ERWIN Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler - Verlag Die Werkstatt
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INHALT 2016 – Vorwort��������������������������������������������������� 7 KAPITEL 1 1974 Der Belafonte vom Bieberer Berg ������������������������ 10 EINWURF: Interview mit Volker Goll 28 KAPITEL 2 1967 Das Duisburger Missverständnis�������������������������� 30 KAPITEL 3 1975 Wembley, der Albtraum ���������������������������������� 40 KAPITEL 4 1968 Knokke und die schwarze Tasche ������������������������ 49 KAPITEL 5 1978 „Kohleneimer“ – das Dortmunder Trauma���������������� 64 KAPITEL 6 1965 Der erste Vertrag, die erste Watsche���������������������� 80 KAPITEL 7 1979 Das späte Glück von Laval�������������������������������� 88 KAPITEL 8 1963 Ein Talent, kein Überflieger ����������������������������� 100 KAPITEL 9 1980 Der lange Abschied ������������������������������������� 105 KAPITEL 10 1954 Der Urknall von Bern, die Schuhe vom Polizisten ������� 117 KAPITEL 11 1990 Ohne Ausweg, alles vorbei������������������������������� 129 KAPITEL 12 1995 Letzte Ausfahrt Oesede ��������������������������������� 150 KAPITEL 13 2020 Es geht mir schlecht������������������������������������� 158 EINWURF: Die verlorenen Lieblinge 169 Epilog ��������������������������������������������������������� 176 Letzte Worte��������������������������������������������������� 182 Erwin Kostedde in Zahlen ������������������������������������� 185
2016 – VORWORT Wir sitzen uns gegenüber. Erwin Kostedde fühlt sich nicht wohl, er will keinen Kaffee, ein wenig rutscht er auf dem Stuhl herum und schaut aus dem Fenster. Häufig haben wir Termine vereinbart, meist sind sie geplatzt. Es reicht, wenn überhaupt, nur zum Smalltalk oder für knappe Telefonate. Doch irgendwann sagt er an diesem Tag und wie aus hei- terem Himmel: „Sie könnten das alles über mich schreiben. Wenn ich Ihnen alles erzähle …“ Dies ist sein Vertrauensbeweis für mich, nach all der Zeit, das kommt unerwartet. Er bricht ab, manchmal nutzen das Menschen, um die Bedeutung der gerade gesprochenen Worte zu erhöhen. Alles erzählen, nichts weglassen, reinen Tisch machen, die Seele befreien, auspacken. Ich weiß nicht, ob das wirklich sein Plan ist. Seine Geschichte also. Mutter aus Münster, der Vater ein unbekannter GI aus den USA, sechs Halbgeschwister, die Story eines Fußballers, des ersten schwarzen deutschen Nationalspielers, der alles hätte haben können. Er schoss das Tor des Jahres 1974, verdiente viel Geld, kas- sierte gewaltige Handgelder, verprasste vieles, setzte noch mehr mit dubiosen Geldanlagen in den Sand, versoff den kargen Rest. Als ob das nicht genug wäre, so viel auf und ab reicht doch schon für ein Leben, wird er verhaftet für den angeblichen Überfall auf eine Spiel- halle. Er wird freigesprochen, aber erst nach einem Martyrium aus mehrmonatiger Untersuchungshaft und psychiatrischer Behandlung. Er, der Erwin, ist in dieser Phase seines Lebens selbstmordgefährdet. Kann man da noch einmal auf die Beine kommen? Eigentlich eine interessante Story. 7
Mein eigenes Fußballleben beginnt Anfang der 1970er-Jahre. Erwin Kostedde? Ich erinnere mich an einen meiner fünf Brüder, der vom „braunen Bomber“ spricht, der auch aus Münster komme und schon ein richtig guter Fußballer sei, ich bin da vielleicht acht Jahre alt, ver- stehe das nicht so wirklich. „Das ist der“, sagt er nun auch abfällig, „der häufig hinter dem Bahnhof an der sündigen Meile rumhängt.“ Ich ver- stehe noch weniger, aber es bleibt mir im Gedächtnis. Dieser Kiez ist in Münster im Übrigen vielleicht 200 Meter lang. Später frage ich mich, ob er da wirklich an der Eingangstür zu den Bars stand und mit den Scheinen wedelte? Kostedde der Hallodri, der Protzer, der Tunichtgut, der „Schwatte“, wie es damals häufig hieß. Aber erstmal vergesse ich das praktisch sofort. Kostedde läuft mir nur über den Weg, weil er 1974 den Gladbacher Nationalspieler und Weltmeister Berti Vogts narrt und das Tor des Jahres erzielt. Für Offen- bach ist er da aktiv, und dies ist eine Art Blaupause für ein Tor, das gut 40 Jahre später Deutschland in einen gewaltigen Freudentaumel stürzen wird. Auch Mario Götze bekommt den Ball von der linken Seite, ver- arbeitet ihn mit der Brust und schießt mit dem linken Fuß ein. Ein Arte- fakt des Fußballs, sowohl 1974 als 2014. Deutschland ist Weltmeister. Kostedde sieht den Treffer im Fernsehen und denkt an 1974. 40 years after. Noch später dann: Als Kostedde den Kreisligisten Germania Mau- ritz als Trainer übernimmt, berichte ich darüber, ein kurzer Text für die „Frankfurter Rundschau“, gerade mal 60 Zeilen ist es das wert, Deutschland wird gerade wiedervereinigt. Nun also Coach in Mauritz, dem noblen Stadtteil Münsters. Die Anlage ist alles anderes als das, ein typischer Ascheplatz, es regnet, das Flutlicht rettet die Einheit so gerade. Kostedde spielt vorher ein wenig verträumt mit dem Ball, er ist Mitte 40, die Bewegungen haben immer noch Eleganz. Fülliger ist er geworden, aber seine Ballbehandlung überzeugt direkt. Was macht er hier nur, frage ich mich. Für diese Erkenntnis muss man kein Experte sein. Wir sind Ende der 1980er-Jahre, Kostedde hält es nicht lange aus bei dieser Rumpeltruppe, die Mannschaft mit ihm auch nicht. Die Zeit rennt: Viele, viele Jahre danach ruft er, also Erwin Kos- tedde, in der Redaktion der „Westfälischen Nachrichten“ an, ob wir zwei Stehplatzkarten für das nächste Heimspiel von Preußen Münster 8
