EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN
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C 21134 Dezember 2021/Januar 2022 | 12 EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN UND KIRCHE IN NORDDEUTSCHLAND ...arbeiten ...erinnern ...lachen ...handeln ...abrüsten IN ZUKUNFT… ...sterben ...zuhören ...leben ...einkaufen ..gestalten ...träumen Akademietage der Nordkirche Einkaufen: Sterben: Kirche: Wer liefert das täg- Wo das Helfen endet, Stay hungry, stay lich Brot? beginnt der Trost. foolish
GLAUBENSSACHEN Schö Schöne Dinge mit Sinn und Se Segen Gemeindedienst der Nordkirche (Hrsg.) Für jeden neuen Tag – Heft 50 Gedanken, Geschichten und Gebete zum Thema „Neu anfangen!“ – weit über 100 Texte regen zum Innehalten, Nachdenken und Diskutieren an: Was ist wirklich wichtig? | Sich beschenken lassen | Angst überwinden | Neuen Mut fassen | Altes neu entdecken | Altes loslassen | Offen sein für Neues | Neu vertrauen | Einsamkeit überwinden | Wachsen lassen | Werte schätzen | Nähe und Gemeinschaft | Perspektiven entdecken | Grenzen Ev. Bank überschreiten | Neue Berührungen wagen 32 Seiten, geheftet, Best.-Nr. F050 € 1,90 ab 100 je € 1,70 | ab 500 je € 1,45 | ab 1.000 je € 1,20 | je ab 2.000 je € 0,70 | ab 5.000 je € 0,40 Jahresklänge 2022 - Wandkalender Innere Ruhe finden und zu sich selbst kommen, jede Woche neu. Dazu motivieren die spirituellen Texte von Theologinnen und Theo- logen in dem künstlerisch hochwertigen Jahresbegleiter mit medita- tiven Kurzandachten für jede Woche. Der Kalender begleitet sowohl durch das Kirchen- als auch durch das Kalenderjahr: Er beginnt mit dem 1. Advent 2021 und endet im Dezember 2022. Format: 17 x 24 cm; aufgeklappt: 34 x 24 cm, 56 Seiten, Spiralbindung, mit kreativen Advents-Seiten 978-3-87503-265-9 ab 30 Stück € 12,95 je € 9,95 Roland Mierzwa Zukunftsfähiges Flensburg Städte machen Politik, sind Initiatoren von Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Das machen sie, indem sie eine Gentrifizierung vermeiden; soziale Un- gleichheiten zum Teil ausgleichen; öffentliche Räume „für alle“ schaffen und NEU bewahren; mehr „öffentliche Güter“ produzieren usw. Die Ausführungen in diesem Büchlein geben dazu für Flensburg Anregungen, die aber auch für Städte allgemein gelten. 40 Seiten, geklammert 978-3-87503-269-7 € 8,00 Jetzt onlinen bestelle Viele schöne Geschenkideen und Bücher unter: www.glaubenssachen.de Lutherische Verlagsgesellschaft mbH | Postfach 3169 | 24030 Kiel | Bestelltelefon: 0431 55779-285 Fax: 0431 55779-292 | bestellung@glaubenssachen.de oder vertrieb@lutherische-verlag.de
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Das Futur steht hoch im Kurs. „Fridays for Future“ ist in aller Munde, und es wird ständig darüber debattiert, wie es werden soll. Oder wie es werden wird, wenn alles so bleibt. Selbst die neue Regierung verschreibt sich dem Futur, wenn sie ihr Regierungsprogramm mit „Fortschritt wagen“ überschreibt. Sie möchte in die Zukunft fortschrei- ten, innovativ natürlich. Harald Welzer, der in diesem Heft das letzte Wort hat, fragt mit der nahezu ausgestorbenen Zeitform des Futur II „Wer will ich gewesen sein?“ Denn, und damit sind wir bei diesem Heft, „unsere Zukunft ist jetzt“ (Kehnscherper). Wenn nicht heute angemessene Entscheidungen gefällt werden, wenn nicht heute ge- handelt wird, wenn nicht heute auf die stillschweigende Aufrüstung oder die fehlende atomare Abrüstung (Blum, Misselwitz) reagiert wird, wenn nicht heute der innere und äußere Zusammenhang von Mensch und Natur angemessen verstanden wird (Gröhn), dann kann die Zukunft noch so farbenprächtig ausgemalt werden – wir blieben FRIEDRICH in der Gegenwart stecken. Und schon die sieht nicht gerade gut aus. BRANDI Die Evangelischen Akademietage, immer Anfang November an ver- schiedenen Orten in der Nordkirche, fanden in diesem Jahr unter dem Thema „in Zukunft…“ statt. Aber selbstverständlich ging es nicht allein um die Zukunft, sondern immer auch um Herkunft und Ge- genwart. So nimmt die Landesbischöfin Jesu Wort („Ich bin nicht ge- kommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“) zum Anlass über eine konfliktbereite Kirche nachzudenken. Wer sich an Jesus Christus orientiert, kommt ohne Konflikte nicht aus – damals nicht, heute nicht und auch in Zukunft nicht. Philipp Gessler von „zeitzei- chen“ nimmt die phrasenreiche, aber oft inhaltsarme Kirchensprache unter die Lupe, und Emilia Handke meint, Kirche müsse schon jetzt dahin gehen, wo es auch mal unbequem sein kann. Damit sind schon einige, aber längst nicht alle Themen des vorliegen- den Heftes umrissen. Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht www.evangelische-stimmen.de EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 3
