"Forever Young" - Die Kritische Theorie

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"Forever Young" - Die Kritische Theorie
Wissenschaftsgeschichte

        »Forever Young« – Die Kritische Theorie
        Das Jahr der Jubilare: Habermas 80, Honneth 60

                                                                                                                 Kommerzialisierung fruchtbar ma-
                                                                                                                 chen, die in den letzten beiden
                                                                                                                 Jahrzehnten ja weit über den im
                                                                                                                 engeren Sinn wirtschaftlichen Be-
                                                                                                                 reich hinaus eine enorme Bedeu-
                                                                                                                 tung angenommen haben.

                                                                                                                    ? Sie haben die Paradoxien der
                                                                                                                 kapitalistischen Modernisierung
                                                                                                                 zum Forschungsschwerpunkt des
                                                                                                                 Instituts für Sozialforschung er-
                                                                                                                 klärt, als Sie 2001 die Leitung des
                                                                                                                 Instituts übernahmen. Habermas
                                                                                                                 spricht von der politischen Zäh-
                                                                                                                 mung des Kapitalismus, um der
                                                                                                                 selbstzerstörerischen Dynamik der
                                                                                                                 wachsenden Ungleichverteilung
                                                                                                                 von Macht und Wohlstand entge-
                                                                                                                 genzuwirken. Dann müsste doch
                                                                                                                 jetzt die Stunde der Sozialphiloso-
                                                                                                                 phen geschlagen haben – wo sind
        Prof. Axel Honneth           ? Der runde Geburtstag –             kratischen Sittlichkeit, nicht nur     die öffentlich vernehmbaren Ant-
        im Gespräch mit           Chance zum Rückblick und Auf-           eines robusten egalitären Rechts-      worten auf die Herausforderungen
        Ulrike Jaspers.           bruch in ein neues Jahrzehnt. Im        verhältnisses. Als wesentliche Her-    der weltweiten Finanz- und Wirt-
                                  Juli werden auch Sie um Festreden       ausforderung in den nächsten ab-       schaftskrise?
                                  und Ehrungen Ihrer Person und           sehbaren Jahren betrachte ich zwei
                                  Ihres Werks nicht herumkommen,          Dinge: Das eine halte ich für die          Honneth: Ich habe den Eindruck,
                                  vermutlich werden Sie sich gelas-       theoretische Arbeit im Institut für    es gibt eine gewisse Ratlosigkeit
                                  sen an Bob Dylans »Forever              Sozialforschung für sehr zentral,      auch in den intellektuellen Zirkeln.
