede zwischen der Alternative für Deutschland und der Lega aufzeigen.
Zweitens wird die Kommunikationsstrategie der rechtsextremen Parteien in
Italien beschrieben. Auch hier wird ein Vergleich zwischen AfD auf der ei-
nen und Lega auf der anderen Seite gezogen.

2      Die Entstehung der Lega

Das Spektrum der etablierten rechten Parteien in Italien ist vielfältiger und
facettenreicher als das der Bundesrepublik Deutschland. Neben der Lega, die
ursprünglich keine klassische rechte Partei war, gab es in Italien den Movi-
mento Sociale Italiano (MSI). In der Geschichte der sogenannten Prima Repub-
blica (1948-1993) war der MSI ständig im italienischen Parlament und Senat

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 3-14.
Riccardo Gualdo

Euroenthusiasten werden zu Euroskeptikern: Die Wende
in der italienischen Politik von 2011 bis heute*

1     Vorwort: Integration oder Desintegration?

Ist es in Bezug auf die aktuelle politische Situation in Europa angebracht,
von einer europäischen Integration zu sprechen, die sich im Laufe der Zeit zu
einer europäischen „Desintegration“ verwandelt hat? Dieses Wortspiel stammt
von Matteo Renzi,1 allerdings bevorzuge ich die folgende Formulierung:
Von der europäischen Integration zu einer europäischen „Spaltung“? Aus-
blicke auf ein neues, bereits ergrautes Jahrtausend.
Ich möchte die nachfolgenden Ausführungen mit einem Blick auf die Zu-
stimmungskurve in Italien bezüglich der Europäischen Union einleiten.
Dem Ausmaß dieser Entwicklung liegt eine tiefgreifende Veränderung in
der Beziehung der Italiener zur Mobilität in Europa – sowohl als „libera cir-
colazione“, i.e. Freizügigkeit, als auch als Bewegungsfreiheit verstanden –
zugrunde.
Diese Veränderung kann besonders anschaulich durch die Schiffsmetapher
dargestellt werden. Abbildung 1 (s.u.) symbolisiert sehr gut den Bruch im
italienischen Gewissen vor und nach 1991, von der Vorstellung, Gastarbeiter
und Flüchtlinge zu empfangen, hin zu einer Vorstellung von Ablehnung
und, mit der Zeit, von Abschiebung. In den Neunzigerjahren haben sich die
Italiener, ehemals Flüchtlinge und Gastarbeiter, in Gastgeber verwandelt
und einen Rassismus entwickelt, der sich nach der Wirtschaftskrise der klei-
nen und mittelständischen Unternehmen und vor allem nach der internati-
onalen Wirtschaftskrise verstärkte, die Armut in der Mittelschicht und eine
erhöhte Jugendarbeitslosigkeit verursacht hatte.
Auf diese Probleme ging die Propaganda derjenigen Parteien und Bewegun-
gen ein, die sich zu Beginn der Neunzigerjahre gegenüber den Parteien etab-
lieren wollten, welche die italienische Politik bis zum Ende der Achtziger-

*   Ich bin Thomas Niehr und Sandro M. Moraldo sehr dankbar für die Einladung zur Interna-
    tionalen Fachtagung in der Villa Vigoni vom 12.-14. September 2019, im Rahmen des
    DAAD-Programms Hochschuldialoge mit Südeuropa. Mein Beitrag berücksichtigt auch Über-
    legungen, die während einer Vorlesung an der Universität Augsburg am 5. Juli 2018 ange-
    stellt wurden, organisiert von Prof. Sabine Schwarze, der ich herzlich danken möchte. Ich
    verdanke der intelligenten und sorgfältigen sprachlichen Überarbeitung von Ines Mayer
    eine erhebliche Verbesserung meines ursprünglichen Textes.
1   Vgl. De Santis (2016, 331); das Wortspiel wurde von Renzi in seiner Antrittsrede vom 24.
    Februar 2014 benutzt. Sehr nützlich auch Arcangeli (2018).

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 15-38.
16                                                                             Riccardo Gualdo

jahre dominiert hatten; sie wollten sich zum einen als Verteidiger der Auto-
nomie gegen Rom und gegen Europa, zum anderen als Liberale der Wirt-
schaft und Verteidiger der Privatperson präsentieren. Typisch für die Pro-
paganda dieser Parteien ist der Aufruf zum Individualismus und die Vor-
stellung, zum „Bauch“ der Wählerschaft zu sprechen.

    Abb. 1: Die Landung der Albaner in Italien (März 1991). Bild aus dem Film Aprile (Nanni
    Moretti, 1998)

Meine Überlegungen werden vor allem historischer Art sein, ich werde aber
auch einige Daten aus einer relevanten laufenden Forschung kommentieren.
Ich habe zwei parallele und vergleichbare Textkorpora erstellt, auf italie-
nisch und auf deutsch;2 diese Korpora umfassen einerseits Primärquellen,
also explizite politische Texte, Parlamentsdebatten und Reden von politi-
schen Persönlichkeiten; andererseits Sekundärquellen, das heißt politische
Kommentare aus Zeitungen und Zeitschriften in beiden Sprachen, sowie Se-
kundärliteratur. Die beiden Korpora der Primärtexte umfassen eine Min-
destzahl von jeweils ca. einer Million Wörter; die Kommentare belaufen sich
auf einige hunderttausend Wörter. Die Materialien, heruntergeladen von

