EXOSKELETTE IN PRODUKTION UND LOGISTIK Grundlagen, Morphologie und Vorgehensweise zur Implementierung - TÜV Austria
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
EXOSKELETTE IN PRODUKTION UND LOGISTIK Grundlagen, Morphologie und Vorgehensweise zur Implementierung In Kooperation:
inhalt 1 Motivation: Warum Exoskelette? 4 2 Gesundheit und Krankheitsursachen 5 2.1 Demografischer Wandel in Österreich 5 2.2 Risikofaktor körperliche Arbeit 6 2.3 Krankenstände als Resultat in Österreich 7 3 Exzellenz in der Arbeitsgestaltung 8 3.1 Nachhaltige Arbeitsgestaltung 9 3.2 Innovationstrends der Arbeitsgestaltung 10 3.3 Assistenzsysteme im Arbeitssystem der Zukunft 11 4 Technologie Exoskelett 13 4.1 Technische Funktions- und Wirkweisen und sowie Grundkonzepte 13 4.2 Marktübersicht 13 4.3 Morphologie 14 4.4 Fazit zur Anwendung von Exoskeletten in der Industrie 15 5 Safety und Security 17 5.1 Normen und Richtlinien 17 5.1.1 Übersicht der Normen und Richtlinien für Exoskelette 17 5.1.2 Anforderungen an die Entwicklung von Exoskeletten 18 5.1.3 Anforderungen für Anwender von Exoskeletten 18 5.2 Gefährdungsbeurteilung und Methoden zur Absicherung 19 5.2.1 Kompatibilität mit Persönlicher Schutzausrüstung (PSA) 19 5.2.2 Arbeitsplatzgestaltung 19 5.2.3 Security in Design und Anwendung 20 6 Einsatz und Anwendung 21 6.1 Use-Case-Analyse in ausgewählten Unternehmen 22 6.1.1 HARTL HAUS Holzindustrie GmbH 24 6.1.2 ENGEL AUSTRIA GmbH 26 6.1.3 Wacker Neuson SE 28 6.2 Fazit zu den Exoskeletten 30 6.2.1 Fazit Exoskelett Paexo Shoulder der Firma Ottobock 30 6.2.2 Fazit Exoskelett Laevo 30 6.3 Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken 31 6.4 Vorgehen und Empfehlungen zur Einführung 31 7 Quick-Check zur industriellen Potenzialbestimmung 33 8 Fazit und Ausblick 36 9 Literaturverzeichnis 37 2
EXOSKELETTE IN PRODUKTION UND LOGISTIK Grundlagen, Morphologie und Vorgehensweise zur Implementierung Dipl.-Wirtsch.-Ing. Philipp Hold Fabian Ranz MSc. Fabian Holly BSc. Fraunh o fer A u s tri a G eschäf tsb e r eic h P r od u k t i on s - u n d L ogistikm a n a geme n t G eschäf tsb e r eic h A d va n c e d In d u s t r i a l M a n a geme n t Dipl.-Ing. Merim Cato Dipl.-Ing. Alexandra Markis Ing. Andreas Oberweger TÜV AUSTR I A G eschäfts fel d I n d us t r y & E n e r g y Ing. Wolfgang M. Baumann a wb Sc h rau b tec h n ik - u n d In d u st r ie b e d a r f G mbH 3
1 Motivation: Warum Exoskelette? A u to mati s i e r u n g , R o b o t e r, D ig it a lisier ung. Dies e Sc hlagw ör t er s ind allgegenw är t ig in der I ndus- tri e, u n d vi e le ro r t s e r le ic h t e r n n e u e n Tec hnologien bereit s die Auf gaben am Ar beit s pla tz. An- s tren g en d e m a n u e lle T ä t ig k e it e n n e hm en jedoc h noc h im m er einen großen Ant eil in Produkti on u n d L o g i s ti k e in . M it a r b e it e r in n e n u nd M it ar beit er in Unt er nehm en w erden vor dies em Hi nter- g ru n d z u n ehm e n d d ire k t m it n e u e n As s is t enzs ys t em t ec hnologien, den s ogenannt en Exoskel et- ten , au s g erü s t e t . D ie se a m K ö r p e r g e t r agenen St üt zs t r ukt uren reduzieren durc h elekt r ische oder mec h an i s c h e U n t e r s t ü t z u n g d ie a u f den M it ar beit er innen und M it ar beit er w ir kende Belastung u n d verri n g e r n G e f a h re n v o n Ve r le t z ungen durc h kör per lic he Beans pr uc hungen. Exoskelette haben sich als hochtechnische Hilfsmittel in der Laut David Minzenmay, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut Rehabilitation etabliert. Doch zunehmend setzt sich die Techno- für Produktions- und Automatisierungstechnik (IPA), summie- logie auch in der Arbeitswelt der Produktion durch. In Produk- ren sich Krankenstände aufgrund von MSE in Deutschland auf tions-, aber auch in Logistikbereichen sorgen Exoskelette dafür, rund 125 Mio Tage pro Jahr, was einen Wertschöpfungsverlust dass körperliche Aktivitäten erleichtert werden. In der Produkti- von rund 22,7 Mrd € verursacht. Unter Berücksichtigung die- on und Logistik ist die physische Belastung auf Mitarbeiterinnen ser Zahlen relativiert sich die Investition für den Arbeitgeber. und Mitarbeiter oft sehr hoch. Diese gefährdet langfristig nicht Eine Studie von ABI Research prognostiziert für das Jahr 2025 nur die Gesundheit, sondern auch die Produktivität und Effizi- ein potenzielles Marktvolumen für Exoskelette von 1,8 Mrd $. enz der Mitarbeiter. Besonders leistungsgewandelte Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter überschreiten oft ihre Belastungsgrenze, Was lange Zeit nur Science-Fiction war, findet zunehmend z. B. wenn schwere Gegenstände zu bewegen sind. Durch seinen Weg in die Realität. Neue Technologien im Bereich der den Einsatz von Exoskeletten sind vorhandene körperliche Sensorik sowie der Digitalisierung ermöglichen eine Kombina- Beschwerden besser ausgleichbar, und Haltungsschäden sowie tion aus Roboter und Mensch und schaffen neue Anwendun- körperliche Verschleißerscheinungen sind von Anfang an auf ein gen auch in Produktion und Logistik. Im industriellen Bereich Minimum reduzierbar. Wenn Arbeitsplätze aufgrund örtlicher befinden sich die Exoskelette noch in einem frühen Entwick- Gegebenheiten nicht ergonomisch optimierbar sind, hilft das lungsstadium. Doch erste Systeme haben bereits Serienreife Exoskelett, ein Gleichgewicht herzustellen, indem bestimmte erlangt, und erste Industrieunternehmen beginnen, diese Körperregionen stabilisiert und Kraftanstrengungen verringert Systeme im laufenden Betrieb einzusetzen. werden. Hier gibt es viele Anwendungsmöglichkeiten. In diesem Whitepaper wird aufgezeigt, in welchen Anwen- Nach wie vor befürchtete hohe Anschaffungskosten hindern dungsbereichen Exoskelette bereits einsetzbar sind, was bei derzeit Unternehmen, sich dem Thema Exoskelette anzuneh- der Implementierung und Nutzung vor allem im Hinblick auf men. Eine Studie der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt das Thema Safety und Security zu berücksichtigen ist und wel- (AUVA) aus dem Jahr 2018 zeigte jedoch, dass in Österreich che Erfahrungen erste Anwendungsunternehmen im Rahmen 21,4 % aller Krankenstandstage auf eine Erkrankung des einer Kurzstudie gesammelt haben. Es hilft vor allem Klein- Muskel-Skelett-Systems (MSE) zurückzuführen sind. Durch- und Mittelbetrieben, einen effizienten Einstieg in das Thema schnittlich fallen auf jeden Krankenstand 15,8 Kranken- Exoskelette in Produktion und Logistik zu finden. standstage. Vor allem die Beschäftigte und der Beschäftigte der Altersgruppe 50 bis 64 Jahre sind dabei betroffen. Das entspricht einem Drittel aller Ausfälle. 4