                                  Young« halten – oder? Wenn Sie          nämlich die Entwicklung einer          Die alten Rezepte gelten nicht
                                  einen Ausblick auf das neue Le-         tragfähigen Gesellschaftstheorie,      mehr als tragfähig oder plausibel.
                                  bensjahrzehnt wagen, wo sehen           die also bestimmte Inspirationen       Wir können auf die Krise nicht mit
                                  Sie sich als Philosoph in den nächs-    von Habermas aufnimmt, aber sie        dem Rückgriff auf sozialistische
                                  ten zehn Jahren besonders heraus-       in anderer Weise fortentwickelt.       Wirtschaftsmodelle antworten.
                                  gefordert?                              Das beschäftigt mich seit Langem,      Diese Ernüchterung hat sich
                                                                          und ich bewältige das durch klei-      durchgesetzt; ich kenne kaum in-
                                      Honneth: So ganz leicht ist das     nere Aufsätze, in denen ich mich       tellektuelle Freunde, die noch die
                                  mit dem »Forever Young« auch            mit zeitgenössischen Soziologen        Überzeugung haben, dass es eine
                                  nicht … Mein Ziel ist es, in abseh-     auseinandersetze. Darüber hinaus       wirkliche Alternative zu markt-
                                  barer Zeit ein Buch fertig zu schrei-   gilt meine Aufmerksamkeit der          wirtschaftlichen Modellen gibt.
                                  ben. Die normalen Belastungen,          Abwehr des Naturalismus. Einen         Also muss man nach Modellen der
                                  insbesondere die zunehmende ad-         ersten Ansatz habe ich dazu ge-        sozialen Regulierung der Markt-
                                  ministrative Arbeit an der Univer-      macht, indem ich ein Buch über         wirtschaft suchen. Ich habe bei-
                                  sität, lassen nur wenig Freiräume       Verdinglichung geschrieben habe,       spielsweise in einem Aufsatz ge-
                                  für eine anständige umfangreiche        das eigentlich den Nachweis antre-     zeigt, dass eigentlich schon die
                                  Monografie. Mein neues Buch, an         ten sollte, dass unser Weltverhält-    Etablierung des Marktes zu Beginn
                                  dem ich jetzt schon seit zwei Jah-      nis geprägt ist durch eine Art vor-    des Kapitalismus von Vordenkern
                                  ren sitze, wird sich mit den Bedin-     gängiger, leicht affektiv getönter     wie Smith oder Hegel stark unter
                                  gungen beschäftigen, unter denen        Bezugnahme auf die Welt, auf die       normativen Bedingungen betrach-
                                  unsere modernen liberalen Demo-         Dinge, auf die Personen, so dass       tet worden ist – hier sollten, um
                                  kratien tatsächlich funktionieren       naturalistische Konzeptionen des       den Markt tatsächlich sozial integ-
                                  können. Ich habe dabei im Sinne         menschlichen Daseins schon des-        rativ zu gestalten, Verhältnisse der
                                  Hegels vor Augen, dass eine wahr-       wegen verfehlt sind, weil sie die      gerechten Entlohnung, der indivi-
                                  hafte, soziale Demokratie auch          Tiefenschicht einer elementaren        duell durchschaubaren Arbeitstei-
                                  einer entsprechenden, freiheitsför-     Anerkennung der uns begegnen-          lung und der halbwegs humanen,
                                  dernden Einrichtung der Privatver-      den Personen und auch Dinge ver-       anerkennungswürdigen Gestaltung
                                  hältnisse und des Wirtschaftssektors    fehlen. Das ließe sich auch für eine   der Arbeitsplätze herrschen. Was
                                  bedarf – kurz, einer ganzen demo-       Kritik der Ökonomisierung und          wir in den letzten 20 Jahren erlebt