2    Primärquellen: 20 + 20 (italienisch/deutsch) Plenardebatte (Plenarprotokolle) 2003-2018; Se-
     kundärquellen: 100 + 100 journalistische Kommentare (aus 5 + 5 Zeitungen oder Zeitschrif-
     ten derselben Zeitspanne gesammelt); Sekundärliteratur. Ich berücksichtige die Kriterien,
     die Kilian (2010) zum Zweck einer Klassifikation parlamentarischer Texte aufstellte.
Euroenthusiasten werden zu Euroskeptikern                                         17

den Websites des Bundestages und des italienischen Parlaments, habe ich in
einer Textdatenbank abgespeichert und halbautomatisch kodiert. Zunächst
habe ich die Software AntConc benutzt, um die wichtigsten Schlagwörter
heranziehen zu können (vgl. Ziem 2013).
In einer fortgeschrittenen Phase werde ich meine Daten mit den Ergebnissen
von Giuliano und Villani (2015) über die Sprache der italienischen Parteivor-
sitzenden der republikanischen Zeit vergleichen. Dieses Korpus steht bis
jetzt leider noch nicht zur öffentlichen Verfügung.3 Ich werde darüber hin-
aus versuchen, einen Ausgleich zwischen den Daten zu schaffen, da dieses
letzte Korpus unter anderen Kriterien aufbereitet wurde als meines.
Mein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Meinung über Europa in
Parlamentsreden. Im Fokus stehen die Antrittsreden der Regierungen und
Parlamentsreden im Rahmen der Wahlkämpfe für die Europawahlen zu-
sammen mit den jeweiligen Redebeiträgen der Fraktionsvorsitzenden und
Abgeordneten.
Man könnte mithilfe eines Häufigkeitsindexes die Häufigkeit des Wortes
Europa in Reden italienischer und deutscher Politiker messen, jedoch wäre
dies meiner Meinung nach wenig aussagekräftig, obwohl ich auf den folgen-
den Seiten ein kleines Beispiel einer solchen Studie zeigen werde. Ich bin
hingegen wie David Römer und Martin Wengeler der Meinung, dass sich
Argumentationsmuster nur aus einer interpretativen Analyse der Daten her-
leiten lassen.4 Interessanter ist es also, die Schwankungen in der Wahlbetei-
ligung über die Jahrzehnte hinweg zu verfolgen, wie in Abbildung 2 ersicht-
lich wird (s. u.).
Am Anfang des neuen Millenniums hat sich die Tendenz der Italiener bestä-
tigt, zu Nationalisten und Antieuropäern oder zumindest zu einer Bevölke-
rung zu werden, die der eingehenden Mobilität feindlich gesinnt ist, und
dieses Ergebnis war von mehreren Warnzeichen angekündigt worden:
1. die Neubewertung des Wortes patria und der Idee vom Vaterland (man
   hat z.B. festgestellt, dass im Blog Beppe Grillos im Jahre 2013 „Italia“ das
   häufigste Wort war und das zweithäufigste, überraschenderweise, Ger-
   mania);5
2. das Ende der traditionellen Polarisierung zwischen der politischen Lin-
   ken und Rechten; oder, besser gesagt, die Tatsache, dass die historischen
   linken und rechten Parteien sich zum politischen Zentrum hin orientiert
   haben. Gleichzeitig gilt, je weniger interessiert an der politischen Debatte,
   ahnungsloser, unwissender oder inkompetenter die Wähler waren, desto

3   Das Korpus, mit der Abkürzung LLP, wird demnächst auf dem Web-Portal der Accademia
    della Crusca verfügbar sein.
4   Vgl. die sehr überzeugende Arbeit von Römer/Wengeler (2013).
5   Zu Grillos Sprache vgl. Gualdo (2013) sowie Ondelli (2016).
18                                                             Riccardo Gualdo

     aggressiver wurde die Kommunikation. Dies wird besonders seit dem
     Wahlkampf 2007 deutlich, unter anderem aus institutionellen Gründen,
     die ich auf den folgenden Seiten erläutern werde.

 Abb. 2: Wahlbeteiligung von 1979 bis 2019 in Prozent

Ein weiteres wichtiges Zeichen dieser Entwicklung ist der Frontalangriff auf
das Modell der parlamentarischen Repräsentanz, welcher 2013 und erneut
2018 in allen Programmen der neuen Parteien ganz klar heraussticht, mit
Ausnahme der Partei Mario Montis.
Auch das internationale Panorama spielt natürlich eine bedeutende Rolle
und mag durchaus zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Denken wir
nur an die autoritären Regierungen, die überall auf der Welt gewachsen
sind; und denken wir auch – innerhalb der Europäischen Union – an den
Brexit; und an die Krise der europäischen Werte, die von der sogenannten
Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakische
Republik) in Frage gestellt werden.
Während die terroristische Bedrohung mit dem Islam und in vereinfachter
Form mit Immigranten identifiziert wird – eine typische „Fabrikation des
Feindes“ (vgl. Eco 2014) – nutzen immer mehr Politiker und Medien das Bild
Europas als Bollwerk, als letzte Bastion des Christentums, der Zivilisation,
der Kultur (vgl. dazu Orrù 2017, 91). Diese Vokabeln erinnern uns – mit Be-
sorgnis – an die Vorstellung von einer „Festung Europa“, und dieses Sinn-
bild ist aus der Propaganda des dritten Reichs bekannt. Besorgnis einerseits,
andererseits wird heute diese Bezeichnung von der Freiheitlichen Partei Ös-
terreichs in einem positiven Sinne verwendet.
Euroenthusiasten werden zu Euroskeptikern                                                19

Das heißt, wir wissen nicht mehr, was wir unter „europäischer Berufung”
verstehen und dies schlägt sich offensichtlich auch in der Sprache nieder.
Thomas Niehr bemerkte, dass „die Verwendung historisch belasteter Voka-
beln – auch wenn sie in veränderter Bedeutung verwendet werden – in der
bundesrepublikanischen Öffentlichkeit noch immer einem Tabubruch
gleichkommt“, der die Grenzen des Sagbaren austestet (2017, 75).6