2 Gesundheit und Krankheits- ursachen Einen der zentralen Trends in Europa stellt der demografische Wandel dar, welcher im Folgenden auf die Entwicklung der Strukturen von Altersgruppen, sowie das Verhältnis von Geschlechter n bezogen wird. Statistik Austria zeigte auf, dass sich das Durchschnittsalter in Österreich allein in den letzten zehn Jahren um 1,6 Jahre erhöht hat. Folgerichtig führt diese Entwicklung auch zu einem höheren Durchschnittsalter Beschäftigter in österreichischen Industrieunter nehmen (Quelle: Statistik Austria, 2019a). Bereits heute ist der Begriff des sogenannten leistungsgewandelten Mitarbeiters weite verbreitet. Dieser Begriff beschreibt nach Adenauer (2004) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, welche aufgrund körperlicher-, verletzungs- oder altersbedingter Einschränkungen ihre Arbeitsaufgabe gar nicht mehr oder nur teilweise ausführen können). Der Zusammenhang zwischen dem Demografischen Wandel, der leistungsgewandelten Mitarbeiter sowie der hohen Anzahl der Kranken- stände, vor allem aufgrund von Muskel-Skeletterkrankungen in Österreich, wird vor dem Hintergrund der Notwendigkeit ergonomischer Arbeitssystemgestaltung im Folgenden dargestellt. gesundheit und krankheitsursachen 2.1 Demografischer Wandel in aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter zwischen 30 Österreich und 44 Jahren noch 38,9 %, wird dieser Anteil bis zum Jahr 2050 auf 35,4 % gesunken sein, während sich der Anteil aller erwerbs- Aktuelle demografische Untersuchungen in Österreich zeigen tätigen Personen über 45 Jahre von 36,1 % im Jahr 2011 auf 41,8 auf, dass die Durchschnittsbevölkerung in Österreich auch in % im Jahr 2050 erhöhen wird (Quelle: Statistik Austria, 2019c). den kommenden Jahren stetig älter wird. Von 2011 bis 2060 Entwicklung der Erwerbspersonen 2017 bis 2080 wird der Prozentsatz der über 45-Jährigen von 36,1 % auf nach breiten Altersgruppen (laut Trendvariante) 5,0 in Mio 41,8 % ansteigen. 4,5 Lebensjahre 4,0 Männer 99 Frauen 95 3,5 90 3,0 85 80 2,5 75 70 2,0 65 1,5 60 55 1,0 50 0,5 45 40 0,0 35 2017 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 30 2060 50-Jährige und Ältere 30- bis 39-Jährige 25 2030 40- bis 49-Jährige 15- bis 29-Jährige 20 15 2018 10 Abbildung 2: Erwerbsprognose 2018 (Quelle: Statistik Austria, 2019c). 5 0 80 000 60 000 40 000 20 000 0 0 20 000 40 000 60 000 80 000 Personen Personen Es ist als zentraler Einfluss auf österreichische Produktionsunterneh- men festzuhalten, dass mit stetig steigender Zunahme des Anteils Abbildung 1: Bevölkerungspyramide 2018, 2030, 2060 (Quelle: Statistik Austria, 2019b). fazit älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb zu rechnen Diese Entwicklung hat einen signifikanten Einfluss auf die erwerbs- ist, wodurch das Potenzial der gesamten Belegschaft stärker von entscheidender Bedeutung sein wird, als es heute der Fall ist. tätige Bevölkerung. Betrug im Jahr 2011 der prozentuale Anteil 5
2 Gesundheit und Krankheits- ursachen 2.2 Risikofaktor körperliche Arbeit Unfallgefahren. Schmerzen im Bereich des Rückens stellen mit Abstand das größte Gesundheitsproblem dar. Fast ein Drittel 42,5 Stunden leisten vollbeschäftigte Österreicher durch- der befragten Personen (32,2 % bzw. 329 100 Personen) gab schnittlich pro Woche (Eurostat, 2018). Allein dieser erbrachte an, im Jahr vor der Befragung arbeitsbedingte Rückenproble- Zeitaufwand macht die Arbeitswelt zu einem der zentralsten me gehabt zu haben, 19,0 % (193 600 Personen) berichteten Lebensbereiche des Menschen und prägt seine Lebensgestal- über Probleme mit dem Nacken, den Schultern, den Armen tung erheblich. Die im Beruf vorherrschenden Arbeitsbedin- oder Händen und 16,3 % (166 300 Personen) über Probleme gungen schaffen somit eine signifikante Grundlage nicht nur mit den Hüften, Beinen oder Füßen. Während Männer häu- für das mentale Wohlergehen, sondern auch für die körperli- figer über Rückenprobleme (33,7 % vs. 30,6 % der Frauen) che Gesundheit des Menschen. Arbeitsbedingte Belastungen oder Hüft- und Fußprobleme (18,1 % vs. 14,3 % der Frauen) haben jedoch auch das Potenzial, sich negativ auf die Mitar- klagten, gaben Frauen deutlich häufiger Probleme mit dem beiterinnen und Mitarbeiter auszuwirken. Die Konsequenzen Nacken, den Schultern, den Armen oder Händen an (23,4 reichen von der Entwicklung psychischer Probleme bis hin zu % vs. 14,9 % der Männer). Unter den befragten Erwerbs- körperlichen Erkrankungen. tätigen waren mit 26,8 % Land- und Forstwirte/-wirtinnen am häufigsten von arbeitsbedingten Gesundheitsproblemen Eine Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria betroffen, mit 19,5 % folgt die Baubranche sowie mit 18,5 im Jahr 2013 ergab, dass etwa 80 % aller Erwerbstätigen am % das Gesundheits- und Sozialwesen. Der Wirtschaftszweig Arbeitsplatz einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind (Statistik Warenherstellung befindet sich mit 14,7 % auf dem neunten Austria, 2013). So gaben etwa sieben von zehn Erwerbstäti- Platz, gereiht nach den Wirtschaftszweigen Dienstleistungen gen an, körperlichen Risiken und vier von zehn Erwerbstäti- (17,8 %), Beherbergung und Gastronomie (16,7 %), Verkehr gen, psychischen Risiken am Arbeitsplatz ausgesetzt zu sein. und Lagerei (16,3 %), öffentliche Verwaltung, Verteidigung Die häufigsten körperlichen Erkrankungsrisiken sind hierbei und Sozialversicherung (15,7 %), Bergbau und Gewinnung Überanstrengung der Augen, ergonomische Risiken und von Steinen und Erden (14,7 %). 