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04 UNI S072_085 2009_02.indd 72                                                                                                           02.06.2009 17:35:20 Uhr
"Forever Young" - Die Kritische Theorie
Perspektiven

       haben, ist eine enorme Pervertie-       ßen Sie, Rainer Forst und andere
       rung der eigentlichen normativen        aus dem Kreis der Frankfurter Kri-
       Grundlagen des Kapitalismus. Wir        tischen Theorie zweifellos, aber die
       müssen uns heute mit der Unter-         Rolle des öffentlichen Intellektuel-
       höhlung und Auszehrung der nor-         len scheinen Sie und Ihre Kollegen
       mativen Rahmenbedingungen               zu scheuen. Warum – fürchten Sie
       beschäftigen. Entlang solcher Über-     um Ihre Reputation?
       legungen müssten die Impulse für
       zukünftige Modelle liegen.                 Honneth: Solche Artikel wie von
                                               Thea Dorn, deren philosophische
          ? Dass der Kapitalismus offen-       Magisterarbeit ich damals übrigens
       sichtlich so nicht funktionieren        mitbetreut habe, sind natürlich
       kann, empfinden Sie also nicht als      nicht neu. Das Geschrei, dass es
       Genugtuung, weil Sie schon seit         keine öffentlichen Intellektuellen
       Jahren ungelöste Probleme an-           mehr gibt, scheint mir völlig über-
       mahnen und den Finger in die            zogen. Im Gegenteil – die Zahl der
       Wunden legen?                           öffentlichen Intellektuellen hat in
                                               den letzten 20 bis 30 Jahren konti-
          Honneth: Nein, eine solche Hal-      nuierlich zugenommen. Schauen
       tung, die heute in vielen Kreisen       Sie sich nur die überregionalen        sicherlich zu einer Ausnahmeer-
       vorzuherrschen scheint, macht           Zeitungen an: Dort tragen Wissen-      scheinung. Einige haben auch das
       mich sogar nervös. Natürlich zeigt      schaftler vermehrt zu öffentlichen     Talent, schnell Artikel zu aktuellen
       die aktuelle Situation, dass ein Kri-   Debatten bei. Das Feuilleton ist       politischen Anlässen schreiben zu
       senpotenzial in kapitalistischen Ge-    enorm politisiert und intellektuali-   können. Ich habe das früher auch
       sellschaften angelegt ist, dass durch   siert. Die ganze Debatte über Hirn-    häufiger gemacht, so habe ich bei-
       die Enthemmung der Finanzwirt-          forschung wurde weitgehend             spielsweise in die Debatte der Grü-
                                                                                      nen um ihr politisch-moralisches
                                                                                      Selbstverständnis eingegriffen oder
                                                                                      zum ersten Irak-Krieg Stellung be-
                                                                                      zogen. Man sollte sich auch eines
                                                                                      klar machen: Vielleicht war es vor
                                                                                      30 Jahren leichter, klare, sich selbst
                                                                                      überzeugende Antworten auf be-
                                                                                      stimmte politische, moralische und
                                                                                      normative Entwicklungen zu ge-
                                                                                      ben. Nehmen wir die Sozialstaat-
                                                                                      Diskussion: Da sind wir Intellektu-
                                                                                      ellen doch relativ still. Eine Ursache
                                                                                      könnte darin liegen, dass wir uns
                                                                                      höchst unklar darüber sind, wie
                                                                                      eine angemessene sozialstaatliche
                                                                                      Politik in den nächsten Jahrzehn-
                                                                                      ten jenseits von Hartz 4 und des
                                                                                      alten sozialdemokratischen Wohl-
                                                                                      fahrtsstaatsmodells beschaffen sein
                                                                                      könnte. Wir sind vielleicht noch
       schaft solche Krisen gefördert wer-     durch Intellektuelle unterschiedli-    gar nicht so weit. Uns fehlen ver-
       den. Das ist allerdings keine neue      cher Herkunft geführt – sei es aka-    tretbare, gut begründbare Antwor-
       Einsicht, das kennen wir seit 1929.     demischer, feuilletonistischer oder    ten – etwa ein Modell, das nicht in
       Aber wir können nicht gleichzeitig      journalistischer Herkunft, aber        die Abgründe von Hartz 4 führt,
       mit dem Marx’schen Reflex reagie-       auch kirchlicher oder gewerk-          aber gleichzeitig die Tücken der
       ren, indem wir nun ein nicht-           schaftlicher. Was uns sicherlich       alten sozialstaatlichen Regulierung
       marktwirtschaftliches Modell dage-      fehlt, sind einige überdimensional     vermeidet.
       gen halten.                             wahrnehmbare Intellektuelle wie
                                               Habermas. Diese Fähigkeiten müs-           ? Habermas gilt in der Republik
          ?  Ende vergangenen Jahres hat       sen einem gegeben sein, sie lassen     als der Intellektuelle, obwohl oder
       die Schriftstellerin Thea Dorn im       sich nicht herbeizaubern.              weil man ihn in keiner Talkrunde
       »Spiegel« unter dem Titel »Deutsch-                                            trifft. Er wirkt gelegentlich fast un-
       land, keine Denker« eine Diskussi-         ? Da hilft vermutlich auch kein     sichtbar, weil er sich Anfragen der
       on darüber losgetreten, warum es        gezieltes Medientraining …?            Medien entzieht, aber trotzdem
       kaum noch öffentliche Intellektu-                                              sein Agendasetting beherrscht. Ist
       elle wie Habermas gibt, wo wir sie         Honneth: Das sowieso nicht. Ha-     das seine persönliche Eigenart,
       doch jetzt nötiger denn je brau-        bermas hat beispielsweise eine ge-     oder ist dieser Rückzug aus der Be-
       chen. Ansehen in der internationa-      wisse formative Kraft in der Be-       triebsamkeit eine notwendige Vor-
       len akademischen Fachwelt genie-        griffsgebung, das macht ihn            aussetzung, um zeitdiagnostische

       Forschung Frankfurt 2/2009                                                                                                             73

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"Forever Young" - Die Kritische Theorie
Perspektiven

