Erwägungen 1/2021 Sehnsucht nach Gerechtigkeit
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Journal der Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung Erwägungen 1/2021 Sehnsucht nach Gerechtigkeit Schon drei Monate ist es her, seit wir enttäuscht die Ablehnung der Konzern- verantwortungsinitiative (Kovi) zur Kenntnis nehmen mussten. Die einen trösteten sich damit, dass immerhin die Mehrheit der Bevölkerung Ja dazu gesagt hatte, die anderen damit, dass durch die prägnante Ja-Kampagne so etwas wie ein neues Bewusstsein entstanden sei. Die Tatsache aber bleibt, dass es vorläufig nicht mehr Gerechtigkeit für die Menschen im Süden geben wird. Die Diskussionen im Anschluss an die Abstimmung haben den Aus- schlag zum Titel dieser Nummer gegeben. Warum ist Gerechtigkeit den einen so ein brennendes Anliegen, anderen hingegen – einem Gross- teil der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien – offenbar völlig egal? Woher kommt denn eigentlich unsere «Sehnsucht nach Gerech- tigkeit», und wie können wir ihr Gestalt geben? Zu diesen Fragen lässt das vorliegende Journal verschiedenste Menschen zu Wort kommen, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen, im Weltsüden oder im eigenen Land. Viele von ihnen sind Mitglieder der «Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung», die bereits 1982 formuliert hat, dass für sie «die Befreiung aus allen Formen der Ungerechtigkeit zentrales Anliegen» sei (aus: Porträt, thebe.ch). Gerade jetzt, wo Kirchen und Hilfswerke wegen ihres Einstehens für Kovi in die Zange genommen werden (s. Seiten 28—30), ist es einmal mehr nötig, sich in diesem Grundsatz zu bestärken. Christine Voss Interview mit Klimakrise: Auf der Suche Offener Brief an Jochi Weil Die Jungen nach einem Bundesrat Christine Voss, S. 18 tragen gerechten Ignazio Cassis die Folgen Werktag Basisgruppen-Bewegung Menschenrechte Fanny Wissler, S. 24 Urs Häner und Schweiz, S. 29 für wen? Arbeitsgruppe, S. 26 Aus dem Andreas Nufer, S. 21 Bewegt vom Aktuell: Vorstand fairen Handel Hilfswerke S. 31 Guatemala: Priska Blattmann und die Hoffnung unter Druck Christine Voss, S. 25 Arbeitsgruppen stärken Christine Voss, S. 28 S. 31 Toni Steiner, S. 22 Er wägungen 1/21 17
überfordert. Ich war ein sehr lebhaftes Kind, «Die Sehnsucht nach mit viel Energie, Neugier auf das Leben und Unternehmungslust. Das war für sie schwer Gerechtigkeit auszuhalten. Mein Bruder, der zwei Jahre spä- ter geboren wurde, war im Gegensatz zu mir ist in uns angelegt» ruhig und zurückhaltend. Deshalb war er dann oft der Liebe und ich der Böse. Ich empfand das Gespräch mit Jochi Weil als zutiefst ungerecht – und diese Gefühle von von Christine Voss damals stecken bis heute in mir. Seit Jahrzehnten setzt sich Jochi Weil CV Und diese Gefühle haben dann den Einsatz in verschiedensten Projekten für für Gerechtigkeit auch für andere ausgelöst? gerechtere Lebensbedingungen ein, JW Das ging natürlich nicht auf einer so vor allem auch im Nahen Osten. bewussten Ebene vor sich. Ich kann mich noch Im Gespräch erzählt er, was ihn zu erinnern, wie ich nach der Sekundarschule eine diesem Einsatz motiviert hat und Lehre als Eisenbetonbauzeichner begann und wie er bis heute als Jude im Dilemma in ein Lehrlingsheim zog. Meine Kameraden zwischen Gerechtigkeit, der israeli- dort erzählten mir immer wieder Geschich- ten, wie sie als Lehrlinge von ihren Chefs aus- schen Politik und seinem jüdischen gebeutet und schlecht behandelt wurden. Das Glauben steht. empörte mich dermassen, dass ich zum Tele- fonhörer griff, einen dieser Lehrmeister anrief Schwungvoll öffnet Jochi Weil die Wohnungs- und ihm deutlich meine Meinung zu seinem tür und begrüsst die Journalistin mit Herz- Verhalten sagte. lichkeit. An seinem Pullover trägt er einen Ansteckknopf mit der Aufschrift «Black lives CV Der Lehrmeister war wohl sehr erfreut ... matter». Aha, ein neues Thema in der breiten Palette von Jochis Engagements? «Das geht JW Er war, meiner Erinnerung nach, perplex nicht, was in den USA abläuft – aber auch bei und empfand meinen Anruf als Frechheit. uns, wenn auch auf anderen Ebenen», entgeg- Es ging dann weiter, als ich mit siebzehn net Jochi energisch, «da muss man reagieren.» Jahren in den jüdisch-zionistisch-sozialis- Und schmunzelnd fügt er hinzu: «Ich trage den tischen Jugendbund eintrat, den Hashomer Knopf auch, wenn ich am Schabbat in die Syn- Hatzair. Dort war ich sehr engagiert und dort agoge gehe. Gut sichtbar. Doch kaum jemand kam ich zum ersten Mal mit den Gedanken von reagiert darauf.» Karl Marx in Berührung. Das ist Jochi, wie ich ihn seit rund zwan- zig Jahren kenne. Immer wieder neu bewegt CV Zionistisch und sozialistisch, geht das von der Ungerechtigkeit, die er in den Bezie- denn zusammen? hungen zwischen Menschen und in der Welt- politik wahrnimmt. Und dabei oft aktiv: sei JW Damals sehr wohl. Diese Bewegung war im es für eine Strafreform in der Schweiz, für die Grund genommen eine Vorbereitung auf das Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Ost- Leben im Kibbuz. Und die Kibbuz-Bewegung türkei und in Nordsyrien, vor allem aber im wiederum ging in ihren Ursprüngen von einem Nahostkonflikt, im jahrzehntelangen Einsatz Gesellschaftsmodell aus, in dem alle auf für die palästinensische Bevölkerung in Israel Augenhöhe, unabhängig von Ausbildung und und Palästina. «Seit meiner Kindheit bin ich sozialem Status, miteinander das Leben tei- auf der Suche nach Gerechtigkeit», hat Jochi len. Kein Lohn, gleiche Aufgaben im Zusam- mir geschrieben, als ich ihn per Mail für dieses menleben, ob das nun Akademiker*innen oder Interview anfragte. Arbeiter*innen waren. Es war ein eigentliches sozialistisches Experiment in der Zeit seit CV Wie sah diese Suche nach Gerechtigkeit für etwa 1927. Bekannte linke Juden, wie zum Bei- dich als Kind aus, Jochi? spiel Bernie Sanders, lebten eine Zeitlang in einem Kibbuz des Hashomer. Über den Hin- JW Gerechtigkeit war damals noch sehr auf tergrund der Besiedlung Israels und darüber, mich persönlich bezogen. Weil meine Mut- dass es dabei ungerecht vor sich ging, stellte ter nach der Schwangerschaft in eine Depres- man sich allerdings keine Fragen. sion geriet, war sie mit mir als Kind völlig 18 Er wägungen 1/21
