Zwei Welten Die Fortschritte bei der Anerkennung von Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus
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Zwei Welten Die Fortschritte bei der Anerkennung und von Sinti und Roma als Opfer des die fortgesetzte systematische Erfassung der Nationalsozialismus Minderheit
Impressum Weiß, Arnold / Weinrich, Boris / © M. Terfloth 2018. Terfloth, Moritz / Michelsen, Jakob: Zwei Welten. Die Fortschritte bei der Anerken- nung von Sinti und Roma als Opfer des National- sozialismus und die fortgesetzte systematische Erfassung der Minderheit. Herausgegeben von Arnold Weiß im Auftrag des Landesvereins der Sinti in Hamburg e. V. Gefördert von der Landeszentrale für www.landesverein-hamburg.de politische Bildung Hamburg. © Landesverein der Sinti in Hamburg e. V. 2019
V Vorwort Die Aufgaben des Landesvereins der Sinti in Ham- Im Jahr 2018 müssen durchschnittliche Arbeit- burg sind vielfältig. Neben der Hilfe und Unterstüt- nehmer fürchten, dass die Zuordnung ihres Fami- zung für unsere Leute steht auch die Öffentlich- liennamens zu einer Sintifamilie ihnen Nachteile keitsarbeit, um die Mehrheitsgesellschaft über die bereiten könnte. Der auch ohne unsere Hilfe ent- Geschichte und das heutige Leben der Sinti aufzu- standene Artikel auf ‚Spiegel online‘ (www.spiegel. klären – in der Hoffnung, dass Aufklärung schließ- de/karriere/sinti-und-roma-alles-ist-besser-als-ein- lich auch zum Abbau von Diskriminierung und Vor- zigeuner-zu-sein-a-1193918.html) bestätigt dies in urteilen führt. vollem Umfang. So wandte sich im Februar 2018 zum Beispiel die Warum ist das so? Redaktion von ‚Spiegel online‘ an uns, um für einen Artikel über Sinti in der Arbeitswelt zu recherchie- 1982 erklärte der damalige Bundeskanzler, Hel- ren. Wir wurden gefragt, ob es in unseren Reihen mut Schmidt, erstmals nach dem Völkermord, Menschen gibt, die einer Arbeit in einem Anstel- dass es sich bei den nationalsozialistischen Ver- lungsverhältnis in einer Firma oder Ähnlichem brechen gegen die Sinti und Roma um eine nachgehen. Ja! Die gibt es. Ob es denn möglich Verfolgung aus rassistischen Gründen und wäre, für einen Artikel, der darstellen sollte, welche nicht um „Kriminalprävention“ gehandelt habe. negativen Effekte es hat, wenn Arbeitgeber eine Helmut Schmidt auf dem SPD- Es wurde anerkannt, dass die systematische Parteitag in München, 1982. Verbindung zwischen ihrem Angestellten und der Registrierung, Ausgrenzung, Internierung, medi- Minderheit der Sinti herstellen, Ansprechpartner zu zinische Folter, Deportation, Lagerhaft und der gewinnen, die – selbstverständlich anonymisiert – Massenmord an hunderttausenden von Menschen über ihre Angst berichten, „enttarnt“ zu werden. ausschließlich aufgrund willkürlicher rassistischer Kriterien wie Familienzugehörigkeit und Herkunft © BuArch, B 145, Bild F062763-0002. Eine Umfrage unter unseren Leuten ergab: Trotz erfolgten. der zugesicherten Anonymisierung wollte niemand das Risiko eingehen, möglicherweise von seinem Und doch hat Dr. Hermann Arnold als Schlüsselfi- Arbeitgeber als Sinto erkannt zu werden. gur die systematische Erfassung aller Aspekte des Lebens von Menschen, die er der Minderheit zu- rechnete von der Nachkriegszeit nachweislich bis 4 5
Vorwort Einleitung 2005 im wissenschaftlichen Umfeld und mit hoher Der Landesverein der Sinti in Hamburg e. V. be- Anerkennung und Unterstützung zahlreicher Be- fasst sich im Rahmen seiner Aufgaben als Inter- hörden und Institutionen fortgesetzt. essenvertretung auch mit der Aufarbeitung der Geschichte der Verfolgung, Ausgrenzung und Dis- Es ist uns als Landesverein, aber auch mir ganz kriminierung der Sinti. Im Rahmen der Recherchen persönlich als Angehöriger einer Familie, der seit zur Geschichte der Hamburger Sinti ist Arnold Weiß Jahrhunderten Misstrauen und Feindschaft entge- auf umfangreiches Material zur „Tsiganologie“ des gengebracht wurde und wird, ein Anliegen, diesen Arztes Hermann Arnold gestoßen. Es besteht eine offensichtlichen Widerspruch zwischen Anerken- Verbindung zwischen Arnold und Robert Ritters nung des geschehenen Unrechts und Fortführung Rassenhygienischer Forschungsstelle, deren Mit- der Erfassung und Beforschung der Minderheit arbeiterinnen und Mitarbeiter unter anderem Sinti aufzuzeigen. in Hamburg beforscht und gequält haben und de- ren Forschungen die Grundlage für die anschlie- Nur wenn wir uns allen Aspekten der gesellschaft- ßend erfolgten Deportationen bildeten. lichen Anerkennung wie der fortgesetzten Aus- grenzung stellen, können wir gemeinsam Unrecht Hermann Arnold hat dann nach 1945 als Amts- überwinden und uns über widerfahrenes Unrecht und Gefängnisarzt die systematische Erfassung austauschen. und rassistische Kategorisierung der Sinti unter dem wissenschaftlichen Dach der so genannten „Tsiganologie“ im Rahmen zahlreicher Veröffentli- Arnold Weiß, 1. Vorsitzender des Landesvereins der chungen fortgesetzt. Arnold wurde als Gutachter Sinti in Hamburg e. V. von Gerichten, kommunalen, Landes- und Bun- Dezember 2018 desbehörden herangezogen und hat mit seiner Arbeit, die von ihm bis 2005 fortgesetzt wurde, das genetisch-rassistisch begründete Zerrbild von den der Bevölkerungsgruppe der Sinti zugeschriebe- © A. weiß 2018. nen negativen Eigenschaften bis heute nachhaltig geprägt. 6 7
