EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN
C 21134                                   Dezember 2021/Januar 2022 | 12

EVANGELISCHE
  STIMMEN
                                                       ZEITFRAGEN
                                                       UND KIRCHE IN
                                                       NORDDEUTSCHLAND

                       ...arbeiten 

                                                  ...erinnern 

       ...lachen 

                                                          ...handeln 
  ...abrüsten 

                       IN ZUKUNFT…                          ...sterben 

  ...zuhören 

                                                          ...leben 

   ...einkaufen 

                                                 ..gestalten 

                       ...träumen 

Akademietage der Nordkirche
Einkaufen:                Sterben:                     Kirche:
Wer liefert das täg-      Wo das Helfen endet,         Stay hungry, stay
lich Brot?                beginnt der Trost.           foolish
EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN
GLAUBENSSACHEN                                      Schö
                                                    Schöne Dinge mit Sinn und Se
                                                                              Segen

                                Gemeindedienst der Nordkirche (Hrsg.)
                                Für jeden neuen Tag – Heft 50
                                Gedanken, Geschichten und Gebete zum Thema „Neu anfangen!“ – weit über 100 Texte
                                regen zum Innehalten, Nachdenken und Diskutieren an: Was ist wirklich wichtig? | Sich
                                beschenken lassen | Angst überwinden | Neuen Mut fassen | Altes neu entdecken | Altes
                                loslassen | Offen sein für Neues | Neu vertrauen | Einsamkeit überwinden | Wachsen
                                lassen | Werte schätzen | Nähe und Gemeinschaft | Perspektiven entdecken | Grenzen

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                                überschreiten | Neue Berührungen wagen
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Jahresklänge 2022 - Wandkalender
Innere Ruhe finden und zu sich selbst kommen, jede Woche neu.
Dazu motivieren die spirituellen Texte von Theologinnen und Theo-
logen in dem künstlerisch hochwertigen Jahresbegleiter mit medita-
tiven Kurzandachten für jede Woche. Der Kalender begleitet sowohl
durch das Kirchen- als auch durch das Kalenderjahr: Er beginnt mit
dem 1. Advent 2021 und endet im Dezember 2022.
Format: 17 x 24 cm; aufgeklappt: 34 x 24 cm, 56 Seiten,
Spiralbindung, mit kreativen Advents-Seiten
978-3-87503-265-9
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                                          Zukunftsfähiges Flensburg
                                          Städte machen Politik, sind Initiatoren von Gerechtigkeit in der Gesellschaft.
                                          Das machen sie, indem sie eine Gentrifizierung vermeiden; soziale Un-
                                          gleichheiten zum Teil ausgleichen; öffentliche Räume „für alle“ schaffen und
NEU                                       bewahren; mehr „öffentliche Güter“ produzieren usw. Die Ausführungen in
                                          diesem Büchlein geben dazu für Flensburg Anregungen, die aber auch für
                                          Städte allgemein gelten. 40 Seiten, geklammert
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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN
EDITORIAL

            Liebe Leserin,
            lieber Leser,
            Das Futur steht hoch im Kurs. „Fridays for Future“ ist in aller Munde,
            und es wird ständig darüber debattiert, wie es werden soll. Oder
            wie es werden wird, wenn alles so bleibt. Selbst die neue Regierung
            verschreibt sich dem Futur, wenn sie ihr Regierungsprogramm mit
            „Fortschritt wagen“ überschreibt. Sie möchte in die Zukunft fortschrei-
            ten, innovativ natürlich. Harald Welzer, der in diesem Heft das letzte
            Wort hat, fragt mit der nahezu ausgestorbenen Zeitform des Futur II
            „Wer will ich gewesen sein?“ Denn, und damit sind wir bei diesem
            Heft, „unsere Zukunft ist jetzt“ (Kehnscherper). Wenn nicht heute
            angemessene Entscheidungen gefällt werden, wenn nicht heute ge-
            handelt wird, wenn nicht heute auf die stillschweigende Aufrüstung
            oder die fehlende atomare Abrüstung (Blum, Misselwitz) reagiert
            wird, wenn nicht heute der innere und äußere Zusammenhang von
            Mensch und Natur angemessen verstanden wird (Gröhn), dann kann
            die Zukunft noch so farbenprächtig ausgemalt werden – wir blieben
FRIEDRICH   in der Gegenwart stecken. Und schon die sieht nicht gerade gut aus.
 BRANDI
            Die Evangelischen Akademietage, immer Anfang November an ver-
            schiedenen Orten in der Nordkirche, fanden in diesem Jahr unter
            dem Thema „in Zukunft…“ statt. Aber selbstverständlich ging es nicht
            allein um die Zukunft, sondern immer auch um Herkunft und Ge-
            genwart. So nimmt die Landesbischöfin Jesu Wort („Ich bin nicht ge-
            kommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“) zum Anlass
            über eine konfliktbereite Kirche nachzudenken. Wer sich an Jesus
            Christus orientiert, kommt ohne Konflikte nicht aus – damals nicht,
            heute nicht und auch in Zukunft nicht. Philipp Gessler von „zeitzei-
            chen“ nimmt die phrasenreiche, aber oft inhaltsarme Kirchensprache
            unter die Lupe, und Emilia Handke meint, Kirche müsse schon jetzt
            dahin gehen, wo es auch mal unbequem sein kann.
            Damit sind schon einige, aber längst nicht alle Themen des vorliegen-
            den Heftes umrissen. Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht

            www.evangelische-stimmen.de

                                                    EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   3
EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN
EVANGELISCHE
                        STIMMEN

                      INHALT

                      3        Editorial
                               Friedrich Brandi
                                                                                           35
                      6        Predigt zur Eröffnung
                               der Akademietage
                               Kristina Kühnbaum-Schmidt

                                                           42	
                                                              Eine Evangelische
                      10       Unsere Zukunft ist jetzt
                                                                 Stimme
                               Jürgen Kehnscherper
                                                                 Meike Barnahl

