Erinnern als interkulturelles Handeln am Beispiel des Shanghaier Exils - De Gruyter

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                         Interkult. Forum dtsch.-chin. Kommun. 2022; aop

Xin Tong und Fan Zhang*
Erinnern als interkulturelles Handeln am
Beispiel des Shanghaier Exils
Remembrance as Intercultural Act on the
Example of Exile Shanghai
https://doi.org/10.1515/ifdck-2022-0002

Zusammenfassung: Dieser Beitrag rückt den sozial-kommunikativen Prozesscha-
rakter von Erinnern in den Blick und untersucht kommunikative Erinnerungs-
praktiken in der deutschen und chinesischen Gesellschaft. Im Kontext der kul-
turwissenschaftlichen Gedächtnis- und Exilforschung werden die Exil-Diskurse
in Deutschland und China exemplarisch anhand des Beispiels des Erinnerns an
die Zuflucht der Juden in China neu reflektiert, indem eine kulturvergleichende
bzw. komparatistische Perspektive profiliert wird. Dabei soll ein kommunikativer
Erinnerungsprozess bezüglich des Refugiums in der Stadt Shanghai aufgezeigt
werden, der über geografische und kulturelle Grenzen transzendiert und auf
einen profunden deutsch-chinesischen Austausch in multiplen Bereichen hin-
weist. Hierbei wird erkenntlich, dass das Erinnern an das Shanghaier Exil über
den jüdischen Kontext hinausgehend mit weiteren deutschen und chinesischen
kollektiven Erinnerungen korreliert und Dialoge zwischen Ländern sowie Kul-
turen fördert.

Stichwörter: Erinnern, interkulturelles Handeln, Exil Shanghai

Abstract: This paper examines communicative memory practices in German and
Chinese society with focuses on social and communicative rememberance pro-

Article Note: Dieser Beitrag ist im Rahmen vom Kernforschungsprojekt der Philosophie und
Sozialwissenschaften des Bildungsministeriums der Volksrepublik China „Studien über ‚Chinas
Geschichten‘ in der Weltliteratur“ [2020年度教育部哲学社会科学研究重大课题攻关项目
《“中国故事”在世界文学中的征引阐释及启示研究》] (Projektnummer: 20JZD046) entstanden.

*Korrespondenzautorin: Prof. Dr. Fan Zhang, Germanistische Fakultät der Shanghai
­International Studies University, Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies,
 Wenxiang Road 1550, 201620 Shanghai, China. E-Mail: zhfan@aliyun.com
 Xin Tong, Dr., Postdoc, Shanghai Academy of Global Governance & Area Studies,
 Shanghai International Studies University, Wenxiang Road 1550, 201620 Shanghai, China.
 E-Mail: tongxin_flora@163.com

 Open Access. © 2022 Xin Tong und Fan Zhang, publiziert von De Gruyter.               Dieses
Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
2       Xin Tong und Fan Zhang

cesses. It is located in the context of cultural memory studies and exile research.
With the cultural commemoration of Jewish exile in China as an example, the
article reflects on the exile-discourses in Germany and China from a comparative
perspective. It demonstrates that a communicative memory process of the Jewish
exile in Shanghai transcends geographical and cultural borders and points to a
profound German-Chinese exchange in multiple areas. Furthermore, the paper
argues that the remembrance of the exile has gone far beyond the Jewish context,
thereby correlating with other German and Chinese collective memories and
resulting in the promotion of dialogues between countries and cultures.

Keywords: remembrance, intercultural act, exile Shanghai

1 Einleitung
Seit Jahrzehnten erleben wir in Gesellschaft und Wissenschaft ein Zeitalter von
Memory Boom (Huyssen 2003), in dem insbesondere das vergangene 20. Jahr-
hundert vergegenwärtigt wird. Dabei ist kaum eine andere historische Phase des
letzten Jahrhunderts so häufig und immer wieder aufs Neue rekonstruiert worden
wie der Zweite Weltkrieg mit seiner Gewalt- und Fluchtgeschichte. Parallel zum
transnationalen Phänomen der Gedenkkultur hat Erinnern ebenfalls Konjunk-
tur in China. Vor fast neunzig Jahren war Deutschland der Ausgangspunkt und
China das Zufluchtsziel für die vom Faschismus Verfolgten, wobei es sich zumeist
um deutschsprachige Juden handelte. Durch das historische Exil entsteht auf
diese Weise sowohl in der Vergangenheit als auch auf der Gegenwartsebene eine
Verbindung zwischen beiden Ländern. Während sich die bisherige Forschungs-
literatur des Themenbereichs in erster Linie mit der Geschichtsschreibung oder
den literarischen und medialen Aufarbeitungen der Flucht- und Exilgeschichte
auseinandersetzt, wird eine komparatistische Perspektive der deutsch-chinesi-
schen Verbindungen seltener eingenommen. Gerade für die Herausbildung des
kulturellen Gedächtnisses sowie auch für dessen theoretische Reflexion spielen
jedoch die Fragen, wie das Exil in beiden Ländern memoriert wird und wie sich
diese Erinnerung auf deutsch-chinesische Annäherungen auswirkt, eine wesent-
liche Rolle.
     Um die transnationalen Dimensionen des Erinnerns an das Exil stärker in
den Blick zu rücken, sind Aspekte kommunikativer und kultureller Wechselbezie-
hungen und Hybridisierungen in diesem Kontext konstitutiv und mitzudenken.
Hierbei bieten die Ansätze von Hubert Knoblauch, einem deutschen Soziologen,
und Michael Rothberg, einem amerikanischen Literaturwissenschaftler und
Gedächtnisforscher, besondere Impulse für die Diskussion. Mithin geht dieser
                          Erinnern als interkulturelles Handeln      3

Beitrag auf Knoblauchs Kommunikationsbegriff und Rothbergs Gedächtnistheo-
rie ein, wobei der Fokus auf dem Erinnern bzw. auf der Erinnerung interkultureller
Kommunikation liegt. Es wird aufgezeigt, dass Erinnern an sich ein sozial-kom-
munikatives und prozessuales Handeln ist und das Potential der Entgrenzung
birgt. Ferner wird durch einen Rückblick auf die Entwicklung und die Transfor-
mation der deutschen und chinesischen Exil-Diskurse sowie anhand von Beispie-
len der relevanten Erinnerungspraktiken demonstriert, dass das Erinnern an das
Exil in der deutschen und chinesischen Gesellschaft nicht isoliert im jüdischen
Kontext zu betrachten ist und in seinen kommunikativen Praktiken dazu anregt,
multiple Erinnerungen als sich ergänzend zu präsentieren und eine gegenseitige
Befruchtung zwischen Kulturen zu fördern.