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                                                                                                                basiert zunächst sicherlich auf
                                                                                                                seiner Gabe, intensiv zuhören zu
                                                                                                                können, stützt sich dann aber im
                                                                                                                Kern auf die Beurteilung der
                                                                                                                schriftlichen Zeugnisse. Er miss-
                                                                                                                traut den Redetalenten der Leute.
                                                                                                                Ich denke, er ist stets der Überzeu-
                                                                                                                gung, dass derjenige, der einen
                                                                                                                Gedanken brillant rhetorisch um-
                                                                                                                schreiben kann, erst dann quali-
                                                                                                                fiziert ist, wenn er ihn auch gut zu
                                                                                                                Papier bekommt – nur dann besitzt
                                                                                                                er die Befähigung zum anständigen
                                                                                                                Philosophieren. Habermas hat in
                                                                                                                dieser Hinsicht ein sehr sicheres
                                                                                                                Urteil. Er hatte in seiner aktiven
                                                                                                                Zeit als Hochschullehrer eine gute
                                  Analysen in die Öffentlichkeit ein-    wir – und Habermas noch ver-           Art, die jungen Wissenschaftler
                                  bringen zu können?                     mehrt – täglich bekommen.              ohne allzu starken Druck jeweils
                                                                                                                an ihre eigentlichen Vorhaben und
                                     Honneth: Der Rückzug ist sicher-       ? Sie sind einer, der über Jahr-    Projekte zu erinnern, sie zu ermu-
                                  lich eine nicht immer, aber bei ein-   zehnte eng mit Habermas zusam-         tigen und sie nicht durch den eige-
                                  zelnen – so auch bei Habermas –        mengearbeitet hat, Sie waren sein      nen Status zu erdrücken.
                                  notwendige Voraussetzung. Ich          Assistent und haben später seine
                                  glaube, dass die alte Formel von       Professur für Sozialphilosophie an        ? So verwundert es auch nicht,
                                  Helmut Schelsky, dem großen So-        der Goethe-Universität übernom-        dass Habermas an seinem 80. Ge-
                                  ziologen, weiterhin stimmt, dass       men. Wie haben Sie Habermas als        burtstag den Diskurs mit jungen
                                  der Gelehrte und auch der Intel-       akademischen Lehrer erlebt? Wie        Wissenschaftlern sucht. Wie wird
                                  lektuelle des Hin und Her zwischen     hat er akademische Talente ent-        das aussehen?
                                  öffentlicher Präsenz und einsamer      deckt und gefördert?
                                  Forschung bedarf, und dass ohne                                                  Honneth: Das wird eine rein in-
                                  die einsame Forschung am eigenen          Honneth: Im direkten Sinn war       terne Veranstaltung des Instituts
                                  Schreibtisch nicht die Substanz er-    Habermas nie mein Lehrer, was          für Philosophie sein, auf der vier
                                  arbeitet werden kann, aus der her-     vielleicht von Vorteil war. Er holte   junge Studierende, zumeist Dokto-
                                  aus er dann in der öffentlichen        mich nach meiner Promotion an          randen, auftreten, um Habermas
                                  Stellungnahme schöpft.                 der Freien Universität als seinen      mit ihren neugierigen Fragen an
                                                                         Assistenten nach Frankfurt, als er     sein theoretisches Werk zu kon-
                                     ? In dieser Hinsicht ist Haber-     1983 seine neue Professur an der       frontieren – ich denke, die beste
                                  mas ein Meister: Er lehnt jedes In-    Goethe-Universität startete. Wir       Art, um uns die Lebendigkeit und
                                  terview zu seinem 80. Geburtstag       haben viele Seminare zusammen          das Fortwirken seines Denkens vor
                                  freundlich, aber kategorisch ab, das   veranstaltet, viele Arbeiten ge-       Augen zu führen.
                                  haben auch wir leidvoll erfahren.      meinsam betreut – und er war ein
                                  In Ermangelung direkter Gesprächs-     ausgezeichneter Hochschullehrer.          ? Das Adornitentum – die
                                  möglichkeiten nähern wir uns sei-      Ihn zeichnet ein sehr sicherer Ins-    Schülerschaft, die sich mimetisch
                                  ner Person über Dritte. Hat Haber-     tinkt für Begabung und Befähi-         an den großen Autor anschmiegt
                                  mas vielleicht auch eine gewisse
                                  Scheu, Menschen unmittelbar zu
                                  begegnen, ist er durch seine vielen
                                  Auszeichnungen »elitär entrückt«?

