Epidemiologisches Bulletin 12 2021 - RKI
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AKTUELLE DATEN UND INFORMATIONEN ZU INFEKTIONSKRANKHEITEN UND PUBLIC HEALTH 12 Epidemiologisches 2021 Bulletin 25. März 2021 COVID-19-Ausbruch im LK Tirschenreuth | STIKO: 3. Aktualisierung der COVID-19- Impfempfehlung
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 2 Inhalt Kontrolle eines COVID-19-Ausbruches im Landkreis Tirschenreuth, März bis Mai 20203 Die vorgestellten Analysen beruhen auf den vom Gesundheitsamt Tirschenreuth an das RKI übermittelten Meldedaten und machen den hohen Stellenwert deutlich, den diese Daten an der Aufklärung von Ausbruchs- geschehen haben. Die Untersuchungen zeigen, dass SARS-CoV-2 ohne effiziente Kontrollmaßnahmen zu großen Ausbrüchen mit hoher Fallsterblichkeit unter Risikogruppen und in Pflege- und Altenheimen führen kann. Kontrollmaßnahmen sind daher unabdingbar und bedürfen eines gut aufgestellten ÖGD, der Koope- rationsbereitschaft der Bevölkerung und eines belastbaren Gesundheitssystems, das Erkrankte versorgen und nosokomiale Ausbrüche verhindern kann. Beschluss der STIKO zur 3. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung13 Die STIKO empfiehlt die Impfung gegen COVID-19. Für die Impfung soll einer der beiden zugelassenen mRNA-Impfstoffe (Comirnaty von BioNTech/Pfizer, COVID-19-Vaccine von Moderna) oder der zugelassene Vektor-basierte Impfstoff (COVID-19 Vaccine AstraZeneca) verwendet werden. Eine begonnene Impfserie muss mit demselben Produkt abgeschlossen werden. Die Impfstoffe werden hinsichtlich des Individualschutzes und der Bekämpfung der Pandemie als gleich geeignet beurteilt. Direkte Vergleichsstudien zwischen den verschie- denen Impfstoffen sind nur sehr begrenzt verfügbar. Die Impfstoffe können in allen Altersgruppen eingesetzt werden, für die sie zugelassen sind. (Dieser Beitrag erschien online vorab am 12. März 2021.) Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten: 11. Woche 2021 26 Impressum Herausgeber Allgemeine Hinweise/Nachdruck Robert Koch-Institut Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung: Nordufer 20, 13353 Berlin www.rki.de/epidbull Telefon 030 18754 – 0 Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise Redaktion die Meinung des Robert Koch-Instituts wider. Dr. med. Jamela Seedat Dr. med. Maren Winkler (Vertretung) Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Telefon: 030 18754 – 23 24 Namensnennung 4.0 International Lizenz. E-Mail: SeedatJ@rki.de Nadja Harendt (Redaktionsassistenz) Telefon: 030 18754 – 24 55 Claudia Paape, Judith Petschelt (Vertretung) ISSN 2569-5266 E-Mail: EpiBull@rki.de Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 3 Kontrolle eines COVID-19-Ausbruches im Landkreis Tirschenreuth, März bis Mai 2020 Einleitung Amt, ISGA) gemeldet und auf nationaler Ebene Die Faktoren, die die Ausbreitung von severe acute übermittelt wurden (SurvNet@rki.de). 4 Am respiratory syndrome coronavirus 2 (SARS-CoV-2) för- 16.8.2020 erfolgte eine aktualisierte Abfrage der dern, sind noch nicht vollständig verstanden. Es ist SurvNet-Daten am Robert Koch-Institut (RKI) für klar, dass längere Aufenthalte in geschlossenen den genannten Zeitraum. Für epidemische Kurven Räumen, größere Menschenmengen und enger wurde entweder das Datum des Auftretens spezifi- Kontakt die Übertragung erleichtern.1 Teilweise scher Symptome oder, wenn keine Information kommt es dabei zu einem Superspreading, d. h. durch zum Symptombeginn vorlag, das Datum der Mel- einzelne Personen oder Events wird eine hohe An- dung verwendet. Bei Fällen, zu denen initial kein zahl von Folgefällen generiert, die deutlich über der Erkrankungsbeginn gemeldet worden war, wurden Basisreproduktionszahl R0 von 2,8 – 3,8 liegt.2 die Unterlagen der Kontaktpersonen-Nachverfol- gung nochmals überprüft und die Meldungen ent- In der Anfangsphase der coronavirus disease 2019- sprechend ergänzt. (COVID-19-)Pandemie kam es zu einer exponentiel- len Ausbreitung in Deutschland, die schnell restrik- Unterschiedliche Verteilungen der Geschlechter tive Maßnahmen wie beispielsweise Kontakt bei den Fällen zwischen dem Landkreis Tirschen- beschränkungen und Ausgangssperren in beson- reuth und dem Rest Deutschlands wurden mit dem ders betroffenen Gebieten nach sich zog. Die Be- Chi-Quadrat-Test analysiert, unterschiedliche Ver- schreibung der Ausbreitung von COVID-19 in teilungen des Alters mit dem Wilcoxon Rank-Sum- dieser Zeit erlaubt Einblicke, wie sich das Virus Test. Ein p-Wert kleiner 0,05 gilt als statistisch sig- ohne diese Kontrollmaßnahmen verbreitet hat und nifikant. wie im Anschluss empfohlene Maßnahmen zur Eindämmung des Ausbruchs beigetragen haben. Erhobene Vorerkrankungen, die mit einem erhöh- ten Risiko schwerer Verläufe einhergehen, wurden Der Landkreis Tirschenreuth mit 72.504 Einwoh- analysiert.2 Dazu zählen Herz-Kreislauf-Erkrankun- nenden liegt im Norden des bayerischen Regie- gen, Diabetes mellitus, Immundefizienz, Krebs- rungsbezirks Oberpfalz an der tschechischen Gren- und Lebererkrankungen sowie chronische Lungen ze und besteht aus insgesamt 26 Gemeinden. An- erkrankungen. Um den Fall-Verstorbenen-Anteil fang März verzeichnete der Landkreis einen der (CFR) zwischen dem Landkreis Tirschenreuth und ersten und größten Ausbrüche von SARS-CoV-2 in dem Rest Deutschlands zu vergleichen, wurde eine Deutschland. Wir untersuchten, welche Faktoren direkte Altersstandardisierung mithilfe von 10-Jahres- bei der Ausbreitung und Kontrolle dieses Aus- Kategorien durchgeführt. bruchs eine Rolle spielten.3 Das Ziel der Analyse ist es, Evidenz für erfolgreiche Kontrollmaßnahmen Wir befragten die ersten 110 Fälle mit Erkrankungs- zu dokumentieren, um auf künftige Ausbrüche datum bis einschließlich 12.3.2020 im Landkreis besser vorbereitet zu sein. Tirschenreuth nach möglichen Expositionen im Zeitraum vom 17.2.2020 bis 8.3.2020 (öffentliche Großereignisse, vorheriger Kontakt zu bekannten Methoden COVID-19-Fällen und unternommene Reisen, ins- Um den Ausbruch zu beschreiben, wurden Daten besondere Skiurlaube in Gebieten mit hohem Risi- von laborbestätigten COVID-19-Fällen verwendet, ko für den Erwerb von COVID-19). Dazu wurden die zwischen dem 10.3.2020 und dem 11.5.2020 auf vorliegende Daten der Infektionsquellensuche des lokaler Ebene (InformationsSystem Gesundheits- Gesundheitsamtes verwendet und komplettiert,
