Erwägungen 1/2021 Sehnsucht nach Gerechtigkeit

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Journal der Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung

                              Erwägungen 1/2021
                          Sehnsucht nach Gerechtigkeit
Schon drei Monate ist es her, seit wir enttäuscht die Ablehnung der Konzern-
verantwortungsinitiative (Kovi) zur Kenntnis nehmen mussten. Die
einen trösteten sich damit, dass immerhin die Mehrheit der Bevölkerung
Ja dazu gesagt hatte, die anderen damit, dass durch die prägnante
Ja-­Kampagne so etwas wie ein neues Bewusstsein entstanden sei. Die
Tatsache aber bleibt, dass es vorläufig nicht mehr Gerechtigkeit für die
Menschen im Süden geben wird.
   Die Diskussionen im Anschluss an die Abstimmung haben den Aus-
schlag zum Titel dieser Nummer gegeben. Warum ist Gerechtigkeit
den einen so ein brennendes Anliegen, anderen hingegen – einem Gross-
teil der Wirtschaft und den bürgerlichen Parteien – offenbar völlig
egal? Woher kommt denn eigentlich unsere «Sehnsucht nach Gerech-
tigkeit», und wie können wir ihr Gestalt geben?
   Zu diesen Fragen lässt das vorliegende Journal verschiedenste
Menschen zu Wort kommen, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen,
im Weltsüden oder im eigenen Land. Viele von ihnen sind Mitglieder
der «Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung», die
bereits 1982 formuliert hat, dass für sie «die Befreiung aus allen Formen
der Ungerechtigkeit zentrales Anliegen» sei (aus: Porträt, thebe.ch).
Gerade jetzt, wo Kirchen und Hilfswerke wegen ihres Einstehens für Kovi
in die Zange genommen werden (s. Seiten 28—30), ist es einmal mehr nötig,
sich in diesem Grundsatz zu bestärken.

    Christine Voss

Interview mit                      Klimakrise:               Auf der Suche               Offener Brief an
Jochi Weil                         Die Jungen                nach einem                  Bundesrat
Christine Voss, S. 18              tragen                    gerechten                   Ignazio Cassis
                                   die Folgen                Werktag                     Basisgruppen-Bewegung
Menschenrechte                     Fanny Wissler, S. 24      Urs Häner und               Schweiz, S. 29
für wen?                                                     Arbeitsgruppe, S. 26
                                                                                         Aus dem
Andreas Nufer, S. 21
                                   Bewegt vom                Aktuell:                    Vorstand
                                   fairen Handel             Hilfswerke                  S. 31
Guatemala:                         Priska Blattmann und
die Hoffnung                                                 unter Druck
                                   Christine Voss, S. 25
                                                                                         Arbeitsgruppen
stärken                                                      Christine Voss, S. 28
                                                                                         S. 31
Toni Steiner, S. 22

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überfordert. Ich war ein sehr lebhaftes Kind,

«Die Sehnsucht nach                                mit viel Energie, Neugier auf das Leben und
                                                   Unternehmungslust. Das war für sie schwer
Gerechtigkeit                                      auszuhalten. Mein Bruder, der zwei Jahre spä-
                                                   ter geboren wurde, war im Gegensatz zu mir
ist in uns angelegt»                               ruhig und zurückhaltend. Deshalb war er dann
                                                   oft der Liebe und ich der Böse. Ich empfand das
Gespräch mit Jochi Weil                            als zutiefst ungerecht – und diese Gefühle von
von Christine Voss                                 damals stecken bis heute in mir.