Die Diskussionen über das Denken bei Marx Mal wieder in die Synagoge. Und zwar des- eröffneten mir eine ganz neue Welt – eine halb, weil ich auf der Suche nach meinen rundum faszinierende! Sie holten mich bei Wurzeln war. Irgendwie scheint das mit dem meinem Grundbedürfnis nach Gerechtig- Älterwerden aktuell zu werden, diese Fragen: keit ab und gaben diesem einen reflektierten Wo komme ich her, wer sind meine Vorfah- Hintergrund. ren, wie wurde ich durch sie geprägt? Wie Ich hielt daraufhin meinem Chef Vor- mit inneren Fäden gezogen suchte ich damals träge über die kapitalistischen Strukturen sei- erneut den Kontakt zur Israelitischen Cultus- nes Unternehmens und erklärte ihm, warum gemeinde Zürich. es ungerecht sei, dass ich im ersten Lehrjahr Seither gehe ich jeden Schabbat in die Syn- einen Lehrlingslohn von 70 Franken im Monat agoge, an den modern-orthodoxen Gottes- erhielt und er selber, wegen eines Deckensys- dienst. Diese Regelmässigkeit ist mir wichtig tems, für das auch ich Pläne gezeichnet hatte, geworden, auch wenn ich für die Mitgläubi- zusätzlich reich wurde. Der Chef hielt sich gen dort ein «Exot» bin. Meine humanitäre nicht bei grossen Diskussionen auf, sondern Haltung wird zwar einigermassen akzeptiert erklärte mir ganz einfach: «Im Grund genom- und wenn ich mich für Kurd*innen einsetze, ist men hast du recht. Aber das nützt dir nicht viel, das nicht weiter der Rede wert. Wenn ich mich denn wir Wirtschaftsleute sitzen am längeren aber zur Situation der Palästinenser*innen im Hebel!» Diese knappe Aussage ist für mich bis Nahen Osten äussere, überschreite ich ganz heute modellhaft für das, was sich in der Welt- offensichtlich eine rote Linie. Ich merke aber: wirtschaft ereignet. Ich bin so tief überzeugt von meinen Anliegen, dass ich diese Spannung aushalten kann. CV Und deine jüdische Religion? Die vielen Aussagen über Gerechtigkeit in der CV Zurück zur Tora. Wenn du die Rückbindung Tora – haben dich diese nicht auch inspiriert? an die Schriften deiner Tradition offenbar wieder gefunden hast, beschäftigst du dich JW Das würdest du jetzt gerne hören, nicht ja sicher auch mit den Aussagen der Tora wahr? Aber ich muss dir ehrlich sagen, die zur Gerechtigkeit. Religion war damals überhaupt kein Thema für mich. Der Jugendbund war denn auch tendenzi- JW Ja, natürlich, und es war für mich eine ein- ell atheistisch ausgerichtet. Ich selber komme drückliche Entdeckung, dort zu finden, was aus einem kleinbürgerlichen, jüdisch-liberalen bereits in mir selber als Haltung herangewach- Elternhaus; das Religiöse beschränkte sich auf sen war. Der bedeutende Rabbiner Zalman das Kerzenanzünden beim Eingang des Schab- Kossowsky hat gesagt, es werde tradiert, dass bat, den Religionsunterricht in der Israeliti- der Tora zufolge die Welt auf drei Säulen ruhe: schen Cultusgemeinde ICZ und die wichtigs- Wahrheit, Recht/Gerechtigkeit und Frieden. ten jüdischen Feiertage. Ich denke aber, das Auf diese Stichworte hin sollten wir die Tora Gerechtigkeitsgefühl ist etwas Universelles, lesen. Eine der zentralsten Stellen dort lautet: etwas, das in allen Menschen angelegt ist. «Zedek, Zedek Tirdof» – «Gerechtigkeit, und nur Gerechtigkeit»! CV Wenn das so wäre, sähe es in unserer Welt heute aber anders aus ... CV Und was ist dabei mit Gerechtigkeit ge- meint? Die reformierte Tradition hat dieses JW Man müsste eher fragen: Was ist mit Men- Wort ja dann als «Rechtfertigung vor Gott» schen, die Ungerechtigkeit akzeptieren oder verstanden, also als individuelles Bestehen sogar ausüben, passiert, dass sie ein solch vor Gottes Ansprüchen an uns. grundlegendes Bedürfnis verdrängen? Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist meiner JW Nein, im Judentum geht es beim Thema der Meinung nach im innersten Kern des Men- Gerechtigkeit immer auch um konkretes Han- schen angelegt. Und in dieser Hinsicht ist die deln, um einen gewissen Ausgleich zwischen Tora – das sind die fünf Bücher Moses – so Armen und Reichen, zwischen Mächtigen und etwas wie ein Spiegel dieses Bedürfnisses. Unterdrückten, und vor allem auch gegenüber den Fremden. Eines der wichtigsten Gebote CV Religion und Gerechtigkeit haben also lautet: Mit den Fremden in deinem Land sollst doch einen Zusammenhang? du anständig umgehen. Heute müsste man diese Aussage auf die Flüchtlinge beziehen. JW Diese Fragen stellten sich mir erst viel Für Juden und Jüdinnen, auch in meiner später. Vor 22 Jahren ging ich zum ersten Zürcher Gemeinschaft, ist das Spenden für Er wägungen 1/21 19
Benachteiligte Pflicht: Für Arme – zur Zeit früher übliche Tendenz, sich mit der Hoffnung des alten Israel waren das die Witwen und Wai- auf ein besseres Jenseits zu trösten. Sondern sen – für Behinderte und Randständige. Unsere es sind diese uralten Worte in der Tora und die 613 Gebote, von denen jetzt allerdings nur noch Gebete, in denen so viel Kraft liegt. Sie helfen etwa die Hälfte gelten, weil die andere Hälfte mir, in der Zerrissenheit der Welt wieder zu mir auf das Opfern im Tempel in Jerusalem bezo- selbst zu kommen. Ich kann mich damit besser gen waren, haben im Grund genommen nur auf eine Grundhaltung einlassen, die ich von einen Zweck: uns auf diesem Weg zu Gerech- Leonhard Ragaz, dem Begründer des religiö- tigkeit und Liebe, das heisst auch zu Gott hin, sen Sozialismus in der Schweiz, gelernt habe: Richtlinien und Halt zu geben. Das Wesent- Das Reich Gottes beginnt bereits in dieser Welt. lichste ist zusammengefasst im Gebot: «Liebe Und überall, wo wir uns für Gerechtigkeit ein- deinen Nächsten wie dich selbst.» setzen, wird etwas davon sichtbar. CV Das hat bekanntlicherweise auch Jesus ○ Jochi Weil, *1942, ist TheBe-Mitglied und Vorstands- gesagt ... mitglied der Religiös-Sozialistischen Vereinigung der Deutschschweiz (Resos). Er lebt in Zürich. Prägend war für ihn in jüngeren Jahren die Mitarbeit JW Ja, aber das ist eine zentrale Aussage der in der einstigen Arbeitsgruppe für Strafreform an der Tora. Schliesslich war Jesus ein Jude und Hochschule St. Gallen unter der Leitung von Prof. Eduard Naegeli (1971—76). Von 1981 bis 2012 arbeitete hat sich in seinen Reden über Gerechtigkeit, Jochi Weil bei medico international schweiz, vormals Nächstenliebe und Barmherzigkeit immer auf Centrale Sanitaire Suisse CSS Zürich, unter anderem die Tora berufen. für basismedizinische Projekte in Israel/Palästina. 2001 war er Mitgründer und freiwilliger Mitarbeiter der Kampangne Olivenöl aus Palästina. Weitere Nah- CV Dann besteht aber ein grosser Zwiespalt ost-Engagements waren oder sind unter anderen der Schweizer Freundeskreis von Givat Haviva, die Orga- zwischen den Geboten und dem Handeln nisation Breaking the Silence in Israel, die monat- vieler Israeli, gerade auch religiöser Kräfte, lichen Mahnwachen für gerechten Frieden in Israel/ im heutigen Israel. Palästina. 2013 hat sich Jochi Weil aus gesundheitlichen Gründen von der aktiven Arbeit zurückgezogen. JW Ja, das ist leider so. Darüber streite ich auch j.weil@bluewin.ch ab und zu in meiner Gemeinde hier in Zürich. Aber solche blinden Flecke und Widersprüche scheint es in der Praxis der Religionen schon immer gegeben zu haben. Wenn ich zum Bei- spiel an die Unterwerfung der indigenen Bevöl- kerung in Lateinamerika denke, die explizit christlich begründet wurde ... Aber trotzdem: Solidarität ist sehr wohl ein Thema in meiner Gemeinde. Allerdings meis- tens dann, wenn es um uns selber geht, zum Beispiel beim Kampf gegen den Antisemitis- mus. Aber auch der Einsatz für eine tolerantere Flüchtlingspolitik ist den jüdischen Gemein- schaften wichtig. Die genannten drei Säulen der Tora enthal- ten schliesslich klar einen politischen Aspekt, nämlich in der Verbindung zwischen den Begriffen Recht/Gerechtigkeit und Frieden. Wenn wir Frieden wollen, braucht es dafür mehr Gerechtigkeit. Und beide Begriffe haben für mich ganz klar eine religiöse Dimension. CV Wie meinst du das? JW Wenn ich die Welt heute anschaue, sehe ich sie in einem dermassen desolaten Zustand, dass ich diesen auf einer rein menschlichen Ebene oft kaum aushalten würde. Die religi- öse Dimension hilft mir, einen anderen Blick- winkel einzunehmen. Ich meine jetzt nicht die 20 Er wägungen 1/21