2    Ein wenig Geschichte. Die Italiener und Europa

Beginnen wir diesen kurzen historischen Exkurs mit dem Manifest von Ven-
totene „für ein freies und vereintes Europa“ (1941):
     Die Ideologie der nationalen Unabhängigkeit, Hefe des Fortschritts; […]
     trug die Saat des kapitalistischen Imperialismus in sich [...] der Staat hat sich
     vom Verteidiger der Freiheit der Bürger zum Herrn der im Dienst gehalte-
     nen Untertanen gewandelt. [...] Das Problem, das zuerst gelöst werden muss
     [...], ist die endgültige Abschaffung der Teilung Europas in souveräne Nati-
     onalstaaten. (Spinelli 1991, 38-39)7
Ich halte es für gerechtfertigt festzustellen, dass Spinelli, Rossi, Colorni und
Hirschmann an eine Abschaffung der Teilung Europas in souveräne Natio-
nalstaaten dachten: Es handelt sich um einen politischen Werdegang, den
die Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte weitgehend in Richtung einer
Union gelenkt haben, die die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten klar
voneinander abgegrenzt hat, während sie gleichzeitig die Geld- und Han-
delspolitik zu einer fortschreitenden Homogenisierung zwang. Diese wurde
in schnellen Schritten durchgesetzt, was allerdings von den europäischen
Bürgern nicht immer als positiv empfunden wurde.
In den folgenden beiden Zitaten äußern sich zwei bekannte italienische
Staatsmänner und Politiker der sogenannten Ersten Republik über Europa:
     Das soziale Handeln der Europäischen Gemeinschaft [...] muss [...] einen
     stärkeren Impuls erhalten [...] und die ausdrückliche Bekräftigung des ‚Vor-
     rangs der Gemeinschaft‘ in der endgültigen Verordnung über die Freizü-
     gigkeit der Arbeitnehmer und damit der Vorrang, der ̶ bei der Einstellung
     von Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten ̶ den Arbeitnehmern aus der
     Gemeinschaft gegenüber Arbeitnehmern aus Drittstaaten vorbehalten wer-
     den soll, unterstützt werden, um die freie Zustimmung der Bürger zu erhal-
     ten. (Moro, 1966)
     Nun, gegenüber all diesen Mächten der Kultur, der Wissenschaft, der Ar-
     beit, der Welt der Jugend und gegenüber den lebendigsten und aufgeschlos-
     sensten Mächten der katholischen Welt weisen die Kommunisten auf die
     Aussicht auf Frieden in Europa und in der Welt, auf die Erholung und

6   Vgl. auch Niehr/Reissen-Kosch (2018).
7   Alle zitierten Textauszüge wurden vom Verf. direkt ins Deutsche übersetzt.
Carolina Flinz

Wahldiskurs in der Presse: eine korpusbasierte
vergleichende Untersuchung zu den Parlamentswahlen in
Deutschland und Italien

1      Einleitung

‚Worte‘ und ‚Welt‘ lassen sich nicht trennen (vgl. Niehr 2019, 1). Ausgehend
von dieser Feststellung wurden Pressetexte aus einem Zeitraum von 90 Ta-
gen vor den jeweiligen Parlamentswahlen in Deutschland (24. September
2017) und in Italien (4. März 2018) zusammengestellt und analysiert. Die Be-
richterstattung in den Medien stellt immer eine subjektive Auswahl unter-
schiedlicher Verbalisierungsmöglichkeiten dar (vgl. Häussinger 2017, 116)
und die dort verwendete politische Mediensprache steht nicht nur unter
dem Einfluss der politischen Orientierung der jeweiligen Zeitung (vgl. dazu
Flinz 2019), sondern auch unter dem Einfluss der jeweiligen Landeskultur
und Sprache. Korpusbasierte Studien, die sich fruchtbar sowohl für die Po-
litolinguistik (vgl. u.a. Felder/Müller/Vogel 2012; Busse/Teubert 2013) als
auch für die Diskurslinguistik (vgl. u.a. Bubenhofer 2009; Spitzmüller/
Warnke 2011; Bubenhofer/Scharloth 2013; Bubenhofer/Scharloth/Eugster
2014) erwiesen haben, sind auch für interlinguale Untersuchungen geeignet
(vgl. Bubenhofer/Rossi 2019). Studien, die insbesondere deutsch-italienische
Vergleiche als Fokus haben, stecken jedoch noch in ihren Kinderschuhen
(vgl. Brambilla/Flinz i.Dr.), sind aber sehr wichtig, um durch eine Moment-
aufnahme Rückschlüsse auf zentrale Themen in den betreffenden Korpora
ziehen zu können.
Bei der vorliegenden Untersuchung, die sich dem theoretischen Instrumen-
tarium dreier Disziplinen (Politolinguistik – Diskurslinguistik – Korpuslin-
guistik) bedient, geht es um den Wahldiskurs in der deutschen und italieni-
schen Nationalpresse: Die Zeit (https://www.zeit.de/index) und La Repubblica
(https://www.repubblica.it). Die mit Sketch Engine erstellten Vergleichskor-
pora1 werden mit einem quantitativ-qualitativen Ansatz zur Beantwortung
folgender Forschungsfragen untersucht:
1.     Welche Substantive werden in den zwei Korpora bevorzugt? Kann man
       Präferenzen anhand der Vorkommenshäufigkeit feststellen? Gibt es Ge-
       meinsamkeiten oder Unterschiede?

1    Unter Vergleichskorpora verstehe ich Korpora, in denen Texte mehrerer Sprachen S1 . . . Sn zu ver-
     gleichbaren Diskursbereichen erfasst sind, die aber keine Übersetzungen voneinander sind (vgl.
     Lemnitzer/Zinsmeister 2015, 138).