Seit Jahrzehnten setzt sich Jochi Weil             CV   Und diese Gefühle haben dann den Einsatz
in verschiedensten Projekten für                        für Gerechtigkeit auch für andere ausgelöst?
gerechtere Lebensbedingungen ein,                  JW  Das ging natürlich nicht auf einer so
vor allem auch im Nahen Osten.                     bewussten Ebene vor sich. Ich kann mich noch
Im Gespräch erzählt er, was ihn zu                 erinnern, wie ich nach der Sekundarschule eine
diesem Einsatz motiviert hat und                   Lehre als Eisenbetonbauzeichner begann und
wie er bis heute als Jude im Dilemma               in ein Lehrlingsheim zog. Meine Kameraden
zwischen Gerechtigkeit, der israeli-               dort erzählten mir immer wieder Geschich-
                                                   ten, wie sie als Lehrlinge von ihren Chefs aus-
schen Politik und seinem jüdischen                 gebeutet und schlecht behandelt wurden. Das
Glauben steht.                                     empörte mich dermassen, dass ich zum Tele-
                                                   fonhörer griff, einen dieser Lehrmeister anrief
Schwungvoll öffnet Jochi Weil die Wohnungs-        und ihm deutlich meine Meinung zu seinem
tür und begrüsst die Journalistin mit Herz-        Verhalten sagte.
lichkeit. An seinem Pullover trägt er einen
Ansteckknopf mit der Aufschrift «Black lives       CV   Der Lehrmeister war wohl sehr erfreut ...
matter». Aha, ein neues Thema in der breiten
Palette von Jochis Engagements? «Das geht          JW  Er war, meiner Erinnerung nach, perplex
nicht, was in den USA abläuft – aber auch bei      und empfand meinen Anruf als Frechheit.
uns, wenn auch auf anderen Ebenen», entgeg-            Es ging dann weiter, als ich mit siebzehn
net Jochi energisch, «da muss man reagieren.»      Jahren in den jüdisch-zionistisch-sozialis-
Und schmunzelnd fügt er hinzu: «Ich trage den      tischen Jugendbund eintrat, den Hashomer
Knopf auch, wenn ich am Schabbat in die Syn-       Hatzair. Dort war ich sehr engagiert und dort
agoge gehe. Gut sichtbar. Doch kaum jemand         kam ich zum ersten Mal mit den Gedanken von
reagiert darauf.»                                  Karl Marx in Berührung.
    Das ist Jochi, wie ich ihn seit rund zwan-
zig Jahren kenne. Immer wieder neu bewegt          CV   Zionistisch und sozialistisch, geht das
von der Ungerechtigkeit, die er in den Bezie-           denn zusammen?
hungen zwischen Menschen und in der Welt-
politik wahrnimmt. Und dabei oft aktiv: sei        JW Damals sehr wohl. Diese Bewegung war im
es für eine Strafreform in der Schweiz, für die    Grund genommen eine Vorbereitung auf das
Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Ost-      Leben im Kibbuz. Und die Kibbuz-­Bewegung
türkei und in Nordsyrien, vor allem aber im        wiederum ging in ihren Ursprüngen von einem
Nahostkonflikt, im jahrzehntelangen Einsatz        Gesellschaftsmodell aus, in dem alle auf
für die palästinensische Bevölkerung in Israel     Augenhöhe, unabhängig von Ausbildung und
und Palästina. «Seit meiner Kindheit bin ich       sozialem Status, miteinander das Leben tei-
auf der Suche nach Gerechtigkeit», hat Jochi       len. Kein Lohn, gleiche Aufgaben im Zusam-
mir geschrieben, als ich ihn per Mail für dieses   menleben, ob das nun Akademiker*innen oder
Interview anfragte.                                Arbeiter*innen waren. Es war ein eigentliches
                                                   sozialistisches Experiment in der Zeit seit
CV   Wie sah diese Suche nach Gerechtigkeit für    etwa 1927. Bekannte linke Juden, wie zum Bei-
     dich als Kind aus, Jochi?                     spiel Bernie Sanders, lebten eine Zeitlang in
                                                   einem Kibbuz des Hashomer. Über den Hin-
JW  Gerechtigkeit war damals noch sehr auf         tergrund der Besiedlung Israels und darüber,
mich persönlich bezogen. Weil meine Mut-           dass es dabei ungerecht vor sich ging, stellte
ter nach der Schwangerschaft in eine Depres-       man sich allerdings keine Fragen.
sion geriet, war sie mit mir als Kind völlig
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Die Diskussionen über das Denken bei Marx             Mal wieder in die Synagoge. Und zwar des-
eröffneten mir eine ganz neue Welt – eine             halb, weil ich auf der Suche nach meinen
rundum faszinierende! Sie holten mich bei             Wurzeln war. Irgendwie scheint das mit dem
meinem Grundbedürfnis nach Gerechtig-                 Älterwerden aktuell zu werden, diese Fragen:
keit ab und gaben diesem einen reflektierten          Wo komme ich her, wer sind meine Vorfah-
Hintergrund.                                          ren, wie wurde ich durch sie geprägt? Wie
   Ich hielt daraufhin meinem Chef Vor-               mit inneren Fäden gezogen suchte ich damals
träge über die kapitalistischen Strukturen sei-       erneut den Kontakt zur Israelitischen Cultus-
nes Unternehmens und erklärte ihm, warum              gemeinde Zürich.
es ungerecht sei, dass ich im ersten Lehrjahr             Seither gehe ich jeden Schabbat in die Syn-
einen Lehrlingslohn von 70 Franken im Monat           agoge, an den modern-orthodoxen Gottes-
erhielt und er selber, wegen eines Deckensys-         dienst. Diese Regelmässigkeit ist mir wichtig
tems, für das auch ich Pläne gezeichnet hatte,        geworden, auch wenn ich für die Mitgläubi-
zusätzlich reich wurde. Der Chef hielt sich           gen dort ein «Exot» bin. Meine humanitäre
nicht bei grossen Diskussionen auf, sondern           Haltung wird zwar einigermassen akzeptiert
erklärte mir ganz einfach: «Im Grund genom-           und wenn ich mich für Kurd*innen einsetze, ist
men hast du recht. Aber das nützt dir nicht viel,     das nicht weiter der Rede wert. Wenn ich mich
denn wir Wirtschaftsleute sitzen am längeren          aber zur Situation der Palästinenser*innen im
Hebel!» Diese knappe Aussage ist für mich bis         Nahen Osten äussere, überschreite ich ganz
heute modellhaft für das, was sich in der Welt-       offensichtlich eine rote Linie. Ich merke aber:
wirtschaft ereignet.                                  Ich bin so tief überzeugt von meinen Anliegen,
                                                      dass ich diese Spannung aushalten kann.
CV   Und deine jüdische Religion? Die vielen
     Aussagen über Gerechtigkeit in der               CV   Zurück zur Tora. Wenn du die Rückbindung
     Tora – haben dich diese nicht auch inspiriert?        an die Schriften deiner Tradition offenbar
                                                           wieder gefunden hast, beschäftigst du dich
JW Das würdest du jetzt gerne hören, nicht                 ja sicher auch mit den Aussagen der Tora
wahr? Aber ich muss dir ehrlich sagen, die                 zur Gerechtigkeit.
Religion war damals überhaupt kein Thema für
mich. Der Jugendbund war denn auch tendenzi-          JW  Ja, natürlich, und es war für mich eine ein-
ell atheistisch ausgerichtet. Ich selber komme        drückliche Entdeckung, dort zu finden, was
aus einem kleinbürgerlichen, jüdisch-liberalen        bereits in mir selber als Haltung herangewach-
Elternhaus; das Religiöse beschränkte sich auf        sen war. Der bedeutende Rabbiner Zalman
das Kerzenanzünden beim Eingang des Schab-            Kossowsky hat gesagt, es werde tradiert, dass
bat, den Religionsunterricht in der Israeliti-        der Tora zufolge die Welt auf drei Säulen ruhe:
schen Cultusgemeinde ICZ und die wichtigs-            Wahrheit, Recht/Gerechtigkeit und Frieden.
ten jüdischen Feiertage. Ich denke aber, das          Auf diese Stichworte hin sollten wir die Tora
Gerechtigkeitsgefühl ist etwas Universelles,          lesen. Eine der zentralsten Stellen dort lautet:
etwas, das in allen Menschen angelegt ist.            «Zedek, Zedek Tirdof» – «Gerechtigkeit, und
                                                      nur Gerechtigkeit»!
CV   Wenn das so wäre, sähe es in unserer Welt
     heute aber anders aus ...                        CV   Und was ist dabei mit Gerechtigkeit ge-
                                                           meint? Die reformierte Tradition hat dieses
JW Man müsste eher fragen: Was ist mit Men-                Wort ja dann als «Rechtfertigung vor Gott»
schen, die Ungerechtigkeit akzeptieren oder                verstanden, also als individuelles Bestehen
sogar ausüben, passiert, dass sie ein solch                vor Gottes Ansprüchen an uns.
grundlegendes Bedürfnis verdrängen? Die
Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist meiner               JW Nein, im Judentum geht es beim Thema der
Meinung nach im innersten Kern des Men-               Gerechtigkeit immer auch um konkretes Han-
schen angelegt. Und in dieser Hinsicht ist die        deln, um einen gewissen Ausgleich zwischen
Tora – das sind die fünf Bücher Moses – so            Armen und Reichen, zwischen Mächtigen und
etwas wie ein Spiegel dieses Bedürfnisses.            Unterdrückten, und vor allem auch gegenüber
                                                      den Fremden. Eines der wichtigsten Gebote
CV   Religion und Gerechtigkeit haben also            lautet: Mit den Fremden in deinem Land sollst
     doch einen Zusammenhang?                         du anständig umgehen. Heute müsste man
                                                      diese Aussage auf die Flüchtlinge beziehen.
JW Diese Fragen stellten sich mir erst viel              Für Juden und Jüdinnen, auch in meiner
später. Vor 22 Jahren ging ich zum ersten             Zürcher Gemeinschaft, ist das Spenden für
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Benachteiligte Pflicht: Für Arme – zur Zeit           früher übliche Tendenz, sich mit der Hoffnung
des alten Israel waren das die Witwen und Wai-        auf ein besseres Jenseits zu trösten. Sondern
sen – für Behinderte und Randständige. Unsere         es sind diese uralten Worte in der Tora und die
613 Gebote, von denen jetzt allerdings nur noch       Gebete, in denen so viel Kraft liegt. Sie helfen
etwa die Hälfte gelten, weil die andere Hälfte        mir, in der Zerrissenheit der Welt wieder zu mir
auf das Opfern im Tempel in Jerusalem bezo-           selbst zu kommen. Ich kann mich damit besser
gen waren, haben im Grund genommen nur                auf eine Grundhaltung einlassen, die ich von
einen Zweck: uns auf diesem Weg zu Gerech-            Leonhard Ragaz, dem Begründer des religiö-
tigkeit und Liebe, das heisst auch zu Gott hin,       sen Sozialismus in der Schweiz, gelernt habe:
Richtlinien und Halt zu geben. Das Wesent-            Das Reich Gottes beginnt bereits in dieser Welt.
lichste ist zusammengefasst im Gebot: «Liebe          Und überall, wo wir uns für Gerechtigkeit ein-
deinen Nächsten wie dich selbst.»                     setzen, wird etwas davon sichtbar.

CV   Das hat bekanntlicherweise auch Jesus            ○   Jochi Weil, *1942, ist TheBe-Mitglied und Vorstands-
     gesagt ...                                           mitglied der Religiös-Sozialistischen Vereinigung der
                                                          Deutschschweiz (Resos). Er lebt in Zürich.
                                                          Prägend war für ihn in jüngeren Jahren die Mitarbeit
JW Ja, aber das ist eine zentrale Aussage der             in der einstigen Arbeitsgruppe für Strafreform an der
Tora. Schliesslich war Jesus ein Jude und                 Hochschule St. Gallen unter der Leitung von Prof.
                                                          Eduard Naegeli (1971—76). Von 1981 bis 2012 arbeitete
hat sich in seinen Reden über Gerechtigkeit,              Jochi Weil bei medico international schweiz, vormals
Nächstenliebe und Barmherzigkeit immer auf                Centrale Sanitaire Suisse CSS Zürich, unter anderem
die Tora berufen.                                         für basismedizinische Projekte in Israel/Palästina.
                                                          2001 war er Mitgründer und freiwilliger Mitarbeiter
                                                          der Kampangne Olivenöl aus Palästina. Weitere Nah-
CV   Dann besteht aber ein grosser Zwiespalt              ost-Engagements waren oder sind unter anderen der
                                                          Schweizer Freundeskreis von Givat Haviva, die Orga-
     zwischen den Geboten und dem Handeln                 nisation Breaking the Silence in Israel, die monat-
     vieler Israeli, gerade auch religiöser Kräfte,       lichen Mahnwachen für gerechten Frieden in Israel/
     im heutigen Israel.                                  Palästina.
                                                          2013 hat sich Jochi Weil aus gesundheitlichen Gründen
                                                          von der aktiven Arbeit zurückgezogen.
JW  Ja, das ist leider so. Darüber streite ich auch
                                                          j.weil@bluewin.ch
ab und zu in meiner Gemeinde hier in Zürich.
Aber solche blinden Flecke und Widersprüche
scheint es in der Praxis der Religionen schon
immer gegeben zu haben. Wenn ich zum Bei-
spiel an die Unterwerfung der indigenen Bevöl-
kerung in Lateinamerika denke, die explizit
christlich begründet wurde ...
   Aber trotzdem: Solidarität ist sehr wohl ein
Thema in meiner Gemeinde. Allerdings meis-
tens dann, wenn es um uns selber geht, zum
Beispiel beim Kampf gegen den Antisemitis-
mus. Aber auch der Einsatz für eine tolerantere
Flüchtlingspolitik ist den jüdischen Gemein-
schaften wichtig.
    Die genannten drei Säulen der Tora enthal-
ten schliesslich klar einen politischen Aspekt,
nämlich in der Verbindung zwischen den
Begriffen Recht/Gerechtigkeit und Frieden.
Wenn wir Frieden wollen, braucht es dafür
mehr Gerechtigkeit. Und beide Begriffe haben
für mich ganz klar eine religiöse Dimension.

CV   Wie meinst du das?