hätten. Ich bin verwirrt. Ist das DER Kostedde? Also genau dieser Kos- tedde? So ist es, die Wiedererkennungsrunde ist in wenigen Sekunden abgeschlossen. Draußen in der Welt ist Angela Merkel Kanzlerin, die Zeit ist vergangen. Er, Kostedde, will nicht beim Verein vorsprechen, ein waschechter Preuße sei er nicht, aber mit uns hätte er nie schlechte Erfahrungen gemacht, ob da was geht? Es geht was. Kostedde holt seine zwei Karten ab. Immer und immer wieder, das geht so über mehrere Saisons. Ab und an sprechen wir kurz miteinander, über Fußball, über die Adlerträger, wie es ihm geht, oder über seine Frau, was das Leben so gemacht hat mit dem Erwin. Eines Tages dann sagt er bestimmt: „Sie müssen das Buch jetzt über mich schreiben.“ 9
K A PI T EL 1 1974 DER BELAFONTE VOM BIEBERER BERG Der Ball kommt maßgeschneidert, perfekte Höhe, richtiges Tempo, genau im passenden Moment. Das Flutlicht am Bieberer Berg, es schim- mert eher, leuchtet die Situation nur dürftig aus. Norbert Janzon weiß aber in diesem Augenblick, wo Erwin Kostedde hinlaufen wird, selbst in völliger Dunkelheit würde das genau so funktionieren. Zwei Gegen- spieler bedrängen ihn, aber sie können den Kickers-Linksaußen nicht an dieser Flanke hindern. Offenbach liegt zurück in diesem wilden Schlagabtausch, der Vizemeister Borussia Mönchengladbach führt mit 3:2. Die Fohlen kennen aber nur eines: immer angreifen. Deshalb kon- tern die Kickers, und das im eigenen Stadion. Kostedde bewegt sich nach vorne, an seiner Seite der „Terrier“. Berti Vogts wird so genannt, der eisenharte Verteidiger. Er hat Johan Cruyff im WM-Finale im Sommer 1974 zugesetzt, war ihm gefolgt, hatte den filigranen niederländischen Superstar behakt, bedrängt, förmlich gequält – mit großem Erfolg. Vogts, der Nationalspieler, Cruyff-Bewacher und Weltmeister, ist für jeden Angreifer ein Quäl- geist, er ist so erbarmungslos, vollkommen spaßbefreit im Zwei- kampf. Doch dieses Mal ist er chancenlos, denn der Kickers-Angreifer weiß um einen kleinen Systemfehler bei Vogts: „Kämpferisch war er ein unglaublicher Typ. Aber sein Fehler war, dass er jede Bewegung immer mitmachte.“ Denn Kostedde findet so den winzigen Raum, der 10
ihm einen Vorteil verschafft. Als Janzons Zuspiel ihn erreicht, hat er das nötige Tempo und die optimale Position erreicht, kann den Ball mit der Brust stoppen und abtropfen lassen, lässt Vogts rechts stehen, um dann mit links Torwart Wolfgang Kleff zu überwinden. Das 3:3 ist eine einzige Bewegung, eine Traumsequenz für Fußballer, das gelingt nur ganz wenigen. Kostedde, der Mann mit den ungeheuren Ober- schenkeln, die vermutlich noch dicker sind als die von Gerd Müller, dreht ab, jubelnd. Gerade ist ihm das Tor des Jahres 1974 gelungen, eine Ode an den Fußball, ein rarer Moment von Perfektion. Müller schoss den Siegtreffer im WM-Endspiel von München zum 2:1, Kos- tedde aber das Tor des Jahres. Der 18. Oktober 1974, ein Profi steht im Zenit seiner Karriere. Janzon blickt zurück, denkt an die Szene und erinnert sich genau: „Der Abwurf kam von Torwart Fred Bockholt, ich bin dann 50 Meter gesprintet, eine hohe Flanke, dann war Erwin da.“ Trainer Otto Reh- hagel hätte diesen Spielzug genauso einstudiert, die Kickers dann per- fekt umgesetzt. „Ja“, erzählt Janzon, „Kostedde war ein besonderer Spieler. Ich meine, er war einer der Ersten, der den perfekten Über- steiger gemacht hat. Und er war ein hervorragender Kopfballspieler.“ Beim Tor des Jahres 1974, gerade gegen die herausragenden Borussen aus Mönchengladbach, hätte alles gepasst. Und überhaupt, Janzon ver- klärt Kostedde fast schon: „Ich habe ihn auf einem Niveau wie Uwe Seeler oder Gerd Müller gesehen.“ Eine Verneigung von dem früheren Mitspieler vor seinem Ex-Kollegen. „Die Flanke kommt genau, ich springe hoch, hinter mir Vogts, stoppe den Ball mit der Brust und schieße ihn volley rein in den Winkel“, erin- nert sich Kostedde bis heute ebenfalls ganz genau an sein Kunststück. Und: „Da hat der Berti blöd geguckt.“ Und wie der schaut, und alle anderen auch. Berti Vogts, Günter Netzer, Rainer Bonhof, Allan Simonsen, der kleine Däne trifft dreifach für die Mannschaft von Wunder-Trainer Hennes Weisweiler. Mönchen- gladbach ist Fußball-Avantgarde in dieser Zeit. Die Show vor 31.000 Zuschauern aber gehört Erwin Kostedde mit seinem fußballerischen Zaubertrick nach 70 Minuten zum 3:3. Als Dieter Schwemmle wenig später den Siegtreffer der Kickers erzielt, ist der magische Moment per- fekt. 11
Fußballerischer Wilder Westen: der OFC Es ist bereits seine vierte Saison bei den Kickers, Kostedde fühlt sich hier wohl, pudelwohl, bei einem Klub, der immer etwas überhitzt ist, bei dem stets Tohuwabohu herrscht, sich selten etwas ganz normal ent- wickelt und wo Ruhe ein Fremdwort ist. Mittlerweile ist er 28 Jahre alt, er hat seine Krisen gehabt, wird beim MSV Duisburg entlassen, stabili- siert sich in drei Saisons bei Standard Lüttich, ehe der umtriebige Willi Konrad ihn zu den Kickers lotst. Das war der Auftrag, erteilt vom Prä- sidenten Horst-Gregorio Canellas höchstpersönlich. Konrad soll diesen Torjäger aus Belgien holen, der fehlt ihnen gerade noch am Bieberer Berg, so kann das auf keinen Fall langweilig werden. Und Kostedde beißt an, Konrads Köder ist zu schmackhaft. Wobei: Vier Spielzeiten in Offenbach, das reicht normalerweise für mehr als ein ganzes Fußballer- Leben. Der OFC hat Glück, denn Kostedde will nach den Jahren in Bel- gien unbedingt in die Bundesliga, nur hier kann er sich dem Traum von der Nationalelf ernsthaft nähern, schon viel Zeit hat er vertrödelt. Anfang der 1970er-Jahre haben deutsche Legionäre kaum eine Chance, in das Notizbuch von Bundestrainer Helmut Schön zu gelangen – zumindest, wenn sie in Belgien spielen. Es zählen nur gute bis sehr gute Auftritte in der Bundesliga oder einer anderen Topklasse in Europa – siehe Netzer (Real Madrid) oder Haller und Schnellinger (Italien). Der Haken an der Sache: Der Stürmer hatte gedacht, Offenbach würde auch in der 1. Bundesliga spielen. Offenbach ist noch mehr als die junge Bundesliga fußballerischer Wilder Westen. Die Kickers fühlen sich 1963 getäuscht, als die 16 Ver- eine für die Premierensaison in der ersten Liga benannt werden. Wer, wenn nicht Offenbach, sollte im Süden dazugehören? Platz fünf in der sogenannten Zwölf-Jahres-Wertung dürfte genügen für die neue Eliteliga, notfalls kann die Bundesliga auf 18 oder 20 Vereine aufge- stockt werden, eigentlich wären die Kickers immer mit dabei. Nürn- berg, Frankfurt, Stuttgart und Karlsruhe werden zu Erstligisten gekürt, Offenbach liegt im Ranking deutlich vor den beiden Münchner Ver- einen, Bayern und 1860. So oder so, die Kickers sind dabei. Daran geht kein Weg vorbei. 12
