"Forever Young" - Die Kritische Theorie
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Wissenschaftsgeschichte »Forever Young« – Die Kritische Theorie Das Jahr der Jubilare: Habermas 80, Honneth 60 Kommerzialisierung fruchtbar ma- chen, die in den letzten beiden Jahrzehnten ja weit über den im engeren Sinn wirtschaftlichen Be- reich hinaus eine enorme Bedeu- tung angenommen haben. ? Sie haben die Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung zum Forschungsschwerpunkt des Instituts für Sozialforschung er- klärt, als Sie 2001 die Leitung des Instituts übernahmen. Habermas spricht von der politischen Zäh- mung des Kapitalismus, um der selbstzerstörerischen Dynamik der wachsenden Ungleichverteilung von Macht und Wohlstand entge- genzuwirken. Dann müsste doch jetzt die Stunde der Sozialphiloso- phen geschlagen haben – wo sind Prof. Axel Honneth ? Der runde Geburtstag – kratischen Sittlichkeit, nicht nur die öffentlich vernehmbaren Ant- im Gespräch mit Chance zum Rückblick und Auf- eines robusten egalitären Rechts- worten auf die Herausforderungen Ulrike Jaspers. bruch in ein neues Jahrzehnt. Im verhältnisses. Als wesentliche Her- der weltweiten Finanz- und Wirt- Juli werden auch Sie um Festreden ausforderung in den nächsten ab- schaftskrise? und Ehrungen Ihrer Person und sehbaren Jahren betrachte ich zwei Ihres Werks nicht herumkommen, Dinge: Das eine halte ich für die Honneth: Ich habe den Eindruck, vermutlich werden Sie sich gelas- theoretische Arbeit im Institut für es gibt eine gewisse Ratlosigkeit sen an Bob Dylans »Forever Sozialforschung für sehr zentral, auch in den intellektuellen Zirkeln. Young« halten – oder? Wenn Sie nämlich die Entwicklung einer Die alten Rezepte gelten nicht einen Ausblick auf das neue Le- tragfähigen Gesellschaftstheorie, mehr als tragfähig oder plausibel. bensjahrzehnt wagen, wo sehen die also bestimmte Inspirationen Wir können auf die Krise nicht mit Sie sich als Philosoph in den nächs- von Habermas aufnimmt, aber sie dem Rückgriff auf sozialistische ten zehn Jahren besonders heraus- in anderer Weise fortentwickelt. Wirtschaftsmodelle antworten. gefordert? Das beschäftigt mich seit Langem, Diese Ernüchterung hat sich und ich bewältige das durch klei- durchgesetzt; ich kenne kaum in- Honneth: So ganz leicht ist das nere Aufsätze, in denen ich mich tellektuelle Freunde, die noch die mit dem »Forever Young« auch mit zeitgenössischen Soziologen Überzeugung haben, dass es eine nicht … Mein Ziel ist es, in abseh- auseinandersetze. Darüber hinaus wirkliche Alternative zu markt- barer Zeit ein Buch fertig zu schrei- gilt meine Aufmerksamkeit der wirtschaftlichen Modellen gibt. ben. Die normalen Belastungen, Abwehr des Naturalismus. Einen Also muss man nach Modellen der insbesondere die zunehmende ad- ersten Ansatz habe ich dazu ge- sozialen Regulierung der Markt- ministrative Arbeit an der Univer- macht, indem ich ein Buch über wirtschaft suchen. Ich habe bei- sität, lassen nur wenig Freiräume Verdinglichung geschrieben habe, spielsweise in einem Aufsatz ge- für eine anständige umfangreiche das eigentlich den Nachweis antre- zeigt, dass eigentlich schon die Monografie. Mein neues Buch, an ten sollte, dass unser Weltverhält- Etablierung des Marktes zu Beginn dem ich jetzt schon seit zwei Jah- nis geprägt ist durch eine Art vor- des Kapitalismus von Vordenkern ren sitze, wird sich mit den Bedin- gängiger, leicht affektiv getönter wie Smith oder Hegel stark unter gungen beschäftigen, unter denen Bezugnahme auf die Welt, auf die normativen Bedingungen betrach- unsere modernen liberalen Demo- Dinge, auf die Personen, so dass tet worden ist – hier sollten, um kratien tatsächlich funktionieren