JW  Wenn ich die Welt heute anschaue, sehe
ich sie in einem dermassen desolaten Zustand,
dass ich diesen auf einer rein menschlichen
Ebene oft kaum aushalten würde. Die religi-
öse Dimension hilft mir, einen anderen Blick-
winkel einzunehmen. Ich meine jetzt nicht die
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die Verarbeitung von Bauxit zu Aluminium zu

Menschenrechte                                     gewinnen. Während der Präsentation sagte
                                                   einer der Anwälte, dass am Rio Trombetas ja
für wen?                                           niemand wohne. Ich dachte zuerst, das sei ein
                                                   Versprecher. Dann hielt ich die Hand auf und
Andreas Nufer                                      widersprach. Der Anwalt erwiderte, nein, in der
                                                   Gegend lebten keine Bürger von Brasilien.
Seit Jahrzehnten setzt sich Andreas                   Dieses Erlebnis erschütterte mich. Es war
                                                   also nicht so, dass in Brasilien alle Menschen
Nufer für Gerechtigkeit gegenüber                  vor dem Gesetz gleich waren. Damals galten
Asylsuchenden und Migrant*innen                    Indigene und Quilombolas offiziell als «Min-
ein. Bereits in der Schule, später                 derjährige». In den nächsten Monaten und
bei einem Einsatz in Brasilien und                 Jahren lernte ich dann, wie sich brasilianische
dann als Pfarrer machte er prägen-                 Aktivist*innen und Theolog*innen für eine
de Erfahrungen, die ihm bis heute                  Gerechtigkeit, die allen Menschen im Land gel-
                                                   ten sollte, engagierten. Das hat mich geprägt.
Leitlinien für sein Handeln gegeben
haben.                                             Sackgasse für Asylsuchende
Im Gymnasium hatte ich gelernt, dass vor dem       Zurück in der Schweiz und einige Jahre spä-
Gesetz alle gleich seien. Mir gefielen diese       ter, frisch im Pfarramt, klingelten eines Tages
Stunden zum Thema Menschenrechte – auch            ein Nigerianer und ein Liberianer an unserer
wenn sie knapp bemessen waren. Vielleicht          Tür. Sie erzählten, dass sie aus der Asylunter-
faszinierte mich dieser Artikel 7, «Alle Men-      kunft ausgewiesen worden waren und nun kein
schen sind vor dem Gesetze gleich», weil er für    Dach über dem Kopf hätten. Bundesrat Blocher
meinen Grossvater wichtig war. Er sprach zwar      hatte wenige Tage zuvor das Nothilfesystem
nie explizit darüber, aber als Flughafenarbei-     für abgewiesene Asylsuchende durchgesetzt.
ter und Kleinstbauer war es ihm oft wichtig zu     Es war ein kalter, regnerischer Samstag im
betonen: «Die feinen Herren sind nicht besser      November und wir entschieden uns, dass die
als wir! Das Gesetz gilt für alle.»                beiden bei uns im Pfarrwohnungsbüro hausen
    Während des Studiums zogen mich dann die       dürften. Ich konnte fast nicht glauben, was sie
theologischen und philosophischen Grundla-         mir erzählten. Sie lebten in der Schweiz, mit-
gen der Menschenrechte an. Ich verschlang die      ten unter uns, und waren elementarer Rechte
Texte von Hannah Arendt und lernte, wie wich-      beraubt worden. Einfach so. Seither begann
tig es ist zu betonen, dass jede einzelne Person   ich, mich mit Asyl- und Migrationsfragen zu
«Recht auf Rechte» hat. Ich war überzeugt, dass    beschäftigen. Wenige Wochen später gründe-
die Weltgemeinschaft nach der Shoa gelernt         ten wir zusammen mit weiteren 26 Personen
hatte, dass das Individuum vor autoritären         das Solidaritätsnetz Ostschweiz, das dann
Nationalstaaten geschützt werden müsse, und        rasch wuchs.
lebte in der Überzeugung, dass dieser Grund-           Es ist immer noch so, dass geflüchtete Men-
satz – genauso wie die Menschenrechte – für        schen in der Schweiz nicht die gleichen Rechte
alle und überall unumstösslich sei.                haben wie jene, die hier geboren sind. Walter
                                                   Leimgruber, der Präsident der Eidgenössi-
Staudamm in Brasilien                              schen Migrationskommission, sagte kürzlich
                                                   mit Blick auf die Menschen in der Langzeit-
Wenige Semester später folgte ich kurz nach        nothilfe: «Wir produzieren gerade eine grosse
meiner Ankunft im brasilianischen Belém, wo        Zahl kaputter Kinder.» Nicht nur die Tausen-
ich ein Praktikum absolvierte, einer Einladung     den von Menschen, die sich in der Nothilfe
an den Fluss Trombetas, mitten im Amazo-           befinden, leben in einer zermürbenden Sack-
nasgebiet. Wir besuchten dort ein Treffen mit      gasse, auch Geflüchtete in den Zentren oder
4000 Quilombolas. Quilombolas sind Nach-           mit dem Aufenthaltsstatus F werden systema-
fahr*innen afrikanischer Sklav*innen, die vor      tisch ihrer Rechte beraubt. An Beispielen fehlt
mehr als hundert Jahren an sehr abgelegenen        es wahrlich nicht.
Orten eigene Dorfgemeinschaften gegründet              Ähnliches gilt für Menschen mit einem Sta-
hatten. Zwei Wochen später nahm ich an der         tus B, die ihre Arbeit verlieren, oder für solche,
Präsentation eines Energieunternehmens teil.       die straffällig geworden sind. Ganz zu schwei-
Dieses wollte mit japanischen Investoren einen     gen von der Kriminalisierung von Menschen-
Staudamm im Trombetas bauen, um Strom für          rechtsaktivist*innen, die den Gebeutelten und
                  Er wägungen 1/21                                        21
Entrechteten helfen und sich mit ihnen soli-
darisieren. Wie fast immer, wenn Menschen-
rechte verletzt werden, bläst die Willkür wie                  Guatemala:
eine steife Bise durch viele dieser Situationen.
Immer wieder reibe ich mir die Augen und
                                                               die Hoffnung stärken
staune über krude Argumente, schräge Umkeh-                    Toni Steiner
rungen und pure Ignoranz in entsprechenden
Gerichtsurteilen.                                              Als Dominikaner und Krankenpfleger
Gegenseitige Ermutigung                                        hat Toni Steiner einprägsame Erfah­
                                                               rungen in Lateinamerika gemacht.
Das alles ist aus meiner Sicht ungerecht und                   Dabei hat er die ungerechten Verhält-
unhaltbar. Gleichzeitig ist mir die Begegnung                  nisse in diesen Ländern aus einem
und Zusammenarbeit mit diesen Menschen                         neuen Blickwinkel wahrgenommen.
auch Triebfeder. Es sind sehr viele Menschen in                Von der Schweiz aus setzt er sich
den Kirchgemeinden, Pfarreien und Soligrup-
pen, die oft still und unbemerkt, aber dennoch
                                                               seither für die indigene Bevölkerung
beharrlich und beherzt mit und für Geflüch-                    in Guatemala ein.
tete arbeiten. Ich erlebe es als sinnstiftend, mit
vielen Engagierten aus der ganzen Schweiz für                  Angefangen hatte mein Einsatz für Gerechtig-
diese Menschen am Rand zu kämpfen. Ihnen                       keit mit einem Bildungsurlaub in Lateiname-
gehört die Gerechtigkeit! Natürlich tun Erfolge                rika, den ich 1983 antrat, weil ich die Arbeit der
in diesem Kampf gut, aber wesentlicher scheint                 dortigen Basisgemeinden kennenlernen wollte.
mir die Erfahrung, dass «Gerechtigkeit und                     Deren Auseinandersetzung mit biblischen Tex-
Frieden sich küssen», wie es in Psalm 85 heisst.               ten war damals zur treibenden Kraft für die
Deshalb singe ich gerne:                                       Erneuerung der katholischen Kirche gewor-
                                                               den. Persönliche Beziehungen ermöglichten
     «Freundlichkeit und Verlässlichkeit                       mir einen Aufenthalt in den Hochanden von
             treffen aufeinander,                              Peru, wo die vorkoloniale, vorspanische Kultur
   Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.                      unter der einheimischen ländlichen Bevölke-
 Verlässlichkeit wird aus der Erde spriessen,                  rung durch Sprache und Lebensweise bis heute
 Gerechtigkeit vom Himmel herabschauen.                        lebendig geblieben ist. Mein Sabbatical politi-
       Auch gibt ha-Schem das Gute.                            sierte mich und bewirkte, dass ich nach meiner
       Unser Land gibt seinen Ertrag.                          Rückkehr mein Leben und mein Engagement in
Gerechtigkeit geht vor dem Antlitz Gottes her                  ganz neue Zusammenhänge zu stellen begann.
   Und setzt zu einem Weg ihre Schritte.»                      Ich wechselte meinen Beruf zu einer handfes-
               Psalm 85,10–14                                  ten Tätigkeit und wurde Krankenpfleger. Doch
                                                               mein Interesse für die Vorgänge in Lateiname-
○   Andreas Nufer, *1964, war von 1992 bis 2011 evangeli-      rika blieb wach. So kehrte ich 1994 zurück, die-
    scher Pfarrer an der ökumenischen Gemeinde Halden
    in St. Gallen, seit 2012 ist er Pfarrer an der Heilig-
                                                               ses Mal nach Zentralamerika, um einen Einsatz
    geistkirche, der «offenen Kirche» neben dem Bahnhof        als Menschenrechtsbegleiter für geflüchtete
    Bern. «Wenn sich die Kirche gesellschaftlich nicht         indigene Guatemaltek*innen zu leisten, die aus
    einmischt, ist sie keine Kirche mehr», begründet er
    seinen Einsatz in Flüchtlings- und Integrationsfragen.     Chiapas (Mexiko) in ihre Heimatdörfer zurück-
    andreas.nufer@offene-kirche.ch                             kehren wollten.
○   Als im Herbst 2015 eine Gruppierung von reformierten
                                                               Brutale Unterdrückung
    und katholischen Theolog*innen, darunter viele
    TheBe-Mitglieder, die sog. Migrationscharta heraus-
    gab, gehörte auch Andreas Nufer zu den Mitverfas-
    ser*innen. Die Migrationscharta verstand sich als          Dabei lernte ich den traurigen Hintergrund der
    Grundlagentext für eine Migrationspolitik aus biblisch-­   heutigen Situation aus eigener Anschauung ken-
    theologischer Perspektive und stiess innerhalb wie
    ausserhalb der Kirchen auf breites Interesse. Der Text
                                                               nen: Die kleinen zentralamerikanischen Staaten
    kann nachgelesen werden unter migrationscharta.ch/         Guatemala, Honduras und El Salvador werden
    manifest.                                                  seit der Unabhängigkeit von Spanien um 1825
                                                               von den «criollos» regiert, den spanischstäm-
                                                               migen Einwanderern, die zur Elite des koloni-
                                                               sierten Landes geworden sind. Sie verachten die
                                                               Indigenen, brauchen sie aber als ungebildete
                                                               Landarbeiter, sozusagen als Sklaven.