2 E
   rinnern als interkulturelles Handeln und
  Multidirectional Memory
Bevor dieser Beitrag, konkretisiert am Fallbeispiel des jüdischen Exils in China,
auf den Untersuchungsgegenstand des Erinnerns in deutsch-chinesischer Kom-
munikation eingeht, sollte zunächst der Begriff Kommunikation im Kontext
der Forschungsgeschichte reflektiert werden. Der Terminus geht etymologisch
auf ein altgriechisches Wort zurück und weist auf zwei Bedeutungsebenen von
„Verständigung“ und „Mitteilung“ hin (Rommerskirchen 2014: 106). Durch den
griechischen Philosophen Platon erhielt der Begriff seine Doppeldeutigkeit –
also die Bezeichnung für „die Gemeinschaftlichkeit der Interessen mehrerer
Menschen“ einerseits und für „die Teilhabe eines Menschen an einer Idee“ ande-
rerseits (Rommerskirchen 2014: 106). Aus der Wortbedeutung und deren Über-
tragung in der Religionsgeschichte1 lässt sich erschließen, dass der Begriff Kom-
munikation grundsätzlich drei Dimensionen umfasst: einen sozialen Aspekt der
Gemeinschaften und kollektiven Handelnden, einen symbolischen der geistigen
sowie spirituellen Verbundenheit und schließlich einen materiellen der Zeichen-,
Medien- oder Gütersysteme, die das (Mit-)Teilen und Übertragen von Ideen sowie
Informationen ermöglichen.2

1 Aus der Wortbedeutung entwickelte sich der lateinische Doppelbegriff communio [die Gemein-
schaft] und communicatio [das Teilen], der zum essenziellen christlichen Grundgedanken wird
(vgl. Rommerskirchen 2014: 107).
2 In der chinesischen Übersetzung ist ebenfalls die Mehrdeutigkeit von Kommunikation zu
bemerken, die je nach Intention des Textes und seiner Interpretation unterschiedlich verwen-
det wird.
4        Xin Tong und Fan Zhang

     Mit der technischen Entwicklung werden die soziale und die materielle
Ebene des Kommunikationsbegriffs in der wissenschaftlichen Diskussion hervor-
gehoben: Der Terminus war seit Ende des 19. Jahrhunderts zunächst fest in der
Soziologie verankert und hat sich schließlich auch in anderen Bereichen wie der
Betriebswirtschaft, der Sprach-, Literatur-, Medien- und Kommunikationswis-
senschaft verbreitet (vgl. Rommerskirchen 2014: 108–109). Mit Blick auf die Erfor-
schung der Kommunikation im deutschsprachigen Raum ist die soziologische
Studie Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit von Hubert Knoblauch
(2017) zu erwähnen, die sich dem Klassiker von Peter L. Berger und Thomas Luck-
mann (2016 [1966]) anschließt. Statt Wissen setzt Knoblauch Kommunikation
an die zentrale Stelle und spricht von einem Communicative Turn in der Gesell-
schaft. Knoblauchs Studie reagiert auf eine veränderte Gegenwartssituation, die
von der zunehmenden sozialen Komplexität und der wechselseitigen Interde-
pendenz geprägt ist: „[…] so hat sich nicht nur die Kommunikation gewandelt;
die Kommunikation hat die Gesellschaft, die Wirklichkeit, die Welt verwandelt.“
(Knoblauch 2017: VI) Demnach lautet seine Grundthese, dass das kommunikative
Handeln den grundlegenden sozialen Prozess bildet, in dem die Gesellschaft und
ihre Wirklichkeit konstruiert werden (Knoblauch 2017: 2).
     Mit seiner Sozialtheorie und der Akzentuierung des kommunikativen Han-
delns in der Gesellschaft plädiert Knoblauch für ein breiteres Verständnis von
Kommunikation3. Aus seinem soziologischen Ansatz sind einige Kenntnisse zur
Kommunikation abzuleiten, wovon die Diskussion zum kulturellen Gedächtnis
profitieren kann. Erstens verabschiedet sich Knoblauchs Beobachtungsstand-
punkt vom konventionellen Sender-Empfänger-Modell und verweist auf die
Unbestimmtheit der Handelnden als Subjekte der Kommunikation. Knoblauch
zufolge kann kommunikative Handlung ebenfalls allein durchgeführt werden,
wie in Form einsamer Reflexion, oder durch nichtmenschliche Subjekte rea-
lisiert werden, etwa durch das Kommunizieren von Menschen mit Tieren wie
Schimpansen und Hunden oder mit künstlicher Intelligenz wie Robotern (vgl.
Knoblauch 2017: 14). Mithin gilt Erinnern – ganz gleich, ob nun allein oder kol-
lektiv – als sozial-kommunikatives Handeln, während Erinnerung als Handlung

3 „Es geht uns um die menschliche Kommunikation, also die Formen des kommunikativen Han-
delns, die sich unter Menschen finden lassen – die aber keineswegs auf Menschen beschränkt
sind. […] Das kommunikative Handeln ist also in eine Relation eingebettet und kann, einmal
vollzogen, auch alleine ausgeführt und in das einsame Handeln, Denken und damit in alle For-
men der Subjektivierung hineinwirken. In seiner Wiederholung kann es zu Strukturen und in sei-
nem Zusammenspiel zu Institutionen gerinnen, material objektiviert zu Gegenständen, Medien
und Techniken sowie konventionalisiert zum sinnhaften Zeichen und damit zum Ausdruck von
Kultur werden.“ (Knoblauch 2017: 14)
                         Erinnern als interkulturelles Handeln      5

sowie Praktik der Kommunikation zu verstehen ist. Beispielsweise können in der
heutigen Erinnerungspraxis museale Besucher bereits mit der virtuellen hologra-
fischen Inszenierung der Zeugenschaft kommunizieren. Dabei werden Zeugnisse
und Antworten von Holocaustüberlebenden digital aufgezeichnet und in 3D-Ho-
logramme transformiert, um „dialog between Holocaust survivors and learners
far into the future“ zu ermöglichen (Körte-Braun 2013). Insofern geht die gegen-
wärtige Erinnerung auf diese Weise kommunikativ, sozial und virtuell über das
übliche Sender-Empfänger-Modell hinaus.
     Neben den Subjekten der Kommunikation deutet der Knoblauch’sche Ansatz
eine konzeptionelle Befreiung aus der Beschränkung auf Sprachen und Zeichen
als weitere traditionelle Form der Kommunikation. Er weitet Letztere auf andere
Ausprägungen aus, wodurch die drei grundlegenden Dimensionen der Kom-
munikation – das Soziale, das Symbolische und das Materielle – auf das Engste
miteinander verwoben sind. Geht es z. B. in einem Geschichtsmuseum um zwi-
schenmenschliche Koordination der Mitarbeiter oder Austauschprogramme mit
anderen Museen als Kommunikation im engeren Sinne, so umfassen die Formen
von Kommunikation, wie Knoblauch gezeigt hat, noch den Ausbau der musealen
Infrastruktur, das Pflegen der Exponate, den Einsatz der technischen Anlagen
oder das Ausführen der Arbeitsroutine. Mit anderen Worten kann festgehalten
werden: Kommunikationsformen beziehen sich nicht nur auf das Sprach- und
Zeichensystem, sondern erstrecken sich durch das soziale Handeln der Menschen
über diverse Schritte und Phasen gesellschaftlicher Aktivitäten.
     Damit kristallisiert der Knoblauch’sche Ansatz ein weiteres Attribut heraus,
nämlich dass Kommunikation stets auf einen prozessualen Vorgang hinweist und
das Potential zur Entgrenzung birgt. Dass kommunikatives Handeln die Grenzen
zwischen Räumen, Zeiten sowie Formen transzendieren und Symbolisches, Öko-
nomisches, Immaterielles sowie Materielles vermischen kann, ist anhand des
erwähnten Beispiels der 3D-Hologramme zu erkennen. Mithilfe der technisierten
Mediatisierungsmöglichkeit werden im Rahmen der Generierung des kollektiven
Gedächtnisses vom Holocaust Verbindungen zwischen (Über-)Lebenden und
Toten, zwischen Faktischem und Virtuellem sowie zwischen der Vergangenheit
und der Zukunft erzeugt. Die Kommunizierbarkeit mit holografischer Inszenie-
rung anhand immer neuerer Medien indiziert zudem einen Gedächtniswandel,
der Erinnerungskulturen nicht auflöst, sondern sie mit anderen Figurationen
und Praktiken sowie letztendlich neuen Konventionen und Strukturen der Gesell-
schaft überlagert (vgl. Knoblauch 1999; Weber 2013).4 Somit rückt Knoblauch den