                      15	
                         Zugesicherte Vernich-
                                                           44    Die Kirchensprache
                               tung kann nicht christ-
                                                                 Philipp Gessler
                               lich sein
                               Inga Blum
                                                           50    Trost und Musik
                                                                 Jean-Pierre Wils
                      21	
                         Friedensethische
                               Aktivität
                                                           57	
                                                              Sterben als soziales
                               Hans-Jürgen Misselwitz
                                                                 Ereignis
                                                                 Traugott Roser
                      25       Einkaufen
                               Martin Zieger
                                                           62	
                                                              Jedes Einzelne muss
                                                                 vergehen
                      31       #NewWork
                                                                 Wilhelm Schmid
                               Renate Fallbrüg

                      35       Let‘s act now!              65    Das letzte Wort hat
                               Constantin Gröhn                  Harald Welzer

                      40	
                         Stay hungry –                     66    Vorschau
                               stay foolish
                               Emilia Handke

Titelbild Foto: unsplash.com

                                                                EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   5
THEMA

Evangelische Akademietage
Predigt zu Mt 10, 34-39 am 24. Oktober 2021

Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt            noch einmal auf den Predigttext des heutigen
hielt die Predigt zur Eröffnung der Akade-           Sonntags aus dem Matthäusevangelium.
mietage in der Hauptkirche St. Michaelis
Hamburg.                                                                       II
                                                          Jesus sprach zu seinen Jüngern: Denkt ja nicht,
                                                     dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Erde zu
                          I                            bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu
                                                     bringen, sondern das Schwert. Ich bringe Streit zwi-
„In Zukunft…“ – ein verheißungsvolles Motto           schen einem Sohn und seinem Vater, einer Tochter
für die 11. Evangelischen Akademietage hier          und ihrer Mutter, einer Schwiegertochter und ihrer
in Hamburg, deren Auftakt wir heute und hier         Schwiegermutter. Feindlich sind einander dann die
feiern! „In Zukunft…“ – das klingt nach gro-         Menschen, die zusammen ein Haus bewohnen. Wer
ßen Plänen, nach Visionen, wie sie unsere Ge-         Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist es nicht
sellschaft gerade jetzt so dringend braucht. „In      wert, zu mir zu gehören. Und wer Sohn oder Toch-
Zukunft…“ – das schmeckt nach neuen Erfah-            ter mehr liebt als mich, ist es nicht wert, zu mir zu
rungen, nach Entdeckungslust und Vorfreude.           gehören. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und
Im Programm der Akademietage stehen dazu              mir folgt, ist es nicht wert, zu mir zu gehören. Wer
die passenden Worte: Träumen. Abrüsten. Zu-            sein Leben erhalten will, wird es verlieren. Aber
hören. Lachen. Gestalten. Erinnern. Handeln.         wer sein Leben verliert, weil er es für mich einsetzt,
Jedes dieser Worte kann in den kommenden                                 wird es erhalten.
Tagen für einen Schritt in die Zukunft stehen.
Seien wir gespannt!                                  In Zukunft: Streit und Auseinandersetzung!
     „In Zukunft…“ – mit diesen Worten kann          Zwischen Söhnen und Vätern, Töchtern und
aber auch eine andere Tonalität mitschwingen.        Müttern, Schwiegerkindern und Schwieger-
„In Zukunft werden wir andere Saiten aufzie-         eltern. Also wohl ein typischer Fall von Gene-
hen – in Zukunft werden wir uns neu aufstellen       rationenkonflikt! Davon ist auch bei uns zur
müssen.“ Wenn solche Sätze fallen, klingt das        Zeit viel die Rede. Meist unter dem Stichwort:
nicht nur nach Entdeckerlust und Aufbruch.           Generationengerechtigkeit. Und damit ist nicht
Sondern nach einschneidenden Veränderun-             die übliche Auseinandersetzung gemeint, die
gen, deren Folgen noch nicht absehbar sind.          jede Generation mit der ihr folgenden Gene-
    „In Zukunft …“ – das Motto der Akademieta-       ration führt. Der heutige Konflikt um die Ge-
ge ist schillernd. Verheißungsvoll kann es sein,     rechtigkeit zwischen den Generationen meint
aber auch Fragen und Sorgen auslösen. Und            die berechtigte Angst und Sorge der heutigen
schillernd ist die Zukunft ja auch selbst – einer-   Jugendlichen, dass wir, die Generation der El-
seits können wir sie aktiv entdecken und uns         tern und Großeltern, ihnen eine Erde mit im
erschließen, andererseits kommt sie auf uns zu,      Wortsinn katastrophalen Zukunftsperspektiven
steht nicht in unserer Hand. Was bringt uns die      überlassen. Ihr Vorwurf lautet: Weil ihr bisher
Zukunft? Mitten in diese Frage hinein hören wir      nicht gehandelt habt und euch auch jetzt noch

6   EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA

      Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt ermutigte in ihrer Predigt zur Eröffnung der Evangelischen
      Akademietage zu auch schmerzhaften Konflikten.                            Foto: Marcelo Hernandez, Nordkirche

nicht anschickt, wirklich konsequent zu han-                    In den Konflikten, die Jesus für die Zukunft be-
deln, werden unsere Zukunftsaussichten immer                    nennt, geht es um eine grundsätzliche Bestim-
düsterer. Die Bewegung der Fridays for Future                   mung: Woran orientiere ich mein eigenes Le-
ist für diese Stimmung nur ein Ausdruck. Und                    ben? Wonach richte ich mich aus? Und welche
— haben die jungen Leute nicht recht? Ist es                    Konsequenzen hat das für mich? Ernste und
nicht berechtigt, dass sie zu den anstehenden                   gewichtige Fragen, die sich auch heute stellen.
Zukunftsfragen mit den Generationen vor ih-                     Zukunftsfragen. Für unser persönliches Leben
nen in harte Auseinandersetzungen gehen?                        wie für unser Zusammenleben in unserer Ge-
„Feindlich sind einander die Menschen, die zu-                  sellschaft, in unserem Land, in Europa, welt-
sammen ein Haus bewohnen.“                                      weit. Nicht nur der Weltklimarat sagt: Dieses
    Der Streit, den Jesus benennt, ist aber mehr                Jahrzehnt und die Handlungsentscheidungen,
als ein reiner Generationenkonflikt. Er resul-                  die wir darin treffen, wird entscheidend dafür
tiert nicht allein aus der Zugehörigkeit zu un-                 sein, wie wir leben werden - „in Zukunft…“.
terschiedlichen Generationen und daraus re-
sultierenden verschiedenen Meinungen zum
richtigen Leben in herausfordernden Zeiten.