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 4 s owie Betroffene in halbstandardisierten Telefon Mittel. Der Tag mit den meisten gemeldeten Fall- interviews erneut befragt. zahlen nach Glättung wurde als Referenzwert defi- niert (1,0) und für die anderen Tage ein Wert relativ Die effektive 7-Tage-Reproduktionszahl R wurde zu dem Wert des Tages mit den meisten Fallzahlen aus dem jeweiligen Meldedatum eines jeden Falles berechnet. (Beispiel: Tag x hatte mit 40 Fällen die unter Verwendung eines gleitenden 7-Tage-Durch- höchste COVID-19-Fallzahl und wurde deshalb als schnitts berechnet.5 Referenz (1,0) gesetzt. Am Tag danach senkte sich die Fallzahl auf 36. Der Wert relativ zum Tag mit Um die Anzahl der im Zeitraum vom 7.3.2020 den meisten Erkrankungen entspricht 36/40 = 0,9). (erste Laborbestätigung in Tirschenreuth, Ergebnis Mithilfe einer angenommenen mittleren Inkuba lag am 10.3.2020 vor) bis 13.5.2020 durchgeführten tionszeit von 5 Tagen schätzten wir den Infektions- SARS-CoV-2-Tests abzuschätzen, wurden die baye- beginn.2 Maßnahmen in den Alten- und Pflegehei- rische Landesbehörde und örtliche Labore kontak- men werden nach Datum des Inkrafttretens in Ab- tiert und die Daten mit den für Gesamtdeutschland bildung 5 abgebildet. gemeldeten verglichen.6 Zur Eruierung der durchgeführten Maßnahmen Um der Wirksamkeit der eingesetzten Maßnah- dienten persönliche Informationen durch Mitarbei- men im Landkreis Tirschenreuth in den Alten- und tende des Gesundheitsamtes Tirschenreuth, des Pflegeheimen (Einrichtungen nach § 36 Infektions- Landratsamtes, des Katastrophenschutzes und die schutzgesetz [IfSG]) abzuschätzen, haben wir die Dokumentation in Presse und Fachöffentlichkeit. Daten der Bewohnenden und Angestellten mit ge- meldetem Symptombeginn betrachtet. Zum Glät- Statistische Analysen wurden in Stata SE 15.1 durch- ten der Kurven nutzten wir ein gleitendes 3-Tage- geführt. Anzahl COVID-19-Fälle Effektive Reproduktionszahl R 60 20 18 50 Meldedatum 16 Erkrankungsbeginn 7-Tages-R-Wert 14 40 12 30 10 8 20 6 4 10 2 0 0 17.02. 21.02. 25.02. 29.02. 04.03. 08.03. 12.03. 16.03. 20.03. 24.03. 28.03. 01.04. 05.04. 09.04. 13.04. 17.04. 21.04. 25.04. 29.04. 03.05. 07.05. 11.05. Erkrankungsbeginn, ersatzweise Meldedatum (2020) Abb. 1 | Epidemische Kurve der COVID-19-Fälle im Landkreis Tirschenreuth nach Erkrankungsbeginn, ersatzweise Meldedatum (n = 1.120) plus 7-Tage-R-Wert berechnet aus dem Meldedatum, 10.3. – 11.5.2020
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 5 10.3. – 11.5.2020 Landkreis Tirschenreuth Übriges Deutschland Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle 1.120 170.131 Inzidenz pro 100.000 Einwohner 1.500 200 Altersmedian (Interquartilsabstand) 56 (41–76) 50 (32–63) Anteil Frauen an den Fällen 58 % 52 % Todeszahl (Fall-Verstorbenen-Anteil, CFR) 138 (12 %) 8.543 (5 %) Altersstandardisierter CFR 8% 5% Symptomatische Fälle 1.012 (90 %) 134.740 (79 %) Hospitalisierte Fälle 251 (22 %) 26.540 (16 %) Fälle in Einrichtungen gemäß § 36 IfSG* 169 (15 %) 15.489 (9 %) Fälle mit Vorerkrankungen 336 (30 %) 22.805 (13 %) Tab. 1 | Charakteristika der COVID-19-Fälle im Landkreis Tirschenreuth und im restlichen Bundesgebiet sowie prozentuale Anteile von symptomatischen und asymptomatischen Fällen (n = 1.120), 10.3. – 11.5.2020 * Pflegeeinrichtungen, Obdachlosenunterkünfte, Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylsuchenden, sonstige Massenunterkünfte, Justizvollzugsanstalten Ergebnisse Exposition Anzahl (%) Skiurlaub in Italien oder Österreich 12 (13 %) Verlauf der Epidemie im Landkreis Zoigl*-Braustube in Mitterteich 15 (17 %) Tirschenreuth Starkbierfest in Mitterteich 10 (11 %) Bis zum 11.5.2020 waren insgesamt 1.120 bestätigte Kontakt zu bestätigtem Fall 30 (33 %) Ausschließlich andere, weniger häufig 23 (26 %) Fälle gemeldet, 138 davon verstarben. In Abbildung 1 genannte Expositionen ist die Anzahl der übermittelten Fälle über die Zeit Keine Expositionen 15 (17 %) dargestellt. Nach vereinzelten Fällen im Februar kam Tab. 2 | Expositionen der frühen Fälle mit Erkrankungsbeginn es ab dem 8.3.2020 zu einem starken Anstieg, der in bis 12.3.2020 (n = 90) einen ersten Gipfel mit 28 Fällen am 10.3.2020 mün- dete. Ein weiterer starker Anstieg der Fälle ist ab dem 13.3.2020 zu sehen, mit einem Gipfel von 55 Fällen Bundesdurchschnitt im Vergleichszeitraum. Das am 16.3.2020. Insbesondere in der frühen Phase Durchschnittsalter der Verstorbenen betrug 81 Jah- und Hochphase des Ausbruchs ist der Anteil an re (medianes Alter: 82 Jahre, Interquartilsabstand übermittelten symptomatischen Fällen sehr hoch. (IQR): 76 – 88) und war genauso hoch wie im Rest Deutschlands (medianes Alter: 83 Jahre, IQR: Die Kurve fiel ab Ende März kontinuierlich ab. Der 76 – 88, p = 0,43). Von den Todesfällen waren 122 auf dem Meldedatum basierende 7-Tage-R-Wert lag (88 %) Personen 70 Jahre und älter. bis einschließlich 17.3.2020 über 4 und fiel nach dem 4.4.2020 auf Werte unter 1. Ab Ende April kam Es konnten 90 der 110 ersten gemeldeten Personen es nur noch zu vereinzelten Meldungen im Land- mit Erkrankungsbeginn bis einschließlich kreis. Zwischen Beendigung der hier vorgestellten 12.3.2020 zu möglichen Expositionen befragt wer- Studie am 12.5.2020 und der aktualisierten Abfrage den (s. Tab. 2). Insgesamt gaben ca. 40 % der Fälle am 16.8.2020 traten lediglich 22 neue Fälle auf. an, entweder im Skiurlaub in Italien oder Öster- reich, beim Starkbierfest (am 7.3.2020) oder dem In Tabelle 1 sind Charakteristika der gemeldeten Zoigl* in Mitterteich (3.3. – 7.3.2020) gewesen zu Fälle im Landkreis Tirschenreuth und im restlichen Bundesgebiet für den Zeitraum 10.3.– 11.5.2020 zu- sammengefasst. * Zoigl ist eine Brautradition in der nördlichen Ober- pfalz. Es handelt sich um ein untergäriges Bier, das von Privatpersonen nach mittelalterlichem Der CFR lag mit 12 % deutlich über dem Bundes- Braurecht in Kommunbrauhäusern gebraut wird. durchschnitt von 5 %. Auch nach einer Altersstan- Anschließend wird es nach einem festgelegten dardisierung lag der CFR mit 8 % noch über dem Turnus in den jeweiligen Zoiglstuben ausgeschenkt.