4 Dabei spricht Knoblauch ebenfalls vom „kommunikativen Gedächtnis“, das als ein im sozial-
kommunikativen Handeln strukturiertes Gedächtnis verstanden wird. Das Erinnern verläuft als
kommunikatives Handeln gesellschaftlich auf „mehr oder weniger festgelegten Bahnen kommu-
6         Xin Tong und Fan Zhang

Prozesscharakter von Erinnern bzw. Erinnerung in den Fokus und bringt seinen
Ansatz mit der erinnerungskulturwissenschaftlichen Diskussion zusammen.
     Ist Erinnern bzw. Erinnerung in Bezug auf Kommunikation dargelegt worden,
so ist an dieser Stelle noch dem Gedächtnisbegriff Michael Rothbergs nachzuge-
hen, der Parallelen zum Knoblauch’schen Ansatz zeigt und Anregungen für das
Erinnern bzw. die Erinnerung in interkultureller Kommunikation liefern kann.
Von den kanonisierten Holocaustdiskursen und gedächtniskulturellen Debatten
ausgehend lehnt Rothberg schließlich sowohl universalistische als auch partiku-
laristische Ansätze ab5. Diese Polarisierung der Diskurse hat nicht nur der promi-
nente Soziologe Zygmunt Bauman als „two ways to belittle, misjudge, or shrug
off the significance of the Holocaust“ kritisiert (Bauman 1991: 1). Auch Rothberg
weist auf die Gefahr beider Positionen hin, da sie den Holocaust durch beliebige
Vergleiche entweder als das exemplarische Verbrechen gegen die Menschlichkeit
oberflächlich universalisieren bzw. banalisieren oder durch die Sakralisierung
des Holocaust eine Hierarchie historischer Ereignisse, Leiden, Opfergruppen und
kollektiver Erinnerungen etablieren können.6
     Mithin schlägt Rothberg in seinen Studien ein heterogeneres Verständnis
vor – und zwar die Spezifika jedes historischen Geschehnisses anzuerkennen und
zugleich die Verknüpfungen zwischen verschiedenen Erinnerungen zu fördern,
ohne sich von geschichtlichen Sachverhalten und Kontexten abzulösen. Er ent-
wirft das Gedächtniskonzept einer Multidirectional Memory7, mit dem die dyna-
mischen und vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen kollektiven Erin-

nikativer Formen“, wobei sich Erinnerung zunehmend aus statischen Institutionen des tradier-
ten Wissens „in die dynamischen Prozesse der Kommunikation“ verlagert (Knoblauch 1999: 735).
Dieser Ansatz unterscheidet sich jedoch von anderen gleichnamigen Begriffen, etwa dem kom-
munikativen Gedächtnis im Sinne von Aleida und Jan Assmann (in Bezug auf Alltagsgedächtnis)
und dem von Harald Welzer, der das Gedächtnis mit der Sozialpsychologie zusammenbringt
(vgl. Assmann 1992, 2008; Welzer 2002).
5 So bestehen in der wissenschaftlichen Diskussion zwei gegensätzliche Positionen: Entweder
geht es um die Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust oder um dessen Universalisierung
bzw. Vergleichbarkeit mit anderen historischen Geschehnissen und Erinnerungen. So wirft
Rothberg z. B. den Ansatz vom amerikanischen Soziologen Jeffrey Alexander vor, der von einer
Universalisierung des Holocaust spricht, unter der der Holocaust als Prüfstein der universellen
moralischen Reife für globale Länder zu verstehen sei (vgl. Alexander 2009; Rothberg 2009b).
6 „The dangers of the uniqueness discourse are that it potentially creates a hierarchy of suffering
(which is morally offensive) and removes that suffering from the field of historical agency (which
is both morally and intellectually suspect).“ (Rothberg 2009a: 9)
7 „Against the framework that understands collective memory as competitive memory – as
a zero-sum struggle over scarce resources – I suggest that we consider memory as multidirec-
tional [Hervorhebung im Original]: as subject to ongoing negotiation, cross-referencing, and
borrowing; as productive and not private. […] This interaction of different historical memories
                           Erinnern als interkulturelles Handeln          7

nerungen beschrieben werden (vgl. Rothberg 2009a, 2009b). Obwohl kulturelle
Reminiszenzen immer an bestimmte ethnische Gruppen und Identitäten gebun-
den sind und oft miteinander konkurrieren können, hebt Rothberg diese Multi-
direktionalität der Erinnerung hervor:

     […] I reject the notion that identities and memories are pure and authentic – that there is
     a „we“ and a „you“ that would definitely differentiate, say, black and Jewish identities and
     black and Jewish relations to the past. […] Our relationship to the past does partially deter-
     mine who we are in the present, but never straightforwardly and directly, […]. […] Memories
     are not owned by groups – nor are groups ‚owned‘ by memories. Rather, the borders of
     memory and identity are jagged; what looks at first like my own property often turns out
     to be a borrowing or adaption from a history that initially might seen foreign or distant.
     (Rothberg 2009a: 4–5)

Hier weist Rothberg ebenfalls auf das Entgrenzungspotential der Erinnerung
hin, die als Kommunikation im Sinne von Knoblauch über zeitliche, räumliche,
symbolische sowie materielle Grenzen hinausgehen und verschiedene Länder,
Ethnizitäten und Kulturen verbinden kann. Indem Rothberg in seinen Studien
kollektive Erinnerungen an den Holocaust und die Kolonialgeschichte zusam-
menbringt, liefert er eine alternative interkulturelle Sichtweise, wie Erinnerung
immer und bereits in Bezug auf andere Geschichten und Historien funktioniert.
     In diesem Zusammenhang lässt sich festhalten, dass die jüdische Exilerin-
nerung in der deutschen und chinesischen Gegenwartsgesellschaft nicht isoliert
oder ausschließlich im jüdischen Kontext betrachtet werden kann. Sie deutet auf
ähnliche Weise weitgehend auf die größeren Konstellationen der Holocausterin-
nerung in Deutschland und der Kriegserinnerung in China hin und korreliert mit
anderweitigen deutschen sowie chinesischen Erinnerungskulturen. Es geht dabei
nicht um den Komparativ, sondern vielmehr um die Fragen, wie diese interagie-
ren und sich ergänzen: „At the same time, people impacted by those histories, […]
make claims on a shared but not necessarily universal moral and political project
[Hervorhebung im Original].“ (Rothberg 2009b: 132) Aus dieser Perspektive ist
es relevant, auf die sozial-kommunikativen Prozesse des kollektiven Erinnerns
an das Exil zurückzukommen und die entstehenden Verflechtungen zu re-his-
torisieren bzw. zu re-kontextualisieren.