                                                                                      EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021       7
THEMA

                           III                                               IV
       »Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um         »Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um
     Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht     Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht
    gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das       gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das
                       Schwert«.                                          Schwert«.

Alle, die sich nach Harmonie sehnen, dürften          Jesus redet mit diesen Worten nicht Bewaff-
sich bei diesen Worten wohl ziemlich vor den          nung und Krieg das Wort. Das Schwert, von
Kopf gestoßen fühlen. Zumal, wenn sie in der          dem er hier spricht, meint nicht nur das
Kirche und im Gottesdienst als Worte dessen           Schwert, wie es von Soldaten mit sich geführt
weitergegeben werden, auf den sich der christ-        wurde. Es meint auch ein sehr scharfes Messer,
liche Glaube gründet: Christus. Solus Christus        wie es in der Küche zum Zweiteilen und Zer-
– allein Christus. Aber genau da liegt der Hase       trennen verwendet wird. Ich denke an unsere
im Pfeffer. Denn um nichts anderes geht es: sich      Küchenmesser und die scharfen und durchaus
allein auf Christus zu gründen. Sich allein an        schmerzlichen Schnitte, die ich mir insbesonde-
ihm und seiner Botschaft der Liebe, der Barm-         re dann zuziehe, wenn mein Mann die Messer
herzigkeit und des Friedens zu orientieren, das       gerade mal wieder frisch geschärft hat. Aber das
ganze Leben genau daran auszurichten.                 ist eine andere Geschichte…
    „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich,           Die scharfen Messer und ihre klaren, durcht-
ist es nicht wert, zu mir zu gehören. Und wer         rennenden, aber auch sehr schmerzhaften
Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist es         Schnitte stehen für die schmerzlichen Konflik-
nicht wert, zu mir zu gehören.“                       te, die sich an der Frage nach der richtigen Art
    Diese Worte machen deutlich: sich an Chris-       zu leben, auch im engsten persönlichen Um-
tus und seiner Botschaft zu orientieren, führt        feld entzünden und tief verletzen können. Wir
unweigerlich in Konflikte. Auch und gerade mit        alle haben es erlebt und erleben es noch, wie
denen, die einem persönlich am nächsten ste-          sich in der Corona-Pandemie auch innerhalb
hen: Eltern, Kinder, Partner und Partnerinnen.        von Familien oder häuslichen Gemeinschaf-
Weil die Prioritäten andere werden, weil auch         ten, in Nachbarschaften und Freundeskreisen,
das persönliche Leben sich neu sortiert. Ausge-       und auch in und zwischen Kirchengemeinden
richtet auf Christus und die Hoffnung, mit ihm        durchaus schmerzliche Differenzen aufgetan
von allen Mächten des Todes befreit zu sein,          haben. Dabei ging und geht es um die Frage,
wird unser Leben befreit vom Kreisen um sich          wie wir mit der Pandemie und ihren Folgen
selbst. Eigene Sorgen und Ängste verschwinden         leben und umgehen. Manche Gräben zwischen
nicht einfach, aber sie werden weniger mächtig.       einzelnen Menschen, aber auch innerhalb un-
Denn wer sich an Christus orientiert, wird be-        serer Gesellschaft wurden da gegraben und wer-
freit, die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit       den in Zukunft wieder zu überwinden sein.
Gottes Augen. Und sie neu zu buchstabieren:
Wir sehen Not und Elend – und buchstabieren
Barmherzigkeit. Wir sehen prekäre Lebenssitu-
ationen, eine sich immer noch weiter öffnende
Schere zwischen Arm und Reich – und buch-
stabieren Gerechtigkeit. Wir sehen Terror, Hass
und Gewalt – und buchstabieren Shalom. Das
verändert uns. Es verändert unsere Beziehun-
gen. Und es verändert unsere Welt.

8     EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA

                         V                                                    VI
        Engagierte und heftige, verletzende und            „In Zukunft…“ – Zuhören. Lachen. Gestalten.
schmerzliche Debatten und Auseinandersetzungen          Handeln. Was das heißen mag, in der Bindung an
  gerade zwischen denen, die einander besonders         Christus, auch das wird in den Akademietagen zu
  nahestehen, hat auch Jesus im Sinn. Sie alle ent-                     besprechen sein.
zünden sich an seiner Person. An der Frage, ob und
wie ihm nachzufolgen und sich an seiner Botschaft       Weil aber nicht wir, sondern Gott entscheidet,
 der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens zu       wer sich an Christus orientiert und seinen Wil-
 orientieren ist. Seid euch bewusst, sagt Jesus, dass   len tut, eröffnet das unter uns Menschen einen
die Antwort auf diese Frage zu Trennungen führen        Raum. Für Gespräch, Debatte und Diskussion.
  kann. Zu Trennungen von bisherigen Lebensge-          Einen offenen Raum, in dem die Barmherzig-
    wohnheiten, zu Trennungen von Menschen.             keit und Liebe Gottes uns alle verändern kön-
                                                        nen. Das ist der Raum, den allein die Gnade
Sich an Christus zu orientieren, seiner Sicht           Gottes baut. Wir alle haben ihn immer wieder
auf das Leben zu folgen, das trennt auch von            nötig, bitter nötig. Auch „in Zukunft...“
menschlichen Illusionen. Von der Illusion, wir             Denn uns allen gilt die befreiende Botschaft,
Menschen würden die Erde, die Natur und alle            mit der Jesus wenige Verse nach dem heutigen
Geschöpfe beherrschen. Von der Illusion, wir            Predigttext zusammenfasst, woran er erkannt
Menschen wären in gewisser Weise unantastbar            wird: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussät-
und hätten alles unter Kontrolle. Und auch von          zige werden rein und Taube hören, Tote stehen
der Illusion, wir hätten schier unendlich Zeit,         auf und Armen wird das Evangelium gepredigt;
verfügten über unerschöpfliche Ressourcen               und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“
und das freie Kräftespiel des Marktes würde
schon alle Probleme lösen.
   All diese Trennungen aber führen auch in
neue Bindungen, in eine neue Gemeinschaft.
In die heilsame Nähe Gottes. In die barmher-
zige Liebe Christi. In bestärkende Geistesgegen-
wart. In die Gemeinschaft derer, die nicht dar-
auf hoffen, dass ein altes oder früheres Leben
wieder zurückkommt. Sondern die ein neues
Leben erwarten, ersehnen, erhoffen. Auf Erden
wie in Ewigkeit. Und die an Gottes Seite daran
mitarbeiten.