0% 10 % 20 % 30 % 40 % fazit Knochen-, Gelenk- oder Muskelproblemen (Rücken) 32,2 % Knochen-, Gelenk- oder Muskelprobleme (Nacken, Schulter, Arme, Hände) 19,0 % Knochen-, Gelenk- oder Muskelprob- leme zählen zu den häufigsten arbeits- Knochen-, Gelenk- oder Muskelprobleme (Hüfte, Beine, Füße) 16,3 % bedingten Gesundheitsproblemen auch Stress 5,7 % in Österreich. Diese Gesundheitspro- Andere Gesundheitsbeschwerden 5,0 % bleme äußern sich vor allem in Form Depressionen, Angstzustände 4,9 % von Rückenschmerzen und weiteren Atemprobleme, Probleme mit der Lunge 4,4 % Muskel-Skeletterkrankungen (MSE) Herzkrankheit, Herzinfarkt, andere Herz-Kreislauf-Probleme 4,4 % von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 2,2 % in Produktionsunternehmen. Zu MSE Magen-, Leber-, Nieren- oder Verdauungsbeschwerden zählen Erkrankungen der Wirbelsäule, Probleme mit dem Gehör 1,5 % der Gelenke sowie deren muskuläre Infektionskrankheiten (Viren, Bakterien, Pilze) 1,5 % und sonstige Strukturen. Darüber Überanstrengungen, Ermüdung der Augen 1,3 % hinaus hängen sie eng mit physischen Kopfschmerzen 1,0 % Fehlbeanspruchungen beziehungswei- Hautprobleme 0,8 % se biomechanischen Überlastungen In Prozent der Erwerbstätigen mit Gesundheitsproblem(en) zusammen. Abbildung 3: Arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme (Quelle: Statistik Austria, 2013). 6
2.3 Krankenstände als Resultat 100 Sonstige Krankheiten in Österreich 90 80 Psychische und Verhaltensstörungen 70 Krankheiten des Anteile in Prozent Kreislaufsystems Rückenschmerzen stellen die häufigsten Gesundheitsbe- 60 Krankheiten des 50 einträchtigungen dar. Sie gelten auch weltweit als „Global- Atmungssystems 40 Krankheiten des Burden-of-Disease-Faktor Nr.1”; rund 1,76 Mio Menschen in 30 Verdauungssystems Österreich litten im Jahr 2014 daran. Dicht dahinter folgen 20 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems Allergien (rund 1,75 Mio Menschen), Bluthochdruck (rund 1,5 10 Verletzungen und Vergiftungen 0 Mio Menschen) und Nackenschmerzen (rund 1,3 Mio Men- 1994 2000 2005 2010 2017 Jahre schen) (BMGF, 2016). Abbildung 4: Krankenstandstage nach Krankheitsgruppen (WIFO, 2018). Sowohl Rücken- als auch Nackenschmerzen können durch Muskel-Skeletterkrankungen ausgelöst werden. Darunter Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Soziales, Ge- gesundheit und krankheitsursachen werden Erkrankungen des sogenannten Stütz- und Bewe- sundheit, Pflege und Konsumentenschutz (siehe https://www. gungssystem, sowie die der Muskeln, Gelenke, Sehnen und sozialministerium.at/Ministerium/Kontakt/Impressum.html) und Bänder verstanden. Zu den arbeitsbedingten Muskel-Skeletter- der Statistik Austria betrugen 2015 die volks- und betriebswirt- krankungen zählen unter anderem (DGUV, 2019): schaftlichen Kosten im Zusammenhang mit Unfällen und Krank- n Bandscheibenbedingte Wirbelsäulenerkrankungen heiten unselbstständiger Beschäftigter rund 9,1 Mrd €, wobei n Gonarthrose rund 3,5 Mrd € direkte Kosten (direkte Zahlungen) und rund 5,6 n Karpaltunnel-Syndrom Mrd € indirekte Kosten (Wertschöpfungsverluste, u. a. aufgrund n Hypothenar-Thenar-Hammer-Syndrom geringerer Produktivität) darstellen (WIFO, 2018). Abbildung 5 verdeutlicht die Krankenstandsquote nach Alter und Geschlecht. Über alle Altersgruppen hinweg lassen sich 21,4 % aller Krankenstandstage in Prozent des Jahresarbeitsvolumens Krankenstandstage und 15,8 % aller Krankenstände auf 8 eine Erkrankung des Muskel-Skeletts-Systems zurückführen. 7 Ein Drittel aller krankheitsbedingten Ausfälle aufgrund von 6 Muskel-Skeletterkrankungen (MSE) betrifft die Beschäftigte 5 und der Beschäftigte in der Altersgruppe 50 bis 64 Jahre. Nur 4 10 % der Krankenstandstage aufgrund von MSE fallen auf 3 junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (AUVA, 2019). 2 1 0 Bis 19 20–24 25–29 30–34 35–39 40–44 45–49 50–54 55–59 60–64 65 und älter Männer Altersgruppen in Jahren Frauen Abbildung 5: Krankenstandsquote nach Alter und Geschlecht (WIFO, 2018). Ergonomische Arbeitssystemgestaltung beinhaltet somit nicht nur fazit das Potenzial, die „Arbeitsbedingungen für Industrieunternehmen“ zu verbessern, sondern auch die volks- und betriebswirtschaftlichen Kosten zu senken und dadurch die Produktivität zu erhöhen. 7
3 Exzellenz in der Arbeits- gestaltung Gru n d l eg en d st e h t d e r B e g r iff A r b e it s ges t alt ung als ein Sam m elbegr iff f ür alle M aßnahmen und S trateg i en z u r G e s t a lt u n g v o n A r b e its s ys t em en, Ar beit s abläuf en und Ar beit s bedingungen. Es wi rd z wi s c he n k o r re k t iv e r, p r ä v e n t iv e r, pros pekt iver, diff erenzieller und dynam is c her Arbei tsge- s tal tu n g u n t e r s c h ie d e n (U lich , 1 9 9 4 ). Korrektive Arbeitsgestaltung wird notwendig, wenn ergo- Bei allen Maßnahmen und Strategien zur Gestaltung von nomische, physiologische, psychologische und sicherheits- Arbeitssystemen steht der Mensch neben betriebswirtschaft- technische Anforderung in der Planung nicht oder nicht lichen Aspekten im Zentrum der Betrachtung. Humanität und angemessen berücksichtigt wurden. Präventive Arbeitsgestal- Betriebswirtschaftlichkeit haben die Aufgabe, im Sinne einer tung beschreibt eine planerische Vorwegnahme möglicher ergonomischen Arbeitsgestaltung synchron miteinander zu physischer oder psychischer Schädigungen und Beeinträch- agieren. Zentrale Kriterien humaner Arbeitsgestaltung wurden tigungen am Arbeitsplatz. Wird im Vorfeld die präventive bereits von Rohmert (1984), von Bachmann (1978) und von Arbeitsgestaltung ausreichend berücksichtigt, ersetzt dies die Hacker (1980) aufgezeigt. Dabei stehen folgende Kriterien korrektive Arbeitsgestaltung weitgehend. Die prospektive