naturalistische Konzeptionen des den Markt tatsächlich sozial integ- können. Ich habe dabei im Sinne menschlichen Daseins schon des- rativ zu gestalten, Verhältnisse der Hegels vor Augen, dass eine wahr- wegen verfehlt sind, weil sie die gerechten Entlohnung, der indivi- hafte, soziale Demokratie auch Tiefenschicht einer elementaren duell durchschaubaren Arbeitstei- einer entsprechenden, freiheitsför- Anerkennung der uns begegnen- lung und der halbwegs humanen, dernden Einrichtung der Privatver- den Personen und auch Dinge ver- anerkennungswürdigen Gestaltung hältnisse und des Wirtschaftssektors fehlen. Das ließe sich auch für eine der Arbeitsplätze herrschen. Was bedarf – kurz, einer ganzen demo- Kritik der Ökonomisierung und wir in den letzten 20 Jahren erlebt 72 Forschung Frankfurt 2/2009 04 UNI S072_085 2009_02.indd 72 02.06.2009 17:35:20 Uhr
Perspektiven haben, ist eine enorme Pervertie- ßen Sie, Rainer Forst und andere rung der eigentlichen normativen aus dem Kreis der Frankfurter Kri- Grundlagen des Kapitalismus. Wir tischen Theorie zweifellos, aber die müssen uns heute mit der Unter- Rolle des öffentlichen Intellektuel- höhlung und Auszehrung der nor- len scheinen Sie und Ihre Kollegen mativen Rahmenbedingungen zu scheuen. Warum – fürchten Sie beschäftigen. Entlang solcher Über- um Ihre Reputation? legungen müssten die Impulse für zukünftige Modelle liegen. Honneth: Solche Artikel wie von Thea Dorn, deren philosophische ? Dass der Kapitalismus offen- Magisterarbeit ich damals übrigens sichtlich so nicht funktionieren mitbetreut habe, sind natürlich kann, empfinden Sie also nicht als nicht neu. Das Geschrei, dass es Genugtuung, weil Sie schon seit keine öffentlichen Intellektuellen Jahren ungelöste Probleme an- mehr gibt, scheint mir völlig über- mahnen und den Finger in die zogen. Im Gegenteil – die Zahl der Wunden legen? öffentlichen Intellektuellen hat in den letzten 20 bis 30 Jahren konti- Honneth: Nein, eine solche Hal- nuierlich zugenommen. Schauen tung, die heute in vielen Kreisen Sie sich nur die überregionalen sicherlich zu einer Ausnahmeer- vorzuherrschen scheint, macht Zeitungen an: Dort tragen Wissen- scheinung. Einige haben auch das mich sogar nervös. Natürlich zeigt schaftler vermehrt zu öffentlichen Talent, schnell Artikel zu aktuellen die aktuelle Situation, dass ein Kri- Debatten bei. Das Feuilleton ist politischen Anlässen schreiben zu senpotenzial in kapitalistischen Ge- enorm politisiert und intellektuali- können. Ich habe das früher auch sellschaften angelegt ist, dass durch siert. Die ganze Debatte über Hirn- häufiger gemacht, so habe ich bei- die Enthemmung der Finanzwirt- forschung wurde weitgehend spielsweise in die Debatte der Grü- nen um ihr politisch-moralisches Selbstverständnis eingegriffen oder zum ersten Irak-Krieg Stellung be- zogen. Man sollte sich auch eines klar machen: Vielleicht war es vor 30 Jahren leichter, klare, sich selbst überzeugende Antworten auf be- stimmte politische, moralische und normative Entwicklungen zu ge- ben. Nehmen wir die Sozialstaat- Diskussion: Da sind wir Intellektu- ellen doch relativ still. Eine Ursache könnte darin liegen, dass wir uns höchst unklar darüber sind, wie eine angemessene sozialstaatliche Politik in den nächsten Jahrzehn- ten jenseits von Hartz 4 und des alten sozialdemokratischen Wohl- fahrtsstaatsmodells beschaffen sein könnte. Wir sind vielleicht noch schaft solche Krisen gefördert wer- durch Intellektuelle unterschiedli- gar nicht so weit. Uns fehlen ver- den. Das ist allerdings keine neue cher Herkunft geführt – sei es aka- tretbare, gut begründbare Antwor- Einsicht, das kennen wir seit 1929. demischer, feuilletonistischer oder ten – etwa