                                                                         EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   9
THEMA

Unsere Zukunft ist jetzt
Welche Weichen für die Zukunft müssen wir schon heute stellen?

Ein Thema im Rahmen der dies-                                           men nichts Besonderes. Zukunfts-
jährigen Akademiewoche in                                               räte gibt es derzeit allerorten. Be-
Rostock waren die Empfehlun-                                            merkenswert ist jedoch, dass in
gen des im September 2020 von                                           das Beratungsgremium der Lan-
der Landesregierung einberu-                                            despolitik nicht die „üblichen Ver-
fenen „Zukunftsrates Mecklen-                                           dächtigen“ wie Gewerkschaften,
burg-Vorpommern“. Eingeladen                                            Interessenverbände und Kirchen,
hatten der Kirchliche Dienst in                                         sondern ausschließlich Einzelper-
der Arbeitswelt (KDA) und die                                           sönlichkeiten berufen wurden, die
Evangelische   Akademie     ge-                                         ausdrücklich nicht für die Positi-
                                                  Dr. Jürgen
meinsam. Im gut besuchten                                               on einer bestimmten Institution,
                                                Kehnscherper
„Salon A Rebours“ wurde der                                             einer Partei oder eines Verbandes
                                            ist Referent im Kirch-
lebendige Vortrag von Andrea                                            stehen. Das hat in der Tat für Ir-
                                             lichen Dienst in der
Krönert (Rostock), Frauke Lietz                                         ritation und Unmut gesorgt. Der
                                            Arbeitswelt, Rostock.
(Güstrow) und Jörn Mothes                                               Auftrag von Ministerpräsidentin
(Schwerin) mit regem Interesse                                          Manuela Schwesig (SPD) an Jörn
aufgenommen und diskutiert.                                             Mothes, den Referatsleiter Grund-
                                                          satzfragen der Zukunft, Entwicklungszusam-
                                                          menarbeit in der Schweriner Staatskanzlei lau-

M
         it der Vorlage eines „Aufbruchsdoku-             tete jedoch ausdrücklich, einen Prozess, „quer
         ments“ hat der Zukunftsrat seine Aufga-          zum üblichen Verwaltungshandeln“ zu entwi-
         be erfüllt und sich aufgelöst. Doch die          ckeln. Das scheint geglückt zu sein.
eigentliche Arbeit beginnt jetzt erst. Denn die              Ergänzend zu den bereits (reichlich) vorhan-
Ideen wollen aufgegriffen, weiterentwickelt und           denen Gremien wurde ein neues, zeitlich befris-
praktisch umgesetzt werden. Daher sammelt                 tetes Beteiligungsinstrument erprobt, das einen
sich aus dem ehemaligen Zukunftsrat heraus                starken Impuls für einen Paradigmenwechsel im
derzeit die überparteiliche und zivilgesellschaft-        Land erzeugt hat. Die Idee: Neunundvierzig un-
liche „Initiative Zukunftshandeln MV“. Diese              abhängige Bürgerinnen und Bürger entwickeln
Plattform lädt alle interessierten Bürgerinnen            in einer „Schwarmintelligenz“ Vorschläge, wie
und Bürger zur Mitarbeit ein. Ziel ist es, die Lan-       die siebzehn Nachhaltigkeitsziele der UN („Sus-
despolitik konstruktiv und kritisch zu begleiten          tainable Development Goals – SDG“) zeitnahe
auf dem Weg zu einem nachhaltig und gemein-               in praktische Landespolitik umsetzbar sind.
wohlorientiert aufgestellten Bundesland.
                                                        Auftaktdokument statt
Ungewöhnliche Zeiten erfordern                          Abschlussbericht
ungewöhnliche Maßnahmen.                                In einer für Beteiligungsprozesse ungewöhnlich
Dass die Schweriner Landesregierung einen               kurzen Zeit und trotz der Corona-Beschränkun-
Zukunftsrat einberufen hat, ist für sich genom-         gen hat der Zukunftsrat schon ein halbes Jahr