                            22                                                   Er wägungen 1/21
Nachdem Kuba kommunistisch geworden war,           Doch die konkreten Verhältnisse in den klein-
kam es auch in Guatemala und El Salvador zu        bäuerlichen indigenen Dorfgemeinschaften
Aufständen gegen die herrschenden Eliten, die      sind schwierig. Die wirtschaftliche Situa-
das Land diktatorisch regierten und ausbeute-      tion vieler Familien ist prekär: Etwa fünfzig
ten. Entsprechend brutal wurde die Rebellion       Prozent der Kinder unter fünf Jahren leiden
niedergedrückt und es kam zu einem eigentli-       an Mangelernährung, die Schulen sind sehr
chen Genozid (1960–1996). Dorfgemeinschaf-         schlecht, eine Lehre zu machen und damit zu
ten von indigenen Kleinbauernfamilien wur-         einer bezahlten Anstellung zu kommen, ist
den von Einheiten der Armee überfallen, die        für die jungen Leute meist unmöglich. Dazu
Bewohner*innen umgebracht und Häuser und           kamen letztes Jahr die Pandemie und die ver-
Felder abgebrannt. Die Dorfgemeinschaften im       heerenden Auswirkungen von zwei Wirbel-
Norden des Landes retteten sich daraufhin ins      stürmen im Oktober und November.
nahe mexikanische Chiapas, wo sie in Flücht-          Die meisten Menschen sind mit dem Kampf
lingslagern vorläufig untergebracht wurden.        ums Überleben beschäftigt. Wenn man den
    1992 kam es schliesslich unter der Ägide des   Anordnungen der Behörden und deren Ver-
UNHCR zu einer Vereinbarung mit der dama-          bündeten Widerstand leistet, bekommt man
ligen Regierung Guatemalas, die das Recht          Angst, weil man sich an die Erfahrungen der
auf Rückkehr erteilte. Doch die Geflüchteten       Verwandten erinnert, die in den 1980er Jahren
fürchteten sich vor der Unberechenbarkeit der      umgebracht wurden. Die Unzufriedenheit der
Armee und verlangten, von internationalen          Mehrheit der Bevölkerung ist gross, doch wie
Menschenrechtsbeobachter*innen begleitet zu        etwas zu ändern wäre, weiss niemand. Es gibt
werden. So kam ich dazu, drei Monate lang das      mutige Menschen, es gibt Vereinigungen, die
Leben mit den Flüchtlingen zu teilen.              sich für gerechtere Lebens- und Arbeitsbedin-
                                                   gungen einsetzen. Doch das herrschende Sys-
Von der Schweiz aus helfen                         tem ist so verdorben, dass es diese Bewegungen
                                                   einfach ignoriert, diffamiert und ausschliesst.
Im engen Kontakt mit den Rückkehrer*in-            Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist vielerorts
nen bekam ich ihre furchtbaren Geschichten         spürbar. Doch was sie bewirken könnte, nimmt
zu hören. Wir Menschenrechtsbegleiter*in-          nur selten Gestalt an – und dann oft nur für
nen wohnten in denselben schwarzen Nylon-          kurze Zeit, weil die Herrschenden ihre Macht
zelten, in denen sich die Familien aufhielten,     erneut mit allen Mitteln durchsetzen.
bevor sie nach Abzug der guatemaltekischen
Truppen neue Häuser errichten und ihre alten       Die Engagierten ermutigen
Felder wieder bebauen konnten. Diese Begeg-
nungen, bei denen ich auf Augenhöhe mit ein-       Ein konkretes Instrument, um unserer Sehn-
fachen Frauen und Männern zu tun bekam, die        sucht nach Gerechtigkeit Form zu geben, ist
so viel Unrecht erfahren hatten, aber sich mutig   sicher der 2015 eingerichtete Fonds des Gua-
auf Neuverwurzelung und Wiederaufbau ein-          temala-Netzes zur Unterstützung von Frauen
liessen, haben mich tief beeindruckt. Bis heute    und Männern, die aufgrund ihres gewaltlo-
bin ich dadurch motiviert, mich zusammen mit       sen Einsatzes für kollektive Rechte von ihrem
den Betroffenen gegen das Unrecht, unter dem       Territorium vertrieben, diffamiert, kriminali-
sie leiden, zu engagieren.                         siert und oft von den Gerichten unter falschen
    Nach meiner Pensionierung leistete ich         Anklagen zu hohen Strafen verurteilt werden.
einen weiteren Einsatz in Guatemala, dieses        Dank unseren Kontakten zu solchen Menschen
Mal als Krankenpfleger und Priester. Doch          bekommen wir mit, wie ermutigend und auf-
meine Stellung als Weisser, der nicht fähig        richtend unsere Sympathie und Hilfe für sie ist.
war, die einheimische Sprache zu lernen, liess     Auch wenn wir kaum bewirken können, dass
mich meine Arbeit nach einem Jahr abbrechen.       das korrupte guatemaltekische Gesellschafts-
Stattdessen gründete ich nach meiner Rück-         wesen sich positiv verändert, helfen wir doch
kehr in die Schweiz, zusammen mit weiteren         mit, dass die Sehnsucht nach Gerechtigkeit
interessierten Personen, das Guatemala-Netz        lebendig bleibt – dort, wie auch hier.
Zürich. Auf verschiedene Weise versuchen wir
nun, den Angehörigen indigener Völker, die in      ○   Toni Steiner, *1938, ist TheBe-Mitglied und war als
                                                       Theologe und Dominikaner der erste Leiter der vom
dieser rassistischen, oligarchisch-­autoritären        Schweizerischen Katholischen Bibelwerk gegründe-
                                                       ten Bibelpastoralen Arbeitsstelle. Heute lebt er in Zürich.
und korrupten Gesellschaft Unrecht erfah-
                                                       t_st8037@bluewin.ch
ren, Mut zu machen, um für ihre Rechte
einzustehen.                                       ○   Informationen zum Guatemala-Netz:
                                                       guatemalanetz-zuerich.ch

                  Er wägungen 1/21                                              23
Ich selbst bin aus Sorge um meine eigene