Einleitung Im Verlaufe vieler Informationsveranstaltungen hat Der vorliegende Text stellt als Vorabveröffentli- der Landesverein in den zurückliegenden Jahren chung auf der Homepage des Landesvereins den die Erfahrung gemacht, dass eine Konfrontation ersten Baustein von „Zwei Welten“ dar. Hier sollen des Publikums mit Kontinuitäten rassistischer Ein- erste Ergebnisse und Schlüsse aus den Recher- stellungen gegenüber Sinti – insbesondere auch im chearbeiten vorgestellt werden. Bereich von Staat und Verwaltung – über 1945 hin- aus in Diskussionen häufig abgewehrt und schwer Im Rahmen der weiteren Bearbeitung soll dann bis akzeptiert wird. Immer wieder werden die Befunde Ende 2019 in Zusammenarbeit mit der Landeszen- zum Andauern rassistischer Einstellungen gegen- trale für politische Bildung Hamburg eine umfang- über Sinti beispielsweise bei der Polizei, in Schulen reiche Broschüre (gedruckt und online) entstehen. oder in Sozialdienststellen negiert, indem auf die Darüber hinaus werden die Ergebnisse und Aus- Erfolge der letzten Jahre in der Erinnerungskultur schnitte aus dem umfangreichen Material auch auf zum Holocaust an den Sinti verwiesen wird. Vortragsveranstaltungen präsentiert werden. Zwei Welten Im Zentrum der Broschüre und der Präsentationen soll die Gegenüberstellung beider Entwicklungsli- Diesem Dilemma will der Landesverein mit die- nien stehen. Auf der einen Seite stehen die einzel- ser Publikation entgegentreten. Die Beurteilung nen Schritte zur Anerkennung als vom Nationalso- der vielfältigen Geschichte der Minderheit lässt zialismus verfolgte Minderheit. Hier werden sowohl sich nicht auf die scheinbar einfache Frage, ob der die Besetzungen in den Gedenkstätten Dachau Völkermord anerkannt sei oder nicht, herunter- und Neuengamme dargestellt als auch die zent- brechen. Die Lebensrealität jenseits der Gedenk- ralen politischen Beschlüsse und Reden sowie die tafeln und Mahnmale wird bei weitem stärker von zögerliche Entstehung von Mahn- und Gedenk- Haltungen und Handlungsanweisungen in Ämtern stätten, wie in Berlin und Hamburg. Genauso gilt und Behörden geprägt als von den engagierten es die Anerkennung der Sinti als verfolgte Minder- und aufklärenden Ansprachen zu spezifischen Ge- heit im Rahmen von Staatsverträgen auf Bundes- denktagen. länderebene als Form der „Wiedergutmachung“ zu beleuchten. 8 9
Einleitung Hermann Arnold Am Beispiel Arnold wird deutlich, wie einfach die Obermedizinalrat Dr. Hermann Arnold, geboren am Arbeit der Akteure der „Rassenhygiene“ jahrzehn- 18. April 1912 in Alsenz, gestorben am 28. Novem- telang zielgerichtet Institutionen prägte. Eine Arbeit ber 2005 in Landau/Pfalz, war ein geachteter Bür- auf deren Grundlage die Ermordung von mehr als ger in seiner Heimatgemeinde Landau, seit 1945 500.000 als „zigeunerisch“ definierten Menschen Amtsarzt und Leiter des örtlichen Gesundheitsam- stattfand und die nach der Befreiung durch die Al- tes der Stadt bis 1974. liierten weitgehend ungebrochen im wissenschaft- lich-behördlichen System verankert war. Dabei Es sind nur wenige Abbildungen der Person Sein durchgehender Interessen- und Arbeits- liegt ein besonderes Augenmerk auf den prakti- Hermann Arnold überlie- fert. Beschriftung: „Zirkus schwerpunkt waren „die Zigeuner“. Diese Passion Bügler (Alsenborn) ca. schen Folgen für die Lebensrealität der betroffe- 1965 unterwegs. (Ge- nahm einen Großteil seines Arbeitens und seiner spräch mit H. Arnold)“ nen Menschen. Lebenszeit ein. Arnold war neben seinen Amts- geschäften auch außerplanmäßiger Professor für Sozialhygiene an der Universität Saarbrücken und, unterstützt vom Bundesinnenministerium, als „Fachmann für Nichtsesshafte“ an der Deut- schen Akademie für Bevölkerungswissenschaft tätig. Ein Umstand, den vermutlich nur wenige seiner Zeitgenossen kannten, war Arnolds selbst gewählte Aufgabe als Hüter der umfangreichsten Datensammlung über die in Deutschland leben- den Minderheiten der Sinti, Jenischen und Roma, die er in geistiger und faktischer Nachfolge von Dr. Dr. Robert Ritter, 1936–1945 Leiter der Rassen- hygienischen Forschungsstelle (RHF) des Reichs- gesundheitsamts, nach Kriegsende fortführte und verwaltete. © BuArch, ZSG 142/2. Eine Sammlung, die für viele der Beschriebenen während des Naziregimes das leidvolle Lebens- 10 11
Hermann Arnold ende bedeutete und nach dem Krieg die Aus- von Arnold selbst Zeit seines publizistischen Wir- grenzung in staatlich anerkannte Richtungen kana- kens verbreiteten verallgemeinernden Zuschrei- lisierte. bungen von negativen Eigenschaften an die Grup- pe der Sinti, Roma und Jenischen beeinflusst war, Über Hermann Arnolds Aktivitä- sollte noch überprüft werden. ten vor 1945 ist wenig bekannt. Er schloss sein Medizinstudium 1936 Schriftliche Nachweise für eine an der Militärärztlichen Akademie formale Zusammenarbeit Arnolds in Berlin ab und promovierte 1937 mit der RHF sind bislang nirgends über die Folgen des Einsatzes belegt. Die Durchsicht des Nach- von Giftgas. Soweit bekannt, ver- lasses von Hermann Arnold im brachte er die folgenden Jahre Bundesarchiv hat einen regen Aus- bis zum Ende des Kriegs in der tausch Arnolds mit den ehemaligen Wehrmacht als Militärarzt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der RHF, unter anderem Eva Justin Es gab in den 1980er Jahren juristische Anstren- und Sophie Ehrhardt, aufgezeigt. gungen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Sämtliche persönliche Korrespon- Arnolds Beteiligung an den Erfassungen der Sinti, denz, die sich bislang im Nachlass Roma und Jenischen durch die RHF in den Vor- gefunden hat, datiert allerdings aus kriegsjahren nachzuweisen. Den vorgebrachten der Zeit nach 1945. Einige Schrei- Aussagen verschiedener Zeuginnen und Zeugen, ben lassen aber zumindest länger laut derer Arnold als junger Arzt 1938 Robert Rit- zurückliegende Kontakte Arnolds ter bei einer Erfassungsaktion in der Pfalz begleitet mit Robert Ritter vermuten. In je- hatte, wurde seinerzeit kein Glauben geschenkt, dem Fall ist Arnold erkennbar ein und weitere strafrechtliche Untersuchungen der voll akzeptierter Korrespondent, Vorwürfe, Arnold habe sich an den Aktionen der dessen Interessen mit denen Jus- RHF beteiligt, wurden nicht unternommen. Inwie- tins und Ritters übereinstimmten. weit die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeu- So schreibt Eva Justin am 26.3.1953 ginnen und Zeugen durch die maßgeblich auch an Hermann Arnold: 12 13