die Verarbeitung von Bauxit zu Aluminium zu Menschenrechte gewinnen. Während der Präsentation sagte einer der Anwälte, dass am Rio Trombetas ja für wen? niemand wohne. Ich dachte zuerst, das sei ein Versprecher. Dann hielt ich die Hand auf und Andreas Nufer widersprach. Der Anwalt erwiderte, nein, in der Gegend lebten keine Bürger von Brasilien. Seit Jahrzehnten setzt sich Andreas Dieses Erlebnis erschütterte mich. Es war also nicht so, dass in Brasilien alle Menschen Nufer für Gerechtigkeit gegenüber vor dem Gesetz gleich waren. Damals galten Asylsuchenden und Migrant*innen Indigene und Quilombolas offiziell als «Min- ein. Bereits in der Schule, später derjährige». In den nächsten Monaten und bei einem Einsatz in Brasilien und Jahren lernte ich dann, wie sich brasilianische dann als Pfarrer machte er prägen- Aktivist*innen und Theolog*innen für eine de Erfahrungen, die ihm bis heute Gerechtigkeit, die allen Menschen im Land gel- ten sollte, engagierten. Das hat mich geprägt. Leitlinien für sein Handeln gegeben haben. Sackgasse für Asylsuchende Im Gymnasium hatte ich gelernt, dass vor dem Zurück in der Schweiz und einige Jahre spä- Gesetz alle gleich seien. Mir gefielen diese ter, frisch im Pfarramt, klingelten eines Tages Stunden zum Thema Menschenrechte – auch ein Nigerianer und ein Liberianer an unserer wenn sie knapp bemessen waren. Vielleicht Tür. Sie erzählten, dass sie aus der Asylunter- faszinierte mich dieser Artikel 7, «Alle Men- kunft ausgewiesen worden waren und nun kein schen sind vor dem Gesetze gleich», weil er für Dach über dem Kopf hätten. Bundesrat Blocher meinen Grossvater wichtig war. Er sprach zwar hatte wenige Tage zuvor das Nothilfesystem nie explizit darüber, aber als Flughafenarbei- für abgewiesene Asylsuchende durchgesetzt. ter und Kleinstbauer war es ihm oft wichtig zu Es war ein kalter, regnerischer Samstag im betonen: «Die feinen Herren sind nicht besser November und wir entschieden uns, dass die als wir! Das Gesetz gilt für alle.» beiden bei uns im Pfarrwohnungsbüro hausen Während des Studiums zogen mich dann die dürften. Ich konnte fast nicht glauben, was sie theologischen und philosophischen Grundla- mir erzählten. Sie lebten in der Schweiz, mit- gen der Menschenrechte an. Ich verschlang die ten unter uns, und waren elementarer Rechte Texte von Hannah Arendt und lernte, wie wich- beraubt worden. Einfach so. Seither begann tig es ist zu betonen, dass jede einzelne Person ich, mich mit Asyl- und Migrationsfragen zu «Recht auf Rechte» hat. Ich war überzeugt, dass beschäftigen. Wenige Wochen später gründe- die Weltgemeinschaft nach der Shoa gelernt ten wir zusammen mit weiteren 26 Personen hatte, dass das Individuum vor autoritären das Solidaritätsnetz Ostschweiz, das dann Nationalstaaten geschützt werden müsse, und rasch wuchs. lebte in der Überzeugung, dass dieser Grund- Es ist immer noch so, dass geflüchtete Men- satz – genauso wie die Menschenrechte – für schen in der Schweiz nicht die gleichen Rechte alle und überall unumstösslich sei. haben wie jene, die hier geboren sind. Walter Leimgruber, der Präsident der Eidgenössi- Staudamm in Brasilien schen Migrationskommission, sagte kürzlich mit Blick auf die Menschen in der Langzeit- Wenige Semester später folgte ich kurz nach nothilfe: «Wir produzieren gerade eine grosse meiner Ankunft im brasilianischen Belém, wo Zahl kaputter Kinder.» Nicht nur die Tausen- ich ein Praktikum absolvierte, einer Einladung den von Menschen, die sich in der Nothilfe an den Fluss Trombetas, mitten im Amazo- befinden, leben in einer zermürbenden Sack- nasgebiet. Wir besuchten dort ein Treffen mit gasse, auch Geflüchtete in den Zentren oder 4000 Quilombolas. Quilombolas sind Nach- mit dem Aufenthaltsstatus F werden systema- fahr*innen afrikanischer Sklav*innen, die vor tisch ihrer Rechte beraubt. An Beispielen fehlt mehr als hundert Jahren an sehr abgelegenen es wahrlich nicht. Orten eigene Dorfgemeinschaften gegründet Ähnliches gilt für Menschen mit einem Sta- hatten. Zwei Wochen später nahm ich an der tus B, die ihre Arbeit verlieren, oder für solche, Präsentation eines Energieunternehmens teil. die straffällig geworden sind. Ganz zu schwei- Dieses wollte mit japanischen Investoren einen gen von der Kriminalisierung von Menschen- Staudamm im Trombetas bauen, um Strom für rechtsaktivist*innen, die den Gebeutelten und Er wägungen 1/21 21
Entrechteten helfen und sich mit ihnen soli- darisieren. Wie fast immer, wenn Menschen- rechte verletzt werden, bläst die Willkür wie Guatemala: eine steife Bise durch viele dieser Situationen. Immer wieder reibe ich mir die Augen und die Hoffnung stärken staune über krude Argumente, schräge Umkeh- Toni Steiner rungen und pure Ignoranz in entsprechenden Gerichtsurteilen. Als Dominikaner und Krankenpfleger Gegenseitige Ermutigung hat Toni Steiner einprägsame Erfah rungen in Lateinamerika gemacht. Das alles ist aus meiner Sicht ungerecht und Dabei hat er die ungerechten Verhält- unhaltbar. Gleichzeitig ist mir die Begegnung nisse in diesen Ländern aus einem und Zusammenarbeit mit diesen Menschen neuen Blickwinkel wahrgenommen. auch Triebfeder. Es sind sehr viele Menschen in Von der Schweiz aus setzt er sich den Kirchgemeinden, Pfarreien und Soligrup- pen, die oft still und unbemerkt, aber dennoch seither für die indigene Bevölkerung beharrlich und beherzt mit und für Geflüch- in Guatemala ein. tete arbeiten. Ich erlebe es als sinnstiftend, mit vielen Engagierten aus der ganzen Schweiz für Angefangen hatte mein Einsatz für Gerechtig- diese Menschen am Rand zu kämpfen. Ihnen keit mit einem Bildungsurlaub in Lateiname- gehört die Gerechtigkeit! Natürlich tun Erfolge rika, den ich 1983 antrat, weil ich die Arbeit der in diesem Kampf gut, aber wesentlicher scheint dortigen Basisgemeinden kennenlernen wollte. mir die Erfahrung, dass «Gerechtigkeit und Deren Auseinandersetzung mit biblischen Tex- Frieden sich küssen», wie es in Psalm 85 heisst. ten war damals zur treibenden Kraft für die Deshalb singe ich gerne: Erneuerung der katholischen Kirche gewor- den. Persönliche Beziehungen ermöglichten «Freundlichkeit und Verlässlichkeit mir einen Aufenthalt in den Hochanden von treffen aufeinander, Peru, wo die vorkoloniale, vorspanische Kultur Gerechtigkeit und Frieden küssen sich. unter der einheimischen ländlichen Bevölke- Verlässlichkeit wird aus der Erde spriessen, rung durch Sprache und Lebensweise bis heute Gerechtigkeit vom Himmel herabschauen. lebendig geblieben ist. Mein Sabbatical politi- Auch gibt ha-Schem das Gute. sierte mich und bewirkte, dass ich nach meiner Unser Land gibt seinen Ertrag. Rückkehr mein Leben und mein Engagement in Gerechtigkeit geht vor dem Antlitz Gottes her ganz neue Zusammenhänge zu stellen begann. Und setzt zu einem Weg ihre