EVANGELISCHE STIMMEN INHALT 3 Editorial Friedrich Brandi 35 6 Predigt zur Eröffnung der Akademietage Kristina Kühnbaum-Schmidt 42 Eine Evangelische 10 Unsere Zukunft ist jetzt Stimme Jürgen Kehnscherper Meike Barnahl 15 Zugesicherte Vernich- 44 Die Kirchensprache tung kann nicht christ- Philipp Gessler lich sein Inga Blum 50 Trost und Musik Jean-Pierre Wils 21 Friedensethische Aktivität 57 Sterben als soziales Hans-Jürgen Misselwitz Ereignis Traugott Roser 25 Einkaufen Martin Zieger 62 Jedes Einzelne muss vergehen 31 #NewWork Wilhelm Schmid Renate Fallbrüg 35 Let‘s act now! 65 Das letzte Wort hat Constantin Gröhn Harald Welzer 40 Stay hungry – 66 Vorschau stay foolish Emilia Handke Titelbild Foto: unsplash.com EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 5
THEMA Evangelische Akademietage Predigt zu Mt 10, 34-39 am 24. Oktober 2021 Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt noch einmal auf den Predigttext des heutigen hielt die Predigt zur Eröffnung der Akade- Sonntags aus dem Matthäusevangelium. mietage in der Hauptkirche St. Michaelis Hamburg. II Jesus sprach zu seinen Jüngern: Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Erde zu I bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich bringe Streit zwi- „In Zukunft…“ – ein verheißungsvolles Motto schen einem Sohn und seinem Vater, einer Tochter für die 11. Evangelischen Akademietage hier und ihrer Mutter, einer Schwiegertochter und ihrer in Hamburg, deren Auftakt wir heute und hier Schwiegermutter. Feindlich sind einander dann die feiern! „In Zukunft…“ – das klingt nach gro- Menschen, die zusammen ein Haus bewohnen. Wer ßen Plänen, nach Visionen, wie sie unsere Ge- Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist es nicht sellschaft gerade jetzt so dringend braucht. „In wert, zu mir zu gehören. Und wer Sohn oder Toch- Zukunft…“ – das schmeckt nach neuen Erfah- ter mehr liebt als mich, ist es nicht wert, zu mir zu rungen, nach Entdeckungslust und Vorfreude. gehören. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und Im Programm der Akademietage stehen dazu mir folgt, ist es nicht wert, zu mir zu gehören. Wer die passenden Worte: Träumen. Abrüsten. Zu- sein Leben erhalten will, wird es verlieren. Aber hören. Lachen. Gestalten. Erinnern. Handeln. wer sein Leben verliert, weil er es für mich einsetzt, Jedes dieser Worte kann in den kommenden wird es erhalten. Tagen für einen Schritt in die Zukunft stehen. Seien wir gespannt! In Zukunft: Streit und Auseinandersetzung! „In Zukunft…“ – mit diesen Worten kann Zwischen Söhnen und Vätern, Töchtern und aber auch eine andere Tonalität mitschwingen. Müttern, Schwiegerkindern und Schwieger- „In Zukunft werden wir andere Saiten aufzie- eltern. Also wohl ein typischer Fall von Gene- hen – in Zukunft werden wir uns neu aufstellen rationenkonflikt! Davon ist auch bei uns zur müssen.“ Wenn solche Sätze fallen, klingt das Zeit viel die Rede. Meist unter dem Stichwort: nicht nur nach Entdeckerlust und Aufbruch. Generationengerechtigkeit. Und damit ist nicht Sondern nach einschneidenden Veränderun- die übliche Auseinandersetzung gemeint, die gen, deren Folgen noch nicht absehbar sind. jede Generation mit der ihr folgenden Gene- „In Zukunft …“ – das Motto der Akademieta- ration führt. Der heutige Konflikt um die Ge- ge ist schillernd. Verheißungsvoll kann es sein, rechtigkeit zwischen den Generationen meint aber auch Fragen und Sorgen auslösen. Und die berechtigte Angst und Sorge der heutigen schillernd ist die Zukunft ja auch selbst – einer- Jugendlichen, dass wir, die Generation der El- seits können wir sie aktiv entdecken und uns tern und Großeltern, ihnen eine Erde mit im erschließen, andererseits kommt sie auf uns zu, Wortsinn katastrophalen Zukunftsperspektiven steht nicht in unserer Hand. Was bringt uns die überlassen. Ihr Vorwurf lautet: Weil ihr bisher Zukunft? Mitten in diese Frage hinein hören wir nicht gehandelt habt und euch auch jetzt noch 6 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt ermutigte in ihrer Predigt zur Eröffnung der Evangelischen Akademietage zu auch schmerzhaften Konflikten. Foto: Marcelo Hernandez, Nordkirche nicht anschickt, wirklich konsequent zu han- In den Konflikten, die Jesus für die Zukunft be- deln, werden unsere Zukunftsaussichten immer nennt, geht es um eine grundsätzliche Bestim- düsterer. Die Bewegung der Fridays for Future mung: Woran orientiere ich mein eigenes Le- ist für diese Stimmung nur ein Ausdruck. Und ben? Wonach richte ich mich aus? Und welche — haben die jungen Leute nicht recht? Ist es Konsequenzen hat das für mich? Ernste und nicht berechtigt, dass sie zu den anstehenden gewichtige Fragen, die sich auch heute stellen. Zukunftsfragen mit den Generationen vor ih- Zukunftsfragen. Für unser persönliches Leben nen in harte Auseinandersetzungen gehen? wie für unser Zusammenleben in unserer Ge- „Feindlich sind einander die Menschen, die zu- sellschaft, in unserem Land, in Europa, welt- sammen ein Haus bewohnen.“ weit. Nicht nur der Weltklimarat sagt: Dieses Der Streit, den Jesus benennt, ist aber mehr Jahrzehnt und die Handlungsentscheidungen, als ein reiner Generationenkonflikt. Er resul- die wir darin treffen, wird entscheidend dafür tiert nicht allein aus der Zugehörigkeit zu un- sein, wie wir leben werden - „in Zukunft…“. terschiedlichen Generationen und daraus re- sultierenden verschiedenen Meinungen zum richtigen Leben in herausfordernden Zeiten. EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 7