Hermann Arnold Der Nachlass Arnold im Bundesarchiv Sehr geehrter Herr Dr. Arnold! Ihr Brief mit der Anfrage nach den Landfahrern hat mir grosse Freude bereitet. Ich bin selbstverständlich gern bereit, Ihnen mit unseren Unterlagen zu helfen. Gerade aus der Pfalz habe ich noch reichlich Material da. Die Sippen wurden damals von unseren Fürsorgerinnen zusammengestellt, sie werden Ihnen gute Dienste leis- ten. Ich werde Ihnen die Unterlagen in den Ostertagen schicken. Die umfangreiche Materialsammlung der RHF, in der sich auch tausende Gutachten befanden, die Heute nehmen Sie schon einmal den Menschenschlag*, die Grundlage für Verfolgung, Deportation und Er- den ich Ihnen überlasse. mordung der Begutachteten bildeten, ist nach der Befreiung am 8. Mai 1945 keiner geregelten Siche- Haben Sie nicht früher schon einmal mit Dr. Ritter kor- rung oder gar juristischen Aufbereitung zugeführt respondiert? worden. Die Rekonstruktion der Wege, die einzel- ne Teile dieses Bestands genommen haben, zeigt Ihr Name ist mir nicht fremd! deutlich, dass es im Umgang mit dem gesammel- ten Material vor allem um die Weiternutzung zur polizeilichen Verfolgung und zu rassistisch mo- tivierten Forschungszwecken ging. Teile wurden (BuArch ZSG 142/22.) in der später wegen Verfassungswidrigkeit ge- schlossenen Landfahrerzentrale des Bayerischen Landeskriminalamts weiter genutzt, andere Teile für die Nachkriegskarrieren ehemaliger Mitarbei- terinnen der RHF – wie z. B. von Sophie Ehrhardt am Anthropologischen Institut der Universität Tü- *) Hier gemeint ist das Buch „Ein Menschenschlag“ bingen. Hermann Arnold hatte sich ebenfalls in den von Robert Ritter, 1937. Besitz zahlreicher Unterlagen der RHF gebracht 14 15
Der Nachlass Arnold im Bundesarchiv und diese systematisch im Rahmen seiner fortge- Die nur auf nachdrückliches Betreiben führten Sammlung und Forschung erweitert und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma ergänzt. Darüber hinaus stand er im Austausch mit veranlassten Hausdurchsuchungen unter anderen, die Teile des Bestands verwahrten, und anderem bei Ehrhardt und Arnold führten Arnold übernahm die Akten aus München, als die ebenfalls nicht zur Entdeckung weiteren Landfahrerzentrale sie abgeben musste. Materials aus der RHF. Allerdings übergab und verkaufte Hermann Arnold in den Erst mit Beginn der Bürgerrechtsbewegung der folgenden Jahren und Jahrzehnten sei- Sinti und Roma ab den 1970er Jahren wurde, mit ne Bestände dem Bundesarchiv, wo sie zunächst geringen Erfolgen, versucht, auf die un- als „Sammlung Arnold“ vorliegen und seit haltbaren Zustände um die Überlieferungen der seinem Tod zur Nutzung zur Verfügung RHF hinzuweisen und sie schließlich zu ändern. stehen. Eine große Menge ehemaliger RHF-Akten fand schließlich 1980 den Weg ins Bundesarchiv – zu- Die Projektgruppe war zwischenzeitlich mindest die Bestände, deren Herkunft eindeutig zweimal im Bundesarchiv Berlin und hat der RHF zugeordnet werden konnte. Von den ur- dort den über hundert Akten umfassen- sprünglich einmal vorhandenen Akten und Materi- den Bestand aus dem Nachlass gesichtet. alien der RHF ist allerdings nur ein Teil überliefert. Weitere Recherchen, auch in anderen Ar- Zahlreiche Unterlagen dürften aus persönlichen chiven, sind geplant. Für Menschen, deren Interessen heraus von den damaligen Mitarbeite- Arbeit normalerweise in Hilfestellungen rinnen und Mitarbeitern der RHF vernichtet worden und Unterstützung besteht, ist es fast eine sein. Auch wenn die Beteiligten in zahlreichen Äu- Zumutung, sich die Hinterlassenschaften ßerungen stets jede juristische Schuld an der Er- des selbst ernannten „Zigeunerexperten“ mordung hunderttausender Sinti und Roma weit BuArch R 165. „Rassengutachten“ von Robert Arnold genauer anschauen zu müssen. von sich wiesen, sind Fehlstellen im Bestand dort, Ritter aus der Zeit 1940-1945, Das Jahr wurde in der Durch- Mit überakribischer Sammelwut und ei- wo sich mutmaßliches belastendes Material hätte schrift nicht mit übertragen. ner die betroffenen Menschen – bildlich finden lassen. gesprochen – in ihre letzten Bestandteile zerlegenden Systematik und Verschlag- wortung hat Arnold über 50 Jahre alles 16 17