Schritte.» Ich wechselte meinen Beruf zu einer handfes- Psalm 85,10–14 ten Tätigkeit und wurde Krankenpfleger. Doch mein Interesse für die Vorgänge in Lateiname- ○ Andreas Nufer, *1964, war von 1992 bis 2011 evangeli- rika blieb wach. So kehrte ich 1994 zurück, die- scher Pfarrer an der ökumenischen Gemeinde Halden in St. Gallen, seit 2012 ist er Pfarrer an der Heilig- ses Mal nach Zentralamerika, um einen Einsatz geistkirche, der «offenen Kirche» neben dem Bahnhof als Menschenrechtsbegleiter für geflüchtete Bern. «Wenn sich die Kirche gesellschaftlich nicht indigene Guatemaltek*innen zu leisten, die aus einmischt, ist sie keine Kirche mehr», begründet er seinen Einsatz in Flüchtlings- und Integrationsfragen. Chiapas (Mexiko) in ihre Heimatdörfer zurück- andreas.nufer@offene-kirche.ch kehren wollten. ○ Als im Herbst 2015 eine Gruppierung von reformierten Brutale Unterdrückung und katholischen Theolog*innen, darunter viele TheBe-Mitglieder, die sog. Migrationscharta heraus- gab, gehörte auch Andreas Nufer zu den Mitverfas- ser*innen. Die Migrationscharta verstand sich als Dabei lernte ich den traurigen Hintergrund der Grundlagentext für eine Migrationspolitik aus biblisch- heutigen Situation aus eigener Anschauung ken- theologischer Perspektive und stiess innerhalb wie ausserhalb der Kirchen auf breites Interesse. Der Text nen: Die kleinen zentralamerikanischen Staaten kann nachgelesen werden unter migrationscharta.ch/ Guatemala, Honduras und El Salvador werden manifest. seit der Unabhängigkeit von Spanien um 1825 von den «criollos» regiert, den spanischstäm- migen Einwanderern, die zur Elite des koloni- sierten Landes geworden sind. Sie verachten die Indigenen, brauchen sie aber als ungebildete Landarbeiter, sozusagen als Sklaven. 22 Er wägungen 1/21
Nachdem Kuba kommunistisch geworden war, Doch die konkreten Verhältnisse in den klein- kam es auch in Guatemala und El Salvador zu bäuerlichen indigenen Dorfgemeinschaften Aufständen gegen die herrschenden Eliten, die sind schwierig. Die wirtschaftliche Situa- das Land diktatorisch regierten und ausbeute- tion vieler Familien ist prekär: Etwa fünfzig ten. Entsprechend brutal wurde die Rebellion Prozent der Kinder unter fünf Jahren leiden niedergedrückt und es kam zu einem eigentli- an Mangelernährung, die Schulen sind sehr chen Genozid (1960–1996). Dorfgemeinschaf- schlecht, eine Lehre zu machen und damit zu ten von indigenen Kleinbauernfamilien wur- einer bezahlten Anstellung zu kommen, ist den von Einheiten der Armee überfallen, die für die jungen Leute meist unmöglich. Dazu Bewohner*innen umgebracht und Häuser und kamen letztes Jahr die Pandemie und die ver- Felder abgebrannt. Die Dorfgemeinschaften im heerenden Auswirkungen von zwei Wirbel- Norden des Landes retteten sich daraufhin ins stürmen im Oktober und November. nahe mexikanische Chiapas, wo sie in Flücht- Die meisten Menschen sind mit dem Kampf lingslagern vorläufig untergebracht wurden. ums Überleben beschäftigt. Wenn man den 1992 kam es schliesslich unter der Ägide des Anordnungen der Behörden und deren Ver- UNHCR zu einer Vereinbarung mit der dama- bündeten Widerstand leistet, bekommt man ligen Regierung Guatemalas, die das Recht Angst, weil man sich an die Erfahrungen der auf Rückkehr erteilte. Doch die Geflüchteten Verwandten erinnert, die in den 1980er Jahren fürchteten sich vor der Unberechenbarkeit der umgebracht wurden. Die Unzufriedenheit der Armee und verlangten, von internationalen Mehrheit der Bevölkerung ist gross, doch wie Menschenrechtsbeobachter*innen begleitet zu etwas zu ändern wäre, weiss niemand. Es gibt werden. So kam ich dazu, drei Monate lang das mutige Menschen, es gibt Vereinigungen, die Leben mit den Flüchtlingen zu teilen. sich für gerechtere Lebens- und Arbeitsbedin- gungen einsetzen. Doch das herrschende Sys- Von der Schweiz aus helfen tem ist so verdorben, dass es diese Bewegungen einfach ignoriert, diffamiert und ausschliesst. Im engen Kontakt mit den Rückkehrer*in- Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist vielerorts nen bekam ich ihre furchtbaren Geschichten spürbar. Doch was sie bewirken könnte, nimmt zu hören. Wir Menschenrechtsbegleiter*in- nur selten Gestalt an – und dann oft nur für nen wohnten in denselben schwarzen Nylon- kurze Zeit, weil die Herrschenden ihre Macht zelten, in denen sich die Familien aufhielten, erneut mit allen Mitteln durchsetzen. bevor sie nach Abzug der guatemaltekischen Truppen neue Häuser errichten und ihre alten Die Engagierten ermutigen Felder wieder bebauen konnten. Diese Begeg- nungen, bei denen ich auf Augenhöhe mit ein- Ein konkretes Instrument, um unserer Sehn- fachen Frauen und Männern zu tun bekam, die sucht nach Gerechtigkeit Form zu geben, ist so viel Unrecht erfahren hatten, aber sich mutig sicher der 2015 eingerichtete Fonds des Gua- auf Neuverwurzelung und Wiederaufbau ein- temala-Netzes zur Unterstützung von Frauen liessen, haben mich tief beeindruckt. Bis heute und Männern, die aufgrund ihres gewaltlo- bin ich dadurch motiviert, mich zusammen mit sen Einsatzes für kollektive Rechte von ihrem den Betroffenen gegen das Unrecht, unter dem Territorium vertrieben, diffamiert, kriminali- sie leiden, zu engagieren. siert und oft von den Gerichten unter falschen Nach meiner Pensionierung leistete ich Anklagen zu hohen Strafen verurteilt werden. einen weiteren Einsatz in Guatemala, dieses Dank unseren Kontakten zu solchen Menschen Mal als Krankenpfleger und Priester. Doch bekommen wir mit, wie ermutigend und auf- meine Stellung als Weisser, der nicht fähig richtend unsere Sympathie und Hilfe für sie ist. war, die einheimische Sprache zu lernen, liess Auch wenn wir kaum bewirken können, dass mich meine Arbeit nach einem Jahr abbrechen. das korrupte guatemaltekische Gesellschafts- Stattdessen gründete ich nach meiner Rück- wesen sich positiv verändert, helfen wir doch kehr in die Schweiz, zusammen mit weiteren mit, dass die Sehnsucht nach Gerechtigkeit interessierten Personen, das Guatemala-Netz lebendig bleibt – dort, wie auch hier. Zürich. Auf verschiedene Weise versuchen wir nun, den Angehörigen indigener Völker, die in ○ Toni Steiner, *1938, ist TheBe-Mitglied und war als Theologe und Dominikaner der erste Leiter der vom dieser rassistischen, oligarchisch-autoritären Schweizerischen Katholischen Bibelwerk gegründe- ten Bibelpastoralen Arbeitsstelle. Heute lebt er in Zürich. und korrupten Gesellschaft Unrecht erfah- t_st8037@bluewin.ch ren, Mut zu machen, um für ihre Rechte einzustehen. ○ Informationen zum Guatemala-Netz: guatemalanetz-zuerich.ch Er wägungen 1/21 23