THEMA III IV »Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um »Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert«. Schwert«. Alle, die sich nach Harmonie sehnen, dürften Jesus redet mit diesen Worten nicht Bewaff- sich bei diesen Worten wohl ziemlich vor den nung und Krieg das Wort. Das Schwert, von Kopf gestoßen fühlen. Zumal, wenn sie in der dem er hier spricht, meint nicht nur das Kirche und im Gottesdienst als Worte dessen Schwert, wie es von Soldaten mit sich geführt weitergegeben werden, auf den sich der christ- wurde. Es meint auch ein sehr scharfes Messer, liche Glaube gründet: Christus. Solus Christus wie es in der Küche zum Zweiteilen und Zer- – allein Christus. Aber genau da liegt der Hase trennen verwendet wird. Ich denke an unsere im Pfeffer. Denn um nichts anderes geht es: sich Küchenmesser und die scharfen und durchaus allein auf Christus zu gründen. Sich allein an schmerzlichen Schnitte, die ich mir insbesonde- ihm und seiner Botschaft der Liebe, der Barm- re dann zuziehe, wenn mein Mann die Messer herzigkeit und des Friedens zu orientieren, das gerade mal wieder frisch geschärft hat. Aber das ganze Leben genau daran auszurichten. ist eine andere Geschichte… „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, Die scharfen Messer und ihre klaren, durcht- ist es nicht wert, zu mir zu gehören. Und wer rennenden, aber auch sehr schmerzhaften Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist es Schnitte stehen für die schmerzlichen Konflik- nicht wert, zu mir zu gehören.“ te, die sich an der Frage nach der richtigen Art Diese Worte machen deutlich: sich an Chris- zu leben, auch im engsten persönlichen Um- tus und seiner Botschaft zu orientieren, führt feld entzünden und tief verletzen können. Wir unweigerlich in Konflikte. Auch und gerade mit alle haben es erlebt und erleben es noch, wie denen, die einem persönlich am nächsten ste- sich in der Corona-Pandemie auch innerhalb hen: Eltern, Kinder, Partner und Partnerinnen. von Familien oder häuslichen Gemeinschaf- Weil die Prioritäten andere werden, weil auch ten, in Nachbarschaften und Freundeskreisen, das persönliche Leben sich neu sortiert. Ausge- und auch in und zwischen Kirchengemeinden richtet auf Christus und die Hoffnung, mit ihm durchaus schmerzliche Differenzen aufgetan von allen Mächten des Todes befreit zu sein, haben. Dabei ging und geht es um die Frage, wird unser Leben befreit vom Kreisen um sich wie wir mit der Pandemie und ihren Folgen selbst. Eigene Sorgen und Ängste verschwinden leben und umgehen. Manche Gräben zwischen nicht einfach, aber sie werden weniger mächtig. einzelnen Menschen, aber auch innerhalb un- Denn wer sich an Christus orientiert, wird be- serer Gesellschaft wurden da gegraben und wer- freit, die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit den in Zukunft wieder zu überwinden sein. Gottes Augen. Und sie neu zu buchstabieren: Wir sehen Not und Elend – und buchstabieren Barmherzigkeit. Wir sehen prekäre Lebenssitu- ationen, eine sich immer noch weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich – und buch- stabieren Gerechtigkeit. Wir sehen Terror, Hass und Gewalt – und buchstabieren Shalom. Das verändert uns. Es verändert unsere Beziehun- gen. Und es verändert unsere Welt. 8 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA V VI Engagierte und heftige, verletzende und „In Zukunft…“ – Zuhören. Lachen. Gestalten. schmerzliche Debatten und Auseinandersetzungen Handeln. Was das heißen mag, in der Bindung an gerade zwischen denen, die einander besonders Christus, auch das wird in den Akademietagen zu nahestehen, hat auch Jesus im Sinn. Sie alle ent- besprechen sein. zünden sich an seiner Person. An der Frage, ob und wie ihm nachzufolgen und sich an seiner Botschaft Weil aber nicht wir, sondern Gott entscheidet, der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens zu wer sich an Christus orientiert und seinen Wil- orientieren ist. Seid euch bewusst, sagt Jesus, dass len tut, eröffnet das unter uns Menschen einen die Antwort auf diese Frage zu Trennungen führen Raum. Für Gespräch, Debatte und Diskussion. kann. Zu Trennungen von bisherigen Lebensge- Einen offenen Raum, in dem die Barmherzig- wohnheiten, zu Trennungen von Menschen. keit und Liebe Gottes uns alle verändern kön- nen. Das ist der Raum, den allein die Gnade Sich an Christus zu orientieren, seiner Sicht Gottes baut. Wir alle haben ihn immer wieder auf das Leben zu folgen, das trennt auch von nötig, bitter nötig. Auch „in Zukunft...