Der Nachlass Arnold im Bundesarchiv Einblicke in die Akten über als „zigeunerisch“ etikettierte Menschen ge- Eine umfassende Auswertung des Bestands sammelt und kommentiert, was ihm irgendwie in „Sammlung Arnold“ im Bundesarchiv Berlin und die Finger kam. Neben den weiter verwendeten weiterer Archivbestände würde den Rahmen der Materialien der RHF hat er Korrespondenzen, Zei- vorliegenden Publikation bei weitem sprengen. tungsausschnitte, Flugblätter, Veranstaltungsan- Die dafür benötigten Kapazitäten übersteigen die kündigungen und noch viel mehr gesammelt, aus- der Projektgruppe. Insbesondere die systemati- gewertet und publiziert. sche wissenschaftsgeschichtliche Wirkung Her- mann Arnolds und seine Rezeption sind auch be- Die Auseinandersetzung mit der reits Thema einer in Veröffentlichung befindlichen Biographie Hermann Arnolds, sei- diskursanalytischen Dissertation des Historikers nen Hinterlassenschaften und sei- Christian Kelch. ner Fortführung der genealogischen Erfassung der Minderheit der Sinti, Zur Verdeutlichung, welche Wirkungsmacht und Roma und Jenischen durch die RHF Bedeutung die Tätigkeit Hermann Arnolds sowohl lässt auf mutmaßlich 66 Jahre akri- für die betroffenen Menschen als auch für diver- Gedenktafel am Standort der bische Forschungstätigkeit – von ehemaligen RHF in Berlin. se Institutionen der Bundesrepublik hatte, werden der angenommenen Beteiligung an nachfolgend beispielhaft drei Aspekte anhand von Erfassungen in der Pfalz 1938 bis Aktenfunden aus dem Bundesarchiv aufgezeigt: zu seinem letzten Manuskript von 2004 – zu Lasten der Volksgruppe Namen und Familien, Polizei und Justiz sowie blicken. Das hartnäckige Festhal- Gedenken und Politik. ten an überkommenen Vorurteilen und rassistischen Perspektiven auf „Zigeuner“ in der Bundesrepublik wurde maßgeblich von Hermann © gedenkorte/sintiundroma.de. Arnold besimmt. Boris Weinrich, Moritz Terfloth 18 19
Namen und Familien In der „Sammlung Arnold“ sind unter ande- nung des Bundesentschädigungsgesetzes rem zahlreiche Briefe und Schriftwechsel nun versuchte, für einen Antrag benötigte erhalten. Unter diesen Briefen fallen immer Angaben von Arnold zu erhalten: wieder Schreiben von ehemals Verfolgten oder ihren Angehörigen auf. Nachdem die „Hochverehrter Herr Professor, Sie sind auf systematische Erfassung der Menschen, die Grund Ihrer Forschungen der einzige, der mir hel- nach der Systematik der RHF als „zigeune- fen könnte selbst dann noch, wenn das Latein rische Personen“ galten, die Grundlage für der Behörden am Ende ist. Es bleibt mir daher nichts anderes übrig als Sie zu bitten, mir Aus- deren Internierung, Deportation und Ermor- kunft zu geben hinsichtlich des Geburtsdatums dung gelegt hatte, verfügte Arnold nach und Geburtsorts – soweit möglich – über meine 1945 mit dem Aktenbestand der RHF über Angehörigen und über mich selbst und zwar über einen einzigartigen Datenbestand, um Aus- meine Mutter Leja Z. geb. ca. 1899 † in Auschwitz, künfte über Verwandtschaftsverhältnisse mein Vater August M. geb. ca. 1893 † in Buchen- und Lebensdaten der Verfolgten geben zu wald, über mich selbst ich soll am 22.1.22 in Mag- können. Offenbar war dieser Umstand nicht deburg-Buckau geboren sein, mein Bruder Josef nur denjenigen bekannt, mit denen Arnold geb. ca. 1937 † in Auschwitz, meine Schwester in Fortführung der Ziele der RHF im Aus- Claudia M. geb. ca. 1937 † in Auschwitz und mei- tausch stand – wie Eva Justin. Auch in der ne Tante Trudchen Z. angeblich geb. 22.3.22 in Minderheit hatte sich herumgesprochen, der jetzigen Ostzone. dass beispielsweise für Entschädigungs- Um Ihnen das Auffinden der genannten Personen fragen dringend benötigte Angaben bei Ar- zu erleichtern, füge ich in der Anlage einen selbst nold zu finden waren. gebastelten reichlich vertrockneten und zusam- mengeschrumpften Stammbaum der Familie Z. Am 21. November 1968 wandte sich Elfriede aus dem Stamme der Rom bei. M., geborene Z., aus Hamburg an Hermann Arnold. Das Datum lässt vermuten, dass sie Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich der Mühe aufgrund der erst durch ein Urteil im De- unterziehen würden etwas über meine Angehö- zember 1963 überhaupt ermöglichten und rigen und mich in Ihrem Privat-Archiv zu finden bis zum 31. Dezember 1969 befristeten Öff- und das evtl. gefundene mir mitzuteilen. 20 21
Namen und Familien Polizei und Justiz Im Voraus dankend erwarte ich gespannt Ihre Antwort Amtsarzt Arnold nutzt seine Position für mit vorzüglicher Hochachtung persönliche Forschungsinteressen + + + (Elfriede M.)“ Ausschnitt aus dem amtsärztliches Gutachten (BuArch ZSG 142/39.) für den Oberstaatsanwalt beim Amtsgericht Landau über den Beschuldigten Philipp E. vom 23.8.1956, (BuArch R 165/142.) Der Brief wurde in Arnolds Sammlung im Bereich der systematisch erfassten Familiennamen und Die handschriftliche Anmerkung Arnolds nicht in seinen Korrespondenzsammlungen ge- auf der ersten Seite lautet transkribiert: funden. Der von ihm oben rechts auf dem Brief ge- „Typisch ist die Kritik- u. Urteilsschwäche machte Vermerk „Z.“ für den Familiennamen dient bei im übrigen verhältnismäßig guten mutmaßlich der Sortierung und Indizierung. Der Leistungen! Da kommt der Zigeuner he- laut Brief mitgeschickte Stammbaum findet sich raus!“ nicht in den Unterlagen. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass Arnold diese Anfrage jemals beant- Hier zeigt sich sehr deutlich, wie Hermann wortet hat. Seine Korrespondenzen enthalten in Arnold seine Stellung als Amtsarzt syste- der Regel eine Durchschrift seiner Antworten. Da- matisch auf Kosten von ihm untersuchter her muss davon ausgegangen werden, dass Frau Menschen missbraucht hat. Er hat dieses M. nicht weitergeholfen wurde – sie aber unfreiwil- und mehrere ähnliche Gutachten in seiner lig Arnolds Datenbestand bereichert hat. amtlichen Funktion angefertigt und dann die Durchschläge seinen genealogischen Moritz Terfloth Sammlungen einverleibt, um sie für ras- sistische und diffamierende Forschungen zu verwenden, sicherlich - davon können wir ausgehen - ohne Einwilligung der be- treffenden Personen. Die Akten, in denen sich die Gutachten befinden, gehören zum Bestand R 165 22 23