Als am Ende die 16 Teams vom Deutschen Fußball-Bund ermittelt sind, fallen die Kickers durch. Härtefall wird der Klub genannt, dabei gibt es keinen triftigen Grund, warum Offenbach den Zuschlag nicht erhalten sollte. 1860 München ist zwar Meister in der Süd-Oberliga geworden, hat aber über die Jahre einen deutlich schlechteren Platzie- rungs-Durchschnitt als die Kickers, selbst Bayern München schneidet besser ab als der Lokalrivale, liegt aber auch deutlich hinter Offenbach – und wird ebenso nicht reingelassen. Am Bieberer Berg werden dunkle Mächte vermutet, die im Hintergrund die Strippen gezogen haben. Rudi Gramlich ist Feindbild Nummer eins: Der Präsident von Eintracht Frankfurt sitzt im mächtigen Beirat des DFB, und dieser ist praktisch niemandem Rechenschaft schuldig. Die hessische Fehde wird so ange- heizt. Fast 60 Jahre später besagen die Verschwörungstheorien immer noch unisono, dass die Kickers aus den Frankfurter Kreisen übelst hin- tergangen worden sind. Erst 1968 gelingt der Aufstieg in die 1. Bundesliga, und Offenbach taugt gleich als Fahrstuhlmannschaft. Hier kommen bedingungs- lose Fanliebe, Fußball-Fanatismus und ein Anflug von Größenwahn zusammen, eine unheilvolle Melange manches Mal, manchmal aber auch der Garant für großes Spektakel. Aufstieg, Abstieg, Aufstieg. Willi Konrad ist die treibende Kraft, als Vollwaise ist er aufgewachsen im Haus von OFC-Präsident Canellas. Ein Schlitzohr, ein Hasardeur, einer, der keine Grenzen kennt, wenn es um die Kickers geht. Sein größter Coup gelingt ihm, als er Erwin Kostedde von Standard Lüt- tich verpflichtet, Mai 1971. Kostedde will nun mal Nationalspieler werden, das geht nicht in Belgien, nach drei Saisons im Nachbar- land fühlt er sich bereit. Zumal Bundestrainer Helmut Schön häu- figer Gast am Bieberer Berg ist, er wohnt in Wiesbaden. Und Schön ist mit Canellas befreundet. Alles fügt sich in diesem Augenblick zusammen. Anfang Mai sichert sich Lüttich am vorletzten Spieltag die Meister- schaft mit einem 4:1-Heimsieg über Royal Crossing Club de Schaerbeek, einem Verein aus dem Norden Brüssels. Der Sensations-Pokalsieger von 1970, Kickers Offenbach, befindet sich zur gleichen Zeit im Abstiegs- kampf der Bundesliga. Doch Konrad, der Überredungskünstler, macht sofort alles klar mit Kostedde, der VfB Stuttgart und der 1. FC Köln 13
schauen in die Röhre. „Big Willi“, wie Kostedde den OFC-Manager ehr- fürchtig nennt, ist der Letzte im Reigen der Buhlenden. Konrad fragt: „Was zahlen die anderen?“ Er wartet Kosteddes Antwort nicht ab: „Wir zahlen mehr.“ Zweite Liga statt Nationalmannschaft Keiner weiß, dass einen Monat später die Bundesliga praktisch vor dem Ruin steht. Denn Canellas packt an seinem 50. Geburtstag aus, einen Tag zuvor hat Offenbach mit 2:4 in Köln verloren, den punktgleichen Rot-Weißen aus Oberhausen genügt ein 1:1 in Braunschweig zum Klassenerhalt. Offenbach steigt ab, weil Canellas beim Wettbieten um manipulierte Spiele nicht mithalten kann, eine Reihe von Spielen der Endphase der Saison 1970/71 sind verschoben. Hatte Offenbach den Herthanern gewaltige 140.000 Mark für einen Sieg geboten, zahlte Bie- lefeld am Ende 250.000 Mark für eine Niederlage an die Berliner. Der Kampf um den Klassenerhalt wird jenseits des Spielfeldes entschieden. Bundestrainer Schön flüchtet von der Gartenparty, als Canellas zu reden beginnt. Er hat die „Verhandlungen“ auf einem Tonband mitgeschnitten. Der deutsche Profifußball ist erschüttert, Offenbach steigt ab, auch weil der Klub der Konkurrenz zu wenig geboten hat, Oberhausen und Biele- feld bleiben erstklassig. Der Bestechungsskandal wirft den deutschen Fußball zurück, der Ruf ist ruiniert. Die Zuschauerzahlen, in dieser Zeit noch wichtigste Einnahmequelle der Vereine, gehen dramatisch zurück. Zwei Trainer werden gesperrt, sieben Vereine sind involviert, 52 Spieler werden vom DFB-Sportgericht verurteilt. Der sogenannte Chefermittler Hans Kindermann kann belegen, dass allein über eine Million Mark in der Endphase der Saison 1970/71 die Besitzer gewechselt hatten. Das neue Geschäftsmodell Profifußball ist ein dreckiges. Offenbach muss also runter, Canellas wird gesperrt. Kostedde findet sich nun in der Zweitklassigkeit unter Trainer Kuno Klötzer wieder. Vorerst ist er weiter weg von Bundesliga und Nationalelf als er es in Lüt- tich gewesen wäre. Schlimmer noch: Er hätte zu Feyenoord Rotterdam gehen können, hier schwingt Ernst Happel das Zepter, der niederländi- sche Klub ist in den frühen 1970er-Jahren einer der ganz großen Player 14