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 39-62.
40                                                                               Carolina Flinz

2.     Welche Lexeme und Mehrwortverbindungen können als Schlüsselwör-
       ter des jeweiligen Diskurses betrachtet werden? Gibt es Gemeinsamkei-
       ten oder Unterschiede?
3.     Können typische Sprachgebrauchsmuster identifiziert werden? Gibt es
       Gemeinsamkeiten oder Unterschiede?
In Abschnitt 2 soll zunächst der theoretische Rahmen bzw. die disziplinäre
Verortung des Beitrages ausgeführt werden: Spezifische Eigenschaften, Ge-
meinsamkeiten und mögliche Verschränkungen der drei in Betracht gezoge-
nen Disziplinen werden dort vorgestellt und diskutiert. Anschließend wird
auf ausgewählte Schwerpunkte der Analyse eingegangen: die Relevanz von
rekurrenten und/oder typischen Lexemen sowie die Identifizierung von
Sprachgebrauchsmustern (vgl. Bubenhofer 2009). In Abschnitt 3 wird das
Korpus mit Erläuterung der Arbeitsschritte zur Beantwortung der For-
schungsfragen präsentiert. Im vierten Abschnitt folgt die empirische Ana-
lyse der Lexeme, Keywords und N-Gramme. Der Beitrag schließt mit eini-
gen Schlussbemerkungen und einem Ausblick.

2      Disziplinäre Verortung und Gegenstandsbereich

2.1 Disziplinäre Verortung

Politolinguistik, Diskurslinguistik und Korpuslinguistik sind drei sprach-
wissenschaftliche Disziplinen, die unterschiedliche Schwerpunkte und Ziele
haben:
      -    Die Politolinguistik beschäftigt sich mit der Untersuchung der poli-
           tischen Sprache2 (vgl. Burkhardt 1996) und der politischen Kommu-
           nikation (vgl. Burkhardt 2002). Ihr Ziel ist es, sprachliche Phäno-
           mene zu beschreiben und zu erklären, ohne jedoch eine Wertung
           abzugeben (vgl. Niehr 2014, 18), da sie sich zu einer strikten ideolo-
           gischen und parteipolitischen Neutralität verpflichtet sieht (vgl.
           Burkhardt 2011, 107). Für die heutige Politolinguistik stehen der
           Sprachgebrauch (aber auch sprachkritischer) (vgl. Spieß 2020, 303)
           und im Besonderen die sprachlichen Verfahren im Mittelpunkt, die
           von den Beteiligten benutzt werden, um Einstellungen/Sichtweisen

2    Unter politischer Sprache versteht Burkhardt (1996, 81) ganz oberbegrifflich „Sprechen über
     Politik“ (bzw. das private oder halböffentliche Sprechen über Politik), „politische Medien-
     sprache“ (journalistische Berichterstattung) und „Politiksprache“ (Politikersprache, Spre-
     chen in der Politik). Auch wenn die Bezeichnung Politolinguistik von Burkhardt eingeführt
     wurde, etablierte sich die Analyse politischen Sprachhandelns in der Linguistik schon nach
     Dieckmann (1969).
Eugenio Verra

Volk/popolo: Die Verwendung eines populistischen
Begriffs bei der deutschen AfD und dem italienischen M5S

1     Einleitung

Der Populismus hat sich in den letzten Jahren auf der politischen Bühne
stark durchgesetzt und ist demnach heute zu einem wichtigen Untersu-
chungsthema geworden, nicht nur aus soziologischer und politologischer,
sondern auch aus philosophischer, kommunikations- und sprachwissen-
schaftlicher Perspektive. Da es sich beim Populismus wesentlich um ein
kommunikatives Phänomen handelt (vgl. Busacchi 2019, 9), haben Sprach-
wissenschaftler die Sprache populistischer Parteien analysiert und die Ei-
genschaften der populistischen Rhetorik bzw. Sprachverwendung sowie
ihre Implikationen wurden inzwischen mehrfach beschrieben.1 Insbeson-
dere rechtspopulistische Parteien haben sich als sprachwissenschaftlich in-
teressant erwiesen, weil es ihnen oft gelingt, „die Grenze des Sagbaren“ (vgl.
Niehr 2017b, Rüther 2018) zu verschieben. Sehr bekannte Beispiele sind der
Front National in Frankreich oder die Freiheitliche Partei Österreichs in Öster-
reich.2
In Italien haben sich die Lega Nord (LN), Forza Italia, Fratelli d’Italia und das
MoVimento 5 Stelle (M5S)3 als populistische Akteure etabliert4 sowie in
Deutschland die die Alternative für Deutschland (AfD). Im deutschsprachigen
Raum stechen die Analysen über diese letzte Partei heraus, die ihren Fokus
auf verschiedene Aspekte gelegt haben, wie z.B. öffentliche Reden (vgl. Gür-
Şeker 2019), linguistische Strategien im Grundsatzprogramm (vgl. Kämper
2017) oder in Landtagswahlkämpfen (vgl. Arenskrieger 2019); einige For-
schungsbeiträge sind auch kontrastiv ausgerichtet, wie z.B. Gannuscio
(2019), der einen Vergleich zwischen der AfD und der LN aufstellt. Das M5S
wurde hingegen oft historisch, politologisch oder kommunikationswissen-
schaftlich betrachtet (vgl. u.a. Schröter 2016, Andretta/Albertini 2018,

1   Die Beispiele in dieser Hinsicht sind zahlreich und zu viele, als dass man sie hier vollständig
    auflisten könnte. Um einige der in diesem Beitrag zitierten Publikationen anzudeuten, sei
    an Reisigl (2008), Wodak (2015), Gannuscio (2019) und Gür-Şeker (2019) erinnert.
2   Vgl. hier u.a. Wodak (2015), Niehr/Reissen-Kosch (2018) oder Flinz (2019).
3   In deutschsprachigen Ländern hört und liest man auch oft Fünf-Sterne-Bewegung (vgl. z.B.
    www.duden.de/rechtschreibung/Fuenf_Sterne_Bewegung [zuletzt abgerufen: 07.07.2020]);
    in diesem Beitrag wird jedoch die Abkürzung bevorzugt, die der originellen italienischen
    Form entspricht (vgl. auch Argenta 2019).
4   Vgl. dazu u.a. Cedroni (2014), Schwörer (2016) und Battel (2018).