“ menschlichen Illusionen. Von der Illusion, wir Denn uns allen gilt die befreiende Botschaft, Menschen würden die Erde, die Natur und alle mit der Jesus wenige Verse nach dem heutigen Geschöpfe beherrschen. Von der Illusion, wir Predigttext zusammenfasst, woran er erkannt Menschen wären in gewisser Weise unantastbar wird: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussät- und hätten alles unter Kontrolle. Und auch von zige werden rein und Taube hören, Tote stehen der Illusion, wir hätten schier unendlich Zeit, auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; verfügten über unerschöpfliche Ressourcen und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ und das freie Kräftespiel des Marktes würde schon alle Probleme lösen. All diese Trennungen aber führen auch in neue Bindungen, in eine neue Gemeinschaft. In die heilsame Nähe Gottes. In die barmher- zige Liebe Christi. In bestärkende Geistesgegen- wart. In die Gemeinschaft derer, die nicht dar- auf hoffen, dass ein altes oder früheres Leben wieder zurückkommt. Sondern die ein neues Leben erwarten, ersehnen, erhoffen. Auf Erden wie in Ewigkeit. Und die an Gottes Seite daran mitarbeiten. EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 9
THEMA Unsere Zukunft ist jetzt Welche Weichen für die Zukunft müssen wir schon heute stellen? Ein Thema im Rahmen der dies- men nichts Besonderes. Zukunfts- jährigen Akademiewoche in räte gibt es derzeit allerorten. Be- Rostock waren die Empfehlun- merkenswert ist jedoch, dass in gen des im September 2020 von das Beratungsgremium der Lan- der Landesregierung einberu- despolitik nicht die „üblichen Ver- fenen „Zukunftsrates Mecklen- dächtigen“ wie Gewerkschaften, burg-Vorpommern“. Eingeladen Interessenverbände und Kirchen, hatten der Kirchliche Dienst in sondern ausschließlich Einzelper- der Arbeitswelt (KDA) und die sönlichkeiten berufen wurden, die Evangelische Akademie ge- ausdrücklich nicht für die Positi- Dr. Jürgen meinsam. Im gut besuchten on einer bestimmten Institution, Kehnscherper „Salon A Rebours“ wurde der einer Partei oder eines Verbandes ist Referent im Kirch- lebendige Vortrag von Andrea stehen. Das hat in der Tat für Ir- lichen Dienst in der Krönert (Rostock), Frauke Lietz ritation und Unmut gesorgt. Der Arbeitswelt, Rostock. (Güstrow) und Jörn Mothes Auftrag von Ministerpräsidentin (Schwerin) mit regem Interesse Manuela Schwesig (SPD) an Jörn aufgenommen und diskutiert. Mothes, den Referatsleiter Grund- satzfragen der Zukunft, Entwicklungszusam- menarbeit in der Schweriner Staatskanzlei lau- M it der Vorlage eines „Aufbruchsdoku- tete jedoch ausdrücklich, einen Prozess, „quer ments“ hat der Zukunftsrat seine Aufga- zum üblichen Verwaltungshandeln“ zu entwi- be erfüllt und sich aufgelöst. Doch die ckeln. Das scheint geglückt zu sein. eigentliche Arbeit beginnt jetzt erst. Denn die Ergänzend zu den bereits (reichlich) vorhan- Ideen wollen aufgegriffen, weiterentwickelt und denen Gremien wurde ein neues, zeitlich befris- praktisch umgesetzt werden. Daher sammelt tetes Beteiligungsinstrument erprobt, das einen sich aus dem ehemaligen Zukunftsrat heraus starken Impuls für einen Paradigmenwechsel im derzeit die überparteiliche und zivilgesellschaft- Land erzeugt hat. Die Idee: Neunundvierzig un- liche „Initiative Zukunftshandeln MV“. Diese abhängige Bürgerinnen und Bürger entwickeln Plattform lädt alle interessierten Bürgerinnen in einer „Schwarmintelligenz“ Vorschläge, wie und Bürger zur Mitarbeit ein. Ziel ist es, die Lan- die siebzehn Nachhaltigkeitsziele der UN („Sus- despolitik konstruktiv und kritisch zu begleiten tainable Development Goals – SDG“) zeitnahe auf dem Weg zu einem nachhaltig und gemein- in praktische Landespolitik umsetzbar sind. wohlorientiert aufgestellten Bundesland. Auftaktdokument statt Ungewöhnliche Zeiten erfordern Abschlussbericht ungewöhnliche Maßnahmen. In einer für Beteiligungsprozesse ungewöhnlich Dass die Schweriner Landesregierung einen kurzen Zeit und trotz der Corona-Beschränkun- Zukunftsrat einberufen hat, ist für sich genom- gen hat der Zukunftsrat schon ein halbes Jahr 10 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA später seinen Bericht vorgelegt: „Unsere Zu- als tragende Struktur für alle künftige Planun- kunft ist jetzt!“. Die Landesregierung aus SPD gen implementiert. Denn vorgeschlagen wer- und CDU hat ihn angenommen. Völlig über- den konnten nur Persönlichkeiten, die neben raschend stimmten anschließend auch alle (!) ihrer Unabhängigkeit eine ausgewiesene Kom- im Landesparlament vertretenen Fraktionen petenz entweder im Bereich der Wirtschaft, dem Bericht zu. Da es die letzte Sitzung der der Ökologie oder des Sozialen einbringen Legislaturperiode war, wäre der Bericht andern- konnten. Die drei Zieldimensionen des Nach- falls vermutlich vom Tisch gewesen. Was viele haltigkeitsdreiecks sind gleichwertig. Sie stehen erwartet und manche vielleicht sogar heim- niemals isoliert für sich, sondern funktionieren lich erhofft hatten, trat jedoch nicht ein. Die langfristig nur als System: Wirtschaftlich kann Vorschläge des Zukunftsrates