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 6 sein. Ein Drittel der Fälle gab einen Kontakt zu ei- Fälle in Mitterteich sichtbar, während im übrigen nem ihnen bekannten Fall an. Gut 10 % dieser Fälle Landkreis die Anzahl der neu Erkrankten hoch hatten zusätzlich zum Kontakt mit einer erkrank- bleibt und erst Anfang April kontinuierlich absinkt. ten Person mindestens eine der drei anderen oben genannten Expositionen. Die übrigen gut 40 % der Beschreibung der Maßnahmen Fälle gaben ausschließlich andere, weniger häufig Nachdem die gemeldeten Fallzahlen Mitte März genannte, oder gar keine Expositionen an. deutlich anstiegen und die Fälle aus der Gemeinde Mitterteich einen überproportional großen Anteil Verteilung der Fälle auf die Gemeinde einnahmen, verhängte das Landesratsamt Tirschen- Mitterteich und den übrigen Landkreis reuth in Abstimmung mit dem Innenministerium Zu Beginn der Epidemie bis einschließlich und dem Gesundheitsministerium Bayerns am 16.3.2020 repräsentierten die Fälle der Gemeinde 18.3.2020 eine komplette Ausgangssperre für das Mitterteich einen überproportionalen Teil der Ge- Stadtgebiet.7 Mitterteich war somit die erste Stadt in samtfallzahl im Landkreis (s. Abb. 2). Obwohl ledig- Deutschland mit einer solchen Maßnahme. Erfah- lich ca. 10 % der Bevölkerung des Landkreises rungen aus Wuhan, China, zeigten einen positiven Tirschenreuth in Mitterteich wohnhaft sind, lag der Effekt des Lockdowns auf die lokalen Infektionszah- tägliche Anteil neuer Fälle aus Mitterteich zwischen len.8 Analog verringerten sich die Infektionszahlen dem 9. – 16.3.2020 jeweils zwischen 20 % und etwa nach Einführen der Ausgangssperre in Mitterteich 50 %. Am 16.3.2020 wurde die insgesamt höchste und nachfolgend auch im restlichen Landkreis. Anzahl von Fällen sowohl in Mitterteich (n = 22) als auch im gesamten Landkreis (n = 55) erreicht. Ab Am 21.3.2020 traten bayernweit per Allgemeinver- dem 17.3.2020 ist ein deutlicher Rückgang neuer fügung vorläufige Ausgangsbeschränkungen an- Anzahl COVID-19-Fälle 60 18.03.2020: 21.03.2020: Ausgangssperre für Ausgangsbeschränkungen für das die Stadt Mitterteich gesamte Bundesland Bayern 50 Landkreis Tirschenreuth (ohne Mitterteich) 12.03.2020: 14-tägige Quarantäne Mitterteich für Reiserückkehrer 40 aus AUT/CHE/ITA 10.03.2020: Verbot von Veran- 30 staltungen über 1.000 Teilnehmer 20 10 0 17.02. 21.02. 25.02. 29.02. 04.03. 08.03. 12.03. 16.03. 20.03. 24.03. 28.03. 01.04. 05.04. 09.04. 13.04. 17.04. 21.04. 25.04. 29.04. 03.05. 07.05. 11.05. Erkrankungsbeginn, ersatzweise Meldedatum (2020) Abb. 2 | SARS-CoV-2-Infektionen in der Gemeinde Mitterteich und dem restlichen Landkreis Tirschenreuth, sowie Maßnahmen zur Pandemieeindämmung nach Datum (n = 1.120) (AUT – Österreich, CHE – Schweiz, ITA – Italien)
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 7 lässlich der Corona-Pandemie in Kraft.9 Physische ontaktpersonen Kategorie 1 (KP1) von bereits bestä- K und soziale Kontakte sollten minimiert, ein Min- tigten Fällen im Landkreis getestet. In dieser ersten destabstand von 1,5 m eingehalten und die eigene Phase zwischen dem 7.3. und dem 25.3.2020 wurden Wohnung nicht ohne triftigen Grund verlassen vom Gesundheitsamt etwas über 500 Testungen werden. Außerdem wurden Gastronomiebetriebe durchgeführt, von denen 79 SARS-CoV-2-positiv wa- jeglicher Art geschlossen. ren. An zwei Tagen (21.3. und 25.3.2020) wurden zwei „Teststraßen“ eingerichtet; in diesem Rahmen Zusätzlich zu den in Abbildung 2 eingezeichneten wurden 331 Personen getestet. Laut Angaben des Ge- Maßnahmen zur Eindämmung des Ausbruchsge- sundheitsamts waren ca. 60 – 70% der getesteten schehens klärten Flugblätter und Lautsprecherwa- Kontaktpersonen in dieser Testphase symptomatisch. gen der Feuerwehr mit entsprechenden Durchsagen am 17.3.2020 in Mitterteich die Bevölkerung über die Aus Kapazitätsgründen und im Einklang mit natio Situation auf. Des Weiteren wurde nach Meldung nalen10 und internationalen11 Empfehlungen wur- der ersten Fälle im Landkreis und in der Gemeinde den ab dem 26.3.2020 nur noch symptomatische Mitterteich mit Maßnahmen zur Testung und Kon- Personen getestet. Innerhalb eines 8- bis 10-tägigen taktpersonen-Nachverfolgung begonnen. Die effek- Zeitraums Ende März/Anfang April nahm die An- tive Durchführung war allerdings limitiert durch zahl der Tests nach vorangegangener intensiver mangelnde personelle und technische Ressourcen Testphase ab, weil nur noch wenig bzw. keine Test des lokalen Gesundheitsamtes, z. B. Software zur ressourcen (Abstrichmaterial, Schutzkleidung) zur entsprechenden Datenerhebung und -auswertung. Verfügung standen (s. Abb. 3). Im weiteren Verlauf konnte dies teilweise durch die Unterstützung anderer Behörden, der Landesstelle Insgesamt wurden im Landkreis Tirschenreuth bis und weiterer Institutionen ausgeglichen werden. zum 13.5.2020 um den Faktor 2,2-mal mehr Testun- gen pro Einwohner durchgeführt als in Gesamt- Teststrategie und durchgeführte Labor deutschland6, jedoch waren fast dreimal so viele testungen im Landkreis Tirschenreuth Tests positiv (s. Tab. 3). Diese Daten beinhalten alle In der Anfangsphase des Ausbruchs wurden gemäß durchgeführten Tests, somit sind auch Mehrfach- den Empfehlungen des Landes Bayern gezielt testungen von Personen miterfasst. Screening von 7 weiteren Screening von 3 Pflegeheimen mit keinen Hotspot‐ oder nur vereinzelten Pflegeheimen vorherigen Fällen März 2020 April 2020 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Screening von 1 Testungen von allen Kontaktpersonen der Testungen nur von Hotspot‐ Kategorie 1 (KP1) symptomatischen Personen Pflegeheim* *von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern durchgeführt Knappheit Testmaterial Abb. 3 | Teststrategien und durchgeführte Screenings des Gesundheitsamtes im Landkreis Tirschenreuth bis zum 27.4.2020