im europäischen Fußball. Happel und Kostedde, das hätte spannend werden können, österreichischer Grantler trifft auf westfälischen Hal- lodri, so oder so ähnlich wären die Startbedingungen und Schlagzeilen gewesen. Auch der 1. FC Köln und der VfB Stuttgart zeigen im Mai 1971 ernsthaftes Interesse vor und nach dem Auffliegen des Manipulations- Skandals. Doch Kostedde verwechselt sich zu einem Zweitligisten mit angeschlagenem Renommee, dem neuen Störenfried der deutschen Fußballwelt, die Kickers haben eine halbseidene Note. Über die Höhe der Ablösesumme kursieren unterschiedliche Zahlen, Konrad soll ein Schnäppchen für 350.000 Mark geangelt haben, andere Quellen sagen, dass 800.000 Mark nach Lüttich geflossen sein sollen – das wäre eine Transfersumme auf Rekordniveau für einen deutschen Spieler. Auch Olympique Marseille meldet Interesse an, steigt aber letztlich nicht in die Pokerpartie um den Stürmer ein. Das Ehepaar Kostedde sieht in der hessischen Wahl aber etwas anderes. Immerhin taugt Offenbach gleich als neue Heimat, eine Art Heimkehr, etwas zum Wohlfühlen. „Keine Woche nach der Meister- schaft mit Lüttich war ich weg aus Belgien“, sagt Kostedde, Belgien genügt ihm und seiner Frau Monika nicht mehr. Trotz dreier Meisterschaften, obwohl er die Torschützenkrone geholt hat, nimmt der 24-Jährige prak- tisch Reißaus. In Hausen, im Frankfurter Norden, findet er gleich eine standesgemäße Unterkunft, das Erdgeschoss mit Garten einer ansehn- lichen Villa erleichtert die Eingewöhnung. Zum Training muss er im Norden die Main-Metropole umfahren, den Fluss überqueren, um im Osten Offenbach zu erreichen, immer vorbei am und durch das Fein- desland. Eintracht Frankfurt und die Offenbacher Kickers, das ist wie Borussia Dortmund und Schalke 04, bitterböse Konkurrenz. Das Ehepaar Kostedde findet derweil gleich Anschluss bei der Familie Canellas. Der Präsident der Kickers verdient im Geschäft mit Südfrüchten prächtig. Kostedde lässt kein böses Wort auf ihn kommen. „Als Offenbach abgestiegen war, bot mir der Präsident gleich die Ver- tragsauflösung an“, blickt Kostedde zurück. Lose Offerten aus der Bun- desliga tun sich auf, im Ausland gibt es ein paar Möglichkeiten, und: „Das Angebot aus Rotterdam war viel besser als der Vertrag in Offenbach. Ich wäre gegangen.“ Das niederländische Angebot beinhaltet angeblich 300.000 Gründe für einen Wechsel. So viel Geld, 300.000 Mark Jahres- 15
salär, Wahnsinn. Wieso geht er nicht, um Himmels Willen? Warum bleibt er bei einem dubiosen Zweitligisten aus Hessen und verzichtet auf die ganz große europäische Bühne in der Hafen-Metropole Rotterdam? Monika Kostedde will nicht. Nach der einsamen Zeit in Lüttich, zwar in einer schönen Wohnung mit Blick auf die Maas, hat sie sofort Geschmack gefunden an dem Wohnort, dem Anschluss an die Canellas- Familie, Deutschland. „Wir bleiben, hat sie gesagt – das eine Mal habe ich auf sie gehört, und das war gut so.“ Für Kostedde werden es vier gute Jahre sein, das Umfeld stimmt, mit den Trainern kommt er zurecht, die Mannschaft ist oft einfach gut, ein Spektakel – und der neue Publikums- liebling trifft nach Belieben. Große Liebe Offenbach Mit Kuno Klötzer findet er einen Trainer, der ihm vertraut, der auf ihn setzt. Klötzer sieht die spielerischen Fähigkeiten und räumt Freiheiten ein, Kostedde zahlt zurück mit Toren am Fließband. Die Kickers steigen 1972 wieder in die Bundesliga auf, bleiben in der regulären Zweitliga- saison sowie der Aufstiegsrunde ungeschlagen. 44 Pflichtspiele ohne Niederlage, 128 Tore. Kostedde trifft 28-mal in der Punktrunde, dazu erzielt er sieben Tore in der Aufstiegsrunde, als Kirschen auf die Torte legt er zwei Treffer im Pokal obendrauf – die Kickers müssen keinen neuen Torjäger für die Bundesliga suchen. Sie haben Erwin Kostedde, beim fanatischen Anhang ist er längst angekommen. Offenbach ist Kosteddes große Liebe. Er wird zur Legende am Bieberer Berg. Sportlich liefert der Angreifer eindrucksvoll, Jahr für Jahr. Wirtschaftlich zahlt sich das aus, er streicht horrende Handgelder ein, die Kickers haben ihrerseits ein Faustpfand für einen möglichen Transfer, die Aktie Kostedde steht hoch im Kurs. Hohes Grundgehalt, ein Handgeld im sechsstelligen DM-Bereich Jahr für Jahr, damit lässt es sich leben. Kickers-Stratege Konrad reibt sich derweil die Hände, denn der erste Millionen-Transfer in D-Mark steht an, Offenbachs Torma- schine scheint ein Kandidat dafür zu sein. Privat sortieren sich die Dinge ebenfalls, weil auch Ehefrau Monika das Leben in Hessen mehr mag als in Belgien, sie organisiert alles um 16
den Sport herum. In Dieburg kaufen die Kosteddes zwei Reihenhäuser, eine Wertanlage für die Zukunft, die Finanzierung ist bei einem neuen Dreijahresvertrag nach dem Aufstieg nicht wirklich ein Problem. In Frankfurt findet Monika Kostedde eine neue Freundin, die Frau aus der naheliegenden Metzgerei, alles fügt sich langsam zusammen. Dass bei den Kickers dennoch nichts wirklich normal ist, erfährt Erwin Kostedde bei den Aufstiegsfeiern. In Heusenstamm wird die Bundesliga-Rückkehr im großen Stil zelebriert. Die unschlagbaren Kickers feiern mit drei atemberaubend hohen Siegen in der Aufstiegs- runde hauchdünn den Sprung in die Eliteliga, 7:2 über Völklingen sowie jeweils 6:0 über Wacker Berlin und St. Pauli bescheren die bessere Tordifferenz gegenüber dem punktgleichen Team von Rot-Weiss Essen. Obwohl die Mannschaft ungeschlagen bleibt, ist dies am Ende ein Ritt auf der Rasierklinge. Die 19 Treffer in den letzten drei Partien der Auf- stiegsrunde verfolgt die Konkurrenz mit Argusaugen, und fragt sich, ob da alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Offenbach muss jetzt hoch, rauf in das Bundesliga-Oberhaus, der Kader ist teuer, das Aufgebot mit Spielern wie Horst „Pille“ Gecks, Sig- fried Held, Lothar Skala oder Winfried Schäfer bereits erstligareif auf- gestellt. Dieser finanzielle Kraftakt kann nur einmal begangen werden, dieser eine Schuss muss sitzen. Am Ende bebt der Bieberer Berg, der Jubel ist grenzenlos. Meistermacher Kuno Klötzer hat es geschafft. Er, ein guter Mensch, aber auch ein Trainer der alten Schule, wie Kostedde sagt, hat Kickers Offenbach zurück in die Bundesliga manövriert – und muss gehen. „Bei der Aufstiegsfeier nahm mich der Trainer zur Seite und sagte, dass wir noch einen zusammen trinken sollten, ein letztes Mal.“ Klötzer wird entlassen, als sich die Kickers in den Armen liegen. Jubel und Trauer liegen auch bei Kostedde oft eng beieinander, nicht selten liegen nur ein paar Tage zwischen einem sportlichen Hochgefühl und dem aufkommenden persönlichen Frust. Aber diese Trainerbeurlaubung ist selbst für den emotionalen Grenzgänger Kostedde Neuland, er ist fassungslos. Auch als der Präsident Hans-Leo Böhm ihm am gleichen Abend sagt, jetzt in der Bundesliga, da müsse er abspecken. Aufstieg und Abschied und Anmache. Ausgerechnet Gyula Lóránt wird Klötzers Nachfolger. Lóránt, den Kostedde in seiner ersten Bundesliga-Saison 17