Klimakrise:                                        Zukunft auf diesem Planeten aktiv geworden.
                                                   Die Klimakrise verstärkt soziale Ungleichhei-
Die Jungen tragen                                  ten enorm. Eine Folge der Klimakrise sind
                                                   Wetterextreme. Vor allem in den Ländern des
die Folgen                                         Globalen Südens kommt es zu Dürren oder
                                                   Überschwemmungen. Es kann zu Versor-
Fanny Wissler                                      gungsengpässen und Hungersnöten kommen.
                                                   Die Weltbank warnt, dass bis 2050 140 Millio-
Die Klimabewegung hat eine neue                    nen Menschen aufgrund der Klimakrise flüch-
Generation von Engagierten her-                    ten müssen. Alle diese Folgen haben ein rie-
                                                   siges politisches Konfliktpotenzial. Was wird
vor­gebracht. Eine von ihnen ist ­die              die globale politische Situation 2050 sein? Ich
Schülerin Fanny Wissler. Für sie                   weiss es nicht. 2050 werde ich 49 Jahre alt sein.
ist klar: Der Kampf gegen den ­Klima-              Wer weiss, was bis dann geschehen ist?
wandel hat mit dem Kampf für                          Manchmal, wenn ich die aktuellen Welt­
Gerechtigkeit zu tun.                              klimaberichte lese, habe ich den Eindruck,
                                                   dass sowieso schon alles verloren sei. Dennoch
Was ist Klimagerechtigkeit? Oder besser            engagiere ich mich immer wieder fürs Klima.
gefragt: Was hat die Klimakrise überhaupt          Zu sehen, was Menschen gemeinsam schaf-
mit Gerechtigkeit zu tun? Auf den ersten Blick     fen können, gibt mir Hoffnung. Ich denke, wir
leuchtete mir dieser Zusammenhang nicht ein.       müssen gemeinsam Verantwortung für unsere
Schliesslich sind wir ja alle von der Klimakrise   Handlungen übernehmen. Verantwortung
betroffen. Doch mit der Zeit wurde mir bewusst,    bedeutet nicht nur radikale Massnahmen zur
dass einige mehr und andere weniger betroffen      Eindämmung der Treibhausgasemissionen.
sind. Deshalb hat die Klimakrise für mich sehr     Verantwortung bedeutet auch, sich dafür ein-
viel mit Gerechtigkeit zu tun – sobald man die     zusetzen, dass nicht jene Menschen unter der
Frage stellt: Wer verursacht die Klimakrise und    Klimakrise leiden, die kaum etwas dazu bei-
mit welcher Politik wird sie bekämpft?             getragen haben. Verantwortung bedeutet, dass
                                                   diejenigen für die Klimakrise bezahlen, die sie
Katastrophe für den Süden                          auch verursacht haben.

Wie wir heute wissen: Die Klimakrise wird          Macht alle mit!
zum grössten Teil von den Ländern im Globa-
len Norden verursacht. Seit der industriellen      Am 21. Mai 2021 veranstaltet die Klimastreik-
Revolution stossen diese Unmengen an Treib-        bewegung den «Streik für die Zukunft». Es ist
hausgasen in die Atmosphäre aus. Doch am           der Versuch, dich und mich für diesen Tag und
meisten betroffen dadurch sind die Länder des      darüber hinaus mit anderen Menschen zusam-
Globalen Südens. Zum Beispiel Bangladesch,         menzubringen. Wir machen gemeinsam Politik
wo jetzt – langsam, aber sicher – ganze Gegen-     und bauen so vor Ort jene Gesellschaft auf, in
den unter dem Meeresspiegel verschwinden.          der wir gerne leben würden. Eine Gesellschaft,
Viele Menschen sind deshalb gezwungen, ihre        in der wir Verantwortung übernehmen und uns
Heimat zu verlassen.                               und unserer Umwelt Sorge tragen. Falls du mit-
   Ein zweites Beispiel ist der Unterschied        machen möchtest, schau doch auf der Web-
zwischen den Generationen: Es ist kein Zufall,     site strikeforfuture.ch nach, ob es bereits eine
dass sich im Moment hauptsächlich junge            Gruppe in deiner Nähe gibt. Falls nicht, kannst
Menschen in der Klimabewegung einsetzen.           du eine gründen: Suche Freund*innen, die mit-
Sie sind jene, welche die Folgen dieser Krise      machen wollen, und trage die Gruppe auf der
tragen werden. Sie sind jedoch nicht jene, wel-    Internetseite ein, dann können sich andere in
che die meisten Treibhausgase ausgestossen         deiner Nähe ihr anschliessen.
haben. Das waren die vorangehenden Genera-
tionen. Jene Menschen, die das grosse Wirt-        ○   Fanny Wissler, *2001, hat vor Kurzem die Mittelschule
schaftswunder miterlebt haben und, ohne an             beendet und bereitet sich zurzeit auf die Ausbildung
                                                       als Pflegefachfrau vor. Seit die Klimajugend sich als
die Zukunft und die nächsten Generationen zu           Bewegung formiert hat, ist sie mit dabei. Seit dieser
denken, Unmengen von Treibhausgasen pro-               Zeit ist sie auch aktives Mitglied bei der Gletscherinitiative.
                                                       Sie wohnt in Wetzikon.
duziert haben. Kurz: Diejenigen, welche die
                                                       fanny.wissler@gmx.ch
Klimakrise verursacht haben, sind nicht die-
jenigen, die am meisten von ihr betroffen sind.
                      24                                                   Er wägungen 1/21
die damals entstanden: Jutetaschen, Ujamaa-­

Bewegt vom                                        Kaffee und die ersten fair gehandelten Bana-
                                                  nen, die durch die Bananenfrauen um Ursula
fairen Handel                                     Brunner in die Schweiz gebracht wurden.
                                                      Was für mich damals ein Schlüsseler­lebnis
Priska Blattmann und Christine Voss               war, hat mich bis heute, mehr als vierzig Jahre
                                                  lang, geprägt. Natürlich habe ich auch poli-
Seit ihrer Schulzeit setzt sich                   tische Initiativen unterstützt und tue es noch
                                                  heute, und ich engagiere mich ebenso für die
Priska Blattmann für den Fairtrade-­              Umwelt. Bei der Fairtrade-Bewegung aber fas-
Gedanken ein. Die claro-Läden,                    ziniert mich der Aspekt des Konkreten. Mit
in denen sie aktiv mitarbeitet, liegen            meinem Einkauf unterstütze ich Menschen und
ihr am Herzen. Im Gespräch mit                    Dorfgemeinschaften im Süden, die durch den
Christine Voss erzählt sie, wie sie zur           Verkauf ihrer Produkte ein existenzsicherndes
Überzeugung kam, dass der ge-                     Einkommen erhalten. Gleichzeitig leiste ich
                                                  damit auch einen kleinen Beitrag an ein ande-
rechte Handel ein wirksames Mittel                res Weltwirtschaftssystem, das nicht auf Aus-
zum Abbau der Ungerechtigkeiten                   beutung, sondern auf gerechter Entlöhnung für
zwischen Nord und Süd sei.                        die geleistete Arbeit beruht.