10   EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA

später seinen Bericht vorgelegt: „Unsere Zu-       als tragende Struktur für alle künftige Planun-
kunft ist jetzt!“. Die Landesregierung aus SPD     gen implementiert. Denn vorgeschlagen wer-
und CDU hat ihn angenommen. Völlig über-           den konnten nur Persönlichkeiten, die neben
raschend stimmten anschließend auch alle (!)       ihrer Unabhängigkeit eine ausgewiesene Kom-
im Landesparlament vertretenen Fraktionen          petenz entweder im Bereich der Wirtschaft,
dem Bericht zu. Da es die letzte Sitzung der       der Ökologie oder des Sozialen einbringen
Legislaturperiode war, wäre der Bericht andern-    konnten. Die drei Zieldimensionen des Nach-
falls vermutlich vom Tisch gewesen. Was viele      haltigkeitsdreiecks sind gleichwertig. Sie stehen
erwartet und manche vielleicht sogar heim-         niemals isoliert für sich, sondern funktionieren
lich erhofft hatten, trat jedoch nicht ein. Die    langfristig nur als System: Wirtschaftlich kann
Vorschläge des Zukunftsrates werden nicht in       auf Dauer nur sein, was zugleich auch ökolo-
Schubladen und Aktenschränken verschwin-           gisch und sozial verträglich ist. Und der sorgsa-
den. Im Gegenteil, alle Fraktionen haben sich      me Umgang mit der Natur ist nicht von einer
verpflichtet, die Empfehlungen des Zukunftsra-     Orientierung auf das Gemeinwohl zu trennen –
tes auch in der neuen Legislaturperiode in den     zu dem wiederum auch eine funktionstüchtige
parlamentarischen Ausschüssen zu bearbeiten.       Wirtschaft gehört.
Und im gerade ausgehandelten Koalitionsver-           Soweit die Theorie. In der Praxis von Politik,
trag von SPD und DIE LINKE ist festgehalten:       Verwaltung, Wirtschaft und Interessenverbän-
„Die Koalitionspartner sind sich einig, dass       den wird in aller Regel jedoch nicht systemisch,
Nachhaltigkeit das Prinzip des künftigen Regie-    sondern entlang von Zuständigkeiten, Interes-
rungshandelns sein muss. Die Koalitionspart-       sen und Ressorts gedacht. Insofern lag der Zu-
ner werden die Empfehlungen des Zukunftsra-        kunftsrat schon von seinem Aufbau her tatsäch-
tes Mecklenburg-Vorpommern in ihre Arbeit          lich „quer zum üblichen Verwaltungshandeln“.
einbeziehen.“ (174) Schon jetzt sind Mitarbei-        Wie zu erwarten, gab (und gibt) es Kommen-
tende in den Landesministerien gehalten, sich      tare wie: „Da geht es nur um Nachhaltigkeit,
in ihren Planungen auf die Vorschläge des Zu-      die eigentliche Wirtschaft kommt ja gar nicht
kunftsrates zu beziehen. „Dass ein politischer     vor.“ Doch der Lernprozess hat begonnen. Zu-
Meinungsbildungsprozess in einer derartigen        nächst im Zukunftsrat selber. Da saßen – wegen
Geschwindigkeit ablaufen kann, ist höchst be-      der Pandemie fast nur online – Persönlichkei-
merkenswert“, so Jörn Mothes.                      ten beieinander, die ansonsten kaum mitein-
   Es ist kein Geheimnis, dass im parlamentari-    ander gesprochen, geschweige denn einander
schen Alltag die Zustimmung oder Ablehnung         ernsthaft zugehört hätten. Das Ergebnis war
von Vorschlägen oft nicht daran hängt, ob sie      verblüffend: „Endlich habe ich verstanden“, so
sinnvoll sind, sondern von welcher Partei sie      beispielsweise der Geschäftsführer eines großen
kommen. Die ausdrückliche Überparteilich-          Unternehmens, „warum wir eine Jugendbeteili-
keit und Unabhängigkeit des Zukunftsrates hat      gung brauchen, die mehr ist als eine Worthülse.“
die Annahme seines Berichtes offensichtlich        Zu verdanken war dieses Ergebnis auch der klu-
erleichtert. Positiv hat sich gewiss auch ausge-   gen und engagierten Moderation durch die Mit-
wirkt, dass alle Fraktionen, aber auch Verbände    arbeiterinnen der jungen Rostocker Unterneh-
und Körperschaften unabhängige Personen für        mensberatung „fint e.V.“. Der gemeinnützige
die Berufung in den Zukunftsrat vorschlagen        Verein hat bis zur Entwicklung einer passenden
konnten – und dies auch getan haben.               Rechtsform auch die Trägerschaft für die „Initi-
                                                   ative Zukunftshandeln MV“ übernommen.
Die Logik der Nachhaltigkeit.                         Die grundlegende Forderung, auf die sich
Schon durch die Besetzung des Zukunftsrates        der Zukunftsrat geeinigt hat: Bei allen künfti-
wurde das sogenannte Nachhaltigkeitsdreieck        gen Entwicklungen im Land, bei allen Planun-