werden nicht in auf Dauer nur sein, was zugleich auch ökolo- Schubladen und Aktenschränken verschwin- gisch und sozial verträglich ist. Und der sorgsa- den. Im Gegenteil, alle Fraktionen haben sich me Umgang mit der Natur ist nicht von einer verpflichtet, die Empfehlungen des Zukunftsra- Orientierung auf das Gemeinwohl zu trennen – tes auch in der neuen Legislaturperiode in den zu dem wiederum auch eine funktionstüchtige parlamentarischen Ausschüssen zu bearbeiten. Wirtschaft gehört. Und im gerade ausgehandelten Koalitionsver- Soweit die Theorie. In der Praxis von Politik, trag von SPD und DIE LINKE ist festgehalten: Verwaltung, Wirtschaft und Interessenverbän- „Die Koalitionspartner sind sich einig, dass den wird in aller Regel jedoch nicht systemisch, Nachhaltigkeit das Prinzip des künftigen Regie- sondern entlang von Zuständigkeiten, Interes- rungshandelns sein muss. Die Koalitionspart- sen und Ressorts gedacht. Insofern lag der Zu- ner werden die Empfehlungen des Zukunftsra- kunftsrat schon von seinem Aufbau her tatsäch- tes Mecklenburg-Vorpommern in ihre Arbeit lich „quer zum üblichen Verwaltungshandeln“. einbeziehen.“ (174) Schon jetzt sind Mitarbei- Wie zu erwarten, gab (und gibt) es Kommen- tende in den Landesministerien gehalten, sich tare wie: „Da geht es nur um Nachhaltigkeit, in ihren Planungen auf die Vorschläge des Zu- die eigentliche Wirtschaft kommt ja gar nicht kunftsrates zu beziehen. „Dass ein politischer vor.“ Doch der Lernprozess hat begonnen. Zu- Meinungsbildungsprozess in einer derartigen nächst im Zukunftsrat selber. Da saßen – wegen Geschwindigkeit ablaufen kann, ist höchst be- der Pandemie fast nur online – Persönlichkei- merkenswert“, so Jörn Mothes. ten beieinander, die ansonsten kaum mitein- Es ist kein Geheimnis, dass im parlamentari- ander gesprochen, geschweige denn einander schen Alltag die Zustimmung oder Ablehnung ernsthaft zugehört hätten. Das Ergebnis war von Vorschlägen oft nicht daran hängt, ob sie verblüffend: „Endlich habe ich verstanden“, so sinnvoll sind, sondern von welcher Partei sie beispielsweise der Geschäftsführer eines großen kommen. Die ausdrückliche Überparteilich- Unternehmens, „warum wir eine Jugendbeteili- keit und Unabhängigkeit des Zukunftsrates hat gung brauchen, die mehr ist als eine Worthülse.“ die Annahme seines Berichtes offensichtlich Zu verdanken war dieses Ergebnis auch der klu- erleichtert. Positiv hat sich gewiss auch ausge- gen und engagierten Moderation durch die Mit- wirkt, dass alle Fraktionen, aber auch Verbände arbeiterinnen der jungen Rostocker Unterneh- und Körperschaften unabhängige Personen für mensberatung „fint e.V.“. Der gemeinnützige die Berufung in den Zukunftsrat vorschlagen Verein hat bis zur Entwicklung einer passenden konnten – und dies auch getan haben. Rechtsform auch die Trägerschaft für die „Initi- ative Zukunftshandeln MV“ übernommen. Die Logik der Nachhaltigkeit. Die grundlegende Forderung, auf die sich Schon durch die Besetzung des Zukunftsrates der Zukunftsrat geeinigt hat: Bei allen künfti- wurde das sogenannte Nachhaltigkeitsdreieck gen Entwicklungen im Land, bei allen Planun- EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 11
THEMA gen und Entscheidungen soll das Nachhaltig- den das relativ niedrige Bruttoinlandsprodukt keitsdreieck berücksichtigt werden – was nun (BIP) und die dünne Besiedelung des Landes tatsächlich auch als Absichtserklärung im Koa- immer noch als Standortnachteil kommuniziert. litionsvertrag verankert wurde. Die Ratsmitglie- Doch das BIP ist als Maßstab für die Lebensquali- der selber haben im kleinen Kreis bereits vorge- tät bekanntlich kaum geeignet. Die individuelle macht, dass und wie das funktionieren kann. In Zufriedenheit wächst mit der Höhe des finanzi- der alltäglichen Praxis von Politik, Verwaltun- ellen Einkommens – jedoch nur bis zu einer em- gen, Wirtschaft, Kultur, Verbänden und Zivil- pirisch bestimmbaren, gar nicht mal so hohen gesellschaft muss die Logik der Nachhaltigkeit Einkommensgrenze. Danach werden andere Fak- erst noch geduldig kommuniziert und eingeübt toren wichtiger: eine intakte Natur, gute Arbeit, werden. Denn es gehört Mut dazu, vertraute soziale Netzwerke, Entwicklungschancen, Betei- Pfade und Denkgewohnheiten zu verlassen und ligungsmöglichkeiten, eine funktionierende Ver- neuen Erzählungen zu folgen: Dass Nachhal- waltung. Mecklenburg-Vorpommern mit seinen tigkeit kein Steckenpferd für Naturfreunde ist. Menschen und natürlichen Ressourcen lädt zur Dass Nachhaltigkeit die Wirtschaft keineswegs Umsetzung dieser Visionen geradezu ein. Das ruiniert, sondern zukunftsfähig macht. Dass Ziel ist eine nachhaltige und gemeinwohlorien- Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung tierte Gesellschaft, die technische Instrumente kein teurer Luxus, sondern notwendige Investi- wie die Digitalisierung klug zu nutzen versteht. tionen in die Zukunft sind. Jedoch, so die Mahnung der Zukunftsrates: „Das alles wird scheitern, wenn es nicht gelingt, den Keine Zukunft ohne Herkunft. politischen Mut dafür aufzubringen.