illustrates the productive, intercultural dynamic that I call multidirectional memory.“ (Rothberg
2009a: 3)
8       Xin Tong und Fan Zhang

3 H
   istorisierung des Erinnerns an das Shanghaier
  Exil in Deutschland und China
Die internationale Erforschung zum jüdischen Exil geht auf die Exilforschung
in westlichen Ländern seit Mitte der 1960er Jahre zurück (vgl. Krohn 2012).
In Bezug auf den Forschungsstand und die Exil-Diskurse – insbesondere in
Deutschland und China – ist zu beobachten, dass sich die Wechselverhältnisse
der Erinnerungen in beiden Gesellschaften in vielschichtigen Vorgängen ent-
falten (vgl. Tong 2022). In Deutschland ist die Exilforschung einschließlich der
Diskurse zur Zuflucht in China in drei Phasen zu unterteilen: In der ersten Kon-
stituierungsphase von etwa 1965 bis Anfang der 1980er Jahre ging es um „das
Sichern, Sammeln und Sichten des historischen Materials“ und „die ersten Pano-
ramen eines als antifaschistisch definierten Exils“, wobei das Exil zum exem-
plarischen Gegenstand im Rahmen einer Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit
wurde (Hans 2012: 92). In der zweiten Phase ab der zweiten Hälfte der 1970er
Jahre wurde die Grundforschung aufgrund der Institutionalisierung der Society
for Exile Studies 1979 in den USA und für ihre Ableger in Deutschland intensi-
viert (vgl. Hans 2012: 93). Parallel zur öffentlichen Diskussion über Auschwitz
und zur damals erschienenen Fernsehserie Holocaust (1978, NBC) legte die
damalige westliche bzw. deutsche Exilforschung einen stärkeren Akzent auf das
jüdische Leidens- und Opfermotiv als auf den Widerstand (vgl. Hans 2012: 92).
Dabei wurde die Geschichte der jüdischen Zuflucht in China – insbesondere in
der Stadt Shanghai – zunächst systematisch untersucht (vgl. Kranzler 1976). In
der dritten Phase ab den 1990er Jahren fanden die Forschungsthemen über „das
Exil der kleinen Leute, [die] Nachwirkung in den Gastländern [sowie] exotische
Fluchtländer“ (Hans 2012: 93) eine verstärkte Beachtung in der deutschen Exil-
forschung. Seitdem rückt der Gesamtkomplex der Emigration nach Shanghai als
Fluchtgeschichte ungeachtet des Holocaust zunehmend in den Fokus der breite-
ren Öffentlichkeit, indem das Thema nicht zuletzt in Ausstellungen, Filmen und
in der Literatur behandelt wird.
     In den deutschen Exil-Diskursen steht die Reminiszenz an den Zufluchtsort
Shanghai, China mit dem Holocaustgedenken in engster Verbindung, wohin-
gegen andere kollektive Erinnerungen, wie jene an das kriegerische China, noch
kaum eine Rolle spielen. Dies liegt wohl vor allem daran, dass die Forschung
zum Exodus nach Shanghai seit ihrer Etablierung eurozentrisch geprägt ist. So
standen in der Historiografie die Exilanten im Mittelpunkt: Ihre Zeugnisse, die
als Erfahrungsgedächtnis und ergänzende Quellen für die Geschichtsschreibung
(vgl. Assmann 2014 [2006]) fungierten, wurden verstärkt aus einer jüdischen bzw.
europäischen Perspektive erzählt. In der Frühphase der Exil-Diskurse zu diesem
                         Erinnern als interkulturelles Handeln      9

Thema war ein solcher Blickwinkel notwendig, um zunächst historische Sachver-
halte der Flucht, der Vertreibung und der Auswanderung der Juden im Zusam-
menhang mit dem Holocaust herauszuarbeiten und damit die Forschung über das
jüdische Exil in anderen Teilen der Welt – u. a. in China als ‚eine Emigration am
Rande‘ (vgl. Dreifuß 1980) – zu etablieren.
     Trotz einer nicht zu leugnenden Legitimität der europäisierten Perspektive
in der Etablierungsphase der deutschen Exil-Diskurse ist nicht zu übersehen,
dass der Eurozentrismus, der orientalistische Elemente8 aufwies, den Grundton
der späteren Exilforschung gefärbt hat. Dabei werden häufig Stereotypen, Vor-
urteile, Fantasien und Imaginationen über China unterstrichen (vgl. Kranzler
1976; Barzel et al. 1997; Baumbach et al. 2011). Dies kann dazu führen, dass der
Status von der Stadt Shanghai aus westlicher Sicht als „ganz besonders“ (Krebs
2004: 229) hervorgehoben und eine Dichotomie zwischen dem Westen und dem
Orient suggeriert wird. Obwohl viele historiografische Konstruktionen über das
Shanghaier Exil nichtwestliche Akteure in ihrer Analyse weltweiter Verflechtun-
gen berücksichtigen und den Eurozentrismus gerade im Licht der Weltgeschichte
durch die Erweiterung des Blickfeldes zu anderen Teilen der Welt überwinden
wollen, nehmen sie mehr oder weniger eine orientalistische Perspektive ein, die
ambivalent erscheint. Aus europäischer Sicht steht der unfreiwillige Fluchtpunkt
Shanghai zum einen für das Rückständige und Unzivilisierte, wobei die Vorstel-
lungen vom Anderen mit den positiven und modernen Selbstbildern der west-
lichen Gesellschaft und Kultur kontrastieren. Zum anderen ist das Chinabild mit
Abenteuern, Fantasien und Mythen konnotiert, in denen alles Erdenkliche pas-
sieren kann – einschließlich der Fluchtgeschichte der verfolgten europäischen
Juden in eine östliche Fremdwelt.
     Im Kontext des Holocaust und des Exils stehen diese zwei Seiten des orienta-
listischen Blicks auf den Zufluchtsort Shanghai in einer Sowohl-als-auch-Bezie-
hung, in der Realität und Romantisierung, subjektive Erinnerungen und sach-
liche Darstellungen, traumatische Erlebnisse und positive Sinnkonstruktionen
miteinander vermischt sind. Dieser Mythos China ist dadurch charakterisiert,
dass das jüdische Exil im ambivalenten Shanghai – zugleich „Stadt der Sünde“
und „Stadt der Hoffnung“ (Buxbaum 2008: 25) – als beispiellos angesehen wird.
Diese Besonderheit drückte der prominente ehemalige Exilant Michael Blumen-
thal wie folgt aus: „So lebten die jüdischen Flüchtlinge mehrere Jahre isoliert und
zusammengepfercht in einem Ghetto in China, eine höchst eigentümliche und
besondere Abart des Emigrantenschicksals deutscher Juden in anderen Teilen