Ich war sechzehn Jahre alt, als ich zum ersten    Mitgefühl als
Mal mit dem Thema Gerechtigkeit konfron-          tragende Kraft
tiert wurde. Den Ausschlag gab unser Geo-
grafielehrer, der uns in seinen Lektionen vom     Bis heute arbeite ich aktiv im claro-Laden
Kolonialismus erzählte, von den Beziehungen       meines Wohnquartiers mit. Wenn ich mich
zwischen Norden und Süden und davon, wie          frage, woher die Motivation dazu kommt, ist
diese bis heute in einem Ungleichgewicht ste-     die Antwort nicht so leicht zu finden. Ich habe
hen. Er liess uns dann das Bananenspiel der       den Eindruck, dass diese Sehnsucht nach mehr
Erklärung von Bern spielen, des heutigen Pub-     Gerechtigkeit in der Welt irgendwo tief in mir
lic Eye, in dem man anschaulich in die Han-       verankert ist. Es trifft mich persönlich, wenn
delsbeziehungen zwischen Industrieländern         andere Menschen wegen Ungerechtigkeiten
und Weltsüden hineinversetzt wird.                leiden müssen. Das hat wohl mit Empathie zu
    Ich war perplex. Das hatte ich alles nicht    tun, mit dem Mitgefühl für jene, die mir nahe
gewusst und ich empfand es als unsäglich          sind, aber zunehmend auch für jene, die weit
ungerecht: dass wir im Norden die Dritt-Welt-     weg sind.
Länder, wie man sie damals noch nannte, so            Der Einsatz für Gerechtigkeit ist für mich
schamlos ausbeuteten, allein des Profites         deshalb immer auch ein Einsatz für mehr
wegen. Ich kam zum Schluss, dass die Schweiz,     Frieden. Schon als Kind hat es mich, wenn ich
die zwar selber bei der Kolonisierung keine       von den Kriegen in dieser Welt gehört habe,
Rolle gespielt hatte, sich heute dem Weltsü-      beschäftigt, dass sich Menschen gegenseitig
den gegenüber genau gleich verhält wie die        so Schlimmes antun können. Ich bin davon
früheren Kolonialmächte. Und mir wurde klar:      überzeugt, dass viele Kriege durch soziale
Auch mein eigenes Handeln, mein Einkaufen         Ungerechtigkeiten ausgelöst worden sind,
und Konsumieren, hat direkten Einfluss auf die    durch die tiefen Gräben zwischen armen und
Länder des Südens.                                reichen Bevölkerungsgruppen, sei es inner-
                                                  halb eines Landes oder zwischen Ländern und
Strassentheater und                               Kontinenten.
Bananenverkauf                                        Ich bin in einer katholischen Familie auf-
                                                  gewachsen, in einem von Offenheit, Toleranz
Diese Einsichten liessen mich nicht mehr los      und Mitmenschlichkeit geprägten Milieu, in
und so nahm ich Kontakt mit der Erklärung         dem ich christlichen Glauben als etwas Positi-
von Bern auf. Ich engagierte mich dort in einer   ves erlebt habe. Bis heute bin ich dadurch auch
Gruppe, zusammen mit Schulkamerad*innen,          für ein kirchliches Engagement motiviert. Es
denen die Geografiestunden ebenfalls Eindruck     waren aber nicht die Kirche oder Bibelverse,
gemacht hatten. Wir spielten Strassenthea-        die mich für das Thema Gerechtigkeit emp-
ter über den Bananenhandel oder unser Kon-        fänglich gemacht haben, sondern die Grund-
sumverhalten und wir kauften in den ersten        haltung in meiner Familie: Wichtig waren
Dritt-Welt-Läden – heute claro-Läden – ein,       Anteilnahme und Respekt gegenüber anderen
                   Er wägungen 1/21                                     25
Menschen, die Verantwortung gegenüber der
Gesellschaft – eigentlich all das, was man unter
dem Begriff «Grundwerte» zusammenfasst.                      Auf der Suche
Das hat mich vermutlich ebenso geprägt wie
der Geografieunterricht in der Schule.
                                                             nach einem
    Ich hatte tatsächlich nie den Eindruck, dass
mein Engagement nichts bringe oder sinn-
                                                             gerechten Werktag
los sei, dass ich nichts bewirken könne oder                 Urs Häner und Arbeitgruppe
wegen Rückschlägen enttäuscht sei. Im Gegen-
teil, ich bin mir sicher, dass der faire Handel              Die Gruppe «Wärchtigs-Chrischt­Inne»
immer weitere Kreise ziehen wird. Heute stelle               trifft sich regelmässig, um das
ich fest, dass auch bei den jungen Menschen
das Bewusstsein für weltweite Gerechtigkeit
                                                             Anliegen nach gerechteren Verhält-
wieder wächst. Vielleicht nicht zuletzt wegen                nissen in der Arbeitswelt mitein­
der Krisen der letzten Zeit. Diese Entwicklung               ander zu teilen. Urs Häner hat
macht mir Mut!                                               aufgrund von Gesprächen und Rück-
                                                             meldungen aus der Gruppe
○   Priska Blattmann, *1961, ist Lehrerin, engagiert sich
                                                             den vorliegenden Artikel verfasst.
    aber, nach Aufgabe der Schultätigkeit, vor allem in
    Projekten des fairen Handels, in ihrer Pfarrei und der
    Nachbarschaftshilfe. Sie lebt in Zürich und ist dort     Bei den «Wärchtigs-ChrischtInne» ist es Brauch,
    Vorstandsmitglied des claro-Ladens Zürich-Seebach        ein Stichwort immer auch vor dem Hintergrund
    sowie Vertreterin im Kund*innenbeirat der Import-
    organisation claro Orpund.
                                                             eigener oder erzählter Arbeitserfahrungen
    priska.blattmann@gmail.com                               durchzubuchstabieren. Wir haben uns nun in
                                                             diesen seltsamen Zeiten ohne reale Zusammen-
                                                             künfte auf ein Experiment eingelassen und von
                                                             Ferne Fragmente zu einem «gerechten Werk-
                                                             tag» zusammengetragen, eingedenk der Tatsa-
                                                             che, dass die Arbeitsrealitäten sehr verschie-
                                                             den voneinander sind.

                                                             Ungleichheit am Arbeitsplatz
                                                             Den Anfang macht ein Bericht über den eige-
                                                             nen Arbeitsalltag. Die Sehnsucht nach Gerech-
                                                             tigkeit erfordert zunächst ein genaues Benen-
                                                             nen der Situation (sehen – urteilen – handeln).
                                                             Kollege E. arbeitet als Stellvertreter (Vikar) in
                                                             städtischen Schülerhorten.
                                                                 «Ich betrachte es als wesentlichen Teil
                                                             meiner Arbeit, mich zu Beginn eines neuen
                                                             Einsatzes möglichst rasch in das bestehende
                                                             Team einzufügen. Dann gibt es aber zahlreiche
                                                             Momente, in denen ich spüre oder mir explizit
                                                             zu verstehen gegeben wird, dass ich kein ‹rich-
                                                             tiges› Teammitglied sei. Ein solcher Moment
                                                             kann sein, wenn von der Leitung in einer Ple­
                                                             narsitzung ein Teamessen angesagt wird und
                                                             sie mir danach, quasi entschuldigend, ins Ohr
                                                             flüstert, dieses sei lediglich für die Festange-
                                                             stellten vorgesehen. Ebenso kann es mir erge-
                                                             hen, wenn ich vor Weihnachten einen Sitzungs-
                                                             raum betrete, der rundum mit Geschenkpaketen
                                                             für die Mitarbeitenden – aber nur für Festange-
                                                             stellte – bestückt ist. Dies tut umso mehr weh
                                                             in Fällen, in denen ich zuvor das Gefühl hatte,
                                                             echte Wertschätzung zu erfahren.
                                                                 Oft bei Arbeitsantritt kommt mir Freude
                                                             entgegen, dass überhaupt eine Stellvertretung
                           26                                                  Er wägungen 1/21
auftaucht, was nicht selbstverständlich ist,        Kollege P. erinnert sich an seine Zeit in Kolum-
denn bei grosser Nachfrage reicht der beste-        bien, wo der sogenannte informelle Arbeits-
hende Pool nicht aus, um alle Ausfälle zu           sektor mehr als 50 Prozent ausmache.
ersetzen. Im Konfliktfall erlebte ich es aber           «Zweimal in der Woche klopfte Eusebio an
bislang immer so, dass die Leitung vor Ort die      unsere Tür. Er trug schwer an seinem Holzbal-
Sichtweise ihres festangestellten Teammit-          ken, an dem zwei Stauden Bananen hingen. (…)
gliedes weitestgehend übernahm und deckte,          Er musste allein für seine fünf Kinder sorgen,
zum Teil, ohne bei mir nachzufragen. Und da         nachdem ihn seine Frau verlassen hatte. Täg-
hatte ich dann das Nachsehen, das heisst, ich       lich wollte er mindestens vier Dutzend Bana-
wurde in der entsprechenden Schuleinheit auf        nen verkaufen, um die Mäuler seiner Kinder-
eine schwarze Liste unerwünschter Stellver-         schar stopfen zu können. Wir waren schon aus
treter gesetzt.»                                    diesem Grund gute Kunden für ihn. Aber auch
    E. ist bewusst, dass zahlreiche andere Stell-   seine Bananen hatten es uns angetan: Sie waren
vertreter*innen in einer ähnlichen Situation        stets frisch, zuckersüss, mit Liebe angepriesen.
sind. Er erwähnt auch den Bedarf, sich gewerk-      Eusebio, der Bananenverkäufer von Tür zu Tür,
schaftlich zu engagieren, um das Bewusstsein        war meistens gut aufgelegt. Er dachte stets
für Ungerechtigkeiten zu verbessern. Er sel-        zuversichtlich an den morgigen Tag: ‹Mañana,
ber versucht jedoch vor allem, in den Horten        morgen wird ein ganz neuer Tag sein. Ich weiss
selbst und bei Gelegenheit auch bei den Leitun-     noch nicht, ob es gut gehen wird. Doch mañana
gen den Blick für die Situation der Vikar*innen     ist mañana!›»
zu schärfen.                                            Und Kollege P. fügt bei, die Internationale
                                                    Arbeitsorganisation ILO in Genf habe versucht,
Wann ist ein Lohn gerecht?                          solchen «vendedores ambulantes» (umherzie-
                                                    henden Verkäufer*innen) einen sicheren Status
Für Kollegin B. klingt das Wort «Sehnsucht»         zu geben. So könnten nun in vielen Ländern
im Titel dieser Erwägungen etwas zu verträumt,      informell Beschäftigte einen staatlichen Aus-
so wie die «Sehnsucht nach der ewigen Liebe»,       weis erlangen, um damit die Sicherheit und
denn unter gerechter Arbeit verstünden wohl         Würde ihrer Arbeit zu schützen.
alle etwas anderes. Sie arbeitet in der Adminis-
tration eines öffentlichen Amtes und stellt sich    Besseres Leben für alle
angesichts der Tatsache, dass viele gar keine
Wahl haben, sondern froh sein müssten, über-        Es ist hilfreich und wichtig, bei der Frage nach
haupt eine Stelle zu haben, die Gerechtigkeits-     Gerechtigkeit den Blick auf die globalisierten
frage ziemlich nüchtern.                            Arbeitswelten hin zu weiten. Ebenso wichtig ist
   «Wie oft habe ich gehört, dass ein Lohnsys-      es, nach dem Sehen und dem Urteilen ins Han-
tem gerecht sein muss …, aber was heisst das        deln zu kommen. Kollegin P. liess sich durch
genau? Gleicher Lohn für alle mit entsprechen-      ein Parteiprogramm inspirieren:
den Zulagen (Kinder in Ausbildung, Betreu-              «Gerechtigkeit ist die zentrale Voraus-
ung)? Lohn nach Alter, Arbeitserfahrung,            setzung für Zusammenhalt und Wohlstand.
Dienstalter, Ausbildung, Flexibilität, Leistung     Gesellschaften, die zusammenhalten und sozial
oder …?? Wer von den drei folgenden Perso-          gerecht sind, können Probleme besser meistern.
nen darf oder muss am meisten verdienen für         (…) In gerechteren Gesellschaften sind die Men-
dieselben Aufgaben? Mann, 25, gut ausgebil-         schen zufriedener, sind das Einkommen und die
det, schnelle Auffassung; Frau, 45, arbeitet gut,   Chancen besser gestaltet und das gegenseitige
drei Kinder in Ausbildung; Mann, 60, dreis-         Vertrauen ist stärker. (…) Gerechtigkeit bedeu-
sig Dienstjahre, Kinder ausgebildet, keine Lust     tet auch soziale Sicherheit. Sichere und gute
mehr, Neues zu lernen, sitzt die letzten fünf       Arbeitsplätze, die Zuversicht, dass es gute und
Jahre noch ab.»                                     gleiche Bildungschancen für alle Kinder gibt,
    Womit wir mitten im Abwägen und Urtei-          dass genügend bezahlbarer Wohnraum vor-
len sind. Kollegin B. erwähnt weitere werk-         handen ist, bringen uns der Gerechtigkeit näher.
tägliche Gerechtigkeitsfragen: Gibt es Mitbe-       (…) Es ist Zeit, jetzt zu handeln! Es ist Zeit für
stimmung, was produziert wird oder welche           mehr Gerechtigkeit!»
Dienstleistungen angeboten werden? Darf
Arbeit aus ethischen Gründen abgelehnt wer-         ○   Urs Häner, *1956, ist katholischer Theologe und war über
                                                        dreissig Jahre Druckereiarbeiter. Er ist Mitglied der
den? Und was sind gerechte Leistungen in Situ-          TheBe-Arbeitsgruppe «Wärchtigs-ChrischtInne» und
                                                        lebt in Luzern.
ationen ohne Arbeit (Rentner*innen, IV-Bezü-
                                                        uh@sentitreff.ch
ger*innen, Stipendien etc.)?