“ Und noch eine weitere Grundentscheidung lässt der Zukunftsrat schon in seiner Präambel „Zukunft beginnt genau jetzt!“ erkennen: „Zukunft ist auch Herkunft.“ Das Um für die Zukunft auf die richtigen Gleise zu bedeutet, dass die bisherigen Leistungen, das kommen, müssen die Weichen schon heute ge- Lebensgefühl und die Identität der Menschen stellt werden. Die vom Zukunftsrat vorgeschla- im Land nicht pauschal abgewertet werden. genen Weichenstellungen sind unter anderem: Vorhandenes wird nicht abgewertet, um daraus Nachhaltigkeit wird zur politischen Allgemein- die Notwendigkeit eines Wandels zu legitimie- norm und ressortübergreifendes Arbeiten zum ren. Es geht nicht um linearen „Fortschritt“ Standard, Gemeinwohlorientierung wird ein oder einseitige „Modernisierung“, sondern um Kriterium in Vergabeverfahren, ein Jugendmit- eine Transformation, einen Paradigmenwechsel wirkungsgesetz wird verabschiedet und auch ein in der Gesellschaft. Die Menschen und die Ge- Landesklimaschutzgesetz. gebenheiten werden dabei nicht als Hypothek, Als Handlungsfelder hat der Zukunftsrat sondern als Ressource wahrgenommen und in zum Beispiel den Bildungsbereich identifiziert, die Transformation mit hineingenommen. die Stärkung der Mitspracherechte von Heran- Die ausdrückliche Würdigung der vorhande- wachsenden, die Förderung einer klima- und nen Ressourcen ist es, die dem Bericht mögli- biodiversitätsfreundlichen Landwirtschaft, die cherweise seinen besonderen Charme und seine Entwicklung erneuerbarer Energieträger, Inves- Überzeugungskraft verleiht. Hier wird eine Zu- titionsförderung für die Kreativwirtschaft, ein kunft projiziert, dieF nicht durch drastische Spar- Landesprogramm für nachhaltigen Tourismus. maßnahmen, Opfer und Traditionsabbrüche ge- Zahlreich sind auch die vorgeschlagenen wonnen werden soll, sondern durch eine kluge Instrumente wie die Stärkung kleinerer Schul- Besinnung auf die vorhandenen Möglichkeiten klassen, nationale und internationale Schul- – und diese sind vollkommen ausreichend, gera- kooperationen zu Klima, Biodiversität und de auch in Mecklenburg-Vorpommern. So wer- Wirtschaft, Förderung von Innovation, Modell- 12 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA Das Logo des Zukunftrates Mecklenburg-Vorpommern vorhaben für gemeinwohlorientierte, dezentra- Anstrengungen, ein breiteres ökonomisches le Energieversorgung. Transformationsprogramm zu entwerfen, be- Sicher werden nicht alle der zahlreichen grenzt.“ So der Berliner Makrosoziologe Steffen Vorschläge umsetzbar sein. Manches klingt viel- Mau. Ebenso beschränkte sich die Einführung leicht zu phantastisch, anderes zu schön, um demokratischer Institutionen und Regelwerke wahr werden zu können. Und das muss auch hauptsächlich auf formale Strukturen. „Soziale gar nicht sein. Es sind letztlich Beispiele, die Praktiken, Interessen und Motivationen, also für etwas anders stehen. „Wir wünschen uns“, die nicht-institutionellen Voraussetzungen von so der Zukunftsrat in seinem Schlusswort, „eine Institutionen, wurden vernachlässigt.“ (Steffen Kultur der Neugier und des Mutes. Zukunftsge- Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen staltung gelingt nur dann, wenn nicht Angst vor Transformationsgesellschaft, Berlin, 2019, S. 138) Veränderung vorherrscht, sondern Lust an kre- Dreißig Jahre später sind die „Grenzen des ativer und partizipativer Gestaltung hin zum Wachstums“ und die problematischen Folgen Besseren. Das Gegenteil von Unternehmungen einer einseitig neoliberalen Agenda unüber- sind Unterlassungen.“ sehbar geworden. Es ist jetzt an der Zeit, neu zu definieren, was „Modernisierung“ in Bezug auf Keine einseitige „Modernisierung“, Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet. Der vom sondern Transformation zur Zukunftsrat eigeforderten Paradigmenwechsel Nachhaltigkeit. hin zu einer systematischen Berücksichtigung Viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern der Zieldimensionen des Nachhaltigkeitsdrei- haben mit dem Leitbild einer „Modernisierung“ ecks (Wirtschaft, Ökologie, Soziales) könnte nach 1990 durchaus ambivalente Erfahrungen hierfür beispielhaft sein. Denn mit der Fixie- gemacht. Als Zielvorstellung für die notwendige rung auf ein ganz bestimmtes Verständnis von Modernisierung der desolaten Wirtschaft und Wirtschaft und Gesellschaft ist in der Vergan- Gesellschaft galt allein das neoliberale Modell. genheit nicht nur für Mecklenburg-Vorpom- „Da man auf die spontane Selbstorganisation mern, sondern auch für andere Bundesländer der entfesselten Marktkräfte hoffte, blieben ein viel zu enger Korridor gesellschaftlicher EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 13