8 Mit dem Begriff Orientalismus bezeichnet Edward Said in seinem Klassiker Orientalism den
eurozentrischen und westlichen Blick auf die Gesellschaften der arabischen bzw. asiatischen
Welt (vgl. Said 2014 [1978]).
10         Xin Tong und Fan Zhang

der Welt.“ (Blumenthal im Klappentext, Barzel et al. 1997) Die Gegenüberstellung
des besonderen Exodus in die Stadt Shanghai und gewöhnlicher Zufluchtsländer
zeigt, dass sich die dominanten deutschen Exil-Diskurse noch nicht gänzlich von
bestimmten orientalistischen Anschauungen losgelöst haben, denn das Refu-
gium in Shanghai präsentiert ein ambivalentes Bild vom Anderen, das in Kon-
trast zur vertrauten Heimatvorstellung steht. Gleichzeitig bietet es als Spiegelbild
des Eigenen noch eine alternative Sichtweise für das westliche Selbstverständnis,
das wegen des Holocaust als Zivilisationsbruch ebenfalls paradox scheint.
    Im Zusammenhang mit dem Kontrastbild vom partikularen und normalen Exil
entsteht die Kontroverse um die Einzigartigkeit von Geschichte und Erinnerung,
wobei die Fragen aufkommen, ob nicht jeder Zufluchtsort eigene Spezifika auf-
weist und ob die Hervorhebung von Shanghai den Leidensweg der Exilanten in
anderen Orten trivialisieren könnte. Historisch gesehen entstanden auch jüdische
Gemeinschaften in anderen chinesischen Städten wie Tianjin, die damals wie
Shanghai unter europäischer Kolonialherrschaft standen; oder in ­asiatischen
Ländern wie den Philippinen, die ebenfalls unter japanischer Besatzung waren;
oder in weiteren afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern – alle boten
den Verfolgten eine Schutzmöglichkeit. All diese Zufluchtsdestinationen schei-
nen aus europäischer Sicht mehr oder weniger exotisch zu sein und hatten
Gemeinsamkeiten mit Shanghai. Sie wurden jedoch entweder wenig untersucht
(wie andere Zufluchtsorte in China) oder blieben nur ein Randphänomen der Exil-
forschung. Die Forschung über nichtwestliche Zufluchtsorte sollte möglichst von
orientalistischen Vorstellungen befreit werden, um ein breiteres und multiper-
spektivisches Bild der Exilgeschichte zu schaffen.
    Diese Problematik in der deutschen Exilforschung ist bereits erkannt worden,
sodass in den letzten Jahren eine neue Tendenz zu beobachten ist. Diese Berei-
cherung der Perspektiven in den deutschen Exil-Diskursen9 geht mit der Entwick-

9 Neuere Studien der Historiografie untersuchen das Exil aus anderen Sichtweisen, etwa die
Sammelbände Exilforschungen im historischen Prozess (vgl. Krohn/Winckler 2012) und Going
East – Going South: Österreichisches Exil in Asien und Afrika (vgl. Franz/Halbrainer 2014). Sie
thematisieren Exil und Exilforschungsgeschichte weltweit sowie die nichtwestlichen Destinatio-
nen der deutschsprachigen Juden. Der letztere zeichnet insbesondere eine neue Landkarte des
Exils in einer kolonial geprägten Welt und in jungen Nationalstaaten Asiens und Afrikas (vgl.
Franz/Halbrainer 2014). Ferner in der deutschen Exilliteraturforschung ergeben sich vielfältige
Studien, die neue Perspektiven auf das globale literarische Exil und die Exilliteratur zum Shang-
haier Exil eröffnen. Dazu zählen z. B. Aufsätze über Ursula Krechels Roman Shanghai fern von
wo (vgl. Kellner 2014; Meyer 2020) und Sammelbände, die im Rahmen der Walter A. Berendsohn
Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur erschienen sind (vgl. Bischoff/Komfort-Hein 2013;
Bischoff et al. 2014; vgl. Bischoff et al. 2017; vgl. Arnaudova/Bischoff 2020). Dabei wird die jüdi-
sche Exilliteratur im Kontext deutscher Gegenwartsliteratur neu reflektiert.
                          Erinnern als interkulturelles Handeln       11

lung der Exil-Diskurse in China einher10, die hier in drei Phasen zu bilanzieren
sind. Während der 1950er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre wurden der Natio-
nalsozialismus und die Judenverfolgung nur von einzelnen chinesischen Intellek-
tuellen thematisiert, die sich vor allem mit der Geschichte der Juden im antiken
China auseinandersetzten. In der zweiten Phase, die nach dem Ende der 1970er
Jahre bis in die erste Hälfte der 1990er Jahre reichte, konnte die Erforschung auf-
grund der Reform- und Öffnungspolitik legitimiert und etabliert werden. Dabei
wurden die ersten englischsprachigen Publikationen zum jüdischen Exil in der
Stadt Shanghai ins Chinesische übersetzt11. Einzelne historische Archive waren
wieder für chinesische und internationale Forscher zugänglich. Neben der Grün-
dung von Forschungsinstitutionen über jüdische Studien landesweit12 und der
Veröffentlichung der ersten wissenschaftlichen Publikationen chinesischer For-
scher wurden internationale Projekte initiiert. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde
die chinesische Exilforschung intensiviert, wobei regelmäßige Veranstaltungen,
Konferenzen, Ausstellungen und internationale Projekte zur Rolle Chinas als
begehrtes Refugium für Juden veranstaltet und neuere Forschungsergebnisse
veröffentlicht wurden (vgl. Kreissler 2012; Goldstein 2017). Trotz des inländi-
schen Aufschwungs der jüdischen Exilthematik bleibt Shanghai „das eigentliche
Zentrum der jüdischen Studien“ in China (Kreissler 2012: 229). Seit 2007 ist das
neu eröffnete Shanghai Jewish Refugees Museum eine Attraktion, wobei dessen
Besuch laut Kreissler quasi zum „Pflichtprogramm“ (Kreissler 2012: 233) für west-
liche bzw. deutsche Politiker werde.

10 In der chinesischen Exilforschung sind zwei Forschungspfade zu erkennen: zum einen die
geschichtliche und sozialwissenschaftliche Emigrationsforschung der Juden (sowohl im alten
China seit der Song-Dynastie als auch im 20. Jahrhundert) sowie die Studien zum Judentum,
wobei die durch das Naziregime verfolgten Juden im Chinesischen oft als Nanmin (‌难民 Flücht-
linge) statt Liuwang zhe (‌流亡者 Exilanten) bezeichnet werden; zum anderen die Exilforschung
in literatur- und kulturwissenschaftlichen Bereichen wie der Germanistik, wobei der Schwer-
punkt auf das literarische und politische Exil deutschsprachiger Juden legt.
11 Beispielsweise das Geschichtswerk David Kranzlers aus dem Jahr 1976 (die chinesische Über-
setzung erschien 1991) und der Roman The Fugu Plan von Marvin Tokayer und Mary Swartz
aus dem Jahr 1979 (die chinesische Übersetzung erschien 1992). Bemerkenswert ist allerdings,
dass die nicht-englischsprachigen Publikationen, etwa die Zeitzeugnisse oder die deutschen-
sprachigen Veröffentlichungen zum Shanghaier Exil, zu dieser Zeit der Gründerjahre selten von
chinesischen Forschern miteinbezogen wurden.
12 Wie das Center of Jewish Studies Shanghai (1988) und das Forschungszentrum an der Tongji
Universität in Shanghai (1989), die Einrichtung vom Magister- und Promotionsstudiengang im
Fach der Jüdischen Studien an der Nanjing Universität (ab 1992), Forschungsinstitutionen in
Harbin (1993), an der Shandong Universität (1994) sowie in anderen Städten wie Beijing, Kaifeng
und Xi’an (vgl. Kreissler 2012).
12        Xin Tong und Fan Zhang