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 63-94.
64                                                                                  Eugenio Verra

Argenta 2019), aber anscheinend nicht (polito)linguistisch. Angesichts des
„realitätskonstituierenden Charakters“ politischer Sprache (Girnth 2002, 5)
darf man allerdings bei der Erforschung des Erfolgs dieser Bewegung den
sprachwissenschaftlichen Ansatz ebenfalls nicht außer Acht lassen.
Schwörer (2016, 10) zeigt auf, dass die AfD und das M5S sich beide im Be-
reich Populismus zu bewegen scheinen; außerdem hätten sie sich im Gefolge
der wirtschaftlichen und finanziellen Krise durchgesetzt und sie würden
Anti-Establishment-Positionen aufweisen. Natürlich ist der politische, wirt-
schaftliche und soziale Kontext, in dem die beiden Parteien handeln, anders,
aber Schwörer (Schwörer 2016, 11) plädiert für eine „komparative Analyse“,
die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den beiden politischen Akt-
euren unter die Lupe nimmt.5
Zwar sind diese Überlegungen in einen politologischen Bereich einzuord-
nen, aber solche Anregungen kann (und sollte) man auch im linguistischen
Bereich aufgreifen. In diesem Beitrag soll eben dieser sprachwissenschaftli-
che Vergleich zwischen der AfD und dem M5S erfolgen. Im Mittelpunkt der
populistischen Rhetorik, wie man auch aus der Etymologie des Wortes Po-
pulismus ersieht (vgl. u.a. Gannuscio 2019, 47), steht die Gegenüberstellung
eines homogenen Volkes und seiner Feinde (vgl. Reisigl 2008, 114; Cedroni
2014, 40 ff.). Das Volk als Konzept kann linguistisch auf verschiedene Art und
Weise auftauchen, z.B. durch das Pronomen wir oder die Verwendung von
Nationalitätsadjektiven. Man könnte sich aber fragen, ob die eigentlichen Be-
griffe Volk (auf Deutsch) und popolo (auf Italienisch) tatsächlich oft vorkom-
men und wie. Im Besonderen ergeben sich folgenden Forschungsfragen:

          Wie häufig verwenden die zwei populistischen Akteure das Wort
           popolo/Volk?
          In welchen Ko- und Kontexten tauchen diese Ausdrücke auf? Wel-
           che semantischen Eigenschaften weisen sie auf?
          Welche Metaphorik wird dadurch beschworen?
Die vorliegende Analyse soll nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede
in der Vorstellung von Volk/popolo enthüllen, sondern auch zum besseren
Verständnis der Populismusformen beitragen, deren Ausdruck sie sind. Zu-
nächst werden die Konzepte von Populismus bzw. Populismen und von
Volk/popolo eingeführt (Kapitel 2). Danach werden die Geschichte und Pro-
gramme der berücksichtigten populistischen Akteure in Italien und

5    Schwörer (2016, 11) geht so weit anzumerken, dass „esiste tuttavia un ulteriore elemento,
     che non solo giustifica quest’analisi ma che la presenta anche come necessaria: si tratta delle
     prospettive future delle democrazie rappresentative e della cultura politica europea“ („Es
     gibt allerdings ein weiteres Element, das nicht nur eine solche Analyse rechtfertigt, sondern
     das sie auch als notwendig darstellt: Es handelt sich um die künftigen Perspektiven der
     repräsentativen Demokraten und der europäischen Kultur“ [Übersetzung EV]).
Volk / popolo bei AfD und M5S                                                                 65

Deutschland zusammengefasst (Kapitel 3), um dann das Korpus für die vor-
liegende Analyse abzustecken (Kapitel 4). Daran schließt sich die sprachwis-
senschaftliche Untersuchung an (Kapitel 5), deren Folgerungen im letzten
Paragrafen zusammengefasst werden (Kapitel 6).

2    Populismus bzw. Populismen

Heribert Prantl (2016) greift auf den von Dubiel (1986) geprägten Ausdruck
„das Gespenst des Populismus“ zurück und warnt vor einer Pauschalisie-
rung, die gar nicht zwischen den verschiedenen Populismen unterscheide.
Um sich gegen dieses Risiko abzusichern, scheint es notwendig, das Phäno-
men des Populismus und seine wichtigsten Eigenschaften zu umreißen.
Als Vorbemerkung lässt sich mit Arenskrieger (u.a.) festhalten, dass dieses
Phänomen „oft aus einer Krise oder mindestens aus Unzufriedenheit mit ge-
sellschaftlichen Zuständen“ entsteht (2019, 64). Es handelt sich tatsächlich
um ein ambiges Konzept6, das einmal als rhetorischer Stil oder Strategie, ein
andermal als Ideologie betrachtet worden ist (vgl. Caiani/Kröll 2017, 338).
Fest steht, dass es sich um keine Ideologie im Sinne von Freeden (1998, 749)
handelt (vgl. Biorcio 2018, 49), sondern um eine thin-centred Ideologie7.
Schwörer (2016, 27ff.) sieht Populismus als Referenzrahmen, durch den man
politische Entscheidungen und Situationen verstehen und interpretieren
kann. Zentrales Konzept des Populismus sei die konstante Gegenüberstel-
lung von einem vermeintlich homogenen und „ehrlichen“ Volk und den
korrupten und unmoralischen Eliten. Ziel der populistischen Parteien bzw.
Bewegungen sei es demnach, die „Stimme des Volkes“ (vgl. Niehr/Reissen-
Kosch 2018) stärker zu machen und die (oder zumindest einen Teil der)
Macht den Eliten zu entziehen. Inglese (2018, 31) merkt darüber hinaus an,
dass es sich um eine „soziale Realität“ handelt, die eine ethische gesellschaft-
liche „Regenerierung“ und die Annäherung der Regierenden und Regierten
durch die Wiederaneignung der (legitimen) Volkssouveränität verspricht.
Die darauffolgende Kritik der Repräsentativität gehe aber mit einer ganz be-
sonderen Interpretation dieses Phänomens einher, die sich oft in einer „mys-
tischen“ Form der Repräsentanz verwirkliche, bei der sich ein Leader als ein-
ziger Wortführer des wahren Volkswillens darstelle (Inglese 2018, 27). Der
Populismus fungiert daher als „Strategisches Mittel, um divergierende In-