beim MSV Duisburg mit seinen Eskapaden ab und an zur Weißglut getrieben hatte. Nach dem Kuschelkurs Klötzers folgt der Leutnant Lóránt, die Stimmung fällt rasant. Offenbach als Klub sei vogelwild gewesen, Offenbach als Stadt bieder und ohne Flair, blickt Kostedde zurück – das ist irgendwie der Sound seines Lebens. So hat jede Saison etwas Besonderes in Offenbach. Allein die beiden Aufeinandertreffen im hessischen Derby gegen Eintracht Frankfurt würden genügen, um Kosteddes Kultstatus am Bieberer Berg in Stein zu meißeln. Der Aufsteiger erwartet den Rivalen aus der Nachbarschaft früh in der Saison. Frankfurter Fans haben sich einen besonderen Sing- sang in hessischer Mundart einfallen lassen von „zehn Schwule und ein Nigger – das sind die Offenbacher Kicker“. Es ist der Treibstoff, den Kostedde an diesem Oktober-Tag benötigt, damit kann er arbeiten, der Angreifer ist in Form und mental gefestigt wie noch nie in seiner Kar- riere. Der Aufsteiger nistet sich im oberen Tabellendrittel ein, das 1:6 bei Schalke 04 am fünften Spieltag wirft die Kickers nicht aus der Bahn. Endlich ist der Tag für die Revanche gekommen, die Eintracht gastiert am Bieberer Berg. Wieder einmal bieten die Hausherren ein Spektakel, Führung, Rück- stand, Schlussspurt. Ein lupenreiner Hattrick von Kostedde wird beim 3:2-Erfolg nur durch den Doppelpack von Jürgen Grabowski verhin- dert. Aber in den Schlussminuten zaubert Kostedde mit zwei Treffern den Sieg herbei. Offenbach feiert den Derby-Erfolg wie den Gewinn der deutschen Meisterschaft, der Eintracht-Anhang trägt Trauer nach der Pleite gegen den Eindringling. „Wenige Tage nach dem Sieg wollte ich mein Auto in einer Frankfurter Werkstatt reparieren lassen, sie haben mich beschimpft und weggeschickt“, lacht Kostedde später über die tiefsitzende Rivalität. Spätestens nach dem 3:0 in Frankfurt in der Rückrunde wird der Torjäger zum Albtraum für die Eintracht. Dieses Mal trifft Kostedde „nur“ doppelt, vielleicht hätte Manfred Ritschel ihm den Elfmeter zum zwischenzeitlichen 2:0 überlassen können, so oder so fühlt sich der Sieg im Waldstadion wie der Gewinn einer nationalen Meisterschaft an. Die Eintracht versucht wenig später einen Abwerbeversuch, im Übrigen ist während der ganzen Offenbacher Ära nur noch der VfB Stuttgart an ihm interessiert. Kostedde hat aber den großen Rivalen erlegt, Offenbach steht am Saisonende als Siebter genau 18
einen Punkt vor den Frankfurtern – also, warum nicht die Konkurrenz richtig schwächen? Die Kickers sind so etwas wie ein hessischer Meister, der Klub von der anderen Main-Seite, das ist natürlich die gute Seite. Frankfurt umgarnt den Angreifer, und einmal spielt Kostedde auch mit den Eintracht-Granden zusammen. Bei einem Freundschaftsspiel der Henninger Brauerei treten die Frankfurter Topspieler mit denen aus Offenbach gemeinsam gegen den AC Mailand an. Die Offensivreihe heißt Grabowski, Hölzenbein und Kostedde, der Offenbacher erzielt die Führung, am Ende heißt es 2:2. Doch der Torjäger bleibt in Offenbach, denn: „Das wäre Verrat gewesen, das wäre mir nie verziehen worden. Die hätten mich umgebracht.“ Eine Frage der Ehre, oder hat er einfach nur etwas gelernt aus dem Wechsel-Theater zwischen Standard Lüttich und Alemannia Aachen im Sommer 1968? Der trotzige Erwin, der sich zu sportlichen Großtaten aufschwingt, ist in diesen guten Tagen Programm. Augenscheinlich wirft ihn nichts aus der Bahn. Nur einmal wird er im Laufe seiner Profikarriere vom Platz gestellt. Schiedsrichter Gerd Meuser will eine Tätlichkeit gegen Hannes Linssen im Heimspiel gegen den MSV Duisburg gesehen haben. Offiziell wird er vier Wochen gesperrt, Kostedde kehrt erst nach zwei Monaten zurück und trifft gleich dreifach beim VfL Bochum, so gewinnt man mit 3:2 im Ruhrstadion. Er ist nicht mehr der verwirrte junge Mann, der beim erstbesten Widerstand aufgibt. Ungerechtig- keiten spornen ihn an, Meusers Platzverweis verwandelt er in positive Energie, sechs Tore lässt er in den letzten vier Bundesliga-Partien noch folgen. Mit 19 Toren nach 29 Partien liegt er auf Platz vier der Torjäger- liste hinter Gerd Müller, Jupp Heynckes und dem Wuppertaler Günter Pröpper. Im zweiten Anlauf hat er sich in der Bundesliga einen Namen gemacht, die Duisburger Zeit ist ganz weit weg. Ein großes Spiel auf Malta Deutschland wird 1972 Europameister, zwei Jahre später steht die Fuß- ball-WM im eigenen Land an, mittendrin meldet Kostedde im Sommer 1973 mit seiner Trefferquote und seiner Spielintelligenz Ansprüche auf das Nationaltrikot an. „Keine Frage, einen wie Gerd Müller gab es 19