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 8 Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen Heim 1 war vom Ausbruch zuerst betroffen. Der Durch das möglicherweise enge Zusammenleben erste COVID-19-Fall beim Personal dieses Heimes von Menschen stellen Gemeinschaftseinrichtungen wurde am 16.3.2020 getestet und am 19.3.2020 ge- eine Umgebung mit deutlich erhöhtem Übertra- meldet. Aufgrund der milden respiratorischen gungsrisiko von SARS-CoV-2 dar. Zusätzlich haben Symptomatik, die bereits seit dem 8.3.2020 be- die in Alten- und Pflegeheimen lebenden Men- stand (s. Abb. 4), arbeitete die betroffene Person schen durch ein häufig fortgeschrittenes Alter und noch bis zum 16.3.2020 in der Einrichtung. Vier eine hohe Prävalenz von Vorerkrankungen eine er- weitere Mitarbeitende, welche wegen eines Perso- höhte Prädisposition für einen schwereren Verlauf nalnotstandes das Stammpersonal unterstützten, von COVID-19. Im Kreis Tirschenreuth wurden wurden im Verlauf des Ausbruchs in Heim 3 eben- 169 COVID-19-Fälle (15 %) zum Untersuchungs- falls positiv getestet. zeitpunkt in einer Einrichtung gemäß § 36 IfSG (z. B. Pflegeeinrichtungen) untergebracht bzw. be- Maßnahmen in Alten- und Pflegeheimen treut, hier lag die Fallsterblichkeit bei 36 %. Im rest- Ab dem 13.3.2020 wurden Alten- und Pflegeeinrich- lichen Deutschland betrug die Anzahl der Fälle im tungen in Bayern für Besuchende geschlossen. Die selben Zeitraum in Einrichtungen gemäß § 36 IfSG in den Heimen vorrätige, einfache Schutzausrüs- lediglich 9 % (n = 15.489), mit einer Fallsterblich- tung wurde eingesetzt. Mit dem Auftreten von Fäl- keit von 22 %. Nach Informationen des Gesund- len unter Bewohnenden wurden umgehende Iso- heitsamtes stammen alle im Landkreis Tirschen- liermaßnahmen (Einzelzimmer bzw. Kohorteniso- reuth unter § 36 IfSG erfassten Fälle aus Alten- und lierung in Wohnbereichen) eingeleitet. In der Zeit Pflegeheimen, mit Ausnahme von 9 Bewohnenden zwischen dem 25.3.2020 und 2.4.2020 wurde allen (5 %) aus Einrichtungen zur Betreuung von Men- Heimen im Landkreis, zusätzlich zur bereits vor- schen mit Behinderungen. Aus anderen Einrich- handenen Schutzausrüstung, Filtering Face Piece tungen, welche nach § 36 IfSG geführt werden, z. B. (FFP)2-Masken und weitere persönliche Schutz- zur Unterbringung von Asylsuchenden oder Justiz- kleidung zur Verfügung gestellt. Ab dem 2.4.2020 vollzugsanstalten, wurden keine Fälle gemeldet. bis Anfang Mai 2020 wurden gezielt alle Bewoh- nenden sowie das Personal in 14 Alten- und Pflege- Drei Alten- und Pflegeheime (Hotspots) im Land- heimen und einer Einrichtung für Menschen mit kreis Tirschenreuth waren besonders vom Aus- Behinderungen im Landkreis in einem Screening- bruch betroffen (s. Tab. 4). Der Anteil an COVID-19- verfahren auf SARS-CoV-2 getestet, sofern sie nicht Fällen unter Bewohnenden und Mitarbeitenden in in der Vergangenheit bereits an COVID-19 erkrankt den Heimen lag zwischen 26 % (Heim 1) und 46 % waren. Die drei Hotspot-Heime hatten zum Zeit- (Heim 2). In Heim 3 mit einer Erkrankungsrate von punkt des Screenings bereits bestätigte Fälle unter 38 % verstarben knapp ein Viertel der 67 Bewoh- dem Personal sowie den Bewohnenden (s. Tab. 4). nenden an oder mit COVID-19 (n = 16, 24 %). Ins- Durch das Screening wurden weitere Fälle bestätigt. gesamt war im Landkreis Tirschenreuth das Sterbe- risiko für Fälle unter Bewohnenden von Alten- und Symptomatische COVID-19-Fälle im Landkreis Pflegeheimen im Alter ab 70 Jahren im Vergleich Tirschenreuth, die in einer Einrichtung nach § 36 zu nicht in Heimen untergebrachten Fällen dersel- IfSG betreut oder tätig waren, sind in Abbildung 5A ben Altersgruppe zwar leicht erhöht, der Unter- (Erkrankungsbeginn der Fälle) und 5B (geschätztes schied allerdings nicht signifikant (p = 0,08). Infektionsdatum) dargestellt. Bei einer angenom- menen Inkubationszeit von 5 Tagen zeigt sich, dass Bevölkerung Tests (n) Tests/100.000 Tests positiv (n) Tests positiv (%) Positiv/100.000 Tirschenreuth 72.504 6.106 8.422 1.044 17 1.440 Deutschland 83.122.535 3.147.771 3.787 197.101 6 237 Tab. 3 | SARS-CoV-2 PCR-Testungen im Landkreis Tirschenreuth und in Gesamtdeutschland (Datenstand 13.5.2020)
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 9 Anzahl Fälle vor Fälle im Screening Fälle Erkrankungs- Verstorben Fall-Verstorbenen- gesamt Screening (/Tests) gesamt rate Anteil (CFR) Personal 70 22 0 (/9) 22 31 % – – HEIM 1 Bewohnende 70 14 1 (/70) 15 21 % 5 33 % Gesamt 140 36 1 (/79) 37 26 % – – Personal 33 7 3 (/21) 10 30 % – – HEIM 2 Bewohnende 39 10 13 (/28) 23 59 % 7 30 % Gesamt 72 17 16 (/49) 33 46 % – – Personal 69 6 4 (/24) 18* 26 % – – HEIM 3 Bewohnende 67 9 25 (/58) 34 51 % 16 47 % Gesamt 136 15 29 (/82) 52* 38 % – – Tab. 4 | COVID-19-Erkrankungen unter Personal und Bewohnenden von drei Alten- und Pflegeheimen (Hotspots) im Landkreis Tirschenreuth, Datenstand 11.5.2020 * Inklusive 8 Fällen beim Personal, die erst nach dem Screening auftraten. die Schließung der Pflegeheime für Besucher am legt.12 Die Untererfassung der Fälle würde auch den 13.3.2020 einen Anstieg der Fallzahlen nicht verhin- hohen Anteil an symptomatischen (90 %) und teil- dern konnte (s. Abb. 5B). Es trugen jedoch gezielte weise den hohen Anteil an verstorbenen Fällen er- Maßnahmen wie Hygienepläne, Kohortenisolie- klären. Dass trotz des hohen Erkrankungsgipfels rung bei positiven Fällen in der Einrichtung, sowie ein Abnehmen der Fallzahlen gelang, deutet auf die Versorgung mit professioneller Schutzausrüs- effektive eindämmende Maßnahmen hin. tung inklusive FFP2-Masken zu einem Rückgang der Fallzahlen bei. Ein Zusammenspiel von drei Faktoren hat mögli- cherweise zur schnellen Ausbreitung des Krank- heitsgeschehens beigetragen: Reiserückkehrer aus Diskussion Österreich und Italien13, der Zoigl und das Stark- Wir beschreiben hier einen der größten Ausbrüche bierfest. Etwa ein Drittel der früh erfassten Fälle von COVID-19 in Deutschland. Der steile Anstieg gab mindestens eine dieser drei Expositionen an. der Fälle ist nicht mit einem R0 von 2,8 – 3,8, wie es Zu Beginn des Ausbruchs wurden verglichen mit für SARS-CoV-2 beschrieben wurde, zu erklären.2 der Gesamtfallzahl des Landkreises überproportio- Die gemeldeten Fälle stellen daher vermutlich nur nal viele Fälle in Mitterteich registriert. Dies unter- einen Teil des Ausbruchsgeschehens dar. Dass es stützt die These, dass die beiden Biertraditionen deutlich mehr als die dokumentierten Fälle gab, des Ortes als Katalysator des Geschehens dienten. wird mittlerweile durch serologische Studien be- In ca. 40 % der Fälle kamen keine oder nur seltener Anzahl COVID-19-Fälle 4 Bewohnende 3 Personal 2 1 0 17.02. 21.02. 25.02. 29.02. 04.03. 08.03. 12.03. 16.03. 20.03. 24.03. 28.03. 01.04. 05.04. 09.04. 13.04. 17.04. 21.04. 25.04. 29.04. 03.05. 07.05. 11.05. Erkrankungsbeginn, ersatzweise Meldedatum (2020) Abb. 4 | Epidemische Kurve der SARS-CoV-2-Infektionen für Heim 1 im Landkreis Tirschenreuth nach Erkrankungsdatum, ersatzweise Meldedatum (n = 33). Vier Fälle (Mitarbeitende) sind in der Kurve nicht gezeigt, da ihr Wohnsitz außerhalb des Landkreises liegt.