6   Vgl u.a. Salmorán (2018, 44); Urbinati (2020, 16). Busacchi (2019, 26) plädiert auch der für
    einen interdisziplinären Ansatz zur Erforschung des Phänomens.
7   „A thin-centred ideology is one that arbitrarily severs itself from wider ideational contexts,
    by the deliberate removal and replacement of concepts. The consequence is a structural in-
    ability to offer complex ranges of argument” (Freeden 1998, 750). Vgl. dazu auch Spier
    (2014).
Vincenzo Gannuscio

Metaphorische Perspektivierung im populistischen
Steuer- und Immigrationsdiskurs der AfD und der Lega
(Nord)

1     Einleitung

Das Interesse an Metaphern in der politischen Rhetorik lässt sich in der
Sprachbeobachtung und -kritik schon lange vor Etablierung der Politolingu-
istik als eigenständiger Zweig der Sprachwissenschaft belegen. Denn der
Einsatz von Metaphern in der politischen Sprache ist eng an ihren inhärent
persuasiven Charakter gebunden, eignet sich die „übertragene Sprache“
doch gut dazu, kontroverse Argumente und heikle Sachverhalte so zu ver-
mitteln, dass sie mehr oder weniger explizit zu Trägern parteiischer Äuße-
rungen werden. Demnach setzen politische Redner und Rednerinnen in ih-
ren aussagekräftigen, beschönigenden und zugleich oftmals verknappenden
Darstellungen bewusst prägnante Metaphern ein, denn durch diese und
weitere rhetorische Tropen lassen sich faktische Aspekte ein- und ausblen-
den und somit bestimmte Deutungsrahmen aktivieren. Letztere können in
den Adressaten wiederum Emotionen auslösen bzw. gar Einstellungen neu
erzeugen oder festigen, die ihr Wahlverhalten mitdeterminieren mögen (vgl.
u.a. Musolff 2017, 450; vgl. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 76).
Ausgehend von Georg Lakoff und Mark Johnsons Metapherntheorie (1980)
und insbesondere von Lakoffs politischen Analysen, die überwiegend die
konzeptuellen Metaphern der Sprache des US-republikanischen Diskurses
betreffen (vgl. Lakoff 2008; vgl. Lakoff 2014; vgl. Lakoff/Wehling 2016), soll
vorliegender Beitrag einen Einblick in den populistischen Kommunikations-
stil einer italienischen (Lega (Nord)1, von nun an LN) und einer deutschen
(Alternative für Deutschland, von nun an AfD) Rechtspartei bieten, und zwar
hinsichtlich des Einsatzes von Metaphern in den beiden Themenkomplexen

1   Die Einklammerung von Nord kommt daher, dass im Jahr 2017 der ursprüngliche Partei-
    name geändert wurde. Denn anfangs richtete sich die Lega Nord (Liga Nord) fast ausschließ-
    lich an die norditalienische Wählerschaft, während sie nach Amtsantritt des heutigen Par-
    teichefs Matteo Salvini ihren regionalen und separatistischen Charakter weitgehend ablegt
    hat und nunmehr in ganz Italien präsent ist. Im Zuge der angestrebten Neugewinnung von
    Stimmen auch im Süden Italiens hat die Partei das Prädikat Nord eingebüßt (vgl. Alber-
    tazzi/Giovannini/Seddone 2018, 650 und Di Caro 2017). Im August 2020 wurde eine weitere
    Änderung des Parteinamens in „Lega per Salvini Premier“ (Liga für Salvini Premierminis-
    ter) angekündigt, was starke Kritiken ausgelöst hat, die in sich die Gefahr einer Spaltung
    der Partei bergen (vgl. Di Benedetto Montaccini 2020).

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 95-111.
96                                                          Vincenzo Gannuscio