                                                                     EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   11
THEMA

gen und Entscheidungen soll das Nachhaltig-           den das relativ niedrige Bruttoinlandsprodukt
keitsdreieck berücksichtigt werden – was nun          (BIP) und die dünne Besiedelung des Landes
tatsächlich auch als Absichtserklärung im Koa-        immer noch als Standortnachteil kommuniziert.
litionsvertrag verankert wurde. Die Ratsmitglie-      Doch das BIP ist als Maßstab für die Lebensquali-
der selber haben im kleinen Kreis bereits vorge-      tät bekanntlich kaum geeignet. Die individuelle
macht, dass und wie das funktionieren kann. In        Zufriedenheit wächst mit der Höhe des finanzi-
der alltäglichen Praxis von Politik, Verwaltun-       ellen Einkommens – jedoch nur bis zu einer em-
gen, Wirtschaft, Kultur, Verbänden und Zivil-         pirisch bestimmbaren, gar nicht mal so hohen
gesellschaft muss die Logik der Nachhaltigkeit        Einkommensgrenze. Danach werden andere Fak-
erst noch geduldig kommuniziert und eingeübt          toren wichtiger: eine intakte Natur, gute Arbeit,
werden. Denn es gehört Mut dazu, vertraute            soziale Netzwerke, Entwicklungschancen, Betei-
Pfade und Denkgewohnheiten zu verlassen und           ligungsmöglichkeiten, eine funktionierende Ver-
neuen Erzählungen zu folgen: Dass Nachhal-            waltung. Mecklenburg-Vorpommern mit seinen
tigkeit kein Steckenpferd für Naturfreunde ist.       Menschen und natürlichen Ressourcen lädt zur
Dass Nachhaltigkeit die Wirtschaft keineswegs         Umsetzung dieser Visionen geradezu ein. Das
ruiniert, sondern zukunftsfähig macht. Dass           Ziel ist eine nachhaltige und gemeinwohlorien-
Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung             tierte Gesellschaft, die technische Instrumente
kein teurer Luxus, sondern notwendige Investi-        wie die Digitalisierung klug zu nutzen versteht.
tionen in die Zukunft sind.                           Jedoch, so die Mahnung der Zukunftsrates: „Das
                                                      alles wird scheitern, wenn es nicht gelingt, den
Keine Zukunft ohne Herkunft.                          politischen Mut dafür aufzubringen.“
Und noch eine weitere Grundentscheidung
lässt der Zukunftsrat schon in seiner Präambel        „Zukunft beginnt genau jetzt!“
erkennen: „Zukunft ist auch Herkunft.“ Das            Um für die Zukunft auf die richtigen Gleise zu
bedeutet, dass die bisherigen Leistungen, das         kommen, müssen die Weichen schon heute ge-
Lebensgefühl und die Identität der Menschen           stellt werden. Die vom Zukunftsrat vorgeschla-
im Land nicht pauschal abgewertet werden.             genen Weichenstellungen sind unter anderem:
Vorhandenes wird nicht abgewertet, um daraus          Nachhaltigkeit wird zur politischen Allgemein-
die Notwendigkeit eines Wandels zu legitimie-         norm und ressortübergreifendes Arbeiten zum
ren. Es geht nicht um linearen „Fortschritt“          Standard, Gemeinwohlorientierung wird ein
oder einseitige „Modernisierung“, sondern um          Kriterium in Vergabeverfahren, ein Jugendmit-
eine Transformation, einen Paradigmenwechsel          wirkungsgesetz wird verabschiedet und auch ein
in der Gesellschaft. Die Menschen und die Ge-         Landesklimaschutzgesetz.
gebenheiten werden dabei nicht als Hypothek,              Als Handlungsfelder hat der Zukunftsrat
sondern als Ressource wahrgenommen und in             zum Beispiel den Bildungsbereich identifiziert,
die Transformation mit hineingenommen.                die Stärkung der Mitspracherechte von Heran-
   Die ausdrückliche Würdigung der vorhande-          wachsenden, die Förderung einer klima- und
nen Ressourcen ist es, die dem Bericht mögli-         biodiversitätsfreundlichen Landwirtschaft, die
cherweise seinen besonderen Charme und seine          Entwicklung erneuerbarer Energieträger, Inves-
Überzeugungskraft verleiht. Hier wird eine Zu-        titionsförderung für die Kreativwirtschaft, ein
kunft projiziert, dieF nicht durch drastische Spar-   Landesprogramm für nachhaltigen Tourismus.
maßnahmen, Opfer und Traditionsabbrüche ge-               Zahlreich sind auch die vorgeschlagenen
wonnen werden soll, sondern durch eine kluge          Instrumente wie die Stärkung kleinerer Schul-
Besinnung auf die vorhandenen Möglichkeiten           klassen, nationale und internationale Schul-
– und diese sind vollkommen ausreichend, gera-        kooperationen zu Klima, Biodiversität und
de auch in Mecklenburg-Vorpommern. So wer-            Wirtschaft, Förderung von Innovation, Modell-

12   EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA

            Das Logo des Zukunftrates Mecklenburg-Vorpommern

vorhaben für gemeinwohlorientierte, dezentra-         Anstrengungen, ein breiteres ökonomisches
le Energieversorgung.                                 Transformationsprogramm zu entwerfen, be-
   Sicher werden nicht alle der zahlreichen           grenzt.“ So der Berliner Makrosoziologe Steffen
Vorschläge umsetzbar sein. Manches klingt viel-       Mau. Ebenso beschränkte sich die Einführung
leicht zu phantastisch, anderes zu schön, um          demokratischer Institutionen und Regelwerke
wahr werden zu können. Und das muss auch              hauptsächlich auf formale Strukturen. „Soziale
gar nicht sein. Es sind letztlich Beispiele, die      Praktiken, Interessen und Motivationen, also
für etwas anders stehen. „Wir wünschen uns“,          die nicht-institutionellen Voraussetzungen von
so der Zukunftsrat in seinem Schlusswort, „eine       Institutionen, wurden vernachlässigt.“ (Steffen
Kultur der Neugier und des Mutes. Zukunftsge-         Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen
staltung gelingt nur dann, wenn nicht Angst vor       Transformationsgesellschaft, Berlin, 2019, S. 138)
Veränderung vorherrscht, sondern Lust an kre-            Dreißig Jahre später sind die „Grenzen des
ativer und partizipativer Gestaltung hin zum          Wachstums“ und die problematischen Folgen
Besseren. Das Gegenteil von Unternehmungen            einer einseitig neoliberalen Agenda unüber-
sind Unterlassungen.“                                 sehbar geworden. Es ist jetzt an der Zeit, neu zu
                                                      definieren, was „Modernisierung“ in Bezug auf
Keine einseitige „Modernisierung“,                    Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet. Der vom
sondern Transformation zur                            Zukunftsrat eigeforderten Paradigmenwechsel
Nachhaltigkeit.                                       hin zu einer systematischen Berücksichtigung
Viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern              der Zieldimensionen des Nachhaltigkeitsdrei-
haben mit dem Leitbild einer „Modernisierung“         ecks (Wirtschaft, Ökologie, Soziales) könnte
nach 1990 durchaus ambivalente Erfahrungen            hierfür beispielhaft sein. Denn mit der Fixie-
gemacht. Als Zielvorstellung für die notwendige       rung auf ein ganz bestimmtes Verständnis von
Modernisierung der desolaten Wirtschaft und           Wirtschaft und Gesellschaft ist in der Vergan-
Gesellschaft galt allein das neoliberale Modell.      genheit nicht nur für Mecklenburg-Vorpom-
„Da man auf die spontane Selbstorganisation           mern, sondern auch für andere Bundesländer
der entfesselten Marktkräfte hoffte, blieben          ein viel zu enger Korridor gesellschaftlicher

                                                                        EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   13
THEMA

                                                                   I   Adressen zur Information und zum Mitmachen:
Entwicklung vorgezeichnet worden, der jeden                       (1)	Auf der Webseite der „Initiative Zukunftshandeln MV“ gibt es
Eigensinn, jede Pfadabweichung oder Neuerfin-                          einen Link zu einem Kontaktformular. Damit kann man sich:
dung von vorneherein ausschließt. Gerade diese                         für den Email-Verteiler eintragen lassen, Interesse für die
                                                                       Mitgestaltung signalisieren, oder Anmerkungen, Anregun-
Tugenden sind es aber, mit denen sich Zukunft
                                                                       gen und Kritik übermitteln:
gewinnen lässt.                                                        https://www.fint.team/initiative-zukunftshandeln-mv/
                                                                  (2)	Herunterladen der Empfehlungen des Zukunftsrates z.B.
                                                                       unter:
                                                                  	https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/stk/
Juergen.kehnscherper@kda.nordkirche.de
                                                                       Themen/Zukunftsfragen/

        Das Schweriner Schloss ist Sitz des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern. So rückwärtsgewandt, wie
        das Schloss suggerieren könnte, ist er aber nicht.                           Foto: epd-bild/Siegfried Kuttig

14   EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA

Jedes Einzelne muss vergehen
Wie lebt es sich...endlich?