ein Modell, das nicht in Aber wir können nicht gleichzeitig journalistischer Herkunft, aber die Abgründe von Hartz 4 führt, mit dem Marx’schen Reflex reagie- auch kirchlicher oder gewerk- aber gleichzeitig die Tücken der ren, indem wir nun ein nicht- schaftlicher. Was uns sicherlich alten sozialstaatlichen Regulierung marktwirtschaftliches Modell dage- fehlt, sind einige überdimensional vermeidet. gen halten. wahrnehmbare Intellektuelle wie Habermas. Diese Fähigkeiten müs- ? Habermas gilt in der Republik ? Ende vergangenen Jahres hat sen einem gegeben sein, sie lassen als der Intellektuelle, obwohl oder die Schriftstellerin Thea Dorn im sich nicht herbeizaubern. weil man ihn in keiner Talkrunde »Spiegel« unter dem Titel »Deutsch- trifft. Er wirkt gelegentlich fast un- land, keine Denker« eine Diskussi- ? Da hilft vermutlich auch kein sichtbar, weil er sich Anfragen der on darüber losgetreten, warum es gezieltes Medientraining …? Medien entzieht, aber trotzdem kaum noch öffentliche Intellektu- sein Agendasetting beherrscht. Ist elle wie Habermas gibt, wo wir sie Honneth: Das sowieso nicht. Ha- das seine persönliche Eigenart, doch jetzt nötiger denn je brau- bermas hat beispielsweise eine ge- oder ist dieser Rückzug aus der Be- chen. Ansehen in der internationa- wisse formative Kraft in der Be- triebsamkeit eine notwendige Vor- len akademischen Fachwelt genie- griffsgebung, das macht ihn aussetzung, um zeitdiagnostische Forschung Frankfurt 2/2009 73 04 UNI S072_085 2009_02.indd 73 02.06.2009 17:35:21 Uhr
Perspektiven gung bei jüngeren Leuten aus. Das basiert zunächst sicherlich auf seiner Gabe, intensiv zuhören zu können, stützt sich dann aber im Kern auf die Beurteilung der schriftlichen Zeugnisse. Er miss- traut den Redetalenten der Leute. Ich denke, er ist stets der Überzeu- gung, dass derjenige, der einen Gedanken brillant rhetorisch um- schreiben kann, erst dann quali- fiziert ist, wenn er ihn auch gut zu Papier bekommt – nur dann besitzt er die Befähigung zum anständigen Philosophieren. Habermas hat in dieser Hinsicht ein sehr sicheres Urteil. Er hatte in seiner aktiven Zeit als Hochschullehrer eine gute Analysen in die Öffentlichkeit ein- wir – und Habermas noch ver- Art, die jungen Wissenschaftler bringen zu können? mehrt – täglich bekommen. ohne allzu starken Druck jeweils an ihre eigentlichen Vorhaben und Honneth: Der Rückzug ist sicher- ? Sie sind einer, der über Jahr- Projekte zu erinnern, sie zu ermu- lich eine nicht immer, aber bei ein- zehnte eng mit Habermas zusam- tigen und sie nicht durch den eige- zelnen – so auch bei Habermas – mengearbeitet hat, Sie waren sein nen Status zu erdrücken. notwendige Voraussetzung. Ich Assistent und haben später seine glaube, dass die alte Formel von Professur für Sozialphilosophie an ? So verwundert es auch nicht, Helmut Schelsky, dem großen So- der Goethe-Universität übernom- dass Habermas an seinem 80. Ge- ziologen, weiterhin stimmt, dass men. Wie haben Sie Habermas als burtstag den Diskurs mit jungen der Gelehrte und auch der Intel- akademischen Lehrer erlebt? Wie Wissenschaftlern sucht. Wie wird lektuelle des Hin und Her zwischen hat er akademische Talente ent- das aussehen? öffentlicher Präsenz und einsamer deckt und gefördert? Forschung bedarf, und dass ohne Honneth: Das wird eine rein in- die einsame Forschung am eigenen Honneth: Im direkten Sinn war terne Veranstaltung des Instituts Schreibtisch nicht die Substanz er- Habermas nie mein Lehrer, was für Philosophie sein, auf der vier arbeitet werden kann, aus der her- vielleicht von Vorteil war. Er holte junge Studierende, zumeist Dokto- aus er dann in der öffentlichen mich nach meiner Promotion an randen, auftreten, um