     Dass die Etablierung und die Entwicklung der chinesischen Geschichts-
schreibung über das jüdische Exil häufig zum innen- und außenpolitischen
Pflichttermin mutiert, ist ein Hinweis auf einen erinnerungspolitischen Charakter
der chinesischen Exil-Diskurse. Während sich China in der sozialistischen Phase
mit der proarabischen ‚Dritten Welt‘ anfreundete, sodass das Thema in der chi-
nesischen Geschichtsschreibung meist vernachlässigt wurde, förderten die Auf-
nahmen diplomatischer Beziehungen zur BRD und den USA in den 1970er Jahren
und zu Israel Anfang der 1990er Jahre deutlich das Interesse an der Exilthematik
(vgl. Kreissler 2012; Goldstein 2017). Dabei wurden die nationalen Identitäten
der jüdischen Emigranten sowie ihre soziale oder politische Vergangenheit auf-
grund von „understanding Jews and the Holocaust as undifferentiated victims of
Fascism“ kaum in den Blick genommen (Goldstein 2017: 233). Die Tatsache, dass
die erste chinesische Ausstellung über das Shanghaier Exil in den 1990er Jahren
ebenfalls in der Gedenkhalle für die Opfer des Nanjing-Massakers veranstaltet
wurde, demonstriert dennoch, dass die Exilthematik bereits damals bewusst
mit der Kriegserinnerung bzw. nationaler traumatischer Vergangenheit in Ver-
bindung gesetzt wurde. Diese Auffassung, dass die jüdischen Exilanten und das
chinesische Volk gemeinsam als Opfer des Faschismus wahrgenommen wurden,
hat die Exil-Diskurse in China geprägt, für die die politisch ausgerichteten Kom-
ponenten kennzeichnend sind.
     Der Abriss der chinesischen Exilforschung zeigt auf, dass die Untersuchun-
gen einerseits neue Archivalien, Zeitzeugnisse und Kenntnisse bezüglich der The-
matik vorweisen und zu neuen Perspektiven beitragen. Dabei wurden durch die
akribischen Nachforschungen und die systematische Spurensuche viele wertvolle
historische Informationen gewonnen (vgl. Kreissler 2012). Gerade im Zusammen-
hang mit dem Holocaust können so das humanistische Thema in den Vordergrund
gerückt und zugleich ethische Fragestellungen abgehandelt werden. Andererseits
führt die chinesische Geschichtsauffassung zu einer Standardinterpretation, die
Shanghai als „a vital haven“ für die jüdischen Verfolgten sieht, das „every pos-
sible relief“ bot (Pan 2000: 82). Das Shanghaier Exil ist daher vom chinesischen
Historiker Jian Wang als ‚Shanghaier Modell‘ wie folgt beschrieben worden:

     “二战”时期犹太难民避难上海的这段历史记忆,是国内外大屠杀研究学界的一个独特组
     成部分。其他的都是纪念逝者,唯有上海是纪念生者,纪念生存,纪念拯救。这患难之
     ‌
     中结成的中犹[       民族]友谊,乃是罪恶大屠杀悲剧中最富有人道的光彩一页。[Die historische
     Erinnerung an die jüdischen Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs in deren Zuflucht
     in Shanghai gilt als einzigartiger Bestandteil der internationalen Holocaustdiskurse. Bei
     den anderen handelt es sich um Gedenken an die Toten, nur in Shanghai wird an die
     Lebenden, das Überleben und die Rettungsakten erinnert. Die chinesische und jüdische
     Völkerfreundschaft, die in der Not geschlossen wurde, ist die humanistischste Episode in
     der Tragödie des Holocaust.] (Wang 2016: 305)
                         Erinnern als interkulturelles Handeln       13

Diese Hervorhebung der Sonderstellung von der Stadt Shanghai aus einer sino-
zentrierten Sichtweise heraus weist auf einen anderweitigen Prozess der Auto-
Orientalisierung hin, die vom Orient selbst konstruiert wird (vgl. Said 2014 [1978];
Schnepel 2011). Aus den Normen der westlichen Exilstudien hat sich „nach und
nach eine eigene chinesische Lesart“ entwickelt (vgl. Kreissler 2012: 237). Dabei
werden neue Inhalte hinzugefügt, insbesondere zur chinesischen Nationalge-
schichte und zur Stadthistoriographie Shanghais. Doch werden Aspekte wie Kon-
flikte zwischen jüdischen Emigrierten und ihren chinesischen Mitbürgern oder
die Dankbarkeit der Exilanten selektiv ausgespart oder hervorgehoben, was in
der Kritik als „Selbstverherrlichung“ umstritten bleibt (Liu 2017: 15). Im Rahmen
dieses Selektions- sowie Bearbeitungsvorgangs fließen zum Teil orientalistische
Klischees ein und auch bestimmte westliche Phantasien sowie Imaginationen
über die Stadt Shanghai können sich in den chinesischen Exil-Diskursen mani-
festieren.
     In Bezug auf die jüdische Emigrationsgeschichte zeigt sich, dass die betonte
Sonderstellung von der Stadt Shanghai sowohl vom Westen als auch vom Osten
thematisiert wird. Dabei haben die Diskurse über das Shanghaier Exil einen
Wandel vom eurozentrischen Orientalismus über den chinesischen Aneignungs-
prozess bis hin zu einem ständigen Oszillieren zwischen dem Westen und Osten
durchlaufen. Es trifft zu, dass der Sonderstatus der Stadt bzw. des Exils auch für
die Identitätsbildung an Bedeutung gewinnt. Dennoch ist nicht zu übersehen,
dass während die eurozentrische Prämisse einen Dualismus zwischen westlicher
Moderne und nichtwestlicher Vormoderne impliziert (etwa Zuflucht im Westen
als Normalfall vs. im Nichtwesten als partikular), eine sinozentrierte Hervor-
hebung des Refugiums in der Stadt Shanghai ebenfalls dazu führen kann, die
Vielfalt und die Komplexität der Exilgeschichte zu reduzieren. Weitere zu erfor-
schende Fragen – u. a. zum Verhältnis zwischen der japanischen Judenpolitik
und dem japanischen Rassismus gegenüber Chinesen, zum Refugium in der
Stadt Shanghai im Zusammenhang mit anderen zeitweilig von Japan kontrollier-
ten Gebieten Asiens, wie in Japan selbst, in Nordostchina, in Korea oder auf den
Philippinen – können künftige Diskussionen über die Vergangenheit der Region
und Dialoge zwischen heterogenen historischen Geschehnissen und kollektiven
Erinnerungen anregen13.