Ar- im Zentrum: Ausführbarkeit, Erträglichkeit, Schadlosigkeit, beitsgestaltung bezieht sich auf Strategien zur Schaffung von Zumutbarkeit, Belastbarkeit, Beeinträchtigungsfreiheit, Zufrie- persönlichkeitsförderlichen Arbeitstätigkeiten, respektive das denheit, Einstellungs- und Persönlichkeitsförderlichkeit. Schaffen von Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung im Stadium der Planung von Arbeitssystemen. Differenzielle Nach Zwart et al. (1996) hängen physische Beanspruchungen Arbeitsgestaltung beschreibt das Bilden und Bereitstellen von von Körperhaltungen, den angewandten Kräften, den wir- gleichzeitigen Angeboten verschiedener Arbeitsstrukturen, kenden Arbeitsbedingungen, physischen Arbeitsbelastungen zwischen denen die Beschäftigten wählen können. Dynami- und von den individuellen Entscheidungsfreiräumen ab. Die sche Arbeitsgestaltung ermöglicht bestehende Arbeitsstruk- aus den Beanspruchungen resultierenden gesundheitlichen turen zu erweitern beziehungsweise neue zu schaffen, um Auswirkungen führen, wie das Altern, zu einer Änderung des einen Lernfortschritt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu physischen Arbeitsvermögens. Folgende Grafik stellt diese gewährleisten (Ulich, 1994). Zusammenhänge dar. Physische Belastung, Aktuelle Haltungen, Bewegungen, Kurzfristige physische Langfristige gesundheitliche Entscheidungsfreiräume Arbeitsbedingungen angewandte Kräfte Beanspruchung Auswirkungen Physisches Arbeitsvermögen Altern Abbildung 6: Zusammenhänge zwischen Altern und physischen Arbeitsbelastungen (Zwart et al.,1996). Auf welcher Grundlage eine nachhaltige Arbeitsgestaltung haltigen Beitrag für eine humane und gleichzeitig betriebs- basiert, sowie welche technischen Innovationen und Assistenz- wirtschaftliche Arbeitsgestaltung liefern, ist im Folgenden systeme, zu denen auch Exoskelette gehören, einen nach- dargestellt. 8
3.1 Nachhaltige Arbeitsgestaltung rischen Strukturen verknüpft. Das MTO-Konzept stellt den zent- ralen Bezugsrahmen zur Gestaltung von Arbeitssystemen dar. Nachhaltige Arbeitsgestaltung folgt einem nachhaltigen Produk- Durch das MTO-Konzept wird verdeutlicht, dass die Ge- tivitätsmanagement. Dieses wiederum folgt der Annahme, dass d soziale erfolgreiche Unternehmen sich unter sonst gleichen Bedingungen he un Um rlic we tü Markt Na lt kaum durch die Qualität der Ressourcen Technologie, Betriebs- mittel und Rohstoffe, jedoch grundlegend durch die Qualität der Mensch Ressource Mensch (die Beschäftigte und der Beschäftigte) und die Wirksamkeit der sie unterstützenden Organisation unterscheiden. Aufgabe Die Produktivitätsdefinition im klassischen Sinne ist demnach in- Organisation Technik sofern Mittel zum Zweck, als dass sie kein betriebswirtschaftliches Letztziel, jedoch ein Mittel zur Verbesserung der Wirtschaftlich- keit, Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit ist (Bokranz, 2012). Abbildung 8: Das MTO-Konzept: Mensch, Technik und Organisation in einer Wechselwir- Exzellenz in der Arbeitsgestaltung kungsbeziehung. Produktions- Langfristige Geschäfts- Innovations- vorbereitung und Businessziele strategie Marktstellung fähigkeit Implementierung staltung von Arbeitssystemen in Produktionsunternehmen Prozess- Leistung organisation ausschließlich dann zum angestrebten Erfolg führt, wenn Produktivität Beschäftigte Betriebsmittel Rohstoffe Qualitäts- menschliche, technische und organisatorische Aspekte in fähigkeit einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Dabei Leistung und Materialfluss und Leistung und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer Instandhaltung der Materialanforderungen Supply Chain werden folgende Schnittmengen unterschieden: Arbeits-/Sachmittel Lieferzeit und Kapazität und Auslastung Materialwert von Kapazitäten Verfügbare Kapazitäten und Auslastung von n Mensch und Technik: Diese Schnittmenge adressiert die Kapazitäten Materialeigenschaften Arbeitsorganisation und Marktwert Mensch-Maschine-Interaktion beziehungsweise die Schnittstel- le zwischen Mensch und Maschine. Abbildung 7: Erklärungsmodell Produktivität (Bokranz, 2012). Wie Abbildung 8 darstellt, ist der Mensch neben Technik n Mensch und Organisation: Diese Schnittmenge adressiert und Organisation das zentrale Stellglied zur Realisierung von die Rolle des Menschen im Arbeitssystem der Montage. Produktivität in Produktionsunternehmen. Dieser Zusammen- hang wird durch das sogenannte MTO (Mensch-Technik- n Technik und Organisation: Diese Schnittmenge adressiert Organisation)-Konzept verdeutlicht. Das MTO-Konzept ist als das soziotechnische System. Dies bedeutet die Organisation von soziotechnisches Analyse-, Bewertungs- und Gestaltungskon- Menschen (Werkern) und mit diesen verknüpften Technologien zept zu verstehen, in welchem Mensch, Technik und Organisa- im Arbeitssystem der Montage, welche in einer bestimmten Wei- tion im Hinblick auf die Erfüllung einer Arbeitsaufgabe in einer se strukturiert sind, um ein spezifisches Ergebnis zu produzieren. abhängigen Wechselwirkungsbeziehung zueinander stehen. Die Arbeitsaufgabe verknüpft dabei den sozialen mit dem techni- Bei der Gestaltung von Arbeitssystemen ist für synchroner Stei- schen Teil eines Arbeitssystems und verbindet den Menschen gerungen von humanorientierten und betriebswirtschaftlichen fazit mit organisatorischen Strukturen. Der Arbeitsaufgabe kommt Produktivitätseffekten stets das MTO-Konzept zu beachten. Dieses gilt ergänzend als Design-Grundsatz für die Implementierung und dabei eine zentrale Rolle zu, indem diese das soziale und Nutzung innovativer Technologien in Arbeitssystemen der Zukunft. technische Teilsystem sowie den Menschen mit den organisato- 9