Ich selbst bin aus Sorge um meine eigene Klimakrise: Zukunft auf diesem Planeten aktiv geworden. Die Klimakrise verstärkt soziale Ungleichhei- Die Jungen tragen ten enorm. Eine Folge der Klimakrise sind Wetterextreme. Vor allem in den Ländern des die Folgen Globalen Südens kommt es zu Dürren oder Überschwemmungen. Es kann zu Versor- Fanny Wissler gungsengpässen und Hungersnöten kommen. Die Weltbank warnt, dass bis 2050 140 Millio- Die Klimabewegung hat eine neue nen Menschen aufgrund der Klimakrise flüch- Generation von Engagierten her- ten müssen. Alle diese Folgen haben ein rie- siges politisches Konfliktpotenzial. Was wird vorgebracht. Eine von ihnen ist die die globale politische Situation 2050 sein? Ich Schülerin Fanny Wissler. Für sie weiss es nicht. 2050 werde ich 49 Jahre alt sein. ist klar: Der Kampf gegen den Klima- Wer weiss, was bis dann geschehen ist? wandel hat mit dem Kampf für Manchmal, wenn ich die aktuellen Welt Gerechtigkeit zu tun. klimaberichte lese, habe ich den Eindruck, dass sowieso schon alles verloren sei. Dennoch Was ist Klimagerechtigkeit? Oder besser engagiere ich mich immer wieder fürs Klima. gefragt: Was hat die Klimakrise überhaupt Zu sehen, was Menschen gemeinsam schaf- mit Gerechtigkeit zu tun? Auf den ersten Blick fen können, gibt mir Hoffnung. Ich denke, wir leuchtete mir dieser Zusammenhang nicht ein. müssen gemeinsam Verantwortung für unsere Schliesslich sind wir ja alle von der Klimakrise Handlungen übernehmen. Verantwortung betroffen. Doch mit der Zeit wurde mir bewusst, bedeutet nicht nur radikale Massnahmen zur dass einige mehr und andere weniger betroffen Eindämmung der Treibhausgasemissionen. sind. Deshalb hat die Klimakrise für mich sehr Verantwortung bedeutet auch, sich dafür ein- viel mit Gerechtigkeit zu tun – sobald man die zusetzen, dass nicht jene Menschen unter der Frage stellt: Wer verursacht die Klimakrise und Klimakrise leiden, die kaum etwas dazu bei- mit welcher Politik wird sie bekämpft? getragen haben. Verantwortung bedeutet, dass diejenigen für die Klimakrise bezahlen, die sie Katastrophe für den Süden auch verursacht haben. Wie wir heute wissen: Die Klimakrise wird Macht alle mit! zum grössten Teil von den Ländern im Globa- len Norden verursacht. Seit der industriellen Am 21. Mai 2021 veranstaltet die Klimastreik- Revolution stossen diese Unmengen an Treib- bewegung den «Streik für die Zukunft». Es ist hausgasen in die Atmosphäre aus. Doch am der Versuch, dich und mich für diesen Tag und meisten betroffen dadurch sind die Länder des darüber hinaus mit anderen Menschen zusam- Globalen Südens. Zum Beispiel Bangladesch, menzubringen. Wir machen gemeinsam Politik wo jetzt – langsam, aber sicher – ganze Gegen- und bauen so vor Ort jene Gesellschaft auf, in den unter dem Meeresspiegel verschwinden. der wir gerne leben würden. Eine Gesellschaft, Viele Menschen sind deshalb gezwungen, ihre in der wir Verantwortung übernehmen und uns Heimat zu verlassen. und unserer Umwelt Sorge tragen. Falls du mit- Ein zweites Beispiel ist der Unterschied machen möchtest, schau doch auf der Web- zwischen den Generationen: Es ist kein Zufall, site strikeforfuture.ch nach, ob es bereits eine dass sich im Moment hauptsächlich junge Gruppe in deiner Nähe gibt. Falls nicht, kannst Menschen in der Klimabewegung einsetzen. du eine gründen: Suche Freund*innen, die mit- Sie sind jene, welche die Folgen dieser Krise machen wollen, und trage die Gruppe auf der tragen werden. Sie sind jedoch nicht jene, wel- Internetseite ein, dann können sich andere in che die meisten Treibhausgase ausgestossen deiner Nähe ihr anschliessen. haben. Das waren die vorangehenden Genera- tionen. Jene Menschen, die das grosse Wirt- ○ Fanny Wissler, *2001, hat vor Kurzem die Mittelschule schaftswunder miterlebt haben und, ohne an beendet und bereitet sich zurzeit auf die Ausbildung als Pflegefachfrau vor. Seit die Klimajugend sich als die Zukunft und die nächsten Generationen zu Bewegung formiert hat, ist sie mit dabei. Seit dieser denken, Unmengen von Treibhausgasen pro- Zeit ist sie auch aktives Mitglied bei der Gletscherinitiative. Sie wohnt in Wetzikon. duziert haben. Kurz: Diejenigen, welche die fanny.wissler@gmx.ch Klimakrise verursacht haben, sind nicht die- jenigen, die am meisten von ihr betroffen sind. 24 Er wägungen 1/21
die damals entstanden: Jutetaschen, Ujamaa- Bewegt vom Kaffee und die ersten fair gehandelten Bana- nen, die durch die Bananenfrauen um Ursula fairen Handel Brunner in die Schweiz gebracht wurden. Was für mich damals ein Schlüsselerlebnis Priska Blattmann und Christine Voss war, hat mich bis heute, mehr als vierzig Jahre lang, geprägt. Natürlich habe ich auch poli- Seit ihrer Schulzeit setzt sich tische Initiativen unterstützt und tue es noch heute, und ich engagiere mich ebenso für die Priska Blattmann für den Fairtrade- Umwelt. Bei der Fairtrade-Bewegung aber fas- Gedanken ein. Die claro-Läden, ziniert mich der Aspekt des Konkreten. Mit in denen sie aktiv mitarbeitet, liegen meinem Einkauf unterstütze ich Menschen und ihr am Herzen. Im Gespräch mit Dorfgemeinschaften im Süden, die durch den Christine Voss erzählt sie, wie sie zur Verkauf ihrer Produkte ein existenzsicherndes Überzeugung kam, dass der ge- Einkommen erhalten. Gleichzeitig leiste ich damit auch einen kleinen Beitrag an ein ande- rechte Handel ein wirksames Mittel res Weltwirtschaftssystem, das nicht auf Aus- zum Abbau der Ungerechtigkeiten beutung, sondern auf gerechter Entlöhnung für zwischen Nord und Süd sei. die geleistete Arbeit beruht. Ich war sechzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mitgefühl als Mal mit dem Thema Gerechtigkeit konfron- tragende Kraft tiert wurde. Den Ausschlag gab unser Geo- grafielehrer, der uns in seinen Lektionen vom Bis heute arbeite ich aktiv im claro-Laden Kolonialismus erzählte, von den Beziehungen meines Wohnquartiers mit. Wenn ich mich zwischen Norden und Süden und davon, wie frage, woher die Motivation dazu kommt, ist diese bis heute in einem Ungleichgewicht ste- die Antwort nicht so leicht zu finden. Ich habe hen. Er liess uns dann das Bananenspiel der den Eindruck, dass diese Sehnsucht nach mehr Erklärung von Bern spielen, des heutigen Pub- Gerechtigkeit in der Welt irgendwo tief in mir lic Eye, in dem man anschaulich in die Han- verankert ist. Es trifft mich persönlich, wenn delsbeziehungen zwischen Industrieländern andere Menschen wegen Ungerechtigkeiten und Weltsüden hineinversetzt wird. leiden müssen. Das hat wohl mit Empathie zu Ich war perplex. Das hatte ich alles nicht tun, mit dem Mitgefühl für jene, die mir nahe gewusst und ich empfand es als unsäglich sind, aber zunehmend auch für jene, die weit ungerecht: dass wir im Norden die Dritt-Welt- weg sind. Länder, wie man sie damals noch nannte, so Der Einsatz für Gerechtigkeit ist für mich schamlos ausbeuteten, allein des Profites deshalb immer auch ein Einsatz für mehr wegen. Ich kam zum Schluss, dass die Schweiz, Frieden. Schon als Kind hat es mich, wenn ich die zwar selber bei der Kolonisierung keine von den Kriegen in dieser Welt gehört habe, Rolle gespielt hatte, sich heute dem Weltsü- beschäftigt, dass sich Menschen gegenseitig den gegenüber genau gleich verhält wie die so Schlimmes antun können. Ich bin davon früheren Kolonialmächte. Und mir wurde klar: überzeugt, dass viele Kriege durch soziale Auch mein eigenes Handeln, mein Einkaufen Ungerechtigkeiten ausgelöst worden sind, und Konsumieren, hat direkten Einfluss auf die durch die tiefen Gräben zwischen armen und Länder des Südens. reichen Bevölkerungsgruppen, sei es inner- halb eines Landes oder zwischen Ländern und Strassentheater und Kontinenten. Bananenverkauf Ich bin in einer katholischen Familie auf- gewachsen, in einem von Offenheit, Toleranz Diese Einsichten liessen mich nicht mehr los und Mitmenschlichkeit geprägten Milieu, in und so nahm ich Kontakt mit der Erklärung dem ich christlichen Glauben als etwas Positi- von Bern auf. Ich engagierte mich dort in einer ves erlebt habe. Bis heute bin ich dadurch auch Gruppe, zusammen mit Schulkamerad*innen, für ein kirchliches Engagement motiviert. Es denen die Geografiestunden ebenfalls Eindruck waren aber nicht die Kirche oder Bibelverse, gemacht hatten. Wir spielten Strassenthea- die mich für das Thema Gerechtigkeit emp- ter über den Bananenhandel oder unser Kon- fänglich gemacht haben, sondern die Grund- sumverhalten und wir kauften in den ersten haltung in meiner Familie: Wichtig waren Dritt-Welt-Läden – heute claro-Läden – ein, Anteilnahme und Respekt gegenüber anderen Er wägungen 1/21 25