Steuern und Immigration sowie eventuelle Kontakt- und Kontrastpunkte des
dadurch erzielten Framings der politischen Debatte hervorheben.
Seit dem Erscheinen des bahnbrechenden Bandes Metaphors we live by (1980)
wurde Lakoff/Johnsons Ansatz, vermutlich eine der revolutionärsten Her-
angehensweisen an das Erforschen der Metaphern, stets von der umfangrei-
chen wissenschaftlichen Literatur zum Thema aufgegriffen, kommentiert
und kritisiert. Lakoff/Johnsons kognitivistischer Ansatz postuliert, dass Me-
taphern auf fundamentalen körperlichen und taktilen Erfahrungen basieren,
die zur Konkretisierung abstrakter Erfahrungen eingesetzt werden. Das
heißt, in Anbindung an Konzepte des direkt Erfahrbaren werden Elemente
der „Quelldomäne“ gedanklich auf die abstrakten Konzepte der „Zieldo-
mäne“ übertragen. Dieses metaphorische Übertragen, wodurch abstrakte
Ideen an körperliche Erfahrung angebunden werden, wird als conceptual
mapping bezeichnet.
Durch Metaphern werden Begriffsverbindungen systematisch konstruiert
und strukturiert, die dann als „Metaphernfelder“ einem großen Teil des
mentalen Lexikons zugrunde liegen. Der gesamte Bereich der abstrakten Er-
fahrungen und Vorstellungen wird also durch Metaphern verinnerlicht und
letztlich auf neurophysiologische Verbindungen zurückgeführt (Lakoff/
Wehling 2016, 27f.). Im Sinne dieses Ansatzes ist die Kernfunktion der Me-
tapher das Begreifen und Erleben eines bestimmten Sachverhalts in Form
eines anderen. Mit anderen Worten: Metaphorisches Denken bedeutet, dass
wir Merkmale einer direkt erfahrbaren Idee auf eine andere, oftmals abs-
trakte Idee übertragen (Lakoff/Johnson 1980, 5). Wann immer unser Gehirn
Worte und Ideen verarbeitet, aktiviert es dazu Wissen und Sinnzusammen-
hänge aus vorangegangenen Erfahrungen mit der Welt. Wie u.a. auch die
höchst interessanten Forschungen zu den jüngst entdeckten Spiegelneuro-
nen bestätigen, simuliert unser Gehirn, indem es Worte und Ideen verarbei-
tet, nicht nur deren eventuell verbundene Bewegungsabläufe, sondern auch
anderes abgespeichertes Wissen wie Gefühle, Tastsinn, Gerüche und Ge-
schmack. Deshalb spricht man in der Kognitionswissenschaft bezüglich die-
ses Phänomens von embodied cognition. Durch Metaphern wird somit unsere
abstrakte „Vorstellungswelt“ konkret und physisch „ver-körpert“ (Musolff
2017, 451).
Lakoff/Johnsons Grundidee ist, dass Metaphern im Alltag allgegenwärtig
sind, und zwar nicht nur in der Sprache, sondern auch in unserem Denken
und Handeln. Unser gewöhnliches konzeptuelles System, das also grund-
sätzlich metaphorischer Natur ist, wird jedoch normalerweise von uns nicht
wahrgenommen. In den meisten alltäglichen Aktivitäten, auch in den un-
scheinbarsten, denken und handeln wir mehr oder weniger automatisch
nach bestimmten Richtlinien, die keineswegs offensichtlich sind. Eine Mög-
lichkeit, um sich ihrer bewusst zu werden, ist, die Sprache näher zu betrach-
Metaphorische Perspektivierung in AfD und Lega (Nord)                               97

ten: Da die Kommunikation auf dem gleichen konzeptuellen System basiert,
das wir beim Denken und Handeln verwenden, ist die Sprache eine wichtige
Beweisquelle dafür, wie dieses System beschaffen ist (Lakoff/Johnson 1980,
3).
Lakoff/Johnson postulieren des Weiteren, und dies ist für den Metaphernge-
brauch in der politischen Kommunikation von besonderer Relevanz, dass
Metaphern die Kraft haben, neue Realitäten zu erschaffen.
    If a new metaphor enters the conceptual system that we base our actions on,
    it will alter that conceptual system and the perceptions and actions that the
    system gives rise to. Much of cultural change arises from the introduction
    of new metaphorical concepts and the loss of old ones. […] Changes in our
    conceptual system do change what is real for us and affect how we perceive
    the world and act upon those perceptions. (Lakoff/Johnson 1980, 145f.)
Tritt eine neue Metapher in das konzeptuelle System ein, worauf wir unsere
Handlungen aufbauen, wird sie also dieses konzeptuelle System und die
Wahrnehmungen und Handlungen, die das System hervorruft, verändern.
Wie Michael Drommler hervorhebt, kann Lakoff/Johnsons Metapherntheo-
rie zwar vorgeworfen werden, sie biete nur vage und willkürliche semanti-
sche Beschreibungsmöglichkeiten, dies beeinträchtigt jedoch nicht die At-
traktivität dieses Ansatzes bei der Untersuchung des politischen Sprachge-
brauchs, denn der ist wohl imstande, Einsicht über den Zustand einer poli-
tischen Kultur zu bieten:
    In einer gemäßigt-konstruktivistischen Perspektive stellen Metaphern eine
    Möglichkeit dar, im Medium der Sprache politische Wirklichkeit zu erzeu-
    gen und umgekehrt diese Konstruktionsweisen zu untersuchen. (Drommler
    2017, 224)

2    Metaphern und Realitätswahrnehmung: highlighting and hiding

Durch Metaphern bewirkte Modifikationen unseres konzeptionellen Sys-
tems verändern das, was für uns real ist, und haben Einfluss darauf, wie wir
die Welt wahrnehmen und auf diese Wahrnehmungen reagieren. Politische
Kommunikation, vor allem populistisch orientierte, hat dieses Prinzip ge-
meinhin rezipiert, wie die inzwischen geläufige fachmännische Figur des so
genannten „Spin-Doktors“ zeigt. Es handelt sich dabei um eine negativ kon-
notierte Bezeichnung politischer Medien- und Imageberater, die für die Öf-
fentlichkeitsarbeit verantwortlich sind und in dieser Rolle Sachverhalte mit
dem richtigen Dreh (engl. spin) versehen und somit für eine unterschwellig
manipulierte mediale Repräsentation der Fakten (Kamps 2007, 186f.) sorgen.
Sandro M. Moraldo

Deutschland zuerst! und PRIMA GLI ITALIANI
Ein politolinguistischer Versuch über die
Wahlkampfparolen der Alternative für Deutschland (AfD)
und der Lega