Mit freundlicher Genehmigung                                            weiß kein Mensch. Das ist vermut-
des Autors Auszug aus seinem                                            lich das Beunruhigende an ihm.
Buch „Gelassenheit. Was wir ge-                                         Beruhigend kann allenfalls seine
winnen, wenn wir älter werden.”                                         Deutung sein. Er kann als Ereignis
Insel, 2014.                                                            gedeutet werden, das dem Leben
                                                                        Sinn gibt, da er die Grenze mar-
                                                                        kiert, die das Leben erst wertvoll

G
        elassenheit ist das, was wir                                    macht. Wertvoll ist, was begrenzt
        gewinnen können, wenn                                           verfügbar ist, daher wird Edelstei-
        wir älter werden. Ein wich-                                     nen mehr Wert zugesprochen als
                                                Prof. Wilhelm
tiger Schritt auf dem Weg zu ihr                                        Kieselsteinen. Aus der Begrenzt-
                                                   Schmid
ist, eine Haltung zur Grenze des                                        heit der Zeit resultiert das Bemü-
                                           ist Philosoph, Lebens-
Lebens zu finden, die näher rückt.                                      hen um ein Edelsteinleben, zu
                                              kunstphilosophie,
Immer häufiger sind wir mit dem                                         dem sich die schönen Momente
                                         Honorarprofessor an der
Tod Anderer konfrontiert, der je-                                       verdichten lassen, die in der zur
                                              Universität Erfurt.
des Mal nahegeht, manchmal sehr                                         Verfügung stehenden Zeit gesam-
nahe, und wir ertappen uns bei                                          melt werden. Ein mangelndes Be-
dem Gedanken: Er oder sie hat es                                        wusstsein für die Grenze könnte
hinter sich. Sind die eigenen Eltern nicht mehr           ein Kieselsteinleben zur Folge haben, in dem
da, ist von diesem Moment an klar: Wir selbst             nur endlos viele graue Momente aufeinander
stehen nun an der Front, kein Puffer ist mehr             folgen. Dass eine zeitliche Grenze erkennbar
zwischen hier und dort. Was mich tief beein-              ist, motiviert dazu, aus dem Leben etwas zu
druckte bei meiner Mutter, war ihre Gelassen-             machen, das bejahenswert erscheint – so weit
heit nicht nur beim Älterwerden, sondern auch             das möglich ist. Sollte es irgendwann gelingen,
angesichts des Todes, auch an dem Tag, als es so          die Grenze in Richtung Ewigkeit zu verschie-
weit war und sie nur sagte: „Ich weiß, wohin ich          ben, würden wohl viele Menschen ewig auf
gehe.“ Es stand für sie außer Frage, dass sie ihren       „das Leben“ warten, denn wozu die schwierige
geliebten Mann wiedersehen würde, meinen                  Arbeit der Verwirklichung von Möglichkeiten,
Vater, der Jahre früher gestorben war. Er, der            ja, schon die Mühe des Aufstehens morgens auf
immer verkündet hatte, „das Sterben verschie-             sich nehmen, wenn all dies ewig aufgeschoben
ben wir bis ganz zuletzt“, meinte noch auf dem            werden könnte?
Sterbebett zu meinen Geschwistern, die bei                     Ein Aspekt der unbekannten Wahrheit des
ihm waren: „Ich werde euch jetzt zeigen, wie              Todes könnte sein, dass es ihn wohl nicht gäbe,
man stirbt.“ Er starb mit 84, sie mit 88 Jahren,          wenn er sich im Prozess der Evolution nicht
beide mit der Gewissheit eines vollkommen er-             schon seit langem als sinnvoll erwiesen hätte.
füllten Lebens.                                           Alles Einzelne muss vergehen, damit das Leben
     Nicht nur das Leben, sondern auch der Tod            als Ganzes weitergehen kann: Das betrifft nicht
ist eine Frage der Deutung. Was er wirklich ist,          nur mich, sondern jedes Ich, jedes Wesen, auch