                                      Honneth: Ich glaube, man muss
                                  gar nicht ins Psychologische gehen.
                                  Es ist die ganz natürliche Reakti-
                                  onsweise einer Person, die sich
                                  zunehmend öffentlichen Begehr-
                                  lichkeiten ausgesetzt sieht und
                                  eigentlich nur die Schutzmauer
                                  aufrechterhalten möchte, hinter
                                  der die produktive Arbeit möglich
                                  ist. Und mit zunehmendem Alter
                                  müssen die Mittel der Ablehnung
                                  vermutlich immer rabiater werden,
                                  wenn ich allein schon an die Viel-
                                  zahl von Einladungen denke, die

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"Forever Young" - Die Kritische Theorie
Perspektiven

       und versucht, seinen Sprachstil zu      stellen neu besetzt werden kön-         Jahre gut alimentiert. Geld schafft
       imitieren – ist legendär. Habermas’     nen?                                    Begehrlichkeiten, schon werden
       »Nachkommen« scheinen ähnliche                                                  die Begünstigten die »Neureichen
       Ambitionen nicht zu hegen. Sie             Honneth: Erstmal muss man sich       ihrer Zunft« genannt. Doch braucht
       sind eher hervorragende Überset-        klarmachen, das Ganze bewegt            es eigentlich so viel Geld, um in
       zer seines Werkes, die seine Thesen     sich allein in Frankfurt. Sicherlich    den Geisteswissenschaften exzel-
       fortentwickeln und einer breiteren      hatte Habermas in späteren Jahren       lent forschen zu können, oder fehlt
       Öffentlichkeit verständlich ma-         eine gewisse intellektuelle Macht       den exzellenten Wissenschaftlern
       chen. Woran liegt das? Brilliert Ha-    in der Stadt Frankfurt. Ich bin aber    nicht eine ganz andere Ressour-
       bermas mehr mit seinen innovati-        davon überzeugt, dass er in der ge-     ce – nämlich Zeit?
       ven Theorien als durch seinen           samten hochschulpolitischen Land-
       Sprachduktus, auch wenn er Be-          schaft relativ machtlos dastand,           Honneth: Die klare Antwort auf
       griffe der öffentlichen Diskussion      weil er sich nie wirklich eingelas-     die erste Frage ist: nein; und auf
       wie »herrschaftsfreie Kommunika-        sen hatte auf das Professionsge-        die zweite: ja. Innerhalb der Geis-
       tion«, »zwangloser Zwang des bes-       schäft und gewisse Netzwerke. So        teswissenschaften sind solche Ex-
       seren Arguments« und »neue Un-          war er beispielsweise Anfang der        zellenzcluster oder ähnliche För-
       übersichtlichkeit« geprägt hat?         1990er Jahre, direkt nach der Ver-      dereinrichtungen überfinanziert.
                                               einigung, quasi ohne Einfluss, als
           Honneth: Habermas war im Um-        es um die Besetzung der Professu-
       feld des Instituts für Sozialfor-       ren in den neuen Bundesländern
       schung, zu dem er Mitte der             ging; er hat auch nie Versuche un-
       1950er Jahre stieß, eine absolute       ternommen, in diesem Sinn tätig
       Sonderfigur. Er hatte eine andere       zu werden. Andererseits war Ha-
       philosophische Vorbildung genos-        bermas sicher schulbildend und
       sen, eine andere soziologische Ori-     hat Wissenschaftler hervorge-
       entierung und ist deswegen nie der      bracht, die ihrerseits zu intellektu-
       Gefahr erlegen, zum Adorniten zu        eller wie hochschulpolitischer
       werden. Er hat sich seinen eigenen      Macht gekommen sind – wie im