3 Exzellenz in der Arbeits- gestaltung 3.2 Innovationstrends der Arbeits- bei qualitätskritischen Prozessen unterstützt. Die Integration gestaltung von Assistenzsystemen in klassische Montagesysteme führt zu einem steigenden Digitalisierungs- und Vernetzungsgrad, wo- Durch steigende Produktindividualisierung wird in der produ- durch Assistenzsystemen eine zentrale Rolle im Kontext Cyber- zierenden Industrie vermehrt das Konzept der sogenannten physische Montagesysteme zukommt. Exoskelette gliedern Mixed-Model-Montage verfolgt, mit dem Ziel kapazitätsaus- sich dabei in den Kontext von Assistenzsystemen ein. Durch lastend, flexibel und wandlungsfähig eine Vielzahl gleich- künstliche Exoskelette werden dabei vor allem anspruchsvolle artiger Produkte einer Produktfamilie, aber auch vermehrt individuelle Lösungen möglich, mit deren Hilfe leistungsge- unterschiedliche Produkte verschiedener Produktfamilien zu minderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Unterstützung montieren. Hierdurch resultiert eine zunehmende Komplexität erhalten. Die Forschung und Entwicklung zu Exoskeletten ist in Bezug auf die Koordination von Informations- und Material- vor allem in den USA und Japan fortgeschritten, in den USA flüssen. Vielfach geht mit dieser Form der Montagegestaltung auch für den militärischen Bereich (acatech, 2016). ein hoher Anteil von Montagetätigkeiten einher, deren Auto- matisierung nicht wirtschaftlich ist und vom Menschen durch- Cyber-physische Systeme (CPS) realisieren eine Verbindung geführt wird. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen zwischen der physikalischen und der digitalen Welt. Dabei den Anforderungen nach Flexibilität und Wandlungsfähigkeit bauen CPS auf eingebettete Systemen auf (engl. embedded des Konzepts der „Mixed-Model-Montage“ folgen, woraus systems), welche über einen Sensor Daten einer physikalischen ein erhöhtes Risiko für kognitive, psychische aber auch physi- Umgebung erfassen, diese mittels eines Mikroprozessors sche, Belastungen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verarbeiten und über Aktuatoren auf physikalische Vorgänge resultiert. Die Integration von Assistenzsystemen wirkt diesen einwirken. Sie sind mittels digitaler Netze miteinander verbun- Herausforderungen entgegen (Fast-Berglund et al., 2013). den und können auf weltweit verfügbare Daten und Dienste zugreifen. CPS sind als (technisch) nicht abgeschlossene Syste- Die allgemeine Zielsetzung von Assistenzsystemen ist, die Dis- me definiert und sind durch einen hohen Grad der Vernetzung krepanz zwischen der menschlichen Leistungsfähigkeit sowie zwischen der physischen, sozialen und virtuellen Welt gekenn- -fertigkeit und der von einer Arbeitsaufgabe geforderten zeichnet (Geisberger et al., 2012). Durch die Integration von Anforderung zu minimieren – mit dem Ziel, sowohl die Pro- CPS in Montagesystemen entstehen sogenannte Cyber-phy- duktivität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch die sische Montagesysteme (CPMS). Es wird vorausgesagt, dass des gesamten Arbeitssystems nachhaltig zu sichern. Assis- CPMS in der Lage sind, Herausforderungen volatiler Märkte tenzsysteme verfügen vor diesem Hintergrund über eine Art wirtschaftlich zu begegnen und gleichzeitig auf ergonomische Regelfunktion, indem sie die von einer Aufgabe geforderten sowie im Hinblick auf eine alters- und alternsgerechte Arbeits- Anforderungen mit der individuellen menschlichen Leistungs- gestaltung einzugehen (Dombrowski et al., 2013). fertigkeit ausgleichen (Spillner, 2015). Allgemein werden im Kontext der Montage zwei grundlegende Arten von Assistenz- systemen unterschieden: zum einen eine technische Assistenz, z. B. in Form kooperierender oder auch kollaborierender Robotiksysteme, und zum anderen in Form einer digitalen Assistenz (Informationsassistenz), welche den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Wesentlichen durch die Repräsentation von Informationen sowie durch elektronische Absicherung 10
Assembly Cell 3.3 Assistenzsysteme im Arbeitssystem der Zukunft Human Motion Intelligent Capture Equipment Intelligent Die Bandbreite von Auswahlmöglichkeiten an digitalen (Hold, Collaborative Containers Robot 2017) und technischen (Ranz, 2018) Assistenzsystemen für Digital Assisted die Produktion ist groß. Sie reicht vom Einsatz intelligenter Worker Informationssysteme mit Darstellungsformen, wie Augmented Autonomous Vehicle Reality, bis hin zu intelligenten Mensch-Roboter-Interaktionen in Fertigung, Montage und Logistik. Die Art des Assistenz- systems variiert dabei je nach Anforderungsniveaus der Arbeitsaufgaben, welche grundlegend wie folgt eingeteilt werden (BMAS, 2018): Niedrig: Systeme geben entweder reine Handlungsanwei- Exzellenz in der Arbeitsgestaltung Abbildung 9: Aspekte eines Cyber-physischen Montagesystems (Erol et al., 2016). n sungen für einfache Arbeitssituationen oder unterstützen die Assistenzsysteme werden in Arbeitssystemen der Zukunft einen Ausführung von Bewegungen. zentralen Gestaltungsgegenstand einnehmen. Neben digitalen, informatorischen Assistenzsystemen finden bereits heute vielfältige technische Assistenzsysteme, wie z. B. in Form von kooperativen n Mittel: Systeme können bei regelbasierten Entscheidungen und kollaborativen Robotiksystemen, Einzug in Produktionsunter- mittlerer Komplexität unterstützen und Empfehlungen an den fazit nehmen. Durch Exoskelette als weitere Form technischer Assistenz- Nutzer kommunizieren. systeme wird die Mensch-Maschine-Interaktion auf eine neue Stufe gehoben. n Hoch: Systeme können bei regelbasierten Entscheidungen hoher Komplexität bzw. bei auf Expertise basierenden Ent- scheidungen unterstützen und Empfehlungen an den Nutzer kommunizieren. n Variabel: Systeme können bei Handlungen und Entschei- dungen unterschiedlicher Komplexität unterstützen bzw. auch regelbasierte kognitive Tätigkeitsbestandteile übernehmen. Darüber hinaus lassen sich Assistenzsysteme in Wahrneh- mungsassistenzsysteme, Entscheidungsassistenzsysteme und Ausführungsassistenzsysteme einteilen (Klocke, 2017): n Wahrnehmungsassistenzsysteme sind: Arbeitshilfen, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mithilfe von Aug- mented Reality unterstützen (z. B. Datenbrillen oder Pick-by- Voice-Systeme). 11