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Bundesgericht auf die Beschwerde eintreten

Aktuell: Hilfswerke                               wird, ist bei Redaktionsschluss dieser Num-
                                                  mer noch offen.
unter Druck                                       Einschränkung der Bildungsarbeit
Christine Voss
                                                  Um einiges härter wird es voraussichtlich die
Die Kampagne für die Konzernver-                  Hilfswerke treffen. Bereits wenige Tage nach
                                                  der Abstimmung erhielten alle, die sich für die
antwortungsinitiative (Kovi)                      Kovi eingesetzt hatten, einen Brief von Bun-
wird wohl langfristige Auswirkungen               desrat Ignazio Cassis. In diesem wird festge-
haben. Vor allem auf die Kirchen,                 halten, dass jene Hilfswerke, die finanzielle
Kirchgemeinden und Hilfswerke, die                Beiträge von der Direktion für Entwicklung
sich daran beteiligt haben. Sie                   und Zusammenarbeit (Deza) erhalten, diese
werden nun von Politik und Wirtschaft             nicht mehr für Information oder Bildungsar-
                                                  beit brauchen dürften. Für die nächsten Ver-
unter Druck gesetzt.                              träge zwischen Hilfswerken und Deza würde
Jetzt erst recht: Das scheint das Motto von       eine entsprechende Klausel ausgearbeitet.
bürgerlichen Politiker*innen und Wirtschaft           Bundesgelder für politische Kampag-
zu sein, nachdem sie ihr Nein bei der Kovi-­      nen einzusetzen, war schon vorher verboten
Abstimmung haarscharf durchsetzen konn-           gewesen. Nun aber sind auch Informations-
ten. Statt es beim «Sieg» zu belassen, gehen      broschüren, Angebote für Schulen oder öffent-
sie nun konzertiert gegen jene vor, welche die    liche Veranstaltungen infrage gestellt. Eben-
Ja-Kampagne unterstützt haben. Gleich von         falls massiver Druck formiert sich zurzeit im
mehreren Seiten kommen zurzeit Interventio-       Parlament. Mehrere Vorstösse zum Thema
nen, welche die Kirchen und Hilfswerke treffen    wurden bereits für die nächste Session einge-
sollen. Einige, die voraussichtlich längerfris-   reicht. Sie gehen bis zur angedrohten Einstel-
tige Konsequenzen haben werden, sollen hier       lung jeglicher Unterstützung an die Hilfswerke
genannt sein.                                     durch den Bund. «Keine öffentlichen Gelder an
                                                  Projekte von Nichtregierungsorganisationen,
«Grenzwertiges»                                   welche sich an politischen Kampagnen betei-
Verhalten der Kirchen                             ligen», fordert zum Beispiel FDP-National-
                                                  rat Hans-Peter Portmann. Von einer Kürzung
Bereits vor dem Abstimmungsdatum reich-           der Beiträge ist allerdings im Brief von Bun-
ten die Jungfreisinnigen in vier verschiedenen    desrat Cassis nicht die Rede. Vorläufig geht es
Kantonen Stimmrechtsbeschwerde ein, so in         um die Verwendung der Gelder, die in Zukunft
den Kantonen Aargau, Bern, St. Gallen und         nur noch im Ausland eingesetzt werden dürfen.
Thurgau. Sie forderten die Kantone auf, den
Kirchen die Unterstützung der Ja-Kampagne         Basisgruppen werden aktiv
zu verbieten. Ihre Forderung begründeten sie
damit, dass die Kirchen als öffentlich-rechtli-   Als «Maulkorb» bezeichnet Fabian Molina,
che Körperschaften keine «politische Propa­       SP-Nationalrat und Co-Präsident des Hilfs-
ganda» machen dürften.                            werks Swissaid, das Vorgehen von Bundesrat
    Die Kantone sind aber, wie sich in der Zwi-   Cassis. Die Internetzeitung Infosperber setzt,
schenzeit gezeigt hat, nicht auf die Beschwerde   noch dezidierter, den Titel «Rache gegen Hilfs-
eingetreten. Aus diesem Grund sind die Jung-      werke» über einen Bericht zu den Vorgängen.1
freisinnigen nun ans Bundesgericht gelangt.       Bernd Nilles, Direktor von Fastenopfer, argu-
Als Erstes hat die Bundeskanzlei Position         mentiert auf der Sachebene: «Gemäss der Tra-
bezogen. Sie rügt in einer Stellungnahme an       dition der Hilfswerke ist die Sensibilisierung in
das Bundesgericht das kirchliche Verhalten        der Schweiz ein wichtiger Teil unserer Arbeit.
als «zumindest grenzwertig». Die Kirchen          Mit dem überraschenden Beschluss, diese nicht
seien zu «Sachlichkeit, Transparenz und Ver-      mehr zu fördern, vermittelt die Deza den Ein-
hältnismässigkeit» verpflichtet. Ob sie diese     druck, diese Arbeit sei nicht mehr erwünscht.
Vorgaben bei der Kovi-Kampagne eingehalten        Aber es macht doch keinen Sinn, wenn wir gute
hätten, sei «fraglich». So sei auf der Website    Projekte im Süden finanzieren und dann bei
der Komitees «Kirche für Konzernverantwor-        uns nicht darüber informieren».
tung» kein Hinweis darauf zu finden gewesen,          Ein konkretes Zeichen gesetzt hat hinge-
«dass es auch Gegenargumente gibt». Ob das        gen die Basisgruppen-Bewegung Schweiz: Sie
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hat umgehend einen offenen Brief an Bundes-       Frage aufgeworfen, in wessen Interesse die
rat Cassis verfasst, in dem die Widersprüch-      von der Schweiz geleistete Entwicklungszu-
lichkeit von dessen Argumentation aufgezeigt      sammenarbeit nun eigentlich stehe. Bundes-
wird (s. unten). Wie Jacqueline Keune, die        rat Cassis plädiert seit Amtsantritt dafür, dass
Koordinatorin der Basisgruppen-Bewegung,          die Hilfswerke verstärkt auch die Schweizer
sagt, freuen sich die Basisgruppen über weitere   Wirtschaft in ihre Projekte einbeziehen sol-
Kreise, welche die Vergabe von Bundesgeldern      len. Damit gibt er implizit Antwort auf die
an die Hilfswerke im Auge behalten und auch       Frage nach den Interessen: Wenn schon Geld
darauf reagieren.                                 in den Süden investiert wird, dann soll auch
                                                  möglichst viel davon wieder in die Schweiz
Welche Interessen                                 zurückfliessen.
vertreten die Hilfswerke?
                                                  ○   Christine Voss, *1956, ist Journalistin und seit letztem
Aus heiterem Himmel kommen die Attacken               Jahr Redaktorin der Erwägungen. Sie ist TheBe-Mit-
                                                      glied und lebt in Zürich.
gegen die ideelle Ausrichtung der Hilfswerke          christine.voss@bluewin.ch
allerdings nicht. Schon vor zwei Jahren wurde
im Parlament eine «Verknüpfung von Entwick-       1   Markus Mugglin: Rache gegen Hilfswerke, 24.12.2020.
lungszusammenarbeit mit Migrationsfragen»             infosperber.ch/politik/rache-gegen-hilfswerke.
gefordert. Und ebenso wurde schon früher die