THEMA I Adressen zur Information und zum Mitmachen: Entwicklung vorgezeichnet worden, der jeden (1) Auf der Webseite der „Initiative Zukunftshandeln MV“ gibt es Eigensinn, jede Pfadabweichung oder Neuerfin- einen Link zu einem Kontaktformular. Damit kann man sich: dung von vorneherein ausschließt. Gerade diese für den Email-Verteiler eintragen lassen, Interesse für die Mitgestaltung signalisieren, oder Anmerkungen, Anregun- Tugenden sind es aber, mit denen sich Zukunft gen und Kritik übermitteln: gewinnen lässt. https://www.fint.team/initiative-zukunftshandeln-mv/ (2) Herunterladen der Empfehlungen des Zukunftsrates z.B. unter: https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/stk/ Juergen.kehnscherper@kda.nordkirche.de Themen/Zukunftsfragen/ Das Schweriner Schloss ist Sitz des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern. So rückwärtsgewandt, wie das Schloss suggerieren könnte, ist er aber nicht. Foto: epd-bild/Siegfried Kuttig 14 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA Jedes Einzelne muss vergehen Wie lebt es sich...endlich? Mit freundlicher Genehmigung weiß kein Mensch. Das ist vermut- des Autors Auszug aus seinem lich das Beunruhigende an ihm. Buch „Gelassenheit. Was wir ge- Beruhigend kann allenfalls seine winnen, wenn wir älter werden.” Deutung sein. Er kann als Ereignis Insel, 2014. gedeutet werden, das dem Leben Sinn gibt, da er die Grenze mar- kiert, die das Leben erst wertvoll G elassenheit ist das, was wir macht. Wertvoll ist, was begrenzt gewinnen können, wenn verfügbar ist, daher wird Edelstei- wir älter werden. Ein wich- nen mehr Wert zugesprochen als Prof. Wilhelm tiger Schritt auf dem Weg zu ihr Kieselsteinen. Aus der Begrenzt- Schmid ist, eine Haltung zur Grenze des heit der Zeit resultiert das Bemü- ist Philosoph, Lebens- Lebens zu finden, die näher rückt. hen um ein Edelsteinleben, zu kunstphilosophie, Immer häufiger sind wir mit dem dem sich die schönen Momente Honorarprofessor an der Tod Anderer konfrontiert, der je- verdichten lassen, die in der zur Universität Erfurt. des Mal nahegeht, manchmal sehr Verfügung stehenden Zeit gesam- nahe, und wir ertappen uns bei melt werden. Ein mangelndes Be- dem Gedanken: Er oder sie hat es wusstsein für die Grenze könnte hinter sich. Sind die eigenen Eltern nicht mehr ein Kieselsteinleben zur Folge haben, in dem da, ist von diesem Moment an klar: Wir selbst nur endlos viele graue Momente aufeinander stehen nun an der Front, kein Puffer ist mehr folgen. Dass eine zeitliche Grenze erkennbar zwischen hier und dort. Was mich tief beein- ist, motiviert dazu, aus dem Leben etwas zu druckte bei meiner Mutter, war ihre Gelassen- machen, das bejahenswert erscheint – so weit heit nicht nur beim Älterwerden, sondern auch das möglich ist. Sollte es irgendwann gelingen, angesichts des Todes, auch an dem Tag, als es so die Grenze in Richtung Ewigkeit zu verschie- weit war und sie nur sagte: „Ich weiß, wohin ich ben, würden wohl viele Menschen ewig auf gehe.“ Es stand für sie außer Frage, dass sie ihren „das Leben“ warten, denn wozu die schwierige geliebten Mann wiedersehen würde, meinen Arbeit der Verwirklichung von Möglichkeiten, Vater, der Jahre früher gestorben war. Er, der ja, schon die Mühe des Aufstehens morgens auf immer verkündet hatte, „das Sterben verschie- sich nehmen, wenn all dies ewig aufgeschoben ben wir bis ganz zuletzt“, meinte noch auf dem werden könnte? Sterbebett zu meinen Geschwistern, die bei Ein Aspekt der unbekannten Wahrheit des ihm waren: „Ich werde euch jetzt zeigen, wie Todes könnte sein, dass es ihn wohl nicht gäbe, man stirbt.“ Er starb mit 84, sie mit 88 Jahren, wenn er sich im Prozess der Evolution nicht beide mit der Gewissheit eines vollkommen er- schon seit langem als sinnvoll erwiesen hätte. füllten Lebens. Alles Einzelne muss vergehen, damit das Leben Nicht nur das Leben, sondern auch der Tod als Ganzes weitergehen kann: Das betrifft nicht ist eine Frage der Deutung. Was er wirklich ist, nur mich, sondern jedes Ich, jedes Wesen, auch 62 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA wenn Menschen den Tod für die größte Sinn- ist er, da Sinn die Zusammenhänge herstellt, in losigkeit des Lebens halten. Der Tod bricht das denen Energien fließen können. Sinn stillt den Leben jedes Einzelnen wieder ab und schafft Energiehunger des Menschen, dem das naturge- damit Platz für neues Leben, dessen Gene neu gebene Quantum nicht auszureichen scheint, gemischt werden, sodass es sich mit frischen vermutlich weil sein Denken, seine Arbeit an Kräften daran machen kann, neue Möglich- Kunst und Kultur enormer Ressourcen bedarf. keiten zu realisieren, den alten Problemen auf In moderner Zeit aber zerbrechen sehr viele neue Weise zu begegnen oder erneut daran zu Zusammenhänge: Die willentliche Befreiung scheitern. Evolutionär ist dieses Modell deut- von vorgegebenem Sinn führt zur Frage nach lich erfolgreicher als die endlose identische Sinn, die nicht zu allen Zeiten gestellt worden Reproduktion etwa von Pantoffeltierchen. Ist ist. Ich sehe es als Aufgabe der bewussten Le- das ein Trost angesichts des Todes? Nicht unbe- bensführung, der Lebenskunst