Habermas Stellungnahme schöpft. der Freien Universität als seinen mit ihren neugierigen Fragen an Assistenten nach Frankfurt, als er sein theoretisches Werk zu kon- ? In dieser Hinsicht ist Haber- 1983 seine neue Professur an der frontieren – ich denke, die beste mas ein Meister: Er lehnt jedes In- Goethe-Universität startete. Wir Art, um uns die Lebendigkeit und terview zu seinem 80. Geburtstag haben viele Seminare zusammen das Fortwirken seines Denkens vor freundlich, aber kategorisch ab, das veranstaltet, viele Arbeiten ge- Augen zu führen. haben auch wir leidvoll erfahren. meinsam betreut – und er war ein In Ermangelung direkter Gesprächs- ausgezeichneter Hochschullehrer. ? Das Adornitentum – die möglichkeiten nähern wir uns sei- Ihn zeichnet ein sehr sicherer Ins- Schülerschaft, die sich mimetisch ner Person über Dritte. Hat Haber- tinkt für Begabung und Befähi- an den großen Autor anschmiegt mas vielleicht auch eine gewisse Scheu, Menschen unmittelbar zu begegnen, ist er durch seine vielen Auszeichnungen »elitär entrückt«? Honneth: Ich glaube, man muss gar nicht ins Psychologische gehen. Es ist die ganz natürliche Reakti- onsweise einer Person, die sich zunehmend öffentlichen Begehr- lichkeiten ausgesetzt sieht und eigentlich nur die Schutzmauer aufrechterhalten möchte, hinter der die produktive Arbeit möglich ist. Und mit zunehmendem Alter müssen die Mittel der Ablehnung vermutlich immer rabiater werden, wenn ich allein schon an die Viel- zahl von Einladungen denke, die 74 Forschung Frankfurt 2/2009 04 UNI S072_085 2009_02.indd 74 02.06.2009 17:35:22 Uhr
Perspektiven und versucht, seinen Sprachstil zu stellen neu besetzt werden kön- Jahre gut alimentiert. Geld schafft imitieren – ist legendär. Habermas’ nen? Begehrlichkeiten, schon werden »Nachkommen« scheinen ähnliche die Begünstigten die »Neureichen Ambitionen nicht zu hegen. Sie Honneth: Erstmal muss man sich ihrer Zunft« genannt. Doch braucht sind eher hervorragende Überset- klarmachen, das Ganze bewegt es eigentlich so viel Geld, um in zer seines Werkes, die seine Thesen sich allein in Frankfurt. Sicherlich den Geisteswissenschaften exzel- fortentwickeln und einer breiteren hatte Habermas in späteren Jahren lent forschen zu können, oder fehlt Öffentlichkeit verständlich ma- eine gewisse intellektuelle Macht den exzellenten Wissenschaftlern chen. Woran liegt das? Brilliert Ha- in der Stadt Frankfurt. Ich bin aber nicht eine ganz andere Ressour- bermas mehr mit seinen innovati- davon überzeugt, dass er in der ge- ce – nämlich Zeit? ven Theorien als durch seinen samten hochschulpolitischen Land- Sprachduktus, auch wenn er Be- schaft relativ machtlos dastand, Honneth: Die klare Antwort auf griffe der öffentlichen Diskussion weil er sich nie wirklich eingelas- die erste Frage ist: nein; und auf wie »herrschaftsfreie Kommunika- sen hatte auf das Professionsge- die zweite: ja. Innerhalb der Geis- tion«, »zwangloser Zwang des bes- schäft und gewisse Netzwerke. So teswissenschaften sind solche Ex- seren Arguments« und »neue Un- war er beispielsweise Anfang der zellenzcluster oder ähnliche För- übersichtlichkeit« geprägt hat? 1990er Jahre, direkt nach der Ver- dereinrichtungen überfinanziert. einigung, quasi ohne Einfluss, als Honneth: Habermas war im Um- es um die Besetzung der Professu- feld des Instituts für Sozialfor- ren in den neuen Bundesländern schung, zu dem er Mitte der ging; er hat auch nie Versuche un- 1950er Jahre stieß, eine absolute ternommen, in diesem Sinn tätig Sonderfigur. Er hatte eine andere zu werden. Andererseits war Ha- philosophische Vorbildung genos- bermas sicher schulbildend und sen, eine andere soziologische Ori- hat Wissenschaftler hervorge- entierung