3 Exzellenz in der Arbeits- gestaltung n Entscheidungsassistenzsysteme verwenden Echtzeit- Exoskelette werden unaufhaltsam als Assistenzsysteme in Arbeits- daten und erstellen so Prognosen bezüglich Prozessverhalten systemen der Zukunft Einzug halten. Die Diversität dieser Systeme bzw. Prozessergebnissen. wird Produktionsunternehmen genauso wie digitale und roboter- gestützte Assistenzsysteme vor die Herausforderung stellen, das richtige System für die richtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter n Ausführungsassistenzsysteme haben das Ziel, Arbeitsbe- in Bezug auf die richtige Unterstützung zu identifizieren. Dabei lastungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu reduzieren, gilt es, die Frage richtig zu beantworten, was bei der Auswahl von und assistieren somit auch in ergonomischer Hinsicht. Mit fazit Exoskeletten von zentraler Bedeutung ist und wie dabei vorgegan- dieser Art der Unterstützung lässt sich neben der Ergonomie gen werden kann, um humanorientierte und betriebswirtschaftliche Ziele gemeinsam zu erreichen. auch die Ausführungsgeschwindigkeit sowie die Präzision der Tätigkeit beeinflussen. In Arbeitsumgebungen, in denen viel gehoben, getragen oder über Kopf gearbeitet wird und technische Hilfsmittel wie Stapler oder Kräne aus technischen Gründen nicht anwendbar sind, stellt der Einsatz von Exoskeletten eine Möglichkeit dar, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Arbeit zu ent- lasten. Dieses Ausführungsassistenzsystem ist eine am Körper getragene Stützstruktur, die durch eine (elektro-)mechanische Unterstützung die Belastung auf den Körper oder auf Teile des Körpers reduziert und somit die Gefahr von Verletzungen verringert. Exoskelette als technische Assistenzsysteme eröff- nen dabei die Möglichkeit einer Verbesserung der Arbeits- sicherheit, besonders bei Tätigkeiten, bei denen aufgrund der Spezifik der Arbeitssituation, (z. B. Zugänglichkeit des Arbeitsbereichs, Art des Arbeitsmittels bzw. Arbeitsgegen- stands) bisher keine oder nur unzureichende technische Hilfs- mittel, z. B. beim Heben schwerer Lasten oder bei Arbeiten in Zwangshaltung, eingesetzt werden können. Exoskelette ermöglichen eine stärkere Entlastung des Muskel-Skelett- Systems bei spezifischen Tätigkeiten. Einschlägige wissen- schaftliche Begleitstudien, z. B. in den Bereichen Arbeits- medizin, Biomechanik/Arbeitsphysiologie, Sicherheitstechnik, stehen jedoch erst am Anfang (Ottobock, 2018). Doch ähnlich wie bei digitalen und robotergestützen Assistenzsystemen ist die Vielfalt des Marktangebots bereits stark ausgeprägt und stellt Produktionsunternehmen vor die Herausforderung, das richtige System, eine geeignete Aufgabe und die richtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Bezug auf die richtige Unterstützung zu identifizieren. 12
4 Technologie Exoskelett Be i Exo s kel etten ha n d e lt e s s ic h u m m e c h a nis c he G er üs t e, bes t ehend aus St reben, G elenken und Ac h s en , s o wi e – b e i a k t iv e n E x o sk e le t t en – Ac hs ant r ieben. Dies e ahm en den m ens c hlic hen Körperb au n ac h u nd w e rd e n v o m M e n s c h e n w ie ein Anzug angezogen oder ein Ruc ks ac k um ge- schna l l t. D as Gewi c h t d e r S t ü t z s t r u k t u r la s t et dabei, m it Aus nahm e von akt iven G anzkör per aus- f ührun g en , z u r Gän z e a m Tr ä g e r. D e sh a lb k om m en haupt s äc hlic h leic ht e M at er ialien w ie K uns t- st off e o d er A l u mi niu m z u m E in sa t z . 4.1 Technische Funktions- und Wirk- ein integrierter Akku in der Stützstruktur oder das Exoskelett ist weisen und sowie Grundkonzepte direkt am Stromnetz angeschlossen. Darüber hinaus kann der Antrieb auch pneumatisch erfolgen. Ähnlich wie bei elektrisch Grundsätzlich lassen sich Exoskelette hinsichtlich ihrer Art der betriebenen Varianten gibt es auch hierbei eine Unterteilung Kraftunterstützung in zwei Typen unterteilen: passive und in stationäre (Druckluftsystem) und instationäre (Gasflaschen) aktive Exoskelette. Passive Exoskelette unterstützen den Träger Versorgungen. anhand mechanischer Hilfsmittel wie z. B. durch Feder- oder Seilzugsysteme. Energie wird mechanisch mittels Federn 4.2 Marktübersicht Technologie Exoskelett gespeichert, wobei die potenzielle Energie, mit der die Federn bei einer bestimmten Bewegung eines Körperteils vorge- Der globale Markt für Exoskelette wächst kontinuierlich. spannt werden, in weiterer Folge den Mitarbeiterinnen und Während derzeit erst etwa 7 000 Exoskelette weltweit (Stand Mitarbeiter bei der Gegenbewegung unterstützt. Auftretende 1. Februar 2019) im Einsatz sind, wird für die kommenden Belastungen werden somit wie durch eine Art Gegengewicht Jahre ein rasantes Absatzwachstum prognostiziert. Der Absatz aufgefangen, Bewegungen werden in der Belastungsrichtung von 2015 bis 2017 stieg um jährlich etwa 40 % – von 2 500 infolgedessen erleichtert und der Komfort am Arbeitsplatz Einheiten im Jahr 2015 auf etwa 5 000 verkaufte Einheiten wird erhöht. Da diese Assistenzsysteme ohne den Einsatz von im Jahr 2017. 2025 sollen voraussichtlich bereits 1 100 000 Motoren, Sensorik sowie deren Stromversorgung arbeiten, ist Exoskelette verkauft werden (Statista, 2016). deren Aufbau meist deutlich einfacher als jener von aktiven Exoskeletten. Die Abbildung 10 gibt einen Einblick in das geschätzte Absatz- wachstum. Aktive Exoskelette bieten dem Anwender eine aktive mecha- 120 000 110 000 tronische Kraftunterstützung bei einzelnen oder kombinierten 100 000 physischen Belastungsfaktoren. Da sie pneumatisch oder durch 90 000 80 000 Motoren betrieben werden, über eine Stromversorgung verfü- 70 000 gen und meist modular aufgebaut und erweiterbar sind, weisen 60 000 50 000 sie eine wesentlich höhere Komplexität auf. Die Mechanismen 40 000 30 000 wirken an den Gelenken oder anderen neuralgischen Punkten 20 000 des Trägers und erlauben daher einen weitgehend höheren Un- 10 000 0 terstützungsgrad. Jedoch erhöht der kompliziertere Aufbau das 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 Eigengewicht des Anzugs stark. Die Energieversorgung erfolgt Abbildung 10: Absatz von Exoskeletten bis 2025 (Statista, 2016). bei aktiven Exoskeletten meist elektrisch. Entweder befindet sich 13