       theoretischen Stil und seine eigene     neuen Exzellenzcluster.
       Begrifflichkeit in Auseinanderset-
       zung mit der Überfigur Adorno er-           ? Geistes- und Sozialwissen-
       arbeitet. Das hat ihm eine gewisse      schaftler fühlten sich über lange
       Freiheit gegeben, jenseits des Dog-     Jahrzehnte in Deutschland eher
       matismus und der reinen Nachbe-         stiefmütterlich behandelt, wenn es
       terei. Dadurch hat Habermas             um die großen Fördertöpfe ging.
       wahrscheinlich auch die Fähigkeit       Drittmittel einzuwerben war
       entwickelt, seinen eigenen Lehrstil     schwierig, galt aber auch nicht un-
       und sein eigenes Kommunikati-           bedingt als vordringliche Aufgabe.      Sie schaffen eher Verteilungspro-
       onsverhalten zu entwickeln. Er hat      Was hat sich geändert – die Förder-     bleme und administrative Überbe-
       eine unglaubliche Aversion gegen        politik, der Druck auf die Wissen-      schäftigung als wirklich automa-
       jedes Sektenwesen in der philoso-       schaftler oder auch das Selbstver-      tisch gute Forschungsbedingungen.
       phischen Landschaft. Was nicht          ständnis der Forscher?                  Gute Forschung wird allein am ei-
       heißt, dass er nicht Interesse daran                                            genen Schreibtisch betrieben; das
       hat, seine eigene Überzeugung und          Honneth: Da hat sich gar nichts      einzige, was Geisteswissenschaftler
       Lehre fortgesetzt zu sehen. Wenn        geändert. Schauen Sie sich nur die      dazu brauchen, ist Zeit. Habermas
       er den Eindruck hat, jemand imi-        Zahlen der Deutschen Forschungs-        hat das immer auf seine Weise ge-
       tiert bloß, was er gesagt hat, dann     gemeinschaft an, so ist das Verhält-    löst: Er lebte in Starnberg, er ver-
       ist er enttäuscht und kann diejeni-     nis der Wissenskulturen unterein-       schwand freitags morgens und
       ge Person auch fallen lassen.           ander so deprimierend wie vor 20,       kam dienstags zurück – vier Tage
                                               30 Jahren. Zum Beispiel das Em-         Ruhe zum Schreiben! Darüber hin-
          ? In einem Interview mit dem         my-Noether-Programm, ein wich-          aus nahm er während des Semes-
       Journalisten Michael Funken ha-         tiges Programm zur Förderung von        ters auch kaum Einladungen für
       ben Sie gesagt: »Habermas hatte in      jungen Wissenschaftlerinnen: Nur        Konferenzen und Vorträge an.
       der deutschen Philosophie-Land-         5 Prozent der Mittel gehen an           Heute erleben wir eine Kultur der
       schaft eher einen schwierigen           Geisteswissenschaftlerinnen. Über       Beschleunigung und Vervielfälti-
       Ort ... hochschulpolitisch laufen die   diese Situation kann auch das geis-     gung von Konferenzen.
       Vernetzungen und Seilschaften           teswissenschaftliche Exzellenzclus-
       ganz anders.« Hat sich das Blatt ge-    ter hier in Frankfurt nicht hinweg-        ? Mit den neuen Cluster-Ein-
       wendet, wo nun die Wissenschaft-        täuschen.                               richtungen, aber auch in den Insti-
       ler aus Habermas’ Leibnizpreis-                                                 tutes for Advanced Studies, zu
       Programm wie Klaus Günther und             ? Das geisteswissenschaftliche       denen auch das Forum Humanwis-
       Rainer Forst im neuen Cluster das       Cluster »Herausbildung normativer       senschaften in Bad Homburg zählt,
       Sagen haben und innerhalb des           Ordnungen«, zu dessen Wissen-           in dessen wissenschaftlichem Beirat
       Clusters bereits neun Professuren       schaftlerkreis Sie auch gehören, ist    Sie mitwirken, sollen freie Denk-
       und fast hundert Wissenschaftler-       mit 27 Millionen Euro über fünf         räume für die klügsten Köpfe ent-