Menschen, die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft – eigentlich all das, was man unter dem Begriff «Grundwerte» zusammenfasst. Auf der Suche Das hat mich vermutlich ebenso geprägt wie der Geografieunterricht in der Schule. nach einem Ich hatte tatsächlich nie den Eindruck, dass mein Engagement nichts bringe oder sinn- gerechten Werktag los sei, dass ich nichts bewirken könne oder Urs Häner und Arbeitgruppe wegen Rückschlägen enttäuscht sei. Im Gegen- teil, ich bin mir sicher, dass der faire Handel Die Gruppe «Wärchtigs-ChrischtInne» immer weitere Kreise ziehen wird. Heute stelle trifft sich regelmässig, um das ich fest, dass auch bei den jungen Menschen das Bewusstsein für weltweite Gerechtigkeit Anliegen nach gerechteren Verhält- wieder wächst. Vielleicht nicht zuletzt wegen nissen in der Arbeitswelt mitein der Krisen der letzten Zeit. Diese Entwicklung ander zu teilen. Urs Häner hat macht mir Mut! aufgrund von Gesprächen und Rück- meldungen aus der Gruppe ○ Priska Blattmann, *1961, ist Lehrerin, engagiert sich den vorliegenden Artikel verfasst. aber, nach Aufgabe der Schultätigkeit, vor allem in Projekten des fairen Handels, in ihrer Pfarrei und der Nachbarschaftshilfe. Sie lebt in Zürich und ist dort Bei den «Wärchtigs-ChrischtInne» ist es Brauch, Vorstandsmitglied des claro-Ladens Zürich-Seebach ein Stichwort immer auch vor dem Hintergrund sowie Vertreterin im Kund*innenbeirat der Import- organisation claro Orpund. eigener oder erzählter Arbeitserfahrungen priska.blattmann@gmail.com durchzubuchstabieren. Wir haben uns nun in diesen seltsamen Zeiten ohne reale Zusammen- künfte auf ein Experiment eingelassen und von Ferne Fragmente zu einem «gerechten Werk- tag» zusammengetragen, eingedenk der Tatsa- che, dass die Arbeitsrealitäten sehr verschie- den voneinander sind. Ungleichheit am Arbeitsplatz Den Anfang macht ein Bericht über den eige- nen Arbeitsalltag. Die Sehnsucht nach Gerech- tigkeit erfordert zunächst ein genaues Benen- nen der Situation (sehen – urteilen – handeln). Kollege E. arbeitet als Stellvertreter (Vikar) in städtischen Schülerhorten. «Ich betrachte es als wesentlichen Teil meiner Arbeit, mich zu Beginn eines neuen Einsatzes möglichst rasch in das bestehende Team einzufügen. Dann gibt es aber zahlreiche Momente, in denen ich spüre oder mir explizit zu verstehen gegeben wird, dass ich kein ‹rich- tiges› Teammitglied sei. Ein solcher Moment kann sein, wenn von der Leitung in einer Ple narsitzung ein Teamessen angesagt wird und sie mir danach, quasi entschuldigend, ins Ohr flüstert, dieses sei lediglich für die Festange- stellten vorgesehen. Ebenso kann es mir erge- hen, wenn ich vor Weihnachten einen Sitzungs- raum betrete, der rundum mit Geschenkpaketen für die Mitarbeitenden – aber nur für Festange- stellte – bestückt ist. Dies tut umso mehr weh in Fällen, in denen ich zuvor das Gefühl hatte, echte Wertschätzung zu erfahren. Oft bei Arbeitsantritt kommt mir Freude entgegen, dass überhaupt eine Stellvertretung 26 Er wägungen 1/21
auftaucht, was nicht selbstverständlich ist, Kollege P. erinnert sich an seine Zeit in Kolum- denn bei grosser Nachfrage reicht der beste- bien, wo der sogenannte informelle Arbeits- hende Pool nicht aus, um alle Ausfälle zu sektor mehr als 50 Prozent ausmache. ersetzen. Im Konfliktfall erlebte ich es aber «Zweimal in der Woche klopfte Eusebio an bislang immer so, dass die Leitung vor Ort die unsere Tür. Er trug schwer an seinem Holzbal- Sichtweise ihres festangestellten Teammit- ken, an dem zwei Stauden Bananen hingen. (…) gliedes weitestgehend übernahm und deckte, Er musste allein für seine fünf Kinder sorgen, zum Teil, ohne bei mir nachzufragen. Und da nachdem ihn seine Frau verlassen hatte. Täg- hatte ich dann das Nachsehen, das heisst, ich lich wollte er mindestens vier Dutzend Bana- wurde in der entsprechenden Schuleinheit auf nen verkaufen, um die Mäuler seiner Kinder- eine schwarze Liste unerwünschter Stellver- schar stopfen zu können. Wir waren schon aus treter gesetzt.» diesem Grund gute Kunden für ihn. Aber auch E. ist bewusst, dass zahlreiche andere Stell- seine Bananen hatten es uns angetan: Sie waren vertreter*innen in einer ähnlichen Situation stets frisch, zuckersüss, mit Liebe angepriesen. sind. Er erwähnt auch den Bedarf, sich gewerk- Eusebio, der Bananenverkäufer von Tür zu Tür, schaftlich zu engagieren, um das Bewusstsein war meistens gut aufgelegt. Er dachte stets für Ungerechtigkeiten zu verbessern. Er sel- zuversichtlich an den morgigen Tag: ‹Mañana, ber versucht jedoch vor allem, in den Horten morgen wird ein ganz neuer Tag sein. Ich weiss selbst und bei Gelegenheit auch bei den Leitun- noch nicht, ob es gut gehen wird. Doch mañana gen den Blick für die Situation der Vikar*innen ist mañana!›» zu schärfen. Und Kollege P. fügt bei, die Internationale Arbeitsorganisation ILO in Genf habe versucht, Wann ist ein Lohn gerecht? solchen «vendedores ambulantes» (umherzie- henden Verkäufer*innen) einen sicheren Status Für Kollegin B. klingt das Wort «Sehnsucht» zu geben. So könnten nun in vielen Ländern im Titel dieser Erwägungen etwas zu verträumt, informell Beschäftigte einen staatlichen Aus- so wie die «Sehnsucht nach der ewigen Liebe», weis erlangen, um damit die Sicherheit und denn unter gerechter Arbeit verstünden wohl Würde ihrer Arbeit zu schützen. alle etwas anderes. Sie arbeitet in der Adminis- tration eines öffentlichen Amtes und stellt sich Besseres Leben für alle angesichts der Tatsache, dass viele gar keine Wahl haben, sondern froh sein müssten, über- Es ist hilfreich und wichtig, bei der Frage nach haupt eine Stelle zu haben, die Gerechtigkeits- Gerechtigkeit den Blick auf die globalisierten frage ziemlich nüchtern. Arbeitswelten hin zu weiten. Ebenso wichtig ist «Wie oft habe ich gehört, dass ein Lohnsys- es, nach dem Sehen und dem Urteilen ins Han- tem gerecht sein muss …, aber was heisst das deln zu kommen. Kollegin P. liess sich durch genau? Gleicher Lohn für alle mit entsprechen- ein Parteiprogramm