und ist deswegen nie der bracht, die ihrerseits zu intellektu- Gefahr erlegen, zum Adorniten zu eller wie hochschulpolitischer werden. Er hat sich seinen eigenen Macht gekommen sind – wie im theoretischen Stil und seine eigene neuen Exzellenzcluster. Begrifflichkeit in Auseinanderset- zung mit der Überfigur Adorno er- ? Geistes- und Sozialwissen- arbeitet. Das hat ihm eine gewisse schaftler fühlten sich über lange Freiheit gegeben, jenseits des Dog- Jahrzehnte in Deutschland eher matismus und der reinen Nachbe- stiefmütterlich behandelt, wenn es terei. Dadurch hat Habermas um die großen Fördertöpfe ging. wahrscheinlich auch die Fähigkeit Drittmittel einzuwerben war entwickelt, seinen eigenen Lehrstil schwierig, galt aber auch nicht un- und sein eigenes Kommunikati- bedingt als vordringliche Aufgabe. Sie schaffen eher Verteilungspro- onsverhalten zu entwickeln. Er hat Was hat sich geändert – die Förder- bleme und administrative Überbe- eine unglaubliche Aversion gegen politik, der Druck auf die Wissen- schäftigung als wirklich automa- jedes Sektenwesen in der philoso- schaftler oder auch das Selbstver- tisch gute Forschungsbedingungen. phischen Landschaft. Was nicht ständnis der Forscher? Gute Forschung wird allein am ei- heißt, dass er nicht Interesse daran genen Schreibtisch betrieben; das hat, seine eigene Überzeugung und Honneth: Da hat sich gar nichts einzige, was Geisteswissenschaftler Lehre fortgesetzt zu sehen. Wenn geändert. Schauen Sie sich nur die dazu brauchen, ist Zeit. Habermas er den Eindruck hat, jemand imi- Zahlen der Deutschen Forschungs- hat das immer auf seine Weise ge- tiert bloß, was er gesagt hat, dann gemeinschaft an, so ist das Verhält- löst: Er lebte in Starnberg, er ver- ist er enttäuscht und kann diejeni- nis der Wissenskulturen unterein- schwand freitags morgens und ge Person auch fallen lassen. ander so deprimierend wie vor 20, kam dienstags zurück – vier Tage 30 Jahren. Zum Beispiel das Em- Ruhe zum Schreiben! Darüber hin- ? In einem Interview mit dem my-Noether-Programm, ein wich- aus nahm er während des Semes- Journalisten Michael Funken ha- tiges Programm zur Förderung von ters auch kaum Einladungen für ben Sie gesagt: »Habermas hatte in jungen Wissenschaftlerinnen: Nur Konferenzen und Vorträge an. der deutschen Philosophie-Land- 5 Prozent der Mittel gehen an Heute erleben wir eine Kultur der schaft eher einen schwierigen Geisteswissenschaftlerinnen. Über Beschleunigung und Vervielfälti- Ort ... hochschulpolitisch laufen die diese Situation kann auch das geis- gung von Konferenzen. Vernetzungen und Seilschaften teswissenschaftliche Exzellenzclus- ganz anders.« Hat sich das Blatt ge- ter hier in Frankfurt nicht hinweg- ? Mit den neuen Cluster-Ein- wendet, wo nun die Wissenschaft- täuschen. richtungen, aber auch in den Insti- ler aus Habermas’ Leibnizpreis- tutes for Advanced Studies, zu Programm wie Klaus Günther und ? Das geisteswissenschaftliche denen auch das Forum Humanwis- Rainer Forst im neuen Cluster das Cluster »Herausbildung normativer senschaften in Bad Homburg zählt, Sagen haben und innerhalb des Ordnungen«, zu dessen Wissen- in dessen wissenschaftlichem Beirat Clusters bereits neun Professuren schaftlerkreis Sie auch gehören, ist Sie mitwirken, sollen freie Denk- und fast hundert Wissenschaftler- mit 27 Millionen Euro über fünf räume für die klügsten Köpfe ent- Forschung Frankfurt 2/2009 75 04 UNI S072_085 2009_02.indd 75 02.06.2009 17:35:23 Uhr