13 Zu solchen Diskussionen siehe z. B. neuere Studien zum jüdischen Exil in Ostasien und Tei-
len Südostasiens (vgl. Pekar 2011; Harris 2020).
14       Xin Tong und Fan Zhang

4 E
   xilerinnerung in gegenwärtigen deutsch-
  chinesischen kommunikativen Praktiken
Seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass sich auf diesem Gebiet langsam
dennoch ein multiperspektivischer Zugang behauptet. Zum einen werden die
Archivmaterialien und die wissenschaftlichen Ergebnisse aus China stärker in
die deutsche Exilforschung miteinbezogen, was auf einem zunehmenden aka-
demischen und kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern basiert. Zum
anderen ergeben sich in der chinesischen Forschung und Erinnerungspraxis
neue Erkenntnisse und Praktiken, die oft einen globalen Horizont besitzen, Bei-
träge zur interdisziplinären Exilforschung leisten und die Erinnerungskulturen
bereichern. Das gemeinsame Erinnern an das Refugium der Juden in der Stadt
Shanghai als Kommunikation zwischen Deutschland und China zeigt sich auf
multiplen Ebenen und weist auf einen kommunikativen Wandel der Gegenwarts-
gesellschaften hin: „[…] die Gesellschaft ändert sich in dem Maße, in dem sich
das kommunikative Handeln verändert.“ (Knoblauch 2017: VI). Dabei geht diese
Exilerinnerung über das akademische Feld hinaus und weitet sich auf filmische,
literarische, museale, politische und ökonomische Bereiche aus.
     Basierend auf der Entwicklung der Exilforschung erweitern sich die Exil-
Diskurse in Deutschland und China seit den 1990er Jahren zunehmend in die
Bereiche der Massenmedien. Dabei treten dokumentarische Filmproduktionen,
die beim Publikum die Wahrnehmung der abgebildeten historischen Wirklichkeit
evozieren, als ein aussagekräftiges audiovisuelles Medium auf. Dazu zählen u. a.
Exil Shanghai (1997) von Ulrike Ottinger und Escape to Shanghai (1999) von Yifei
Chen – zwei filmische Pionierwerke von prominenten Künstlern beider Länder,
die parallel in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre produziert wurden (vgl. Tong
2022). Dabei arbeitete Ottinger mit chinesischen Historikern und Filmemachern
zusammen, verwendete Materialien aus chinesischen Quellen und zeigte Inter-
viewausschnitte, in denen jüdische Exilanten die Leiden der chinesischen Ein-
heimischen unter der japanischen Besatzung memorieren. Somit bringt die deut-
sche Künstlerin mit jüdischen Wurzeln die Exilerinnerung mit der chinesischen
Kriegserinnerung in Verbindung und setzt sich im Film kritisch mit der Kolonial-
geschichte auseinander. Exil Shanghai verdeutlicht eine andere Sichtweise auf die
früher verstärkt aus einer eurozentrischen Perspektive erzählten Exilgeschichte
und versucht, diese selbstzentrierte Position zu überwinden. Das nostalgische
Ambiente in diesem deutschen Film korrespondiert zudem mit einer chinesischen
Strömung, die in den 1990er Jahren aufkam, bei der Chen als ein Wegbereiter fun-
gierte, als er mit Escape to Shanghai eine Shanghai-Trilogie startete, die sich mit
dem vorsozialistischen und nostalgischen ‚Old Shanghai‘ auseinandersetzte (vgl.
                       Erinnern als interkulturelles Handeln   15

Dai 1997, 1999). Auch Chen und seine internationale Filmcrew drehten den Film in
englisch- und deutschsprachigen Ländern und übernahmen geschichtliche Auf-
gaben, wie die Recherche von Archivdokumenten und die Speicherung sowie die
Überlieferung von Zeitzeugenberichten als Oral History für die Nachwelt. Beide
Künstler betrachten die Geschichte des Exils nicht isoliert in einem jüdischen
Kontext, sondern weisen auf die Beziehungen zwischen multiplen kollektiven
Erinnerungen hin. Die Reminiszenz an die Zuflucht in beiden Filmen fungiert
insofern als ein Türöffner einer vielschichtigen Vergangenheit, die das Aufeinan-
dertreffen zahlreicher Ereignisse, Gemeinden und Gruppen demonstriert.
     Neben massenmedialen Filmproduktionen wird die Exilthematik vielfach in
der deutschen und chinesischen Gegenwartsliteratur thematisiert. Im deutsch-
sprachigen Raum sind beispielsweise die Romane Shanghai fern von wo (2008)
und Landgericht (2012) von Ursula Krechel bekannt, die jeweils das Überleben der
jüdischen Exilanten im Shanghaier Exil sowie das Nachexil und die Rückkehr der
Juden nach Deutschland darstellen. Die beiden preisgekrönten Romane finden in
China ebenfalls große Beachtung und sind in den letzten Jahren ins Chinesische
übersetzt worden (vgl. Krechel 2013, 2016). In China sind beide Romane positiv
rezipiert worden, wobei z. B. die Verflechtungen dokumentarischer Lebens-
berichte und literarischer Imaginationen in Shanghai fern von wo gelobt (vgl.
Zhuang 2015) oder die Darstellungen von der Stadt Shanghai im Kontext der deut-
schen Literatur in den Blick gerückt sind (vgl. Zhang et al. 2020). Zudem werden
einerseits weitere deutschsprachige Romane, Memoiren und (Auto-)Biografien
der Exilthematik in China übersetzt und/oder erforscht, u. a. Shanghai Passage
(Tausig 1987, 2021), Transit Shanghai (Buxbaum 2008), Letzte Zuflucht Shanghai
(Schomann 2008) und Torte mit Stäbchen (Hornfeck 2012) (vgl. Zhuang 2015; Liu
2014, 2017; Gao 2018, 2020; Zhang et al. 2020). Andererseits wird die jüdische Exil-
thematik in der chinesischen Gegenwartsliteratur mehrfach behandelt. Erschie-
nen sind chinesische Romane wie Melanie’s Violin (He 2005), Die Kneipe Shanghai
Traum (Xu 2005), A Jewish Piano (Bei 2007) und Parasit (Yan 2009). Dies verdeut-
licht den dynamischen Kommunikationsvorgang zwischen der deutschsprachi-
gen und der chinesischen Literatur und der relevanten Literaturforschung. Diese
aktive Literarisierung findet sich auch im fernsehdokumentarischen Bereich, bei-
spielsweise ist hierbei die Verfilmung von Landgericht zu nennen, die in Deutsch-
land sowie China gezeigt wurde und einen Preis beim Shanghai International
Television Festival gewann. In der gleichnamigen ZDF-Dokumentation zu diesem
Film wurde der oben zitierte Historiker Jian Wang interviewt, der dem breiten
deutschen Fernsehpublikum eine chinesische Perspektive vermittelt.
     Mit der offiziellen Eröffnung des Shanghai Jewish Refugees Museums seit
2007 spielt das Museum in der deutsch-chinesischen Kommunikation bzw. im
transnationalen Erinnerungsprozess eine herausragende Rolle. Beim Museum
16       Xin Tong und Fan Zhang