des Einzelnen dingt. Der Schmerz, eines Tages gehen und die an, Sinnzusammenhänge wiederzufinden und Liebsten zurücklassen zu müssen, kann den- neu zu schaffen, dem Leben somit Sinn zu ge- noch groß sein. ben, so lange es währt. Das Denken an den Tod (melete thanatou, meditatio mortis) war schon seit Pythagoras im 6. Jahrhundert v. Chr. eine philosophische mail@wilhelm-schmid.de Übung. Manche meinten sogar, Philosophieren heiße, sterben zu lernen. Ich denke eher, dass es heißt, leben zu lernen. Dazu aber gehört, sich über den Endpunkt des Lebens Gedanken zu machen, um während des Lebens immer wie- der vom vorgestellten äußersten Punkt auf das Leben zurückzublicken, es zu bewerten und ge- gebenenfalls neu zu orientieren. Oft denke ich selbst an den letzten Tag, die letzte Stunde, vor allem beim Einschlafen oder bei einem kleinen Schlaf zwischendurch. Sicher ist, dass es die- sen letzten Moment geben wird, unsicher nur, wie er aussehen wird. Unmöglich zu wissen, wo und wie es letzten Endes genau geschehen wird, selbst dann, wenn es geplant werden soll- te. Aber eine Vorstellung kann ich mir machen. Wozu? Um die Angst vor dem Tod zu verlieren? Das ist mir bisher nicht gelungen, der Tod er- scheint mir als Ungeheuerlichkeit. Wozu dann? Um damit vertraut zu werden, dass es etwas so Befremdliches gibt, und um mehr Klarheit dar- über zu gewinnen, was mir angesichts des Todes im Leben wichtig ist. Denn das ist die Frage, die sich im Rückblick stellt: Was war nun der Sinn des Ganzen? Zu- nächst fällt auf, dass der Mensch offenkundig ein sinnbedürftiges Wesen ist. Das gilt, soweit zu sehen ist, nicht für alle Wesen. Sinnbedürftig EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 63
DIE LETZTE SEITE Das letzte Wort Zwölf Merksätze zur Beantwortung der Frage: Wer will ich gewesen sein? Das Leben hat mich gewagt. Der Raum der Veränderung ist innerhalb, nicht außerhalb unserer Grenzen. Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft. Ziele sind keine Handlungen. Aufhören braucht einen Grund, aber aufhören zu können, braucht Können. Aufhören sichert das Erreichte, weitermachen banalisiert es. Mit Glaubenssätzen kommt man nicht weiter. HARALD WELZER Mit Konjunktiven auch nicht. Das Wort „eigentlich“ ist zu vermeiden. Die Bedeutung eines Lebens hängt nicht von seiner Dauer ab. Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden. Es gibt ein Leben vor dem Tod. Und nur da. aus: Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst. Frankfurt a.M. 2021, S. 265 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021 65
VORSCHAU & IMPRESSUM Vorschau Die Taufe Eine berührede Zeremonie oder nur aus der Zeit gefallen? Schrei- ben Sie von Ihren Erfahrungen, von besonderen Gestaltungen, von eigenwilligen Abläufen und von Problemen. Beiträge bitte bis zum 15. Januar 2022 Kino & Kirche Liebe und Tod, Allmacht und Ohnmacht, Apokalypse und Hoffnung – darum kreisen die Texte der Bibel, und das sind auch die Themen des Kinos oder der Serien. Findet Kirche im Kino statt? Beiträge bitte bis zum 15. Februar 2022 Kirche & Geld In der Kirche werde mehr über Geld als über das Evangelium ge- sprochen, sagen manche. Andere behaupten, erst kämen die Finan- zen, dann die biblische Botschaft. Entscheidend ist möglicherweise die Frage: Wofür gibt die Kirche ihr Geld aus? Beiträge bitte bis zum 15. März 2022 Schreiben Sie! Zu Themenschwerpunkten, die für die nächsten Ausgaben geplant sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden. redaktion@evangelische-stimmen.de IMPRESSUM Herausgeber: Redaktion: Druck: Evangelischer Presseverband Dr. Friedrich Brandi (ViSdP) Hugo Hamann Norddeutschland GmbH, Offsetdruckerei, Kiel Gartenstr. 20, 24103 Kiel Layout: Evangelischer Presseverband Die Evangelischen Stimmen erscheinen mo- Verlag: Norddeutschland GmbH natlich. Das Jahresabonnement kostet 55,20 € Evangelischer Presseverlag Nord GmbH, Tel. (040) 709 75 - 277 inkl. Versandkosten innerhalb Deutschlands. Gartenstr. 20, 24103 Kiel, Die Kündigungsfrist beträgt Postfach 34 66, 24033 Kiel, Anzeigen: 6 Wochen zum Quartalsende. Zur Zeit ist die Tel. (0431) 55 77 99 Kristina Heesch Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen Fax (0431) 55 779 - 292 Tel. (0431) 55 77 9 - 206 oder Initialen gekennzeichnete Beiträge Geschäftsführer: Bodo Elsner Fax (0431) 55 77 9 - 292 geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Unverlangt zugeschickte Redaktionsanschrift: Vertrieb und Abonnementverwaltung: Beiträge und Bücher werden nicht zurück- Evangelischer Presseverband Inge Limburg geschickt. Die Zeitschrift und ihr Inhalt sind Norddeutschland GmbH, Tel. (0431) 55 77 9 - 271 urheberrechtlich geschützt. Schillerstraße 44a, 22767 Hamburg E-Mail: vertrieb@evangelische-stimmen.de ISSN 0938-3697 Tel. (040) 70 975 - 200 Fax (040) 70 975 - 249 E-Mail: redaktion@evangelische-stimmen.de 66 EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
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