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 10 COVID-19-Infektionen relativ zum Maximalwert 1,0 21.03.2020: Ausgangs- A beschränkungen in ganz Bayern 0,9 Bewohnende 18.03.2020: Ausgangssperre Personal 0,8 in der Stadt Mitterteich 0,7 0,6 13.03.2020: Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 17.02. 19.02. 21.02. 23.02. 25.02. 27.02. 29.02. 02.03. 04.03. 06.03. 08.03. 10.03. 12.03. 14.03. 16.03. 18.03. 20.03. 22.03. 24.03. 26.03. 28.03. 30.03. 01.04. 03.04. 05.04. 07.04. 09.04. 11.04. 13.04. 15.04. 17.04. 19.04. 21.04. 23.04. 25.04. 27.04. 29.04. 01.05. 03.05. 05.05. 07.05. 09.05. 11.05. Erkrankungsbeginn COVID-19-Infektionen relativ zum Maximalwert 21.03.2020: Ausgangs- 1,0 beschränkungen in ganz Bayern 18.03.2020: Ausgangssperre B in der Stadt Mitterteich 0,9 0,8 13.03.2020: Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen Bewohnende 0,7 Personal 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 17.02. 19.02. 21.02. 23.02. 25.02. 27.02. 29.02. 02.03. 04.03. 06.03. 08.03. 10.03. 12.03. 14.03. 16.03. 18.03. 20.03. 22.03. 24.03. 26.03. 28.03. 30.03. 01.04. 03.04. 05.04. 07.04. 09.04. 11.04. 13.04. 15.04. 17.04. 19.04. 21.04. 23.04. 25.04. 27.04. 29.04. 01.05. 03.05. 05.05. 07.05. 09.05. 11.05. Geschätztes Infektionsdatum Abb. 5 | Symptomatische Fälle aus dem Landkreis Tirschenreuth betreut (schwarz) oder tätig (blau) in Einrichtungen nach § 36 IfSG und eingeführte Maßnahmen. 13.3.2020 (Linie): Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen; 18.3.2020 (Linie): Ausgangssperre in Mitterteich; 20.3.2020 (Linie): Ausgangsbeschränkung in Bayern; 25.3.2020 – 2.4.2020 (grauer Bereich): Versorgung Personal Protective Equipment (PPE) und FFP2-Masken von allen Einrichtungen. A: Erkrankungsbeginn B: geschätztes Infektionsdatum
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 11 genannte Expositionen in Frage. Das deutet darauf Landkreis Tirschenreuth schwer von COVID-19 be- hin, dass es zu einer weit verbreiteten Übertragung troffen; in einem Heim betrug die Erkrankungsrate in der Bevölkerung im Landkreis Tirschenreuth ge- unter betreuten Personen sogar 59 %. In diesen kommen ist. Umgebungen mit hoher Übertragungswahrschein- lichkeit und besonders vulnerablen Populationen Der hohe Anteil an positiven SARS-CoV-2-Befun- betrug der berechnete CFR über 36 %. Durch um- den, trotz der überproportional hohen Anzahl an gehende Maßnahmen in Alten- und Pflegeheimen Testungen im Landkreis Tirschenreuth, weist zu- konnte ein Übergreifen der Epidemie auf weitere sätzlich auf ein großes Ausbruchsgeschehen hin. Heime erfolgreich verhindert werden. Zudem lassen die Zahlen vermuten, dass im Land- kreis vorwiegend symptomatische bzw. akut er- krankte Personen getestet wurden, was ebenso Schlussfolgerungen durch die angewendete Teststrategie verdeutlicht Die hier vorgestellten Analysen beruhen größten- wird. Es ist somit wahrscheinlich, dass aufgrund teils auf den vom Gesundheitsamt Tirschenreuth der fehlenden Untersuchungen asymptomatischer an das RKI übermittelten Meldedaten und machen und leicht symptomatischer Personen das gesamte den hohen Stellenwert deutlich, den diese Daten an Ausbruchsgeschehen nur zum Teil erfasst wurde. der Aufklärung von Ausbruchsgeschehen haben. Unsere Untersuchungen zeigen, dass SARS-CoV-2 Neben der Untererfassung von Fällen kann der ohne effiziente Kontrollmaßnahmen zu großen hohe CFR durch die vergleichsweise hohe Anzahl Ausbrüchen mit hoher Fallsterblichkeit unter Risi- an Erkrankungen von Personen im fortgeschritte- kogruppen und in Pflege- und Altenheimen führen nen Alter erklärt werden. Diese Personen litten zu- kann. Kontrollmaßnahmen sind daher unabding- dem häufig an für COVID-19 relevanten Vorerkran- bar und bedürfen eines gut aufgestellten öffent kungen. Beide Parameter erhöhen das Risiko, an lichen Gesundheitsdienstes, der Kooperationsbe- oder mit COVID-19 zu versterben. Diese Faktoren reitschaft der Bevölkerung und eines belastbaren wurden durch Ausbrüche in Alten- und Pflegehei- Gesundheitssystems, das Erkrankte versorgen und men verschärft. Mindestens drei Heime waren im nosokomiale Ausbrüche verhindern kann. Literatur 1 Bundesregierung: Was gegen Aerosole in Innen 4 RKI: Falldefinition zur Übermittlung von Erkran- räumen hilft 2020. https://www.bundesregierung. kungs- oder Todesfällen und Nachweisen der de/breg-de/themen/coronavirus/schutz-vor-aero- Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) (SARS- solen-17978542020 CoV-2) 2020. https://www.rki.de/DE/Content/InfA- 2 RKI: SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krank- Z/N/Neuartiges_Coronavirus/Falldefinition.pdf?__ heit-2019 (COVID-19) 2020. https://www.rki.de/DE/ blob=publicationFile [Stand: 23.12.2020] Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steck- 5 RKI: Erläuterung der Schätzung der zeitlich variie- brief.html#doc13776792bodyText3 renden Reproduktionszahl R 2020. https://www.rki. [Stand: 25.1.2021 ] de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/ 3 Brandl M, Selb R, Seidl-Pillmeier S, et al.: Mass Projekte_RKI/R-Wert-Erlaeuterung.pdf?__blob=pu- gathering events and undetected transmission of blicationFile SARS-CoV-2 in vulnerable populations leading to an outbreak with high case fatality ratio in the district 6 RKI: Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus- of Tirschenreuth, Germany. Epidemiology and Krankheit-2019 (COVID-19) 13.5.2020. https://www. Infection 2020;148:e252. DOI: 10.1017/ rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi- S0950268820002460 [Online vorab am 13.10.2020 rus/Situationsberichte/2020-05-13-de.pdf?__blob=- erschienen.] publicationFile
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 12 e) 7 Landratsamt Tirschenreuth: Vollzug des Infektions- Bayerisches Landesamt für Gesundheit und schutzgesetzes (IfSG). Allgemeinverfügung vom Lebensmittelsicherheit (LGL), Oberschleißheim f ) 18.3.2020. https://www.mitterteich.de/files/mitter- Robert Koch-Institut, Abteilung für Infektions teich/bilder/aktuelles/bekanntmachungen/2020/ epidemiologie – Fachgebiet für respiratorisch allgemeinverfuegung-mitterteich-02-04-20.pdf übertragbare Erkrankungen, Berlin 8 Lau H, Khosrawipour V, Kocbach P, et al.: *Die beiden Verfassenden teilen sich die The positive impact of lockdown in Wuhan on Erstautorenschaft. containing the COVID-19 outbreak in China. Journal of travel medicine 2020;27(3) DOI: 10.1093/ Korrespondenz: brandlm@rki.de jtm/taaa037 [Online vorab am 18.3.2020 erschienen.] 