Polizei und Justiz (Rassenhygienische und kriminalbiologische Forschungsstelle). Den Kern dieses Bestandes bilden die erhaltenen Stammtafeln und sonstigen genealogischen Materialien aus Ritters Institut. Ar- nold hat diese Materialsammlung eigenständig ergänzt und wei- tergeführt. Die Gutachten befinden sich zwischen weiteren Re- cherchematerialien zu den betreffenden Familien, die Arnold für seine Forschungen über die „Asozialen“ in der Pfalz erstellt bzw. zusammengetragen hat, einschließlich neuer Stammtafeln. Die- se Sammlungen, für die Arnold eigene Mappen anlegte, um sie zwischen die Ritter‘schen Stammtafeln einzuordnen, illustrieren schon durch diese Zusammenstellung exemplarisch, wie sehr Ar- nold seine Tätigkeit als Fortsetzung der Arbeit Ritters und seines Ausriss aus einem anthropologischen Erfassungsbogen der RHF Instituts sah. In der „Sammlung Arnold“ sind von den 1950er Jah- Auch inhaltlich zeigt sich die gleiche biologistische/kriminalbio- ren an bis weit in die 1980er Jahre immer wieder logische/rassenhygienische Kontinuität. Sie kommt z. B. auch in Schreiben an Arnold enthalten, die von verschie- der zitierten handschriftlichen Anmerkung Arnolds zum Ausdruck: denen Stellen der Justiz und öffentlichen Verwal- In dem Gutachten ist keine Rede davon, dass E. „Zigeuner“ sei; tung an ihn gerichtet wurden, um Auskunft aus den Arnold schließt dies lediglich aus angeblichen Charaktereigen- Genealogien der RHF zu erhalten. Den Schreiben schaften. Ein weiteres Beispiel ist ein Dankbrief Arnolds an einen ist zu entnehmen, dass den anfragenden Institutio- Bürgermeister, der ihm Auskünfte gegeben hatte, vom 19.7.1961 nen offenbar bekannt war, dass er über die Daten- (BuArch, R 165/143): „Es ist also so, wie ich vermutet hatte: Der bestände der RHF verfügte. von mir untersuchte D. stammt von jenischen Landfahrern ab. Damit ist die Sache für mich vollkommen klar: Keine Aussicht auf Die genealogischen Anfragen beziehen sich häufig Erziehungserfolg!“ Bündiger lässt sich die Vorstellung angeblicher auf Verwandtschaftsverhältnisse zur Klärung ei- Erbbedingtheit von Kriminalität, angeblicher „Asozialität“ etc. kaum nes Erbanspruchs, aber auch um etwa feststellen auf den Punkt bringen. zu können, ob es sich bei einem Antragsteller für einen Personalausweis tatsächlich um einen deut- Jakob Michelsen schen Staatsbürger handelte. 24 25
Hamburg, 1. März 1961 Polizei und Justiz „Das Landeskriminalamt Hamburg hat mit Interesse Kennt- In seinen im Bundesarchiv erhal- nis davon genommen, daß das Gesundheitsamt Landau für tenen Antworten verweist Arnold eine wissenschaftliche Auswertung Forschungsmaterial immer wieder auf den hohen über Zigeuner sammelt. Leider ist das Material in Hamburg Aufwand, den es für ihn bedeu- in den Jahren 1943/44 durch Kriegseinwirkungen verloren- te, die ihm nur noch in Kleinbild- gegangen. Das gegenwärtige Material, welches in der Zwi- filmen vorliegenden Genealogien schenzeit hier gesammelt und zusammengestellt worden durchzusehen. Er fordert mehr- ist, dürfte für eine wissenschaftliche Auswertung nicht in fach öffentliche Mittel zur Auf- Frage kommen. Das Landeskriminalamt Hamburg bedau- bereitung und Erschließung des ert daher, die dortigen Bemühungen durch Übersendung genealogischen Archivs. von Material nicht unterstützen zu können. Durch die hiesigen Sachbearbeiter konnte aber in Erfahrung Arnold Weiß gebracht werden, daß eine Frau Dr. Ruth KELLERMANN […] Material besitzt, welches sie sich aus ihrer früheren Tätig- keit bei dem Reichssicherheitshauptamt (Zigeuner-Sippen- archiv) erarbeitet hat. Sie betrachtet diese Unterlagen als ihr persönliches Eigentum, ist aber nach hiesiger Kenntnis bereit, das Material gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen. Ich glaube daher, daß es zweckmäßig wäre, sich von dort aus an Frau Dr. KELLERMANN persönlich zu wenden, um mit ihr eine entsprechende Vereinbarung treffen zu können. Da die hiesige Kartei immer noch recht unvollständig ist und die Anfragen von verschiedenen Behörden nur unvoll- kommen erledigt werden können, wäre das Landeskrimi- nalamt Hamburg dankbar, wenn einer der Sachbearbeiter Gelegenheit bekäme, das dortige Material einzusehen, um (BuArch ZSG 142/49.) evtl. Auszüge fertigen zu können.“ […] 26 27
(BuArch ZSG 142/49) Das Schreiben des Landeskriminalamts Hamburg vom 1. März 1961 zeigt deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt in der Hamburger Polizei kein Bewusst- sein dafür bestand, dass eine ehemalige Mitarbei- terin des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) als Täterin des Genozids hätte verfolgt werden müs- sen, anstatt sie als Ansprechpartnerin für polizei- liche Recherchen zu benennen. Dabei ist es uner- heblich, dass die mit „Zigeuner-Sippenarchiv“ im Schreiben gemeinte Institution die RHF und nicht das RSHA war. Obwohl sie und ihre Tätigkeit offensichtlich bekannt waren, wurde gegen Ruth Kellermann erst 1984 auf Betreiben der Bürgerrechtsbewegung der Sinti 28 29
Polizei und Justiz und Roma ein Verfahren aufgrund ihrer Mitarbeit in der RHF eingeleitet, das aber 1989 ohne Ergebnis wieder eingestellt wurde. Darüber hinaus ist dem Schreiben zu entnehmen, dass das Landeskriminalamt Hamburg den Verlust der eigenen aus der NS-Zeit und davor stammen- den Aufzeichnungen über „Zigeuner“ bedauert und schon wieder neue Sammlungen angelegt hat – wofür Arnold schamlos um Unterstützung gebe- ten wird –, nicht ohne auch seitens des Landes- kriminalamts weitere Zusammenarbeit anzubieten. Arnold Weiß Schreiben des Rechtsamts Hamburg zur Ermittlung einer Staatsbürgerschaft (BuArch ZSG 142/49). 30 31