kein zweites Mal. Aber dahinter sah ich mich schon“, blickt Kostedde zurück. Immerhin hat er mindestens 19 Argumente für Bundestrainer Schön geliefert, eine Saison Schaulaufen bleibt noch Zeit bis zur Nomi- nierung des WM-Aufgebots. Doch das Debüt in der Nationalelf lässt auf sich warten. Während Kostedde 15 Treffer in der Saison 1973/74 erzielt und einen furiosen Saisonendspurt mit sechs Torerfolgen in den letzten acht Punktpartien hinlegt, ist die Konkurrenz schon viel weiter. Jupp Heynckes für Borussia Mönchengladbach und Gerd Müller von Meister Bayern München teilen sich die Torjägerkrone – 30 Treffer haben auch bei der Nominierung für den WM-Kader ein anderes Gewicht. Jürgen Grabowski und Jupp Kapellmann erhalten zudem den Vorzug vor Kostedde. Nein, der Offenbacher ist kein ernsthafter Kandidat für den Bundestrainer Helmut Schön, nicht einmal für einen Länderspieleinsatz, so sehnsüchtig er auch auf sein Debüt wartet. Wie sein Lehrmeister aus jungen Jahren, Felix „Fiffi“ Gerritzen, schafft es Kostedde nicht in den Zirkel der Nationalspieler bei einem WM-Tur- nier. Gerritzen, eine Spielerlegende beim SC Preußen Münster, kam 1951 zu vier Einsätzen in der A-Nationalelf und stand auf der Nomi- nierungsliste für die WM 1954, ehe ihn eine Knieverletzung stoppte. Kostedde schafft den Sprung nicht, weil die Konkurrenz im Angriff dermaßen groß ist, dass seine 15 Tore in der Bundesliga nicht wirklich ins Gewicht fallen. Aber Kostedde fehlt auch der Punch, seine eigenen Interessen durchzusetzen. „Ich hätte viel härter an mir arbeiten müssen“, blickt er zurück. Und ihm fehlen die Fürsprecher, damit er trotz der Blockbildung in der Nationalelf überhaupt mal eine Chance erhalten kann. Lobbyarbeit ist nicht sein Ding, er hat keinen Berater, der die Werbetrommel rührt. Zudem ist Offenbach für die Nationalelf nicht gerade die erste Adresse. Sein letztes Jahr in Offenbach ist dennoch wie ein Rausch. Deutsch- land ist zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister geworden, und Bayern München gastiert mit Franz Beckenbauer & Co. zum Saisonauftakt am Bieberer Berg. 19 Testspiele hat das Ensemble von der Isar in den Beinen, die Bayern machen Kasse mit den Weltmeistern, dementsprechend aus- gelaugt startet das Team in die Saison. Offenbachs eingespielte Formation steht dagegen unter Strom. Die Meisterspieler aus Bayern werden vor- geführt, mit einem fürchterlichen 0:6 auf die Heimreise geschickt, fünf 20
Weltmeister stehen auf dem Feld. Das Stadion, restlos ausverkauft mit 35.000 frenetischen Fans, kocht über, mittendrin Kostedde mit zwei Tref- fern. Die Kickers sind Tabellenführer nach diesem phänomenalen Erfolg über den Titelverteidiger. Allein für diesen Tag hat sich alles gelohnt, nur dieser eine Tag reicht für einen Code in der Vereins-DNA. Die fünf Basen für den Code kennt jeder OFC-Fan auswendig: E-R-W-I-N. Kostedde ist in Offenbach längst Everybody’s Darling, er lässt sich häufig in der Stadt blicken, ein Star zum Anfassen. Seine Popularität ist unglaublich, sein einst wankelmütiges Selbstbewusstsein ist nie größer gewesen, es ist eine Saison zum Verlieben. Vieles gelingt. Kurz vor Weih- nachten sorgt dennoch ein Anruf für Unruhe im Hause Kostedde, als eine Frau seine Konfektionsgröße erfragen will. Monika Kostedde stutzt, weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihr Mann für das EM-Quali- fikationsspiel gegen Malta in Valetta nominiert wird, Kostedde selbst weiß das auch nicht. Zwei Tage vor Weihnachten soll der Weltmeister auf dem betonharten Sandplatz einen Sieg auf dem Weg zur Europa- meisterschaft in der Tschechoslowakei 1976 einfahren. Es beginnt die Ära nach Gerd Müller, dem legendären Stürmer von Bayern München. Und Kostedde steht vielleicht nicht bei Bundestrainer Helmut Schön hoch im Kurs, aber bei dessen Vertreter Jupp Derwall. Der stellt für den erkrankten Coach das Malta-Aufgebot zusammen und ermöglicht dem Offenbacher das Länderspiel-Debüt. Ein erstes Präsent zwei Tage vor dem Weihnachtsfest. „Weil die Sonne immer scheint“ Kostedde reizt in dieser Saison alles aus. Jack White hatte „Fußball ist unser Leben“ komponiert und die Fußball-Nationalelf 1974 singen lassen, der Song geht durch die Decke. Nun kommt der „Harry Belafonte vom Bieberer Berg“ auf die Showbühne. Belafonte ist ein amerikanischer Show-Superstar, der „King of Calypso“. „Mary’s Boy Child“ oder der „Banana Boat Song“ sind nur zwei seiner Hits, er steht in einer Reihe mit Frank Sinatra und ist als schwarzer Künstler politisch engagiert. Es ist dick aufgetragen, Kostedde gleich mit diesem Giganten des Showbiz in eine Reihe zu stellen. Robby Spier, Konzertmeister im Tanzorchester des 21
Hessischen Rundfunks, glaubt aber an „Erwins samtweiches Timbre“. Kostedde macht mit, betont natürlich, dass er sein Geld weiterhin vor- rangig mit den Füßen verdienen werde. Aber warum nicht die Hitparade von Dieter-Thomas Heck im ZDF stürmen, in den Charts Einzug halten? „Die Sonne scheint irgendwo, wenn auch der Himmel weint. Die Rosen blühen sowieso, weil die Sonne immer scheint.“ Der Refrain – nun ja, es ist ein Schlager. Der Plan von Spier und Kos- tedde sieht die Produktion von 40.000 Singles vor, A-Seite: „Die Sonne scheint irgendwo“, B-Seite: „Suchst Du Freunde, dann komm zu mir“. Spier verkündet, dass der Fußballer durchaus singen könne, Kostedde selbst geht mit einem Investment von 5000 Mark in Vorleistung. Doch es findet sich keine Plattenfirma in Deutschland, die mitmachen will, zu wenig Liebe, zu wenig Fußball in den Songs. Das sorgt für Enttäuschung beim Produzenten und auch dem Sänger. Nein, Schnulzensänger sei er nicht, auch kein Barde, der Text alles andere als hochgeistig. Und wenn keiner diese Melodien will … Kostedde beendet den Ausflug ins Seichte ganz schnell wieder. „Meine Frau hat zu mir gesagt, dass ich mich nicht lächerlich machen soll, deshalb habe ich am Ende auf die Produktion verzichtet“, sagt er. Den finanziellen Verlust verkraftet er problemlos. Der „Harry Belafonte vom Bieberer Berg“ ist nur eine Anekdote. Den Ausflug ins Showgeschäft nimmt ihm keiner wirklich übel, den Versuch war es wert. Auch die Suche nach seinem Vater ist Teil der Offenbacher Ära. Kos- tedde lässt sich mit dem Boulevard ein, startet eine öffentliche Suche nach dem Mister X, die Leser dürfen zuschauen. „Ich würde ihn gerne treffen und wäre glücklich, wenn alles geklärt werden würde“, erzählt er der „International Herald Tribune“ frank und frei. In der Zeitschrift „Ebony“ wird sein Aufruf veröffentlicht. Die Resonanz ist einiger- maßen, rund 20 Briefe trudeln ein, eine Reihe von amerikanischen Bitt- stellern heben den Finger. Sein leiblicher Vater ist nicht darunter. Doch Kostedde erhält auch Drohbriefe, beleidigende Post, Briefe mit Haken- kreuzen und übelsten rassistischen Beschimpfungen. Andere geben sich als Vater aus und hoffen auf einen gedeckten Scheck aus Deutschland. Den erhofften Erfolg bringt das alles nicht. 22