62   EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
THEMA

wenn Menschen den Tod für die größte Sinn-          ist er, da Sinn die Zusammenhänge herstellt, in
losigkeit des Lebens halten. Der Tod bricht das     denen Energien fließen können. Sinn stillt den
Leben jedes Einzelnen wieder ab und schafft         Energiehunger des Menschen, dem das naturge-
damit Platz für neues Leben, dessen Gene neu        gebene Quantum nicht auszureichen scheint,
gemischt werden, sodass es sich mit frischen        vermutlich weil sein Denken, seine Arbeit an
Kräften daran machen kann, neue Möglich-            Kunst und Kultur enormer Ressourcen bedarf.
keiten zu realisieren, den alten Problemen auf      In moderner Zeit aber zerbrechen sehr viele
neue Weise zu begegnen oder erneut daran zu         Zusammenhänge: Die willentliche Befreiung
scheitern. Evolutionär ist dieses Modell deut-      von vorgegebenem Sinn führt zur Frage nach
lich erfolgreicher als die endlose identische       Sinn, die nicht zu allen Zeiten gestellt worden
Reproduktion etwa von Pantoffeltierchen. Ist        ist. Ich sehe es als Aufgabe der bewussten Le-
das ein Trost angesichts des Todes? Nicht unbe-     bensführung, der Lebenskunst des Einzelnen
dingt. Der Schmerz, eines Tages gehen und die       an, Sinnzusammenhänge wiederzufinden und
Liebsten zurücklassen zu müssen, kann den-          neu zu schaffen, dem Leben somit Sinn zu ge-
noch groß sein.                                     ben, so lange es währt.
    Das Denken an den Tod (melete thanatou,
meditatio mortis) war schon seit Pythagoras
im 6. Jahrhundert v. Chr. eine philosophische       mail@wilhelm-schmid.de
Übung. Manche meinten sogar, Philosophieren
heiße, sterben zu lernen. Ich denke eher, dass es
heißt, leben zu lernen. Dazu aber gehört, sich
über den Endpunkt des Lebens Gedanken zu
machen, um während des Lebens immer wie-
der vom vorgestellten äußersten Punkt auf das
Leben zurückzublicken, es zu bewerten und ge-
gebenenfalls neu zu orientieren. Oft denke ich
selbst an den letzten Tag, die letzte Stunde, vor
allem beim Einschlafen oder bei einem kleinen
Schlaf zwischendurch. Sicher ist, dass es die-
sen letzten Moment geben wird, unsicher nur,
wie er aussehen wird. Unmöglich zu wissen,
wo und wie es letzten Endes genau geschehen
wird, selbst dann, wenn es geplant werden soll-
te. Aber eine Vorstellung kann ich mir machen.
Wozu? Um die Angst vor dem Tod zu verlieren?
Das ist mir bisher nicht gelungen, der Tod er-
scheint mir als Ungeheuerlichkeit. Wozu dann?
Um damit vertraut zu werden, dass es etwas so
Befremdliches gibt, und um mehr Klarheit dar-
über zu gewinnen, was mir angesichts des Todes
im Leben wichtig ist.
    Denn das ist die Frage, die sich im Rückblick
stellt: Was war nun der Sinn des Ganzen? Zu-
nächst fällt auf, dass der Mensch offenkundig
ein sinnbedürftiges Wesen ist. Das gilt, soweit
zu sehen ist, nicht für alle Wesen. Sinnbedürftig

                                                                     EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   63
DIE LETZTE SEITE

         Das letzte Wort
         Zwölf Merksätze zur Beantwortung der Frage:
         Wer will ich gewesen sein?

         Das Leben hat mich gewagt.

         Der Raum der Veränderung ist innerhalb,
         nicht außerhalb unserer Grenzen.

         Die Zeit der Veränderung ist die Gegenwart, nicht die Zukunft.

         Ziele sind keine Handlungen.

         Aufhören braucht einen Grund,
         aber aufhören zu können, braucht Können.

         Aufhören sichert das Erreichte,
         weitermachen banalisiert es.

         Mit Glaubenssätzen kommt man nicht weiter.
HARALD
WELZER
         Mit Konjunktiven auch nicht.

         Das Wort „eigentlich“ ist zu vermeiden.

         Die Bedeutung eines Lebens hängt nicht von seiner Dauer ab.

         Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden.

         Es gibt ein Leben vor dem Tod. Und nur da.

         aus: Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst.
         Frankfurt a.M. 2021, S. 265

                                                        EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021   65
VORSCHAU & IMPRESSUM

Vorschau

Die Taufe
Eine berührede Zeremonie oder nur aus der Zeit gefallen? Schrei-
ben Sie von Ihren Erfahrungen, von besonderen Gestaltungen, von
eigenwilligen Abläufen und von Problemen.
Beiträge bitte bis zum 15. Januar 2022

Kino & Kirche
Liebe und Tod, Allmacht und Ohnmacht, Apokalypse und Hoffnung
– darum kreisen die Texte der Bibel, und das sind auch die Themen
des Kinos oder der Serien. Findet Kirche im Kino statt?
Beiträge bitte bis zum 15. Februar 2022

Kirche & Geld
In der Kirche werde mehr über Geld als über das Evangelium ge-
sprochen, sagen manche. Andere behaupten, erst kämen die Finan-
zen, dann die biblische Botschaft. Entscheidend ist möglicherweise
die Frage: Wofür gibt die Kirche ihr Geld aus?
Beiträge bitte bis zum 15. März 2022

Schreiben Sie!
Zu Themenschwerpunkten, die für die nächs­ten Ausgaben geplant
sind, werden gezielt Artikel erbeten. Darüber hinaus können Sie
gerne auch Beiträge zu anderen Themen einsenden.
redaktion@evangelische-stimmen.de

IMPRESSUM
Herausgeber:                                Redaktion:                                 Druck:
Evangelischer Presseverband                 Dr. Friedrich Brandi (ViSdP)               Hugo Hamann
Norddeutschland GmbH,                                                                  Offsetdruckerei, Kiel
Gartenstr. 20, 24103 Kiel                   Layout:
                                            Evangelischer Presseverband                Die Evangelischen Stimmen erscheinen mo-
Verlag:                                     Norddeutschland GmbH                       natlich. Das Jahresabonnement kostet 55,20 €
Evangelischer Presseverlag Nord GmbH,       Tel. (040) 709 75 - 277                    inkl. Versandkosten innerhalb Deutschlands.
Gartenstr. 20, 24103 Kiel,                                                             Die Kündigungsfrist beträgt
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Tel. (0431) 55 77 99                        Kristina Heesch                            Anzeigenpreisliste Nr. 5 gültig. Mit Namen
Fax (0431) 55 779 - 292                     Tel. (0431) 55 77 9 - 206                  oder Initialen gekennzeichnete Beiträge
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Redaktionsanschrift:                        Vertrieb und Abonnementverwaltung:         Beiträge und Bücher werden nicht zurück-
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66    EVANGELISCHE STIMMEN 12 | 2021
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Flyer, Jahresberichte, Drucksachen und crossmediale
Produkte. Zu unseren Kunden gehören Stiftungen,
kirchliche Einrichtungen und andere soziale Träger

Was wir nutzen:
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Texten und in der Audio- und Videoproduktion, sowie die
Kreativität der Grafik-Abteilung

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               040 - 70 975 - 277
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