1     Einleitung

Die Wahl der erst vor wenigen Jahren gegründeten AfD 2017 zur größten
Oppositionspartei im deutschen Bundestag und der Durchbruch der Lega bei
den italienischen Parlamentswahlen 2018 waren ein eindeutiges Misstrau-
ensvotum gegenüber den traditionellen Parteien. Zu stark war in den Jahren
zuvor die Kluft zwischen Regierenden und Regierten geworden, als dass
man zur normalen politischen Tagesordnung hätte übergehen können. Mit
ihrem Wahlversprechen, u.a. dem Multikulturalismus die jeweilige Leitkul-
tur mit ihren normativen Ansprüchen entschieden entgegenzusetzen, ein
hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit als nationales Selbstverständnis zu eta-
blieren, ihre Länder aus dem Würgegriff der EU- und internationalen Fi-
nanzpolitik zu befreien und einen eigenen souveränen nationalen Weg zu
bestreiten, haben sie sich klar positioniert und eine neue politische Debat-
tenkultur in Gang gesetzt. Es mag verwirrend klingen, wenn man Entwick-
lungen lokalisieren und korrigieren will, die längst nach globalen Gesetzen
funktionieren. Jedenfalls brachten beide Parteien mit einem jeweils leicht
wiederholbaren, formelhaften und griffig gestalteten – und am amerikani-
schen Original America first! angelehnten – Slogan: Deutschland zuerst! und
PRIMA GLI ITALIANI ihre nationalkonservative, nationalistische und EU-
skeptische Politik kurz und bündig auf einen Nenner.
Kommt es für die Parteien im Wahlkampf darauf an, „für ihre Botschaft un-
ter Konkurrenzbedingungen Aufmerksamkeit, Interesse und Überzeu-
gungskraft zu gewinnen“, dann besteht die Herausforderung für die Wahl-
kämpfer darin, mit Schlag- und Schlüsselwörtern, gegebenenfalls auch mit
Hilfe eines „provokativen Kurzsatzes“ (Klein 2010, 9 und 13), ihre weitge-
spannten Positionen textlich auf den Punkt zu bringen. Und dies aus einem
einfachen Grund:
      Das Gros derer, um deren Stimmen es geht, sind keine Experten. Da muss
      die Komplexität herrschaftssprachlicher Textwelten der wissenschaftlichen
      Gutachter, Verbandsexperten, Spitzenbeamten und Ressortpolitiler herun-
      tergebrochen werden auf das Niveau nicht nur von ‚Bildungsbürgern‘, son-
      dern von Millionen Boulevardzeitungslesern. Die Konzentration auf zent-
      rale, knapp gefasste Botschaften ist gefragt. Kampagnensprache ist um All-

Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 17. Jahrgang, 2021, Heft 01, S. 112-145.
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    gemeinverständlichkeit bemüht, zu Mobilisierungszwecken emotional auf-
    geladen und zur Abgrenzung gegen die politische Konkurrenz tendenziell
    polarisierend. (Klein 2010, 9)
Mit Deutschland zuerst! und PRIMA GLI ITALIANI liegen nun zwei satzwer-
tige Ausdrücke vor, die Gegenstand dieser politolinguistischen Untersu-
chung sein sollen. Die Politolinguistik (vgl. Burkhardt 1996) untersucht u.a.
das Verhältnis von Sprache und Politik, von politischem Sprachgebrauch
bzw. öffentlich-politischer Kommunikation. Dabei geht es ihr hauptsächlich
darum, „sprachliche Phänomene zu beschreiben und zu erklären, ohne sie
jedoch einer Wertung zu unterziehen“ (Niehr 2014, 18). Die Frage, die sich
nun in diesem Zusammenhang stellt, ist folgende: Welche Argumente und
Narrative verbergen sich hinter den Wahlkampfparolen der beiden rechts-
populistischen Parteien? Der folgende Beitrag versucht eine Antwort darauf
zu geben. Die empirische Basis dieser Überlegungen bilden zum einen Text-
daten, die in Wahlprogrammen, -plakaten, Pressemitteilungen, Reportagen,
schriftbasierten kommunikativen Praktiken (Twitter, WhatsApp) und Zei-
tungsberichten vorliegen, aber auch Bild- und Audio-/Videodaten, sowie
mediale Inhalte in sozialen Netzwerken (vor allem Facebook und Twitter), öf-
fentlichen Kundgebungen, Fernsehauftritten, die im Rahmen der Einfluss-
nahme auf Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen der Adres-
saten veranstaltet wurden, persuasive Ziele verfolgten und die – kontext-
und situationsbedingt – eine Rückbesinnung auf die Nation und ihre Inte-
ressen denotieren. Die Daten wurde über eine Online-Recherche zusammen-
getragen, geordnet, ausgewertet und analysiert, um daran anschließend ein
klareres Bild über die Wir zuerst-Politik sowohl der AfD als auch der Lega zu
gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist der Beitrag wie folgt gegliedert: In
einem ersten Schritt (Kapitel 2) werden Ursprung und Bedeutung der Devise
America First! des ehemaligen US-Präsidenten Donald J. Trump hinterfragt,
bevor in einem weiteren Schritt (Kapitel 3) sowohl kurz auf die europäischen
Ausläufer der Wir zuerst-Kampagne eingegangen und dann auf die deutsche
(Kapitel 3.1) als auch auf die italienische Variante (Kapitel 3.2) des US-ame-
rikanischen Mottos und ihre Implikationen fokussiert wird. Ein abschließen-
des Fazit (Kapitel 4) soll den Beitrag mit einer evaluierenden Zusammenfas-
sung und einem Ausblick abrunden.

2    Donald Trumps Devise America First!: Ursprung und Bedeutung

Als am 16. Juni 2015 der Immobilienmogul Donald J. Trump mit den Worten:
„I am officially running for President of the United States and we are going
to make our country great again“ seine Präsidentschaftskandidatur bekannt
gab und nach heftigen internen Machtkämpfen schließlich für die Republi-
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