4 Technologie Exoskelett Eine Weiterentwicklung der zunächst primär für militärische konzipiert. Eine weitere Vorreiterrolle im Bereich industriell Anwendungen und den Einsatz in der Weltraumrobotik ent- einsatzfähiger Exoskelette übernimmt die ursprünglich mit wickelten Exoskelette fand für die Rehabilitation und Unter- Prothesen und orthopädischen Produkten bekannt gewordene stützung bewegungseingeschränkter Menschen statt. Deshalb Firma Ottobock mit Sitz in Duderstadt. Das im Oktober 2018 in bedient derzeit eine große Anzahl der sich auf dem Markt Serie gegangene passive Exoskelett Paexo Shoulder unterstützt befindenden Hersteller von Exoskeletten den Gesundheitssek- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor allem bei anstrengenden tor. Erst in jüngster Vergangenheit wurden Exoskelette auch Überkopfarbeiten in der Produktion und in der Montage. für Unternehmen der produzierenden Industrie interessant. Hier sind vor allem leicht anwendbare Exoskelette, wie z. B. der „Chairless Chair“ der Firma noonee oder das Gurtsystem „rakunie“ von Morita bereits in großer Zahl im Einsatz. © German Bionic Cray X © Paexo Shoulder der Fima Ottobock Abbildung 12: Beispiele für aktives und passives Exoskelett. Unterschiedlichen Konzipierungen, Funktionen, Anwendungs- bereiche und technische Ausprägungen von Exoskeletten werden im folgenden AbschnittMorphologie deutlich. 4.3 Morphologie Der Aufbau des Exoskeletts ist von der Anwendung sowie der Abbildung 11: Technologie- und Marktübersicht passiver und aktiver Exoskelette. zu unterstützenden Körperregion abhängig. Hierbei sind Exo- skelette in Bezug auf ihre Kraftunterstützung in zwei Typen zu Abbildung 11 zeigt diverse Hersteller, eingeteilt in die Bereiche unterteilen – passive und aktive Exoskelette. Abgesehen von der Medizin, Militär und Industrie. Nach eigenen Angaben brachte Unterscheidung zwischen diesen beiden Typen sind Exoskelette Anfang 2018 der Augsburger Robotikspezialist German Bionic nach dem aktuellen Kenntnisstand weiter zu unterteilen. als erster deutscher Hersteller ein aktives Exoskelett in Seri- enfertigung. Das German Bionic Cray X wurde speziell für die n Antrieb: Während aktive Exoskelette ihre Kraftunterstüt- manuelle Handhabe von schweren Gütern und Werkzeugen zung elektrisch oder pneumatisch erbringen, passiert dies bei 14
den passiven Varianten mechanisch, z. B. mittels Federn oder Dimension Ausprägung Seilsystemen. Grundprinzip n Energieversorgung: Passive Exoskelette benötigen keine Aktiv Passiv externe Energieversorgung. Bei aktiven Exoskeletten wird zwi- Antrieb schen mitzutragenden Elementen wie Akkus oder Gasflaschen Elektrisch Pneumatisch Mechanisch und stationären Versorgungen wie Stromnetz oder Druckluft- Energie- systemen unterschieden. versorgung/ speicherung Akku Druckluft Stromnetz Feder n Unterstützte Körperregionen: Bereits erhältliche Exoske- Unterstützte lette gibt es für Hände, Arme, Schultern, Rumpf sowie Beine. Körperregion Arme Hände Beine Schultern Rumpf n Unterstützungsart: Exoskelette werden je nach ihrer Unterstützungs- art Unterstützungsfunktion unterteilt: die zur Kraftunterstützung, Kraft Ausdauer Geschwindigkeit die zur Erhöhung der Ausdauer des Trägers und die für eine höhere Bewegungsgeschwindigkeit. Eigengewicht Technologie Exoskelett < 2,5 kg 2,5–5 kg > 5 kg n Gewicht: Aktive Exsoskelette wiegen aufgrund ihres kom- Einsatzbereich plexen Aufbaus (Sensorik, Motoren, Leitungen etc.) deutlich Fertigung Montage Logistik Versand Schulung mehr als die passiven. So wiegt z. B. das passive Exoskelett „rakunie“ von Morita nur 0,25 Kilogramm, das aktive Torso- Anwendungs- grund Modul „Active Trunk“ von Robo-Mate mit 11 Kilogramm Haltungskorrektur Überkopfarbeit Hebeunterstützung hingegen mehr als das 40-Fache. Abbildung 13: Morphologie passiver und aktiver Exoskeltte für den Einsatz in Produktion und Logistik. n Einsatzbereich: In Industrie und Produktion können Exo- skelette bei verschiedensten Tätigkeiten angewandt werden. 4.4 Fazit zur Anwendung von Exoskelet- Typische Einsatzbereiche sind einerseits die Fertigung sowie ten in der Industrie die Montage, andererseits die Logistik und der Versand. Auch zu Schulungszwecken wie z. B. beim Training der richtigen Die Anwendung von Exoskeletten in Produktion und Logistik Körperhaltung bei schweren Hebetätigkeiten (siehe Anwen- bewirkt eine Verbesserung der Arbeitssicherheit, insbesondere dungsgrund) eignen sich Exoskelette. bei Tätigkeiten, welche schweres Heben, Zwangspositionen oder lang andauernde Überkopfarbeiten fordern, und bei n Anwendungsgrund: Leichte, passive Exoskelette dienen denen aufgrund ihrer Arbeitssituation bis dato keine oder nur häufig zur Haltungskorrektur (beim Heben oder in Zwangsposi- bedingt technische Hilfsmittel eingesetzt werden konnten. tionen) oder als Abstützung des Gewichts von Werkzeugen bei Exoskelette reduzieren vor allem jene auf den Körper des Überkopfarbeiten (siehe Paexo Shoulder von Ottobock). Aktive Anwenders wirkenden Belastungen, welche zu arbeitsbeding- Exoskelette bieten die Möglichkeit, den Träger bei Hebearbeiten ten Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems (MSE) führen zu entlasten. (Ottobock, 2018). Gerade diese sind in Europa der häufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit und somit ein bedeutender Kos- 15