9 Bayerisches Staatsministeriums für Gesundheit Vorgeschlagene Zitierweise und Pflege: Allgemeinverfügung vom 20.3.2020. Brandl M, Selb R, Susanne Seidl-Pillmeier S, https://www.bayern.de/wp-content/upload- Marosevic D, Buchholz U, Rehmet S: Kontrolle eines s/2020/03/20-03-20-ausgangsbeschraenkung-bay- COVID-19-Ausbruches im Landkreis Tirschenreuth, ern-.pdf März bis Mai 2020 10 RKI: COVID-19-Verdacht: Maßnahmen und Epid Bull 2021;12:3 -12 | DOI 10.25646/7883 Testkriterien – Orientierungshilfe für Ärzte (Stand: 12.5.2020) 2020. https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Mass- Interessenkonflikt nahmen_Verdachtsfall_Infografik_Tab.html Die Autorinnen und Autoren geben an, dass kein 11 WHO: Laboratory testing strategy recommenda- Interessenkonflikt besteht. tions for COVID-19 2020. https://apps.who.int/iris/ bitstream/handle/10665/331509/WHO-COVID-19- Publikationshinweis lab_testing-2020.1-eng.pdf Bei diesem Artikel handelt es sich in Teilen um eine 12 FAU Erlangen-Nürnberg: COVID-19-Immunität im Übersetzung eines am 13.10.2020 bei Epidemiology & Landkreis Tirschenreuth 2020. https://www.med. Infection erschienen Artikels, welcher unter folgendem fau.de/2020/08/24/covid-19-immunitaet-im-land- Link abrufbar ist: https://doi.org/10.1017/ kreis-tirschenreuth/ S0950268820002460. Differenzen bei den Fallzahlen 13 Frank C, Lewandowsky M, Saad N, et al.: Der erste sind auf eine Aktualisierung des Datenstandes für Monat mit COVID-19-Fällen im Landkreis Witten- den vorliegenden Artikel zurückzuführen. berg, Sachsen-Anhalt. Epid Bull 2020(20):8-16. DOI: 10.25646/6788 Danksagung Wir möchten uns insbesondere bei den Mitarbei- Autorinnen und Autoren terinnen und Mitarbeitern des Gesundheitsamtes a,b) Michael Brandl* | c) Regina Selb* | d) Susanne Seidl- Tirschenreuth, sowie dem Landratsamt, der Füh- Pillmeier | e) Durdica Marosevic | f ) Udo Buchholz | rungsgruppe Katastrophenschutz Landkreis Tirschen- a) Sybille Rehmet reuth und den angesprochenen Laboren und Kliniken im Landkreis für die ausgezeichnete Z usammenarbeit a) Robert Koch-Institut, Abteilung für Infektions und Unterstützung bedanken. Den Betroffenen im epidemiologie – Postgraduiertenausbildung in Landkreis Tirschenreuth danken wir, dass sie nochmals Angewandter Epidemiologie (PAE), Berlin zur Beantwortung unserer Nachfragen bereit waren, b) European Programme for Intervention Epidemiology ebenso den verschiedenen Personen, die uns in per- Training (EPIET), European Centre for Disease sönlichen Gesprächen wertvolle Informationen und Prevention and Control (ECDC), Stockholm, Hinweise zu unserer Untersuchung gegeben haben. Schweden c) Robert Koch-Institut, Abteilung für Infektionsepide- miologie – Fachgebiet für HIV/AIDS & andere sexuell o. durch Blut übertragbare Infektionen, Berlin d) Gesundheitsamt des Landkreises Tirschenreuth, Tirschenreuth
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 13 Mitteilung der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut Beschluss der STIKO zur 3. Aktualisierung der COVID-19- Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung Aktualisierung vom 12. März 2021 Die STIKO empfiehlt die Impfung gegen COVID-19. ▶▶ Personen im Alter von ≥ 80 Jahren Für die Impfung soll einer der beiden zugelassenen ▶▶ Personal mit besonders hohem Expositions mRNA-Impfstoffe (Comirnaty von BioNTech/Pfizer, risiko in medizinischen Einrichtungen (z. B. in COVID-19-Vaccine von Moderna) oder der zugelas- Notaufnahmen, in der medizinischen Betreu- sene Vektor-basierte Impfstoff (COVID-19 Vaccine ung von COVID-19-PatientInnen) AstraZeneca) verwendet werden. Eine begonnene ▶▶ Personal in medizinischen Einrichtungen mit Impfserie muss mit demselben Produkt abge- engem Kontakt zu vulnerablen Gruppen (z. B. schlossen werden. Die Impfstoffe werden hinsicht- in der Onkologie, der Transplantationsmedizin lich des Individualschutzes und der Bekämpfung oder bei der Behandlung anderer schwer im- der Pandemie nach derzeitigem Wissen als gleich munsupprimierter PatientInnen) geeignet beurteilt. Direkte Vergleichsstudien zwi- ▶▶ Pflegepersonal in der ambulanten und stationä- schen den verschiedenen Impfstoffen sind nur sehr ren Altenpflege begrenzt verfügbar. Die Impfstoffe, die alle keine ▶▶ Andere Tätige in SeniorInnen- und Altenpflege- Lebendimpfstoffe sind, können in allen Alters- und heimen mit Kontakt zu den BewohnerInnen Indikationsgruppen eingesetzt werden, für die sie zugelassen sind. Innerhalb der Stufe 1 sind die ≥ 80-Jährigen und die BewohnerInnen von Altenpflegeheimen beson- Aufgrund begrenzter Impfstoffverfügbarkeit soll ders gefährdet und sollten, trotz schwerer Erreich- die Impfung zunächst nur Personengruppen ange- barkeit, zu Beginn der Impfaktionen prioritär boten werden, die entweder ein besonders hohes geimpft werden. Risiko für schwere oder tödliche Verläufe einer COVID-19-Erkrankung haben oder die beruflich Bei zunehmender, aber weiterhin limitierter Impf- entweder besonders exponiert sind oder engen stoffverfügbarkeit sollen Personengruppen der Kontakt zu vulnerablen Personengruppen haben. 2. Stufe geimpft werden, gefolgt von den Menschen in der jeweils nachfolgenden Stufe. Zu welchem Da in Bezug auf die Höhe des Risikos und die ange- Zeitpunkt von einer Stufe zur nächsten gewechselt strebten Impfziele Unterschiede bestehen, emp- werden kann, soll lokal entschieden werden. Dies fiehlt die STIKO ein stufenweises Vorgehen (Priori- richtet sich nach der Verfügbarkeit der Impfstoffe sierungsempfehlung). In der 1. Stufe sollen folgende und danach, ob allen Impfwilligen der jeweiligen Personengruppen geimpft werden: Priorisierungsstufe die Impfung angeboten wurde. Neue Erkenntnisse zu den Risiken für schwere Er- ▶▶ BewohnerInnen von SeniorInnen- und Alten krankung werden fortlaufend weiter bewertet und pflegeheimen die Risikogruppen ggf. entsprechend angepasst.
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 14 Stufe Personengruppen Diese STIKO-Empfehlung setzt sich aus der allge- 1 ▶▶ Personen im Alter von ≥ 80 Jahren meinen Impfempfehlung und einer Empfehlung ▶▶ BewohnerInnen von SeniorInnen- und Altenpflegeheimen zur Priorisierung zusammen. Es handelt sich wäh- ▶▶ Personal mit besonders hohem Expositionsrisiko in medizinischen Einrichtungen* rend der Pandemie um eine Indikationsimpfemp- ▶▶ Personal in medizinischen Einrichtungen mit engem Kontakt zu vulnerablen Gruppen* fehlung im Rahmen der epidemischen Lage von na- ▶▶ Pflegepersonal in der ambulanten und stationären tionaler Tragweite. Ob es in Zukunft eine Standard Altenpflege ▶▶ Andere Tätige in SeniorInnen- und Altenpflegeheimen mit impfempfehlung oder eine anderslautende Indika- Kontakt zu den BewohnerInnen tionsimpfempfehlung geben wird, kann zum 2 ▶▶ Personen im Alter von ≥ 75 – 79 Jahren ▶▶ Personen mit Down-Syndrom (Trisomie 21) jetzigen Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden. Die ▶▶ Personal mit hohem Expositionsrisiko in medizinischen Priorisierungsempfehlung hat nur solange Gültig- Einrichtungen* ▶▶ Personen mit einer Demenz oder geistigen Behinderung, keit, bis genügend Impfstoff verfügbar ist. Mittel- die in Institutionen wohnen oder betreut werden ▶▶ Tätige in der ambulanten oder stationären Versorgung von fristig ist es das Ziel, allen Menschen einen gleich- Personen mit Demenz oder geistiger Behinderung berechtigten Zugang zu einer Impfung gegen 3 ▶▶ Personen im Alter von ≥ 70 – 74 Jahren COVID-19 anbieten zu können. ▶▶ Personen mit Vorerkrankungen mit hohem Risiko (z. B. Zustand nach Organtransplantation; aktive maligne hämatologische Erkrankungen; fortgeschrittene solide Tumorerkrankungen, die nicht in Remission sind, sowie Für die Impfung gegen COVID-19 sind aktuell in Tumorerkrankungen unter aktueller systemischer Therapie der Europäischen Union (EU) vier Impfstoffe zuge- [ausgenommen ausschließlich antihormonelle Monothera- pie]; interstitielle Lungenerkrankungen, COPD und andere lassen. Es handelt sich dabei um zwei mRNA-Impf- ähnlich schwere Lungenerkrankungen; psychiatrische Erkrankungen [bipolare Störung, Schizophrenie und schwere stoffe (Comirnaty der Firma BioNTech/Pfizer und Depression], Demenz; Diabetes mellitus mit einem HbA1c COVID-19-Vaccine-Moderna der Firma Moderna) ≥ 58 mmol/mol bzw. ≥ 7,5%; Adipositas (BMI > 30kg/m2); chronische