Wissenschaftsgeschichte der Deutschen Bahn und der keine Verspätungen duldet, keine wag- halsigen und nur probeweise ver- tretenen Thesen und schon gar keine offenen Fragen.« Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen? Honneth: Vollständig. Die Modu- larisierung hat bei uns – ich rede jetzt nur von unserem Institut für Philosophie, aber sicherlich gilt das auch für andere Institute der Uni- versität – den Vorteil gehabt, dass wir gezwungen waren, stärker dar- über nachzudenken, wie wir ein künftiges Studium strukturieren wollen. Doch die Effekte sind eine vollständige Bürokratisierung der Lehrveranstaltungen: Der Zwang zur Durchorganisation des Studi- stehen. Wie betrachten Sie diese auf einem Kongress, auf einer Ta- ums erlaubt es den Studierenden Entwicklung? Teilen Sie die Be- gung verbringen – auch im Aus- nicht mehr, sich Freiräume zu fürchtung von Kritikern, dass sich land; und Unvorsichtige tun dies schaffen, in denen sie produktiv zwei Welten entwickeln: hier die auch. Dies droht die eigentliche, ihren Ideen und eigenen Fantasien exklusiven Zirkel in den Exzellenz- nämlich die einsame Arbeit ohne freien Lauf lassen und ihrer intel- einrichtungen, dort der normale Kommunikationsdruck am lektuellen Neugier nachgehen kön- Uni-Betrieb in den Instituten mit Schreibtisch zu ersticken. Mit Ihrer nen. Ich sehe tatsächlich, wie ein seinen lästigen Lehrverpflichtun- zweiten Frage sprechen Sie an, ob neuer Studierendentypus heran- gen? diese Förderinstrumente die wächst, der damit beschäftigt ist, Humboldt’sche Universitätsidee der zunächst mal zu kalkulieren, wie Honneth: Institutes for Advanced Einheit von Forschung und Lehre die entsprechende Punktzahl zu Studies, Exzellenzcluster, Sonder- unterhöhlen. Dieses Problem sehe erreichen ist, und der dann schau- forschungsbereiche oder Graduier- ich zunehmend: Durch eine fort- en muss, wie alles miteinander ko- ten-Kollegs – all das, was zur schreitende Spaltung zwischen ordiniert werden kann und durch Strukturierung, zur Revitalisierung Lehre und Forschung könnten wir die verschiedenen Seminare der deutschen Universität beitra- einen Professorentyp bekommen, durchhechelt. gen soll, bringt auch Gefahren mit der sich eigentlich der exzellenten sich. Es gibt ein Überangebot an Forschung widmen sollte, obwohl ? Hans Ulrich Gumbrecht, Tagungen und Veranstaltungen, er faktisch mehr auf Konferenzen Stanford-Professor und Literatur- die von diesen Institutionen zur in Erscheinung treten muss; und wissenschaftler, bekannt für seine Rechtfertigung ihrer Arbeit initiiert andererseits den Hochschuldozen- provokanten Statements, langwei- werden müssen. Inzwischen könn- tentyp, der nur für die Lehre abge- len geisteswissenschaftliche Kollo- te jeder von uns jedes Wochenen- stellt wird. Das finde ich fatal, das quien, die nicht mal starke Thesen de bei einer anderen Institution bedeutet für die Studierenden, dass hervorbringen, er meint: »Das liegt sie an der Forschung selber nicht wohl auch an einem Zwang, alles mehr teilhaben können, weil diese relativieren zu wollen.« Was hal- abgehoben in Sondereinrichtungen ten Sie von dieser Bemerkung? stattfindet, zu denen sie gar keinen Zugang mehr haben. Honneth: Gumbrecht sagt viel, wenn der Tag lang ist. Ich glaube, ? Gehetzt von Evaluation, An- die Kraft zum produktiven und tragsstellung und Punktevergabe neuartigen Denken hat nicht nach- scheinen Neugier und der Wille gelassen. Natürlich ist durch die zum Wissen immer weniger Raum Internationalisierung der Wissen- zu haben – das trifft Wissenschaft- schaften die Notwendigkeit ent- ler ebenso wie Studierende, wie es standen, die eigenen Thesen an der Göttinger Germanist und Leib- dem zu messen, was gleichzeitig in niz-Preisträger Heinrich Detering den USA, in England oder in in der leider »ungehaltenen« Pas- Frankreich präsent ist. Das ist eine sage seiner Dankrede im März Folge der kulturellen wissenschaft- pointiert artikuliert hat: »… und lichen Globalisierung. ich verbringe nun im Alltag viel Zeit damit … Studierende zu be- ? Empfinden Sie dies gelegent- treuen, deren Studienplan rabiater lich als Einengung der eigenen durchgerechnet ist als der Fahrplan Kreativität? 76 Forschung Frankfurt 2/2009 04 UNI S072_085 2009_02.indd 76 02.06.2009 17:35:24 Uhr