Immer wieder kehrt Erwin Kostedde zu diesem Thema zurück, immer wieder rekapituliert er die wenigen Gespräche mit seiner Mutter. „Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, hatte ich den meisten Mut, mit ihr darüber zu sprechen. Nur sie wollte das nicht. Vielleicht wollte sie mich schonen. Hätte sie gesagt, dass sie vergewaltigt worden ist, dann wäre ich endgültig zusammengebrochen.“ Es nicht zu wissen, ist nicht wesentlich einfacher für ihn. Aber auch das ist in diesem Moment, als er fußballerischen Erfolg hat und die Ehe mit Monika vernünftig läuft, zu verschmerzen, obwohl Kostedde zeit seines Lebens damit ringt. Nicht selten vermutet er, dass er die „schlechten Gene seines Vaters geerbt hat“, anders kann er sich seine Eskapaden, seine Sauftouren und all das viele Schlechte nicht erklären. Immer dann, wenn es nicht weitergeht, seine Welt unterzu- gehen scheint, ist das seine Interpretation. Sein unbekannter Vater hat ihm alle schlechten Eigenschaften verpasst, das muss so sein, davon ist er in diesen Augenblicken überzeugt. „Ich war bereit, 10.000 Mark für die Suche nach meinem Vater auszugeben“, erzählt Kostedde dem „Stern“. Um die Aktion wenig später ergebnislos abzublasen. Aber am wenigsten berührt ihn das während seiner Zeit in Offenbach, diese vier Jahre sind ein steter sportlicher Höhenflug, die Zuschauer lieben ihn, Mitspieler Lothar Skala wird für ihn zu einem echten Freund, das Leben ist schön. Die Kosteddes gestatten sogar Einblicke ins beschauliche Fami- lienleben. Es kommt in diesen Jahren nicht oft vor, dass eine Art Gla- mour-Paar des Fußballs sich zeigt. Im Fernsehen konkurrieren ganze drei Sender um Zuschauer, die Promi-Kultur von VIP-Qualität bis D-Klasse gibt es nicht, der Boulevard wird fast ausschließlich von der „Bild“ bestimmt. Monika Kostedde gewährt einen seltenen Einblick in den Lebensstil, zeigt das Haus in Hausen, in Offenbach läuft im vierten Vertragsjahr alles prächtig, warum also nicht. „Meine Liebe zu Erwin ist so groß, dass ich manchmal glaube, dass das Glück zerspringen muss.“ Vielleicht ist das eine Vorahnung, die unbeschwerte Zeit ist endlich. Auch Erwin macht dieses Spiel mit, er öffnet sich, als er mitteilt: „Ohne Monique wäre ich vor die Hunde gegangen.“ Vom saufenden, ziellosen und mittellosen Playboy hat er sich zum soliden, engagierten und recht- schaffenen Pantoffelhelden entwickelt, der erst durch die Frau an seiner 23
Seite als Fußballer den Durchbruch geschafft hat. Die Skepsis gegen- über dem Spieler ist auf ein Minimum geschrumpft, wenig deutet auf einen Absturz hin, die Medien verneigen sich vor dem fußballerischen „Bildungsbürger“, der alle Schwierigkeiten überwunden hat. Kostedde und Offenbach, das ist eine Symbiose, zusammen ist das eine starke Einheit. Auf keinen Fall darf man den Stürmer gehen lassen, Volkes Wut bekam schon Trainer Gyula Lóránt zu spüren, als er Kostedde mal wegen Formschwäche auf die Bank setzte. Das war in der Offenbacher Erstliga-Saison 1972/73. Ehefrau Monika erklärt der „Bild“, dass immer wieder Trainer versuchen würden, den „Erwin wegen seiner Hautfarbe zu drücken“. Und korrigiert sich im gleichen Interview: „Solange wie wir verheiratet sind, haben wir wegen Erwins Hautfarbe noch nie ein hässliches Erlebnis gehabt.“ Dabei gilt doch am Bieberer Berg vom ersten Tag an die Regel: Wenn Erwin Kostedde fit ist, dann spielt er auch. Kosteddes Ehefrau ist aber auch nicht im Stadion, als Teile der Frankfurter Anhängerschaft den Angreifer im tausendfachen Chor als „Nigger“ beschimpfen. Sie erfährt erst davon, als sich eine Frankfurter Delegation offiziell für die rassistischen Verbalattacken bei der Familie Kostedde entschuldigt. Eigentlich spricht nichts dagegen, Erwin Kos- tedde bis zum Karriereende in Offenbach zu halten. „Fünf, sechs Jahre möchte ich noch spielen“, erklärt er zum Ende der vierten Spielzeit, als er längst zum Spielball der Interessen geworden ist – ohne das Zepter in den Händen zu halten. Spanien, Hertha oder lebenslang beim OFC? Mitte der 1970er-Jahre entsteht auch eine Art Wettrennen um die erste Millionen-Ablöse im deutschen Fußball. Unvorstellbar, eine Million Mark für einen Fußballer zahlen zu wollen. Aber das oft schmierige Geschäft mit den Transfersummen ist die Lebensversicherung für Ver- eine wie Offenbach. Wenn gar nichts mehr geht, wird das Tafelsilber verhökert, Kostedde kennt das schon, gleich beim ersten Wechsel als Berufskicker von Münster nach Duisburg wird er verschachert. Die Kickers brauchen jedenfalls dringend frisches Geld, und der Angreifer ist die mögliche wirtschaftliche Rettung für den Klub. Kostedde soll 24
mindestens eine Million Mark bringen, Real Saragossa zeigt Interesse, auch Atlético Madrid, zudem einige Bundesligisten. Manfred Wengert taucht als Spielerberater auf, dabei ist er Repräsentant des Chemie- konzerns Bayer in Spanien. Wengert hat aber die Verpflichtung von Günter Netzer durch Real Madrid eingefädelt. Er gilt als Spanien- Kenner und hat zudem einen guten Draht zu „Big Willi“. Willi Konrad hat Kostedde nur einen neuen Einjahresvertrag angeboten, das Finan- zielle ist reduziert, Kostedde fühlt sich verraten. Die Begründung Konrads ist fadenscheinig, Kostedde sei schon „29 Jahre alt“, aber wenn es ein lukratives Angebot gäbe, wäre das „gut für den Erwin und den Verein“. Im Klartext bietet der OFC-Manager seinen Topstürmer zum Verkauf an, der Höchstbietende bekommt den Zuschlag, die Ver- gangenheit spielt keine Rolle. Freunde auf Zeit. Kostedde stellt klar: „Ich werde mich nicht rühren, wenn die nichts tun. Dann kündige ich am 30. März.