Gedenken und Politik Als ab den 1970er Jahren die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma langsam in der Öffentlichkeit und Politik eine gewisse Wahr- nehmung erfuhr, gewann – wie sich in der „Sammlung Arnold“ erken- nen lässt – ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit Arnolds immer mehr Raum: Die gegen die Bürgerrechtsbewegung gerichtete Lobbyarbeit. In zahlreichen Leserbriefen an große Zeitungen, aber auch in direkten Schreiben an politische Entscheidungsträger, nutzte er seinen Ruf als „Zigeuner-Experte“, um die längst überfälligen Schritte zur Anerken- nung der Minderheit als Opfer des Nationalsozialismus zu bekämpfen. Insbesondere beharrte er immer wieder darauf, dass es sich bei den nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen nicht um einen ras- sistisch motivierten Völkermord, sondern nur um kriminalpräventive Maßnahmen gehandelt habe, denen seiner Auffassung nach auch nur ein Zehntel der bislang bekannten Zahl zum Opfer gefallen sei. Mit dem Beginn der Bemühungen um ein Holocaust-Mahnmal in Ber- lin wandte sich Arnold gegen eine Widmung des Mahnmals für alle NS-Opfer. Er versuchte Einfluss auf die Entscheidungen im Bundestag zu nehmen und dort für seine Thesen Gehör zu finden. Besonders ge- schmacklos ist dabei die von ihm aufgebaute Argumentation, es gel- te einer Gleichstellung von „Juden und Zigeunern“ zu widersprechen. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist den ermordeten Juden Europas gewidmet. Die gesellschaftlichen Bestrebungen, ein eigenes Mahn- mal für die ermordeten Sinti und Roma zu errichten, wurden von Ar- nold ebenso erbittert bekämpft. Zahlreiche seiner späten Schreiben und Texte richten sich gegen dieses Projekt. Arnold Weiß, Moritz Terfloth BuArch ZSG 142/70. 32 33
Gegenüberstellung Zwei Wege: 11. Mai: In München wird das polizeiliche „Landeser- kennungsamt“ (seit 1952: Bayerisches Landeskriminal- 1 Fortgesetzte Ausgrenzung amt) gegründet. Zum Amt gehört eine „Zigeunerstel- 74 Jahre sind seit der Befreiung am 8. Mai 1945 vergangen. Die Anerkennung der Sinti le“ als Nachfolgerin der 1899 bei der Polizeidirektion und Roma als Verfolgte des Nationalsozia- München gegründeten „Zigeunerzentrale“, die 1938 lismus zog und zieht sich seitdem in kleine- in der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeu- ren und großen Schritten dahin. Aber wäh- nerunwesens“ beim Reichskriminalpolizeiamt auf- rend durch maßgebliche Urteile deutscher gegangen war. Geleitet wird die „Zigeunerstelle“ (ab Obergerichte, durch Gesetzesänderungen 1953: „Landfahrerzentrale“) von Beamten, die wäh- 9 und durch symbolische Reden und Akte rend der NS-Zeit führend an der mörderischen Ver- das unermessliche erlittene Unrecht und folgung der Sinti und Roma beteiligt waren. Die Tra- der tausendfache Mord nur nach und nach dition der polizeilichen Erfassung, Schikanierung und anerkannt und Schritte zur so genannten Kriminalisierung der Sinti und Roma wird hier – wie Wiedergutmachung gegangen wurden, auch sonst in Deutschland – bruchlos weitergeführt. sammelten sich diejenigen, die im seitheri- gen Umgang mit der Minderheit kein Ver- brechen und keinen Fehler sahen, in der 4 Nachkriegsgesellschaft und besetzten ihre Positionen in Wissenschaft, Justiz, Politik und Polizei, um den bis 1945 eingeschlage- nen Weg der Ausforschung, Erfassung und Verfolgung unter den Bedingungen des neuen Rechtsstaats weiterzubeschreiten und fortzuentwickeln. 6 Im Rahmen der vorliegenden Vorabver- öffentlichung werden nachfolgend bei- spielhaft einige Abschnitte auf den beiden Wegen dargestellt: dem der erfolgreichen Zwei Wege: Anerkennung und dem der fortgesetzten Verfolgung. Schrittweise Anerkennung 34 35
Nur sehr wenige während des Nationalsozialismus als „zigeunerisch“ verfolgte Menschen erhalten Entschädi- 1 gungszahlungen für das ihnen zugefügte Unrecht. Abge- sehen von den bürokratischen Hürden für Entschädigungs- anträge (z. B. Antragsfristen; Beweislast der Antragsteller bei oftmals fehlenden Unterlagen) gilt es für die zuständi- gen Ämter und Gerichte keineswegs als selbstverständlich, dass die Verfolgung der Sinti, Jenischen und Roma „rassi- sche“ Gründe hatte. Sehr häufig wird unterstellt, sie seien 9 als „Kriminelle“ oder „Asoziale“ zu Recht verfolgt worden. Als Sachverständige werden häufig Polizei-„Experten“ he- rangezogen, die schon während der NS-Zeit an der Verfol- gung von Sinti, Jenischen und Roma beteiligt waren. 4 26. April: Der Süddeutsche Länderrat verabschiedet das „Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialisti- schen Unrechts“. Damit beginnt die bundesdeutsche „Wiedergutmachungs“-Gesetzgebung, zunächst durch einzelne Landesgesetze. Bundesweite Vereinheitlichun- gen erfolgen durch das Bundesergänzungsgesetz von 1953 und das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 9 1956. Alle Regelungen beinhalten, dass Menschen, die unter dem NS-Regime aus „rassischen“ Gründen verfolgt wurden und dadurch an Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder beruflichem Fortkommen geschädigt wurden, vom Staat hierfür entschädigt werden sollen. 36 37