inspirieren: den Zulagen (Kinder in Ausbildung, Betreu- «Gerechtigkeit ist die zentrale Voraus- ung)? Lohn nach Alter, Arbeitserfahrung, setzung für Zusammenhalt und Wohlstand. Dienstalter, Ausbildung, Flexibilität, Leistung Gesellschaften, die zusammenhalten und sozial oder …?? Wer von den drei folgenden Perso- gerecht sind, können Probleme besser meistern. nen darf oder muss am meisten verdienen für (…) In gerechteren Gesellschaften sind die Men- dieselben Aufgaben? Mann, 25, gut ausgebil- schen zufriedener, sind das Einkommen und die det, schnelle Auffassung; Frau, 45, arbeitet gut, Chancen besser gestaltet und das gegenseitige drei Kinder in Ausbildung; Mann, 60, dreis- Vertrauen ist stärker. (…) Gerechtigkeit bedeu- sig Dienstjahre, Kinder ausgebildet, keine Lust tet auch soziale Sicherheit. Sichere und gute mehr, Neues zu lernen, sitzt die letzten fünf Arbeitsplätze, die Zuversicht, dass es gute und Jahre noch ab.» gleiche Bildungschancen für alle Kinder gibt, Womit wir mitten im Abwägen und Urtei- dass genügend bezahlbarer Wohnraum vor- len sind. Kollegin B. erwähnt weitere werk- handen ist, bringen uns der Gerechtigkeit näher. tägliche Gerechtigkeitsfragen: Gibt es Mitbe- (…) Es ist Zeit, jetzt zu handeln! Es ist Zeit für stimmung, was produziert wird oder welche mehr Gerechtigkeit!» Dienstleistungen angeboten werden? Darf Arbeit aus ethischen Gründen abgelehnt wer- ○ Urs Häner, *1956, ist katholischer Theologe und war über dreissig Jahre Druckereiarbeiter. Er ist Mitglied der den? Und was sind gerechte Leistungen in Situ- TheBe-Arbeitsgruppe «Wärchtigs-ChrischtInne» und lebt in Luzern. ationen ohne Arbeit (Rentner*innen, IV-Bezü- uh@sentitreff.ch ger*innen, Stipendien etc.)? Er wägungen 1/21 27
Bundesgericht auf die Beschwerde eintreten Aktuell: Hilfswerke wird, ist bei Redaktionsschluss dieser Num- mer noch offen. unter Druck Einschränkung der Bildungsarbeit Christine Voss Um einiges härter wird es voraussichtlich die Die Kampagne für die Konzernver- Hilfswerke treffen. Bereits wenige Tage nach der Abstimmung erhielten alle, die sich für die antwortungsinitiative (Kovi) Kovi eingesetzt hatten, einen Brief von Bun- wird wohl langfristige Auswirkungen desrat Ignazio Cassis. In diesem wird festge- haben. Vor allem auf die Kirchen, halten, dass jene Hilfswerke, die finanzielle Kirchgemeinden und Hilfswerke, die Beiträge von der Direktion für Entwicklung sich daran beteiligt haben. Sie und Zusammenarbeit (Deza) erhalten, diese werden nun von Politik und Wirtschaft nicht mehr für Information oder Bildungsar- beit brauchen dürften. Für die nächsten Ver- unter Druck gesetzt. träge zwischen Hilfswerken und Deza würde Jetzt erst recht: Das scheint das Motto von eine entsprechende Klausel ausgearbeitet. bürgerlichen Politiker*innen und Wirtschaft Bundesgelder für politische Kampag- zu sein, nachdem sie ihr Nein bei der Kovi- nen einzusetzen, war schon vorher verboten Abstimmung haarscharf durchsetzen konn- gewesen. Nun aber sind auch Informations- ten. Statt es beim «Sieg» zu belassen, gehen broschüren, Angebote für Schulen oder öffent- sie nun konzertiert gegen jene vor, welche die liche Veranstaltungen infrage gestellt. Eben- Ja-Kampagne unterstützt haben. Gleich von falls massiver Druck formiert sich zurzeit im mehreren Seiten kommen zurzeit Interventio- Parlament. Mehrere Vorstösse zum Thema nen, welche die Kirchen und Hilfswerke treffen wurden bereits für die nächste Session einge- sollen. Einige, die voraussichtlich längerfris- reicht. Sie gehen bis zur angedrohten Einstel- tige Konsequenzen haben werden, sollen hier lung jeglicher Unterstützung an die Hilfswerke genannt sein. durch den Bund. «Keine öffentlichen Gelder an Projekte von Nichtregierungsorganisationen, «Grenzwertiges» welche sich an politischen Kampagnen betei- Verhalten der Kirchen ligen», fordert zum Beispiel FDP-National- rat Hans-Peter Portmann. Von einer Kürzung Bereits vor dem Abstimmungsdatum reich- der Beiträge ist allerdings im Brief von Bun- ten die Jungfreisinnigen in vier verschiedenen desrat Cassis nicht die Rede. Vorläufig geht es Kantonen Stimmrechtsbeschwerde ein, so in um die Verwendung der Gelder, die in Zukunft den Kantonen Aargau, Bern, St. Gallen und nur noch im Ausland eingesetzt werden dürfen. Thurgau. Sie forderten die Kantone auf, den Kirchen die Unterstützung der Ja-Kampagne Basisgruppen werden aktiv zu verbieten. Ihre Forderung begründeten sie damit, dass die Kirchen als öffentlich-rechtli- Als «Maulkorb» bezeichnet Fabian Molina, che Körperschaften keine «politische Propa SP-Nationalrat und Co-Präsident des Hilfs- ganda» machen dürften. werks Swissaid, das Vorgehen von Bundesrat Die Kantone sind aber, wie sich in der Zwi- Cassis. Die Internetzeitung Infosperber setzt, schenzeit gezeigt hat, nicht auf die Beschwerde noch dezidierter, den Titel «Rache gegen Hilfs- eingetreten. Aus diesem Grund sind die Jung- werke» über einen Bericht zu den Vorgängen.1 freisinnigen nun ans Bundesgericht gelangt. Bernd Nilles, Direktor von Fastenopfer, argu- Als Erstes hat die Bundeskanzlei Position mentiert auf der Sachebene: «Gemäss der Tra- bezogen. Sie rügt in einer Stellungnahme an dition der Hilfswerke ist die Sensibilisierung in das Bundesgericht das kirchliche Verhalten der Schweiz ein wichtiger Teil unserer Arbeit. als «zumindest grenzwertig». Die Kirchen Mit dem überraschenden Beschluss, diese nicht seien zu «Sachlichkeit, Transparenz und Ver- mehr zu fördern, vermittelt die Deza den Ein- hältnismässigkeit» verpflichtet. Ob sie diese druck, diese Arbeit sei nicht mehr erwünscht. Vorgaben bei der Kovi-Kampagne eingehalten Aber es macht doch keinen Sinn, wenn wir gute hätten, sei «fraglich». So sei auf der Website Projekte im Süden finanzieren und dann bei der Komitees «Kirche für Konzernverantwor- uns nicht darüber informieren». tung» kein Hinweis darauf zu finden gewesen, Ein konkretes Zeichen gesetzt hat hinge- «dass es auch Gegenargumente gibt». Ob das gen die Basisgruppen-Bewegung Schweiz: Sie 28 Er wägungen 1/21