Wissenschaftsgeschichte Honneth: Nein, es bleibt genug Zur Person Raum für neuartige Gedanken. Ich bin mit meinen beinah 60 Jahren Prof. Dr. Axel Honneth, 59, trat 1996 die Nachfolge von noch jung genug, noch immer an- Prof. Dr. Jürgen Habermas am Institut für Philosophie der Goethe-Universität an. Darüber hinaus ist er seit nehmen zu können, dass ich auf 2001 geschäftsführender Direktor des renommierten Neues und Interessantes stoße. Es Instituts für Sozialforschung. Honneth, der zuvor 1992 passiert mir mindestens einmal im bis 1996 politische Philosophie an der Freien Universi- Jahr, dass ich ein wirklich span- tät Berlin lehrte, war in den 1980er Jahren Hochschul- nendes Buch aufschlage und mich assistent bei Habermas an der Universität Frankfurt, davon richtig mitziehen lasse. wo er sich mit seiner Studie »Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte« habili- ? Welche Bücher haben Sie in tierte. Im Anschluss war Honneth, der Philosophie, So- der letzten Zeit besonders faszi- ziologie und Germanistik in Bonn, Bochum und Berlin niert? studiert hatte, »Fellow« am Berliner Wissenschaftskol- leg. Er lehrte und forschte in der Folgezeit in Konstanz, Berlin und an der New Honneth: In den letzten Jahren School for Social Research in New York. Honneth entwickelt in der Tradition der kritischen Theorie und im Anschluss an Hegel eine Gesellschaftstheorie, die sich waren es das Werk des französi- zugleich als politische Ethik versteht und normative Grundlagen einer Gesellschafts- schen Soziologen Luc Boltanski kritik zu gewinnen sucht. In einer Theorie der »Anerkennung« werden soziale Kon- »Der neue Geist des Kapitalismus« flikte als Kämpfe um Anerkennung interpretiert, die auf der Basis von gesellschaft- und das Buch von Michael Toma- lich verankerten Anerkennungsprinzipien, auf denen zugleich persönliche sello »Die kulturelle Entwicklung Identitätsbildung und Selbstverwirklichung beruhen, ausgetragen werden. Während des menschlichen Denkens«. To- sich Habermas stark auf die angelsächsische, analytische Philosophie der Sprache masello, der Direktor des Max- und Ethik konzentriert, greift Honneth auch sozialphilosophische Themen auf, die Planck-Instituts für Evolutionäre in den Grenzbereichen der Psychoanalyse und der Entwicklungspsychologie ange- Anthropologie in Leipzig, knüpft siedelt sind. Auch setzt Honneth, anders als Habermas, zusätzliche Akzente in der wieder an die philosophische An- Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Philosophie und Sozio- thropologie an, das fand ich hoch- logie, unter anderem promovierte er über »Foucault und die Kritische Theorie«. Seit seinem 16. Lebensjahr beschäftigt sich Honneth übrigens mit Bob Dylan, 2006 ver- spannend. Solche wirklich produk- anstaltete er gemeinsam mit Dr. Peter Kemper (Hessischer Rundfunk) und dem tiven provokativen neuartigen Freiburger Musikwissenschaftler Dr. Richard Klein ein Symposion zum Subversiven Sichtweisen sind für mich immer im Werk von Bob Dylan, der die herkömmliche Unterscheidung von autonomer wieder stimulierende Neuentde- Kunst und Popkultur unterwanderte. ckungen. ◆ Anzeige IHRE SPENDE WIRKT. Sparkasse KölnBonn, BLZ 370 501 98, Konto 1115, www.powered-by-you.de Forschung Frankfurt 2/2009 77 04 UNI S072_085 2009_02.indd 77 02.06.2009 17:35:25 Uhr
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