Lebererkrankungen inkl. Leberzirrhose; und zwei Vektor-basierte Impfstoffe (COVID-19 chronische Nierenerkrankungen) ▶▶ BewohnerInnen und Tätige in Gemeinschaftsunterkünften Vaccine Astra-Zeneca der Firma AstraZeneca und ▶▶ Enge Kontaktpersonen von Schwangeren COVID-19 Vaccine Janssen von Johnson & Johnson). ▶▶ Enge Kontaktpersonen bzw. Pflegende von Personen mit hohem Risiko Die STIKO berüksichtigt den neu zugelassenen ▶▶ Personal mit moderatem Expositionsrisiko in medizinischen Janssen-Impfstoff, der aktuell nicht in Deutschland Einrichtungen* und in Positionen, die für die Aufrechterhal- tung der Krankenhausinfrastruktur besonders relevant sind verfügbar ist, bisher nicht in ihren Empfehlungen. ▶▶ Teilbereiche des ÖGD Für eine vollständige Impfserie der beiden mRNA- 4 ▶▶ Personen im Alter von ≥ 65 – 69 Jahren ▶▶ Personen mit Vorerkrankungen mit erhöhtem Risiko Impfstoffe und des Vektor-basierten AstraZeneca- (z. B. Diabetes mellitus mit HbA1c < 58 mmol/mol bzw. < 7,5 %; Arrhythmie/Vorhofflimmern, koronare Herzkrank- Impfstoffs sind zwei intramuskulär (i. m.) zu appli- heit, Herzinsuffizienz, arterielle Hypertonie; HIV-Infektion; zierende Impfstoffdosen notwendig. Unter Berück- Krebserkrankungen in behandlungsfreier Remission; Autoimmunerkrankungen, rheumatologische Erkrankungen, sichtigung der Zulassungen empfiehlt die STIKO Asthma bronchiale; chronisch entzündliche Darmerkrankun- für die mRNA-Impfstoffe einen Abstand von 3 gen; zerebrovaskuläre Erkrankungen/Apoplex und andere chronische neurologische Erkrankungen) bis 6 Wochen (Comirnaty) bzw. 4 bis 6 Wochen ▶▶ Enge Kontaktpersonen bzw. Pflegende von Personen mit erhöhtem Risiko (COVID-19-Vaccine-Moderna) zwischen den beiden ▶▶ Personal mit niedrigem Expositionsrisiko in medizinischen Impfstoffdosen und für den Vektor-basierten Impf- Einrichtungen* ▶▶ LehrerInnen stoff (COVID-19 Vaccine AstraZeneca) einen Ab- ▶▶ ErzieherInnen ▶▶ sonstige Personen, bei denen aufgrund ihrer Arbeits- oder stand von 12 Wochen. Sobald weitere Impfstoffe zu- Lebensumstände ein deutlich erhöhtes Risiko einer Infektion gelassen und verfügbar sind oder neue Erkenntnis- mit SARS-CoV-2 besteht se mit Einfluss auf diese Empfehlung bekannt wer- 5 ▶▶ Personen im Alter von ≥ 60 – 64 Jahren ▶▶ Personal in Schlüsselpositionen der Landes- und den, wird die STIKO ihre COVID-19-Impfempfehlung Bundesregierungen ▶▶ Beschäftigte im Einzelhandel aktualisieren und ggf. Indikationsgruppen anpas- ▶▶ Beschäftigte zur Aufrechterhaltung der öffentlichen sen. Die Publikation jeder Aktualisierung erfolgt im Sicherheit mit erhöhtem Expositionsrisiko ▶▶ Berufsgruppen der kritischen Infrastruktur Epidemiologischen Bulletin und wird auf der RKI- 6 ▶▶ Alle übrigen Personen im Alter von < 60 Jahren Webpage bekannt gegeben. Tabelle | Stufenplan und Impfindikationsgruppen zur Priorisierung der COVID-19-Impfung in Deutschland Zur Einteilung des Personals in medizinischen Einrichtun- gen* wird auf die wissenschaftliche Begründung verwiesen (Tabelle 17, Kapitel 10.2.1)
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 15 Hinweise zur praktischen Umsetzung relle Impfung in der Schwangerschaft derzeit ▶▶ Für die Umsetzung der Empfehlung sind die nicht. Eine akzidentelle Impfung in der Schwan- Bundesländer bzw. die von ihnen beauftragten gerschaft ist jedoch keine Indikation für einen Stellen verantwortlich. Schwangerschaftsabbruch. Schwangeren mit ▶▶ Bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19- Vorerkrankungen und einem daraus resultieren- Impfempfehlung der STIKO können nicht alle den hohen Risiko für eine schwere COVID-19- Krankheitsbilder oder Impfindikationen expli- Erkrankung kann in Einzelfällen nach Nut- zit genannt werden. Es obliegt daher den für die zen-Risiko-Abwägung und nach ausführlicher Priorisierung in den Bundesländern Verant- Aufklärung eine Impfung angeboten werden. wortlichen, in Einzelfällen Personen, die nicht Die STIKO hält es für sehr unwahrscheinlich, ausdrücklich im Stufenplan genannt sind, an- dass eine Impfung der Mutter während der Still- gemessen zu priorisieren. Dies betrifft z. B. Per- zeit ein Risiko für den Säugling darstellt. sonen mit seltenen, schweren Vorerkrankun- ▶▶ Zu anderen planbaren Impfungen soll ein Min- gen oder auch schweren Behinderungen, für destabstand von 14 Tagen vor und nach jeder die bisher zwar keine ausreichende wissen- COVID-19-Impfung eingehalten werden (Not- schaftliche Evidenz bzgl. des Verlaufes einer fallimpfungen sind davon ausgenommen). COVID-19-Erkrankung vorliegt, für die aber ein ▶▶ Es besteht keine Notwendigkeit, vor Verabrei- deutlich erhöhtes Risiko angenommen werden chung einer COVID-19-Impfung das Vorliegen muss. Dies trifft auch für Personen zu, die zu einer akuten asymptomatischen oder (uner- einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder kannt) durchgemachten SARS-CoV-2-Infektion nicht mehr gleich wirksam geimpft werden labordiagnostisch auszuschließen. Bei Personen können (z. B. bei unmittelbar bevorstehender mit labordiagnostisch bestätigter SARS-CoV-2- Chemotherapie). Darüber hinaus sind Einzel- Infektion kann es nach Impfung zu vorüberge- fallentscheidungen möglich, wenn berufliche henden verstärkten systemischen Reaktionen Tätigkeiten bzw. Lebensumstände mit einem kommen. Nach den bisher vorliegenden Daten nachvollziehbaren, unvermeidbar sehr hohen gibt es aber keinen Hinweis darauf, dass die Infektionsrisiko einhergehen. Diese Öffnungs- Impfung in diesen Fällen eine relevante Gefähr- klausel darf nicht missbraucht werden, um dung darstellt. ungerechtfertigterweise eine Impfung durch- Aufgrund der Immunität nach durchgemachter zuführen und somit stärker gefährdeten Perso- SARS-CoV-2-Infektion und in Anbetracht des nen die Impfung vorzuenthalten. weiterhin bestehenden Impfstoffmangels sollten ▶▶ Eine COVID-19-Impfung setzt eine sorgfältige immungesunde Personen, die eine SARS-CoV-2- Aufklärung der zu impfenden Person bzw. des Infektion durchgemacht haben, nach Ansicht verantwortlichen Vorsorgebevollmächtigten der STIKO zunächst nicht geimpft werden. Die voraus. Die STIKO verweist hierzu auf Kapitel derzeit verfügbaren klinischen und immunolo- 4.1 der STIKO-Empfehlungen STIKO-Impf gischen Daten belegen eine Schutzwirkung für empfehlungen 2020/2021 (Epid Bull 34/2020). mindestens 6 bis 8 Monate nach überstandener ▶▶ Bei der Impfung sind die Anwendungshinwei- SARS-CoV-2-Infektion. Entsprechend sollte frü- se in den Fachinformationen des jeweiligen hestens 6 Monate nach Genesung bzw. Diagno- Impfstoffs zu beachten. sestellung eine COVID-19-Impfung unter Be- ▶▶ Auch bei sehr alten Menschen oder Menschen rücksichtigung der Priorisierung erwogen wer- mit progredienten Krankheiten, die sich in ei- den. Hierbei reicht eine Impfstoffdosis aus, da nem schlechten Allgemeinzustand befinden, sich dadurch bereits hohe Antikörpertiter erzie- muss die Impffähigkeit gegeben sein. Bei die- len lassen, die durch eine 2. Impfstoffdosis sen Gruppen sollte ärztlich geprüft werden, ob nicht weiter gesteigert werden. Ob und wann ihnen die Impfung empfohlen werden kann. später eine 2. COVID-19-Impfung notwendig ▶▶ Zur Anwendung der COVID-19-Impfstoffe in ist, lässt sich gegenwärtig noch nicht sagen. der Schwangerschaft und Stillzeit liegen aktuell ▶▶ Die Gabe der 2. Impfstoffdosis soll innerhalb des keine Daten vor. Die STIKO empfiehlt die gene- durch die Zulassungsstudien abgedeckten Zeit-