Zwei Wege: 19. Mai 1953: Das Oberlandesge- richt München bestätigt die Ablehnung 1 1 Fortgesetzte Ausgrenzung eines Entschädigungsantrages mit der Begründung, die 1940 erfolgte (vom Gericht als „Umsiedlung“ bezeichnete) Deportation von Sinti in das General- gouvernement sei keine „Verfolgung aus Gründen der Rasse“ gewesen, und ihre dortige Internierung sei wegen der 9 9 Spionagegefahr erfolgt, die von den § umherziehenden Sinti und Roma ausge- gangen sei. 5 5 Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main stellt in einem Entschädigungs- verfahren fest: „Zigeuner gehören zu den rassisch Verfolgten.“ Die „rassische“ Verfolgung habe bereits 1935 begonnen (nicht erst während des Krieges, wie von anderen Gerichten und Wiedergutma- 2 3 chungsämtern vielfach behauptet wird). Zwei Wege: Schrittweise Anerkennung 38 39
7. Januar 1956: Der Bundesgerichtshof (BGH) kommt in einem Grund- satzurteil zu dem Schluss, dass nur solche Verfolgungsmaßnahmen 1 gegen Sinti und Roma, die nach dem 1. März 1943 stattgefunden ha- ben, unter Umständen als „rassische Verfolgung“ gelten und somit zu Entschädigungszahlungen berechtigen könnten (d. h. nach dem Stich- tag zur Durchführung von Heinrich Himmlers „Auschwitz-Erlass“ vom Ehemaliges Erbgroßherzogliches 16. Dezember 1942). Palais, heute Hauptgebäude des BGH, Karlsruhe, 2012. Alle zuvor stattgefundenen Verfolgungsmaßnahmen hätten ihre 9 Begründung nicht in der „Rasse“ als solcher gehabt, sondern in den „asozialen Eigenschaften der Zigeuner“. Die Deportationen des Jah- res 1940 seien lediglich eine „militärische oder sicherheitspolitische Maßnahme“ gewesen. Zur Begründung stützt sich der BGH distanzlos auf den Wortlaut der betreffenden NS-Verordnungen. Dieses Urteil bestimmt die Rechtsprechung bis 1963. 5 6 40 © ComQuat. CC BY-SA 3.0. 41
Zwei Wege: Dezember: Der Düssel- dorfer Kriminalobermeister 1 1 Fortgesetzte Ausgrenzung Hans Bodlée schreibt in der Fachzeitschrift ‚Krimi- nalistik‘ über sogenannte „Landfahrer“, es handle sich bei ihnen um „Zigeuner- mischlinge mit Elternteilen deutschblütiger, jüdischer, 9 9 aber auch kombinierter Zu- sammensetzung, letztlich also Mischvolk“, bei dem „ein Konzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnen sein dürfte“. 6 6 18. Dezember: Wachsender Widerspruch ge- gen das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1956 führt zu einem neuen Urteil: Der BGH erkennt nun an, dass auch Verfolgungsmaßnah- men ab 1938 als „rassische“ Verfolgung in Frage kämen. Daraufhin erhalten Sinti und Roma, deren Entschädigungsanträge abgelehnt worden sind, 2 3 die Möglichkeit, bis zum 31.12.1969 eine Wieder- aufnahme zu beantragen. Zwei Wege: Schrittweise Anerkennung 42 43
Rolf Holle, Abteilungsleiter im Bundeskri- minalamt (BKA) und vor 1945 SS-Haupt- 1 1 sturmführer, definiert in Richtlinien für die polizeiliche Kriminalstatistik: „Landfahrer sind Personen, die aus eingewurzeltem Hang zum Umherziehen mit Fahrzeu- gen, insbesondere mit Wohnwagen oder Wohnkarren, oder sonst mit beweglicher © Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Habe im Lande umherziehen.“ 9 9 7 8 Februar: Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma als Dachverband und politische Interessenvertretung unter Vorsitz von Romani Rose. 17. März: Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) empfängt eine Delegation des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Schmidt erklärt dabei: „Den Sinti und Roma ist durch die 0 2 NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wur- den aus rassischen Gründen verfolgt […]. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt.“ Damit wird der Porajmos erstmals von einer Bundesregierung offiziell © B. Weinrich 2018. als rassistisch motivierter Völkermord anerkannt. 44 45
Zwei Wege: 24. Juli: Der kulturpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im 2 2 Fortgesetzte Ausgrenzung Berliner Abgeordnetenhaus, Uwe Lehmann-Brauns, lehnt eine Errichtung des geplan- ten Mahnmals für die Opfer des Völkermords an den Sinti und Roma im Zentrum Ber- lins mit der Begründung ab, 0 0 das Stadtzentrum dürfe „keine © J. Michelsen 2014. Gedächtnismeile“ werden. Die Fraktionen von Grünen und SPD hingegen befürworten ei- nen Standort in der Nähe des geplanten (2005 eingeweihten) Holocaust-Mahnmals. 0 0 19. Dezember: In Berlin wird mit dem Bau des Mahnmals für die im Nationalsozia- lismus ermordeten Sinti und Roma nach einem Entwurf des israelischen Künstlers Dani Karavan an einem zentralen Stand- ort im Tiergarten begonnen. Zwei Wege: Schrittweise Anerkennung 46 0 8 47
© 2019 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 10. Juli: In Detmold wird eine Sinti-Familie, die mit be- hördlicher Genehmigung ihr Wohnwagenquartier auf 2 2 einem Parkplatz aufgeschlagen hat, von einer Gruppe Jugendlicher lautstark beschimpft und mit Plastikkugeln aus Softair-Waffen beschossen. Sie verlässt daraufhin vorzeitig den Ort. 0 0 1 1 Zoni Weisz. 27. Januar: In der Gedenkstunde 24. Oktober: Das Denkmal für die im Nationalsozialismus des Deutschen Bundestages zum ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin wird feier- Holocaust-Gedenktag liegt der lich eingeweiht. Bei der Einweihung sprechen u. a. der Schwerpunkt erstmals auf der Ver- Porajmos-Überlebende Zoni Weisz und Bundeskanzlerin folgung und Ermordung der Sinti Angela Merkel (CDU). und Roma. Gastredner ist der Poraj- mos-Überlebende Zoni Weisz. Er 1 2 berichtet vom eigenen Überleben © J. Michelsen 2014. als Einziger seiner Familie und weist nachdrücklich auf die Kontinuitäten von Verfolgung und Diskriminie- rung nach 1945 hin. Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. 48 49