“ Er will den abschließenden großen Dreijahreskontrakt, jeder Offenbacher Anhänger würde sogar eine längere Laufzeit befür- worten. Lebenslang OFC. Manager Konrad erhält Drohungen. Doch er verweist nur lapidar auf die Branchengrößen aus Mönchengladbach und München. Günter Netzer, der Gladbacher Mittelfeldstar, und Paul Breitner, der Weltmeister der Bayern, wurden auch verkauft, als die Zeit gekommen war. Der Nationalspieler Kostedde ist noch felsenfest überzeugt davon, sein eigener Herr in den anstehenden Verhandlungen zu sein, sein Selbstbewusstsein ist gewachsen, er fährt jetzt auch Mercedes. Den SLC 350, Kostenpunkt 50.000 Mark. Konrads Wink hat er ver- standen, er keilt zurück: „Bei den Kickers hält mich nichts mehr. Selbst wenn sie mir ein neues Angebot machen würden, ginge ich weg.“ Dabei hat der Mann in Offenbach vier Saisons geliefert, stets zweistellig getroffen: 19, 15, 18 lautet die Ausbeute an Erstliga-Toren nach dem anfänglichen Zweitliga-Jahr. Das spricht für Konstanz bei einer Mannschaft, die sich dauerhaft im gesunden Mittelfeld der Liga tummelt – und das auch dank Erwin Kostedde. Ohne ihn würde es wohl eher gegen den Abstieg gehen, und zwar ohne Offensivspek- takel. Er will nun also unbedingt einen Dreijahresvertrag. Doch der Profi, der keinen Berater hat und sich auch sonst ungern beraten lässt, ist nicht mehr Herr des Geschehens. Der Rekordtransfer mit speku- 25
lierten 1,2 Millionen Mark kommt allerdings nicht zustande, dies ist nur das Ballyhoo zum eigentlichen Wechsel. Denn Offenbach braucht einen schnellen Transfer, die Millionen-Marke ist nur ein Wunsch- gebilde. Kostedde ist zwar irgendwie die heißeste Aktie auf dem deut- schen Transfermarkt, aber die Topklubs wollen sich an ihm nicht die Finger verbrennen. Hertha BSC bekommt den Zuschlag, allerdings für nur 650.000, vielleicht 700.000 Mark. Offenbacher Hoffnungen auf das Millionenge- schäft zerschlagen sich, Gewinn sieht für die klammen Kickers anders aus. Die Pokerpartie endet ohne klaren Sieger, eher darf Kostedde als erster Verlierer bezeichnet werden. So nebenbei: Es wird noch zwei Jahre dauern, ehe für den Belgier Roger van Gool vom FC Brügge eine Million Mark gezahlt wird durch den 1. FC Köln. Kostedde zieht um in die geteilte Hauptstadt, Hertha BSC ist es also, launische Diva an der Spree, Anfang der 1970er-Jahre hüfthoch im Bun- desligaskandal versunken. Ohne Berater geht der Spieler in seine per- sönlichen Vertragsgespräche, ihm fehlt die Härte in den Verhandlungen um den besten Deal, außerdem fehlen ihm weitere Nachfragen, er wird „abgekocht“. Der billige Jakob ist er zwar nicht, aber die Hertha landet ein Schnäppchen, die Strategie, dass kein anderer Verein in der Bundes- liga ihn verpflichten will, verfängt beim Ehepaar Kostedde. „Ich habe weniger verdient als in Offenbach, aber damals dachte ich auch, es gäbe keine Alternative zur Hertha“, verzweifelt Kostedde Jahre später immer noch an diesem Deal, 40 Prozent weniger Gehalt als in Offenbach soll er in Berlin erhalten. Unvorstellbar für einen, der gerade Nationalspieler geworden ist. Und was war mit dem Fluchtpunkt Spanien? Alles versandet. Er verkauft sich jedenfalls unter Wert, wie auch die Wertanlage in Dieburg, die beiden Reihenhäuser sollten doch ein Teil der Zukunfts- absicherung sein. Es geht für ihn um eigentlich läppische 30.000 Mark, die an Grundsteuer zu entrichten sind. Nur deshalb tritt er vom Kauf zurück, Kostedde ist mal wieder trotzig, die Summe war nicht verein- bart, das bislang investierte Geld ist weg, die Wertanlage auch. Auch dieses Minus lässt sich verschmerzen, glaubt er. Offenbach verlässt Erwin Kostedde als sportlicher Held, finanziell gerät er aber ins Hinter- 26
© Horstmüller Oktober 1975, Training kurz vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Griechenland: Erwin Kostedde mit dem schwarzen Adler auf dem Brust.
Die Jugendjahre des Erwin Kostedde: Schule in den 1950er- Jahren (oben), Pfadfinderausweis (rechts) und als Auswahlspieler in Kaiserau (unten). © privat (3)
© Stadtmuseum Münster, Sammlung Willi Hänscheid Erwin Kostedde im Trikot seines ersten Klubs: Preußen Münster. © imago images Juli 1967: Beim Meidericher SV (1967/68) schießt Kostedde seine ersten Bundesligatore.
Bei Standard Lüttich heuert Kostedde zweimal an: 1968 (bis 1971) und 1979 für eine halbe Saison. 1994 erschien die erste Ausgabe des Offenbacher Fanmagazins „Erwin“, von dem – mit einer zeit- lichen Unterbrechung – bis Anfang 2021 95 Aus- gaben erschienen sind. © privat (2)
Regionalliga Süd im Februar 1972: Kostedde trifft für Offenbach in München gegen 1860. Für den OFC spielte er von 1971 bis 1975. September 1974: Siggi Held, Wolfgang Rausch, Erwin Kostedde. © imago images (2)
,,DIE HABEN MIR GESAGT, du musst dich mehr waschen, eine Stunde lang mit Ke r n s e i f e . A b e r i c h w u r d e n i c h t h e l l e r.“ E R W I N KO S T E D D E Ü B E R S E I N E S C H U L Z E I T Ra s s is mu s e r f a hr u nge n, s p or t lic he E r f olge, die ve r ge b - lic he Su c he nac h de m eige ne n Va te r, ein G e f ä ngnis au f - e n t hal t f ür eine S t r a f t a t , die e r nic h t b e g ange n ha t , ein Suizid ve r s u c h, A lko holp r o b le me, f inanzie lle Plei te n – E r win Ko s te d de, de r e r s te s c hwar ze de u t s c he N a tio nal - s pie le r, b lic k t au f ein au f r e ge nde s u nd t r agis c he s Le b e n zur ü c k . Ric h tig glü c k lic h f ü hl te e r s ic h nur au f de m Pl a t z , b ei m Fu ßball. Da ko nn te e r alle s ve r ge s s e n, e r s e lb s t s ein. A lexande r He flik ha t ihn f ür die s e s s e ns ib le P or t r ä t ü b e r vie le Jahr e b e gl ei te t . ISBN 978-3-7307-0573-5 VERLAG DIE WERKSTATT
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