                      Offener Brief an Bundesrat
                           Ignazio Cassis:
                      Maulkorb für die Hilfswerke

Luzern, 30. Dezember 2020

Sehr geehrter Herr Bundesrat

Aufgrund des Engagements der Hilfswerke für die Konzernverantwor-
tungsinitiative haben Sie die Praxis der Vergabe von Bundesgeldern
erneut verschärft und die politische Kontrolle über deren Verwendung
noch mehr ausgeweitet. Künftig dürfen Hilfswerke das Geld der
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) nicht mehr für
Informations- und Bildungsarbeit im Inland verwenden. Konkret:
Ein Hilfswerk darf zwar weiterhin afrikanische Bäuerinnen im Gewin-
nen von traditionellem Saatgut unterstützen, in der Schweiz aber
keine Veranstaltungen mehr durchführen, die die Macht multinationaler
Konzerne über die Landwirtschaft im südlichen Afrika beleuchten.
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Wir empfinden es als unwürdig, dass sich ein Land, das sich immer wieder
seiner Demokratie rühmt, Werken, die sich einer gerechteren Welt
verschrieben haben, solche Maulkörbe auferlegt. Und wir protestieren
dagegen, dass zwar die Folgen des Unrechts gelindert werden dürfen,
aber seine Ursachen und Verantwortlichen verschwiegen werden müssen.
Wie können wir die konkreten Lebensbedingungen von Abermillionen
von Armgemachten dieser Welt vor Augen haben, ohne gleichzeitig die
politischen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen, die diese
mitverursachen? Und wie soll nachhaltige Veränderung hin zum Besseren
beziehungsweise ein notwendiger sozial-ökologischer Systemwechsel
je möglich werden ohne tiefgreifende Veränderung des politischen und
persönlichen Bewusstseins über entsprechende Informations- und
Bildungsarbeit?

Gerade etwa die Ökumenische Kampagne der Fastenzeit von Brot für alle
und Fastenopfer (diese wird mit privaten Mitteln finanziert) hat hier
über Jahrzehnte hinweg einen unschätzbaren Beitrag geleistet. Die Bildungs-
arbeit der beiden Hilfswerke hat nicht nur Generationen die Augen
geöffnet für die Hintergründe konkreter Not, sondern hält in ihnen auch
den Traum einer anderen, einer Welt des Friedens und der Gerechtig-
keit wach.
  Es genügt angesichts der riesigen globalen Herausforderungen bei
Weitem nicht, die Menschen im Süden zu unterstützen, sondern die
entsprechende Arbeit vor Ort muss zwingend mit politischer Arbeit bei
uns verbunden werden und bleiben.
  Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungspolitik sind nicht
voneinander zu trennen.

Wir bitten Sie eindringlich, auf die prophetische Stimme und auf die
über Jahrzehnte hinweg gemachten Erfahrungen der Hilfswerke zu
hören und Ihre eigene Haltung zu überdenken.

Wir danken Ihnen dafür.

Basisgruppen/Basisgemeinschaften
Chêne, Genf, Küssnacht am Rigi, Luzern Nord,
Luzern Süd, Meyrin, Nyon, St. Gallen

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Aus dem                                Jahresver­                            Arbeits­
                                       sammlungen
Vorstand                                                                     gruppen
Als neues Vorstandsmitglied wur-
de an der Jahresversammlung
                                       Vorschau: Die Jahresversammlun-
                                       gen von TheBe, Resos und Neue
                                                                             Arbeits­gruppe
2020 Verena Keller gewählt. Wir        Wege finden am 19. Juni in Luzern     Wärchtigs-
danken ihr herzlich für ihr bishe-     statt. Anschliessend laden wir zu     ChrischtInne
riges Engagement und freuen uns        einem Vortrag des Instituts für
über den weiteren gemeinsamen          Theologie und Politik (ITP) in        Wir sind weiterhin offen für inte-
Weg! Christine Voss nimmt als Re-      Münster (DE) ein. Genauere An-        ressierte Frauen und Männer, die
daktorin der Erwägungen in der         gaben zum Ablauf des Tages fol-       mitdiskutieren wollen bei werk-
Regel an den Vorstandssitzungen        gen später (siehe auch Website        täglichen Themen. Wenn die Zu-
teil. Auch diese Zusammenarbeit        thebe.ch).                            sammenkünfte analog stattfin-
ist sehr konstruktiv und koope-                                              den können, beginnen wir nach
rativ angelaufen. Besten Dank!                                               einer «Teilete» mit einem Reih-
Neben den Tagesgeschäften be-          Folgende Veranstal-                   umgespräch zu Fragen des eige-
schäftigen wir uns derzeit mit dem     tungen empfehlen wir                  nen Werktags. Einzelne Stichwor-
Beitritt zur Nachfolgeorganisati-      zur Teilnahme:                        te, vor allem solche, die mehrfach
on der Allianz «Es reicht!». Die                                             auftauchen, werden dann vertieft,
Allianz «Es reicht!» bildete sich                                            oft ist uns auch eine vereinbarte
aus den Protestaktionen gegen          RomeroTag                             Lektüre Anregung für eine weiter-
den erzkonservativen Kurs im           Samstag, 20. März, 9.30–16.00 Uhr,    führende Diskussion.
Bistum Chur. Die Nachfolgeorga-        Romerohaus, Luzern, oder online            Wie es in Corona-Zeiten kon-
nisation soll einen positiv formu-                                           kret weitergehen kann, muss
lierten Namen erhalten und sich                                              jeweils neu ausgehandelt wer-
für Erneuerung und eine offene         Politisches Nachtgebet                den – nie war die Formel von der
Kirche Schweiz einsetzen. Wir          Mittwoch, 24. März, 19.30 Uhr,        «rollenden Planung» so treffend …
                                       Peterskapelle, Luzern
werden dazu voraussichtlich an
der Jahresversammlung im Juni                                                ○   Auskünfte:
                                                                                 Paul Jeannerat-Gränicher
einen Antrag stellen.                  Ostermarsch Bern                          graenicher.jeannerat@gmx.ch
     Wir rufen dazu auf, gemäss        Ostermontag, 5. April, 13.00–15.00        031 859 33 46
dem Beispiel der Basisgruppen-­        Uhr, ab Eichholz an der Aare
Bewegung Schweiz, die Politik
des EDA unter Bundesrat Cassis
in Bezug auf die Hilfswerke            Internationaler                       Frauen-­Lesegruppe
kritisch zu verfolgen und ge-          Bodensee-Friedensweg                  «Feministische
gebenenfalls zu reagieren. Vo-         Ostermontag, 5. April, 14.30–17.00    Theologie»
rausgegangen ist die Basisgrup-        Uhr, Überlingen (DE)
pen-Bewegung Schweiz, die                                                    Unsere feministisch-theologische
einen offenen Brief an den Aus-                                              Lesegruppe trifft sich – nach ei-
senminister verfasste – eine Re-       Die Bewegung ATD                      ner coronabedingten Pause – wie-
aktion auf den «Maulkorb» für          4. Welt und ihre Vision               der regelmässig, im Schnitt jeden
die Hilfswerke im Nachklang zur         Samstag, 10. April, 15.00–17.00      zweiten Monat in Bern. Unsere
Konzernverantwortungs­initiative.       Uhr, Gartenhofstr. 7, Zürich,        Treffen finden coronakonform im
Dieser Brief ist auf unserer Home-     ­T ischgespräch mit Christine Lindt   Haus der Begegnung an der Mit-
page aufgeschaltet. Wir werden         Ob die Veranstaltungen stattfinden    telstrasse, unweit des Bahnhofs,
                                       können, ist der Homepage
namens der TheBe einen eige-                                                 statt. Wir kommen jeweils mit-
                                       thebe.ch zu entnehmen.
nen Brief verfassen.                                                         einander ins Gespräch über ein
                                                                             vorgängig ausgewähltes feminis-
                                                                             tisch-theologisches Buch.
                                                                                 Vor einem Jahr haben wir uns
                                                                             entschieden, uns vertiefter mit Ko-
                                                                             ranexegese aus feministisch-theo-
                                                                             logischer Sicht auseinanderzuset-
                                                                             zen. Auf das Buch Den Islam neu
                                                                             denken. Der Dschihad für Demo-
                                                                             kratie, Freiheit und Frauenrech-
                                                                             te von Katajun Amirpur, einer
                                                                             deutsch-iranischen Professorin
                                                                             für Islamische Studien in Ham-
                                                                             burg, folgte das Grundlagenwerk

                    Er wägungen 1/21                                              31
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