als Gedächtnismedium mit multimedialen Erfahrungsräumen geht es nicht nur
um die Inhalte und die Ästhetik der musealen Präsentationen, sondern auch um
den Prozess, also wie das Museum zum einen als ein zentraler Erinnerungsort des
Shanghaier Exils gedenkt und zum anderen als Bindeglied zwischen verschiede-
nen kulturellen Erinnerungen und Ländern fungiert. Nach einem Erweiterungs-
projekt seit 2019 und der Wiedereröffnung Ende 2020 lässt sich erschließen, dass
sich die Dauerausstellung dort explizit auf die chinesische Kriegserinnerung
und die Reminiszenz an den Holocaust bezieht. Die musealen Besucher können
sich durch interaktive Installationen über den chinesischen antijapanischen
Krieg informieren, etwa die Schlachten in Shanghai der 1930er und 1940er Jahre.
Zudem thematisiert ein Sonderkapitel in der Ausstellung den Holocaust, indem
es ikonische Geschichtsbilder über die Verfolgung, die Deportation und die Ver-
nichtung, die Kleidung der Häftlinge in KZ-Lagern und die Rekonstruktion des
Lagerplans darstellt. Solche Komponenten zeigen, dass das Gedenken an das
Shanghaier Exil im musealen Bereich mit den Erinnerungskulturen bezüglich
des Holocaust und des chinesischen antijapanischen Kriegs in einem multidirek-
tionalen Verhältnis im Sinne von Rothberg steht. Denn solche identitätsbilden-
den Reminiszenzen schließen einander weder aus noch nehmen sie an einem
Nullsummenspiel teil. Sie interagieren und ergänzen sich gegenseitig, was das
Sich-Einlassen auf verschiedene Geschehnisse, Erinnerungen und Identitäten
anregen kann.
     Gleichzeitig macht das Museum aufgrund der Mehrdimensionalität bezüg-
lich Vergangenheitskonstruktion, Geschichtserziehung, Politik und Tourismus
die bilaterale Kommunikation zwischen Deutschland und China in multiplen
Bereichen von Kultur, Erziehung, Politik und Ökonomie erkennbar. Wie Knob-
lauch bereits sagte: „Kommunikatives Handeln ist nicht mehr nur ein weitgehend
lokales Handeln, das sich auf die Präsenz der Akteure in Situationen beschränkt.
Es ist in einer Weise mediatisiert, die es unmittelbar mit der Gesellschaft als
Ganzer verbindet: räumlich, zeitlich, material und sinnhaft.“ (Knoblauch 2017:
VII) So sind zahlreiche kulturelle, akademische und künstlerische Veranstaltun-
gen, an denen auch deutsche Zeitzeugen, Forscher und Künstler teilnehmen,
durch das Museum organisiert. Im Folgenden soll nur ein kurzer Überblick über
den deutsch-chinesischen Austausch im musealen Kontext gegeben werden.
So kamen die deutsch-jüdischen Exilanten seit den 1990er Jahren mehrmals in
der Stadt Shanghai zusammen und besuchten das museale Ghettogelände (vgl.
Armbrüster et al. 2000; Wang 2016). Hierzu zählen Exilanten wie Michael Blu-
menthal, der spätere amerikanische Finanzminister und Direktor des Jüdischen
Museums Berlin, und Sonja Mühlberger, die Autorin des Memoires Geboren in
Shanghai als Kind von Emigranten (2016) und mit einem Bundesverdienstkreuz
gewürdigte Zeitzeugin. Auch regelmäßige Schul-, Uni- und Austauschprogramme
                     Erinnern als interkulturelles Handeln   17

werden im Museum veranstaltet, um die Exilgeschichte an die Nachgeneration
weiterzugeben. Exemplarisch sind dabei Aktivitäten zur Spurensuche des Refu-
giums im Stadtbezirk Hongkou, durchgeführt von deutschen und chinesischen
Kinderuniversitäten, Schülern und Studierenden, oder das jährliche Volontär-
programm mit dem österreichischen Auslandsdienst für die Holocaust-Erziehung
im Shanghai Jewish Refugees Museum.
    Durch ein solch zwischenmenschliches Netzwerk mit den deutschsprachigen
Zeitzeugen und Institutionen hat das Museum in Hinsicht auf die Konservierung,
die Verbreitung und die Übermittlung der Exilerinnerung produktive Ergeb-
nisse hervorgebracht, wobei Kooperationsausstellungen in Deutschland und
Österreich veranstaltet wurden, u. a. die Ausstellung Atmen und halbwegs frei
sein – Flucht nach Shanghai 2011 im Museum für Hamburgische Geschichte, die
das Shanghaier Exil am Beispiel der Hamburger Jüdinnen und Juden darstellte.
Obwohl dabei auch Meinungsverschiedenheiten oder Konkurrenzsituationen
der kollektiven Erinnerungen vorkommen, eröffnet eine solche Zusammenarbeit
Perspektiven und ermöglicht es, sich durch gemeinsame Erforschung und Aus-
einandersetzung an die historische Realität anzunähern.
    Nicht zuletzt zeigen sich die kommunikativen Erinnerungspraktiken zwi-
schen beiden Ländern auf der politischen Ebene, indem deutsche Politiker,
einschließlich des vorherigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, das Museum
besucht haben. Ökonomisch gesehen spielt das Museum in diesem Kontext
ebenso eine Rolle, wie die mehrdimensionale Zusammenarbeit des Museums mit
dem Deutschen Generalkonsulat bei der Weltausstellung Expo 2010 in der Stadt
Shanghai demonstriert hat. Dabei sollte das Museum durch die Kooperation als
Magnet für ausländische bzw. deutsche Touristen dienen und den Handel mit
Deutschland fördern, während die deutsche Seite „the German government’s
continuing commitment to confronting its Nazi past, as well as its own desire to
promote bilateral trade“ unterstrich (Michaels 2017: 213).

5 Fazit
Das jüdische Exil in China und insbesondere das Refugium in der Stadt Shang-
hai sind in den letzten Jahrzehnten Teil des Kulturgedächtnisses geworden, das
sowohl in Deutschland als auch in China kontinuierlich diskutiert, aufgearbeitet,
wachgehalten und übermittelt wird. Diese Thematik ist insgesamt zu komplex,
als dass hier alle Punkte an- und ausgeführt werden könnten. Vielmehr versucht
dieser Beitrag, die sozial-kommunikativen und transkulturellen Dimensionen
von Erinnern in den Fokus zu rücken und einen Abriss der Erinnerungskulturen
18         Xin Tong und Fan Zhang

der Exilthematik im Hinblick auf deutsch-chinesische Annäherungen zu geben.
Als kommunikatives Handeln führt Erinnern zum sozialen Gedächtniswandel,
der sich auf die Gegenwartsgesellschaften und die interkulturelle Kommunika-
tion dazwischen auswirkt. Mit Blick auf die Vielfalt der sozialen Systeme und die
Pluralität der Erinnerungskulturen geht es an dieser Stelle weniger um ein Null-
summenspiel von Erinnerungen, auch wenn dabei Konkurrenzsituationen und
Spannungen existieren. Viel relevanter sind die Vernetzungen von handelnden
Menschen, die sich an historischen Geschehnissen und am Erinnern als solches
beteiligen und miteinander kommunizieren. So lässt sich beobachten, dass die
Erinnerungen an das Exil, den Holocaust, den chinesischen antijapanischen
Krieg, die Lokalgeschichte der Stadt Shanghai usw. in deutsch-chinesischer
Kommunikation zusammentreffen, sich überlagern und gegenseitig ergänzen,
was produktive Ergebnisse und Dialoge hervorbringt. Aus dieser Sicht ist das
Erinnern an das Shanghaier Exil weder rein ‚jüdisch‘ noch ‚universal‘ gültig: Dies
führt auf konkrete historische Sachverhalte zurück und prägt bestimmte kollek-
tive Identitäten, geht aber zugleich über disziplinäre, kulturelle, territoriale und
gesellschaftliche Grenzen hinweg und verweist auf die verschlungenen Wege
zwischen Historien und Kulturen. In diesem multidirektionalen Netzwerk schlägt
das gemeinsame Handeln von Erinnern mit moralischen und humanistischen
Ansprüchen eine Brücke zwischen Deutschland sowie China und bildet den
Ausgangspunkt für eine transnationale Gedenkkultur, die nationale und lokale
Spezifika in ihrer jeweiligen Funktion und Bedeutung, aber auch gerade in ihrer
Relativität beschreibbar und begreifbar macht.

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