hat umgehend einen offenen Brief an Bundes- Frage aufgeworfen, in wessen Interesse die rat Cassis verfasst, in dem die Widersprüch- von der Schweiz geleistete Entwicklungszu- lichkeit von dessen Argumentation aufgezeigt sammenarbeit nun eigentlich stehe. Bundes- wird (s. unten). Wie Jacqueline Keune, die rat Cassis plädiert seit Amtsantritt dafür, dass Koordinatorin der Basisgruppen-Bewegung, die Hilfswerke verstärkt auch die Schweizer sagt, freuen sich die Basisgruppen über weitere Wirtschaft in ihre Projekte einbeziehen sol- Kreise, welche die Vergabe von Bundesgeldern len. Damit gibt er implizit Antwort auf die an die Hilfswerke im Auge behalten und auch Frage nach den Interessen: Wenn schon Geld darauf reagieren. in den Süden investiert wird, dann soll auch möglichst viel davon wieder in die Schweiz Welche Interessen zurückfliessen. vertreten die Hilfswerke? ○ Christine Voss, *1956, ist Journalistin und seit letztem Aus heiterem Himmel kommen die Attacken Jahr Redaktorin der Erwägungen. Sie ist TheBe-Mit- glied und lebt in Zürich. gegen die ideelle Ausrichtung der Hilfswerke christine.voss@bluewin.ch allerdings nicht. Schon vor zwei Jahren wurde im Parlament eine «Verknüpfung von Entwick- 1 Markus Mugglin: Rache gegen Hilfswerke, 24.12.2020. lungszusammenarbeit mit Migrationsfragen» infosperber.ch/politik/rache-gegen-hilfswerke. gefordert. Und ebenso wurde schon früher die Offener Brief an Bundesrat Ignazio Cassis: Maulkorb für die Hilfswerke Luzern, 30. Dezember 2020 Sehr geehrter Herr Bundesrat Aufgrund des Engagements der Hilfswerke für die Konzernverantwor- tungsinitiative haben Sie die Praxis der Vergabe von Bundesgeldern erneut verschärft und die politische Kontrolle über deren Verwendung noch mehr ausgeweitet. Künftig dürfen Hilfswerke das Geld der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) nicht mehr für Informations- und Bildungsarbeit im Inland verwenden. Konkret: Ein Hilfswerk darf zwar weiterhin afrikanische Bäuerinnen im Gewin- nen von traditionellem Saatgut unterstützen, in der Schweiz aber keine Veranstaltungen mehr durchführen, die die Macht multinationaler Konzerne über die Landwirtschaft im südlichen Afrika beleuchten. Er wägungen 1/21 29
Wir empfinden es als unwürdig, dass sich ein Land, das sich immer wieder seiner Demokratie rühmt, Werken, die sich einer gerechteren Welt verschrieben haben, solche Maulkörbe auferlegt. Und wir protestieren dagegen, dass zwar die Folgen des Unrechts gelindert werden dürfen, aber seine Ursachen und Verantwortlichen verschwiegen werden müssen. Wie können wir die konkreten Lebensbedingungen von Abermillionen von Armgemachten dieser Welt vor Augen haben, ohne gleichzeitig die politischen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen, die diese mitverursachen? Und wie soll nachhaltige Veränderung hin zum Besseren beziehungsweise ein notwendiger sozial-ökologischer Systemwechsel je möglich werden ohne tiefgreifende Veränderung des politischen und persönlichen Bewusstseins über entsprechende Informations- und Bildungsarbeit? Gerade etwa die Ökumenische Kampagne der Fastenzeit von Brot für alle und Fastenopfer (diese wird mit privaten Mitteln finanziert) hat hier über Jahrzehnte hinweg einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Die Bildungs- arbeit der beiden Hilfswerke hat nicht nur Generationen die Augen geöffnet für die Hintergründe konkreter Not, sondern hält in ihnen auch den Traum einer anderen, einer Welt des Friedens und der Gerechtig- keit wach. Es genügt angesichts der riesigen globalen Herausforderungen bei Weitem nicht, die Menschen im Süden zu unterstützen, sondern die entsprechende Arbeit vor Ort muss zwingend mit politischer Arbeit bei uns verbunden werden und bleiben. Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungspolitik sind nicht voneinander zu trennen. Wir bitten Sie eindringlich, auf die prophetische Stimme und auf die über Jahrzehnte hinweg gemachten Erfahrungen der Hilfswerke zu hören und Ihre eigene Haltung zu überdenken. Wir danken Ihnen dafür. Basisgruppen/Basisgemeinschaften Chêne, Genf, Küssnacht am Rigi, Luzern Nord, Luzern Süd, Meyrin, Nyon, St. Gallen 30 Er wägungen 1/21
Aus dem Jahresver Arbeits sammlungen Vorstand gruppen Als neues Vorstandsmitglied wur- de an der Jahresversammlung Vorschau: Die Jahresversammlun- gen von TheBe, Resos und Neue Arbeitsgruppe 2020 Verena Keller gewählt. Wir Wege finden am 19. Juni in Luzern Wärchtigs- danken ihr herzlich für ihr bishe- statt. Anschliessend laden wir zu ChrischtInne riges Engagement und freuen uns einem Vortrag des Instituts für über den weiteren gemeinsamen Theologie und Politik (ITP) in Wir sind weiterhin offen für inte- Weg! Christine Voss nimmt als Re- Münster (DE) ein. Genauere An- ressierte Frauen und Männer, die daktorin der Erwägungen in der gaben zum Ablauf des Tages fol- mitdiskutieren wollen bei werk- Regel an den Vorstandssitzungen gen später (siehe auch Website täglichen Themen. Wenn die Zu- teil. Auch diese Zusammenarbeit thebe.ch). sammenkünfte analog stattfin- ist sehr konstruktiv und koope- den können, beginnen wir nach rativ angelaufen. Besten Dank! einer «Teilete» mit einem Reih- Neben den Tagesgeschäften be- Folgende Veranstal- umgespräch zu Fragen des eige- schäftigen wir uns derzeit mit dem tungen empfehlen wir nen Werktags. Einzelne Stichwor- Beitritt zur Nachfolgeorganisati- zur Teilnahme: te, vor allem solche, die mehrfach on der Allianz «Es reicht!». Die auftauchen, werden dann vertieft, Allianz «Es reicht!» bildete sich oft ist uns auch eine vereinbarte aus den Protestaktionen gegen RomeroTag Lektüre Anregung für eine weiter- den erzkonservativen Kurs im Samstag, 20. März, 9.30–16.00 Uhr, führende Diskussion. Bistum Chur. Die Nachfolgeorga- Romerohaus, Luzern, oder online Wie es in Corona-Zeiten kon- nisation soll einen positiv formu- kret weitergehen kann, muss lierten Namen erhalten und sich jeweils neu ausgehandelt wer- für Erneuerung und eine offene Politisches Nachtgebet den – nie war die Formel von der Kirche Schweiz einsetzen. Wir Mittwoch, 24. März, 19.30 Uhr, «rollenden Planung» so treffend … Peterskapelle, Luzern werden dazu voraussichtlich an der Jahresversammlung im Juni ○ Auskünfte: Paul Jeannerat-Gränicher einen Antrag stellen. Ostermarsch Bern graenicher.jeannerat@gmx.ch Wir rufen dazu auf, gemäss Ostermontag, 5. April, 13.00–15.00 031 859 33 46 dem Beispiel der Basisgruppen- Uhr, ab Eichholz an der Aare Bewegung Schweiz, die Politik des EDA unter Bundesrat Cassis in Bezug auf die Hilfswerke Internationaler Frauen-Lesegruppe kritisch zu verfolgen und ge- Bodensee-Friedensweg «Feministische gebenenfalls zu reagieren. Vo- Ostermontag, 5. April, 14.30–17.00 Theologie» rausgegangen ist die Basisgrup- Uhr, Überlingen (DE) pen-Bewegung Schweiz, die Unsere feministisch-theologische einen offenen Brief an den Aus- Lesegruppe trifft sich – nach ei- senminister verfasste – eine Re- Die Bewegung ATD ner coronabedingten Pause – wie- aktion auf den «Maulkorb» für 4. Welt und ihre Vision der regelmässig, im Schnitt jeden die Hilfswerke im Nachklang zur Samstag, 10. April, 15.00–17.00 zweiten Monat in Bern. Unsere Konzernverantwortungsinitiative. Uhr, Gartenhofstr. 7, Zürich, Treffen finden coronakonform im Dieser Brief ist auf unserer Home- T ischgespräch mit Christine Lindt Haus der Begegnung an der Mit- page aufgeschaltet. Wir werden Ob die Veranstaltungen stattfinden telstrasse, unweit des Bahnhofs, können, ist der Homepage namens der TheBe einen eige- statt. Wir kommen jeweils mit- thebe.ch zu entnehmen. nen Brief verfassen. einander ins Gespräch über ein vorgängig ausgewähltes feminis- tisch-theologisches Buch. Vor einem Jahr haben wir uns entschieden, uns vertiefter mit Ko- ranexegese aus feministisch-theo- logischer Sicht auseinanderzuset- zen. Auf das Buch Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demo- kratie, Freiheit und Frauenrech- te von Katajun Amirpur, einer deutsch-iranischen Professorin für Islamische Studien in Ham- burg, folgte das Grundlagenwerk Er wägungen 1/21 31
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