       Forschung Frankfurt 2/2009                                                                                                            75

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"Forever Young" - Die Kritische Theorie
Wissenschaftsgeschichte

                                                                                                                  der Deutschen Bahn und der keine
                                                                                                                  Verspätungen duldet, keine wag-
                                                                                                                  halsigen und nur probeweise ver-
                                                                                                                  tretenen Thesen und schon gar
                                                                                                                  keine offenen Fragen.« Deckt sich
                                                                                                                  das mit Ihren Beobachtungen?

                                                                                                                     Honneth: Vollständig. Die Modu-
                                                                                                                  larisierung hat bei uns – ich rede
                                                                                                                  jetzt nur von unserem Institut für
                                                                                                                  Philosophie, aber sicherlich gilt das
                                                                                                                  auch für andere Institute der Uni-
                                                                                                                  versität – den Vorteil gehabt, dass
                                                                                                                  wir gezwungen waren, stärker dar-
                                                                                                                  über nachzudenken, wie wir ein
                                                                                                                  künftiges Studium strukturieren
                                                                                                                  wollen. Doch die Effekte sind eine
                                                                                                                  vollständige Bürokratisierung der
                                                                                                                  Lehrveranstaltungen: Der Zwang
                                                                                                                  zur Durchorganisation des Studi-
                                  stehen. Wie betrachten Sie diese        auf einem Kongress, auf einer Ta-       ums erlaubt es den Studierenden
                                  Entwicklung? Teilen Sie die Be-         gung verbringen – auch im Aus-          nicht mehr, sich Freiräume zu
                                  fürchtung von Kritikern, dass sich      land; und Unvorsichtige tun dies        schaffen, in denen sie produktiv
                                  zwei Welten entwickeln: hier die        auch. Dies droht die eigentliche,       ihren Ideen und eigenen Fantasien
                                  exklusiven Zirkel in den Exzellenz-     nämlich die einsame Arbeit ohne         freien Lauf lassen und ihrer intel-
                                  einrichtungen, dort der normale         Kommunikationsdruck am                  lektuellen Neugier nachgehen kön-
                                  Uni-Betrieb in den Instituten mit       Schreibtisch zu ersticken. Mit Ihrer    nen. Ich sehe tatsächlich, wie ein
                                  seinen lästigen Lehrverpflichtun-       zweiten Frage sprechen Sie an, ob       neuer Studierendentypus heran-
                                  gen?                                    diese Förderinstrumente die             wächst, der damit beschäftigt ist,
                                                                          Humboldt’sche Universitätsidee der      zunächst mal zu kalkulieren, wie
                                      Honneth: Institutes for Advanced    Einheit von Forschung und Lehre         die entsprechende Punktzahl zu
                                  Studies, Exzellenzcluster, Sonder-      unterhöhlen. Dieses Problem sehe        erreichen ist, und der dann schau-
                                  forschungsbereiche oder Graduier-       ich zunehmend: Durch eine fort-         en muss, wie alles miteinander ko-
                                  ten-Kollegs – all das, was zur          schreitende Spaltung zwischen           ordiniert werden kann und durch
                                  Strukturierung, zur Revitalisierung     Lehre und Forschung könnten wir         die verschiedenen Seminare
                                  der deutschen Universität beitra-       einen Professorentyp bekommen,          durchhechelt.
                                  gen soll, bringt auch Gefahren mit      der sich eigentlich der exzellenten
                                  sich. Es gibt ein Überangebot an        Forschung widmen sollte, obwohl            ? Hans Ulrich Gumbrecht,
                                  Tagungen und Veranstaltungen,           er faktisch mehr auf Konferenzen        Stanford-Professor und Literatur-
                                  die von diesen Institutionen zur        in Erscheinung treten muss; und         wissenschaftler, bekannt für seine
                                  Rechtfertigung ihrer Arbeit initiiert   andererseits den Hochschuldozen-        provokanten Statements, langwei-
                                  werden müssen. Inzwischen könn-         tentyp, der nur für die Lehre abge-     len geisteswissenschaftliche Kollo-
                                  te jeder von uns jedes Wochenen-        stellt wird. Das finde ich fatal, das   quien, die nicht mal starke Thesen
                                  de bei einer anderen Institution        bedeutet für die Studierenden, dass     hervorbringen, er meint: »Das liegt
                                                                          sie an der Forschung selber nicht       wohl auch an einem Zwang, alles
                                                                          mehr teilhaben können, weil diese       relativieren zu wollen.« Was hal-
                                                                          abgehoben in Sondereinrichtungen        ten Sie von dieser Bemerkung?
                                                                          stattfindet, zu denen sie gar keinen
                                                                          Zugang mehr haben.                         Honneth: Gumbrecht sagt viel,
                                                                                                                  wenn der Tag lang ist. Ich glaube,
                                                                             ? Gehetzt von Evaluation, An-        die Kraft zum produktiven und
                                                                          tragsstellung und Punktevergabe         neuartigen Denken hat nicht nach-
                                                                          scheinen Neugier und der Wille          gelassen. Natürlich ist durch die
                                                                          zum Wissen immer weniger Raum           Internationalisierung der Wissen-
                                                                          zu haben – das trifft Wissenschaft-     schaften die Notwendigkeit ent-
                                                                          ler ebenso wie Studierende, wie es      standen, die eigenen Thesen an
                                                                          der Göttinger Germanist und Leib-       dem zu messen, was gleichzeitig in
                                                                          niz-Preisträger Heinrich Detering       den USA, in England oder in
                                                                          in der leider »ungehaltenen« Pas-       Frankreich präsent ist. Das ist eine
                                                                          sage seiner Dankrede im März            Folge der kulturellen wissenschaft-
                                                                          pointiert artikuliert hat: »… und       lichen Globalisierung.
                                                                          ich verbringe nun im Alltag viel
                                                                          Zeit damit … Studierende zu be-            ? Empfinden Sie dies gelegent-
                                                                          treuen, deren Studienplan rabiater      lich als Einengung der eigenen
                                                                          durchgerechnet ist als der Fahrplan     Kreativität?