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 16 raumes erfolgen (mRNA-Impfstoffe: Comirnaty vorsichtshalber bei bestimmten Risikoperso- 3 bis 6 Wochen bzw. COVID-19-Vaccine-Moder- nen eingehalten werden, z. B. bei Personen mit na 4 bis 6 Wochen; AstraZeneca-Impfstoff: 4 bis gerinnungshemmender Medikation, schweren 12 Wochen). Für die AstraZeneca Vaccine emp- kardialen oder respiratorischen Grunderkran- fiehlt die STIKO, bis an die obere Grenze dieses kungen oder mit stärkeren oder anaphylakti- Zeitintervalls zu gehen (12 Wochen), da dadurch schen Reaktionen auf andere Impfungen in der die beste Schutzwirkung zu erzielen ist. Sollte Anamnese. Maßgeblich für diese Entscheidun- der empfohlene maximale Abstand zwischen der gen sind die Angaben der Person selbst sowie 1. und 2. Impfstoffdosis überschritten worden die ärztliche Einschätzung des Gesundheitszu- sein, kann die Impfserie dennoch fortgesetzt stands. werden und muss nicht neu begonnen werden. ▶▶ Nach der Zulassung der COVID-19-Impfstoffe Eine begonnene Grundimmunisierung muss sind einzelne schwerwiegende, allergische mit dem gleichen Produkt abgeschlossen wer- U nverträglichkeitsreaktionen aufgetreten. den. Nach der derzeitigen Datenlage ist ein generell ▶▶ Tritt nach Verabreichung der 1. Impfstoffdosis erhöhtes Risiko für schwerwiegende uner- eine labordiagnostisch gesicherte SARS-CoV-2- wünschte Wirkungen für Personen mit vorbe- Infektion auf, sollte nach Ansicht der STIKO kannten allergischen Erkrankungen bei der die Verabreichung der 2. Impfstoffdosis eben- COVID-19-Impfung nicht anzunehmen, sofern falls frühestens 6 Monate nach Genesung bzw. keine Allergie gegen einen Inhaltsstoff der je- Diagnosestellung erwogen werden. weiligen Vakzine (z. B. Polyethylenglykol im ▶▶ Es ist aktuell nicht bekannt, ob man nach Falle der COVID-19 mRNA-Impfstoffe) vorliegt. SARS-CoV-2-Exposition durch eine postexposi- Zur weiteren Information wird auf die „Emp- tionelle Impfung den Verlauf der Infektion fehlung zur Coronaimpfung für Allergikerin- günstig beeinflussen oder die Erkrankung noch nen und Allergiker“ des Paul-Ehrlich-Instituts verhindern kann. (PEI) verwiesen. ▶▶ Die bisher vorliegenden Daten erlauben nicht, ▶▶ Für die Meldungen von über das übliche Maß die Wirksamkeit der mRNA- und Vektor-basier- hinausgehenden Impfreaktionen und -kompli- ten COVID-19-Impfstoffe hinsichtlich einer Ver- kationen soll das etablierte Verfahren verwen- hinderung der Transmission abschließend zu det werden (siehe Kapitel 4.9 „Impfkomplikati- bewerten. Allerdings kann eine Verminderung onen und deren Meldung“ in den STIKO-Impf der Virusausscheidung bei nach Impfung Infi- empfehlungen 2020/2021; Meldeformular des zierten als gesichert angesehen werden. Bis PEI). Regelmäßige Berichte des PEI zur Sicher- zum Vorliegen von Daten zum Schutz der Imp- heit von COVID-19-Impfstoffen sind unter fol- fung vor Transmission müssen deshalb auch gendem Link zu finden: https://www.pei.de/ nach Impfung die allgemein empfohlenen DE/newsroom/dossier/coronavirus/arzneimit- Schutzmaßnahmen weiterhin eingehalten wer- telsicherheit.html den. ▶▶ Die Impfung ist strikt intramuskulär (i. m.) und keinesfalls intradermal, subkutan oder in- travaskulär zu verabreichen. Bei PatientInnen unter Antikoagulation soll die Impfung eben- falls i. m. mit einer sehr feinen Injektionska nüle und einer anschließenden festen Kompri- mierung der Einstichstelle über mindestens 2 Minuten erfolgen. ▶▶ Im Allgemeinen wird eine Nachbeobachtungs- zeit nach der COVID-19-Impfung von mindes- tens 15 Minuten empfohlen. Längere Nachbeob- achtungszeiten von bis zu 30 Minuten sollten
Epidemiologisches Bulletin 12 | 2021 25. März 2021 17 Wissenschaftliche Begründung der STIKO für die Empfehlung zur Impfung gegen COVID-19 1. Hintergrund 2.1 Ergebnisse zur Wirksamkeit der Astra- Die vorliegende 3. Aktualisierung der STIKO-Emp- Zeneca Vaccine aus den Zulassungsstudien fehlung zur COVID-19-Impfung enthält Änderun- Der von der Universität Oxford entwickelte gen zur Empfehlung der AstraZeneca Vaccine hin- COVID-19-Impfstoff basiert auf dem nicht-replizie- sichtlich der Altersgrenze und des Impfintervalls so- renden Adenovirus-Vektor ChAdOx1. Die COVID-19 wie zur COVID-19-Impfung von Personen, die be- Vaccine AstraZeneca ist für die Prävention von reits eine COVID-19-Erkrankung durchgemacht COVID-19 ab 18 Jahren in einem 2-Dosenimpfsche- haben. Für die wissenschaftliche Begründung zu al- ma zugelassen. len anderen Aspekten der Empfehlung, insbesonde- re zur Priorisierung von bevorzugt zu impfenden Bewertungsgrundlage für die Zulassung war die Personengruppen, wird auf die Publikation der zusammengefasste (gepoolte) Interimanalyse von 2. Aktualisierung verwiesen. vier RCTs.1,4 Hierbei handelt es sich um die Studien COV001, COV002, COV003 und COV005, die ab dem 23. April 2020 im Vereinigten Königreich, in 2. Aktualisierung der STIKO Empfehlung Brasilien und Südafrika durchgeführt wurden. zur AstraZeneca Vaccine Hierzu wurden 23.753 ProbandInnen ab einem Al- Die STIKO hatte am 29.01.2021 erstmals ihre Impf ter von 18 Jahren im Verhältnis 1 : 1 dem Impfstoff- empfehlung zur AstraZeneca Vaccine publiziert. bzw. Kontrollarm randomisiert zugeteilt. Die Studi- Aufgrund nicht ausreichender Daten zur Alters- enteilnehmerInnen des Impfstoffarms erhielten gruppe ≥ 65 Jahre wurde die Empfehlung bisher zwei Dosen des AstraZeneca Impfstoffs i. m. In der nur für 18 – 64-Jährige ausgesprochen.1,2 Kürzlich Kontrollgruppe kam entweder ein MenACWY-Impf- wurden neue Daten zur Wirksamkeit in höheren Al- stoff (COV001, COV002) oder Kochsalzlösung tersgruppen publiziert, die eine Neubewertung er- (COV005) oder beides (COV003) zum Einsatz. Zur lauben. Wie von der STIKO angekündigt, wurde die Beurteilung der Wirksamkeit wurden nur die Er- initiale Empfehlung unter Berücksichtigung dieser gebnisse der Studien COV002 und COV003 be- Daten überprüft. Das Vorgehen und die Ergebnisse rücksichtigt. Akzidentiell erhielt ein Teil der Teil- sind im Folgenden dargestellt. nehmerInnen des Impfstoffarms der Studie COV002 bei der ersten Injektion eine verminderte Die Bewertung der Wirksamkeit der AstraZeneca (halbe) Dosis des Impfstoffs. Da der Impfstoff je- Vaccine wurde unter Berücksichtigung des Assess- doch in der Standarddosierung (SD) zugelassen ist, ment Reports zur COVID-19 Vaccine AstraZeneca werden in der aktualisierten Beurteilung der STIKO der European Medicines Agency (EMA),3 einer wei- zur Wirksamkeit des Impfstoffs nur die Ergebnisse teren Publikation der Zulassungsdaten4 sowie ins- nach Anwendung der Standarddosis berücksich- besondere auf der Basis von zwei als Preprint pub- tigt. Weitere Basischarakteristika der Studie sind in lizierten, nicht-randomisierten Studien,5,6 sog. „real Tabelle 1 aufgeführt. life Beobachtungsstudien“, aktualisiert. In die Effektivitätsanalyse mit Datenstand vom Der Bericht der EMA, der am 18. Februar 2021 pu 3 7. Dezember 2020 gingen Ergebnisse von insge- bliziert wurde, enthält Ergebnisse aus der Phase-3- samt 12.196 TeilnehmerInnen ein; n = 6.106 aus der Studie mit einem Datenstand vom 07.12.2020.3 Impfstoff- und n = 6.090 aus der Kontrollgruppe. Bisher waren in der STIKO-Empfehlung nur Ergeb- Die mediane Nachbeobachtungsdauer betrug nisse mit dem Datenstand 05.11.2020 berücksichtigt 78 Tage. worden.1
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