Zwei Wege: 3. September: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes präsentiert eine umfangreiche Studie über 2 2 Fortgesetzte Ausgrenzung 60. Sqad. SAAF, Sortie No. 60/PR288 - british government, 4. April 1944. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma in Deutschland. Demnach gibt es zwar eine große Akzeptanz für Gedenken an die an Sinti und Roma verübten NS-Verbrechen, es werden ihnen aber gleichzeitig klischeehafte Merkmale zugeord- net. 31 Prozent der Befragten glauben, sie könnten Sinti und Roma äußerlich erkennen. Ebenso viele 0 0 geben an, dass sie ihnen als Nachbarn mehr oder weniger unangenehm wären. Im Vergleich zu ande- ren Minderheitenkategorien (z. B. Muslime, Asylsu- chende, „Schwarze“) wird ihnen die geringste Sym- pathie entgegengebracht. Sie werden vielfach als „fremd“ und „bedrohlich“ wahrgenommen. Das „Zigeunerlager“ (gelb hervorgehoben) im KZ Auschwitz-Birkenau, Grundlage: Luftbild der Royal Air Force von 1944. 1 1 15. April: Das Europa-Parla- ment erklärt den 2. August (Auf- lösung des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau und Er- mordung der noch lebenden Insassen 1944) zum Europäi- Zwischen Gleichgültigkeit schen Holocaust-Gedenktag 4 5 und Ablehnung für Sinti und Roma. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma Zwei Wege: Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Schrittweise Anerkennung Zentrum für Antisemitismusforschung Institut für Vorurteils- und Konfliktforschung e. V. 50 51
Juni: Eine Forschungsgruppe der Universität Leipzig, die seit 2002 eine Langzeitstudie über autoritäre und rechtsex- 2 2 treme Einstellungen in Deutschland durchführt („Leipziger Mitte-Studien“), veröffentlicht die Ergebnisse ihrer aktuel- len Befragung. Sie ergibt u. a.: Von den Befragten sind 58,5 Prozent der Ansicht, Sinti und Roma würden zur Kriminalität neigen; von den SPD-Wählern: 56,6 Prozent, von den Grü- nen-Wählern: 41,8 Prozent, von den Linken-Wählern: 39,2 Prozent. 49,6 Prozent befürworten die Verbannung von Sinti 0 0 und Roma aus den Innenstädten, und 57,8 Prozent möchten 31. August 2017 sie nicht in ihrer Gegend haben. Alle diese Werte sind im Gemeinsame Erklärung von Bundespolizei und Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: Schutz nationaler Minderheiten besonderes Anliegen der Bundespolizei Vergleich zur vorherigen Befragung im Jahr 2014 gestiegen. Die Autoren konstatieren in der „Mitte der Gesellschaft“ eine Nach dem Tag der offenen Tür im Bundesministerium des Innern am 26. und 27. August 2017 hatte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schwere Vorwürfe gegenüber dem BMI und der Zunahme autoritärer Aggressionen gegenüber Sinti, Roma, Bundespolizei erhoben. Nach einem ausführlichen Telefongespräch zwischen dem Vorsitzenden des Zentralrates, Romani Rose und dem Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann, wurde Muslimen und Asylsuchenden sowie allgemein eine ver- übereinstimmend erklärt, daß in der Bundesrepublik Deutschland die rechtsstaatlichen Kriterien für alle Bürger gleichermaßen zu gelten haben. stärkte Polarisierung und Akzeptanz für gewaltsames Vor- gehen. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und der Präsident der Bundespolizei sind 1 1 sich einig, daß es die selbstverständliche Aufgabe der Polizeibehörden in unserem Land ist, vor Kriminalität zu warnen und Straftäter ohne Ansehen der Person zu verfolgen. 9. Dezember: Auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin 31.Dieter August: Romann erklärteInnach einer gemeinsamen den erhobenen Erklärung Vorwürfen, daß selbstverständlich die von Bun- Staatsbürgerschaft eines jeden Bürgers nicht dadurch in Frage gestellt werden darf, indem die wird beschlossen, dass die Grabstätten von Sinti und Roma, despolizei und derZentralrat Abstammung zum Kriterium erklärt polizeilichen Arbeit gemacht wird. Bundespolizeiprä- die unter dem NS-Regime verfolgt wurden, auf Dauer erhal- sident Aus diesemDieter Romann, dass Grund hat die Innenministerkonferenz die (IMK) bereits Staatsbürgerschaft im Oktober 2007 erklärt : „Das geltende Recht - Grundgesetz, Landesverfassung und Europäische Konvention zum Schutz der ten werden sollen. Die Kosten sollen je zur Hälfte von Bund eines Bürgers nicht dadurch infrage Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) - verbietet es, Menschen aufgrund gestellt ihrer Rasse, werden und Ländern getragen werden. Der Zentralrat Deutscher Sinti dürfe, dass die Abstammung zum Kriterium polizeili- Hautfarbe, Abstammung oder religiösen Herkunft zu benachteiligen. Nach dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, das in und Roma hatte sich hierfür seit Jahren eingesetzt. cher Arbeit Deutschland gemacht unmittelbar geltendes Rechtwerde. zu einer nationalen Minderheit verboten. „Es ist aus ist, ist jede Diskriminierung für unsdereine Gründen Selbst- Zugehörigkeit verständlichkeit, dass Vorgaben jedeals Ausgestaltung Form einer gesonderten 6 7 Die Polizei sieht nicht nur diese rechtlichen der Menschenwürde, sondern fühlt sich bei ihrem Handeln und Auftreten und nach ihrem Selbstverständnis und mit dem ethnischen Erfassung Blick auf die historische von dem Verantwortung insbesondere SintiSchutz und Roms von Minderheiten durch die verpflichtet.“ Bundespolizei Dieter Romann und Romani Rose ausgeschlossen werden zeitnah zu einem Gespräch ist“, sozusammentreffen, in Potsdam der Bundes- um Notwendigkeit und Möglichkeit zukünftiger Kooperation zu erörtern. polizeipräsident. Zur weiteren Vertiefung des Dialo- ges besucht der Vorsitzende Dieter Romann, Präsident Bundespolizei des Zentralrats, Romani Romani Rose, Vorsitzender Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Rose, den Bundespolizeipräsidenten am 18. Oktober 2017 in dessen Dienststelle. 52 53
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