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"Forever Young" - Die Kritische Theorie
Wissenschaftsgeschichte

          Honneth: Nein, es bleibt genug     Zur Person
       Raum für neuartige Gedanken. Ich
       bin mit meinen beinah 60 Jahren                                     Prof. Dr. Axel Honneth, 59, trat 1996 die Nachfolge von
       noch jung genug, noch immer an-                                     Prof. Dr. Jürgen Habermas am Institut für Philosophie
                                                                           der Goethe-Universität an. Darüber hinaus ist er seit
       nehmen zu können, dass ich auf
                                                                           2001 geschäftsführender Direktor des renommierten
       Neues und Interessantes stoße. Es
                                                                           Instituts für Sozialforschung. Honneth, der zuvor 1992
       passiert mir mindestens einmal im                                   bis 1996 politische Philosophie an der Freien Universi-
       Jahr, dass ich ein wirklich span-                                   tät Berlin lehrte, war in den 1980er Jahren Hochschul-
       nendes Buch aufschlage und mich                                     assistent bei Habermas an der Universität Frankfurt,
       davon richtig mitziehen lasse.                                      wo er sich mit seiner Studie »Kampf um Anerkennung.
                                                                           Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte« habili-
          ? Welche Bücher haben Sie in                                     tierte. Im Anschluss war Honneth, der Philosophie, So-
       der letzten Zeit besonders faszi-                                   ziologie und Germanistik in Bonn, Bochum und Berlin
       niert?                                                              studiert hatte, »Fellow« am Berliner Wissenschaftskol-
                                             leg. Er lehrte und forschte in der Folgezeit in Konstanz, Berlin und an der New
          Honneth: In den letzten Jahren     School for Social Research in New York. Honneth entwickelt in der Tradition der
                                             kritischen Theorie und im Anschluss an Hegel eine Gesellschaftstheorie, die sich
       waren es das Werk des französi-
                                             zugleich als politische Ethik versteht und normative Grundlagen einer Gesellschafts-
       schen Soziologen Luc Boltanski        kritik zu gewinnen sucht. In einer Theorie der »Anerkennung« werden soziale Kon-
       »Der neue Geist des Kapitalismus«     flikte als Kämpfe um Anerkennung interpretiert, die auf der Basis von gesellschaft-
       und das Buch von Michael Toma-        lich verankerten Anerkennungsprinzipien, auf denen zugleich persönliche
       sello »Die kulturelle Entwicklung     Identitätsbildung und Selbstverwirklichung beruhen, ausgetragen werden. Während
       des menschlichen Denkens«. To-        sich Habermas stark auf die angelsächsische, analytische Philosophie der Sprache
       masello, der Direktor des Max-        und Ethik konzentriert, greift Honneth auch sozialphilosophische Themen auf, die
       Planck-Instituts für Evolutionäre     in den Grenzbereichen der Psychoanalyse und der Entwicklungspsychologie ange-
       Anthropologie in Leipzig, knüpft      siedelt sind. Auch setzt Honneth, anders als Habermas, zusätzliche Akzente in der
       wieder an die philosophische An-      Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Philosophie und Sozio-
       thropologie an, das fand ich hoch-    logie, unter anderem promovierte er über »Foucault und die Kritische Theorie«. Seit
                                             seinem 16. Lebensjahr beschäftigt sich Honneth übrigens mit Bob Dylan, 2006 ver-
       spannend. Solche wirklich produk-
                                             anstaltete er gemeinsam mit Dr. Peter Kemper (Hessischer Rundfunk) und dem
       tiven provokativen neuartigen         Freiburger Musikwissenschaftler Dr. Richard Klein ein Symposion zum Subversiven
       Sichtweisen sind für mich immer       im Werk von Bob Dylan, der die herkömmliche Unterscheidung von autonomer
       wieder stimulierende Neuentde-        Kunst und Popkultur unterwanderte.
       ckungen.                          ◆

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