4 Technologie Exoskelett tenfaktor für Unternehmen und Gesundheitssysteme (WIFO, 2018). Im Gegensatz zur Anwendung von Exoskeletten im medizinischen Bereich befinden sich Exoskelette im indust- riellen Bereich noch in einer Einführungsphase. Einschlägige wissenschaftlich belegte Langzeitstudien stehen noch aus. Die folgende Tabelle zeigt Vor- und Nachteile von Exoskeletten unter Beachtung des MTO-Konzepts (siehe oben). Vorteile Nachteile Mensch Leicht anwendbar Erhöhte Verletzungsgefahr bei Stolper-, Sturz- und Rutschunfällen Reduktion der Belastung auf den Körper Einsatz an Drehmaschinen, Fräsmaschinen, etc. ggfs. wegen Positive Auswirkung auf Gesund- abstehender Komponenten nicht heit und Arbeitsfähigkeit der möglich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Technik Individuelle Anpassungsfähigkeit Noch keine standardisierte Gefähr- an die menschliche Anthropo- dungsbeurteilung, da die Risiken metrie und die auszuführende nicht ausreichend untersucht sind Tätigkeit Flexibler als andere technische Hilfsmittel, wie Stapler oder Kräne Organisation Geringere ungünstige Belastungen Hohe technologische Diversität reduzieren die krankheitsbedingte führt zu Problemen in der Planung Ausfallszeit Derzeit noch keine Langzeitstudien Gleichbleibende, etablierte verfügbar Arbeitsprozesse werden nicht beeinträchtigt Erhöhte Produktivität durch steigende Motivation und geringeren Fehlzeiten 16
5 Safety und Security Um das Potenzial der Anwendung eines Exoskeletts voll ausschöpfen zu können und das Vertrau- en in die Technologie herzustellen, ist eine sichere Gestaltung des Arbeitssystems unabdingbar. In Anbetracht der intensiven physischen Interaktion zwischen führt infolge auch zu Anforderungen an den Datenschutz, Mensch und Exoskelett ist es essenziell, in der Produktent- weil mit diesen sicherheitsrelevanten Daten auch solche mit wicklungsphase, wie auch bei der Integration die mögli- Personenbezug entstehen und verarbeitet werden müssen. Bei chen Safety-und-Security-Gefährdungen, die für den Träger der Einflussnahme auf die ursächlichen Funktionen des aktiven entstehen können, sorgfältig zu analysieren und mögliche Exoskeletts kommen sowohl unberechtigter lokaler Zugriff Restrisiken auf ein akzeptables Niveau zu reduzieren. Produkt- (falsche Berechtigungen, zugängliche Schnittstellen) als auch hersteller von Exoskeletten sollten dazu bestimmte Assistenz- die Einflussnahme über das Netzwerk selbst als Angriffsvekto- leistung, bestimmte Funktionalitäten und begrenzte Tätigkei- ren infrage. Daher sollten entsprechende Maßnahmen durch ten im Sinne einer sicheren Entwicklung berücksichtigen. Die ein Sicherheitskonzept, welches Safety und Security integrativ eigentliche betriebliche Tätigkeit und das gesamte Umfeld des betrachtet, definiert werden. Arbeitsplatzes, sollten vom Betreiber und Anwender sicher gestaltet werden. 5.1 Normen und Richtlinien Safety und Security Während Safety die sicherheitstechnischen Anforderungen Aktuell stehen nur wenige grundlegende gesetzliche Anfor- der funktionalen Sicherheit beschreibt, adressiert die Security derungen und noch weniger unterstützende Normen und potenzielle Gefährdungen der eingesetzten IT-Systeme. Bei der Richtlinien zur Verfügung, um Exoskelette sicher zu entwickeln Betrachtung der funktionalen Sicherheit entstehen bei aktiven und anzuwenden. Prinzipiell wird bei der Betrachtung unter- und passiven Exoskeletten aufgrund ihrer unterschiedlichen schieden, ob man Hersteller oder Betreiber ist und ob es sich Bau- und Funktionsweisen unterschiedliche Anforderungen. um ein aktives oder passives Exoskelett handelt. Passive Exoskelette unterstützen den Träger mithilfe von Feder- oder Seilzugsystemen, wobei die gespeicherte Energie genutzt 5.1.1 Übersicht der Normen und wird. Aktive Exoskelette hingegen besitzen eine mechatro- Richtlinien für Exoskelette nische Kraftunterstützung, welche kabelgebunden ist oder durch eine Batterie versorgt wird. Aufgrund der fortschreiten- Derzeit existiert keine gültige Produktnorm, die ausschließlich den Digitalisierung in Unternehmen werden aktive Exoskelette oder dezidiert den Einsatz von Exoskeletten behandelt. Im oftmals in das Unternehmensnetzwerk integriert, um z. B. die Rahmen eines kurzen Abschnitts werden aktive Exoskelette in Verfügbarkeit überwachen und optimieren zu können. Diese der EN ISO 13482 „Roboter und Robotikgeräte – Sicherheits- Integration hat wesentlichen Einfluss auf die IT-Security des anforderungen für persönliche Assistenzroboter“ erwähnt. Unternehmens und allem voran auf die des Exoskeletts – und Die Norm setzt voraus, dass die Konstruktion inhärent sicher damit zwangsläufig auch auf die physische Sicherheit des Trä- ist oder mittels technischer Schutzmaßnahmen so sicher ge- gers. Eine drastische Auswirkung eines Security-Lecks wäre die staltet ist, dass die resultierenden Restrisiken ohne Weiteres Einflussnahme auf die Bewegungssteuerung selbst. Weitere akzeptiert werden können. Auswirkungen wären der Zugriff auf die Verfügbarkeit von Nebenfunktionen, wie die Ferndiagnose des Energiehaushalts, Es obliegt dem Hersteller, nach der Risikobeurteilung aus einer die Lokalisierung des Produkts und damit des Anwenders. Dies Reihe von sinngemäß anwendbaren Grundnormen passende 17
5 Safety und Security technische Lösungen zu extrahieren und im Konstruktionspro- größe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter enorm wichtig. zess anzuwenden. Die bereits tendenziell leichten, passiven Exoskelette sind gemäß EN ISO 13482 so auszulegen, dass es z. B. zu keinen 5.1.2 Anforderungen an die Quetschungen, Schnittwunden oder Abschnürfungen durch Entwicklung von Exoskeletten Riemen und Gurte kommt. Beim An- und Ablegen des Exo- skeletts dürfen keine unkontrollierten Bewegungen durch die Hersteller von Maschinen im industriellen Umfeld, zu denen gespeicherte Energie der vorgespannten Federn entstehen. auch aktive Exoskelette zählen, müssen die Maschinenricht- Dies kann risikofrei durch z. B. Haken, Klettverschlüsse o. Ä. linie 2006/42/EG erfüllen, um ein Produkt in Europa auf den sichergestellt werden. Außerdem sollte auf den sachgemäßen Markt bringen zu dürfen. Dadurch wird sichergestellt, dass Gebrauch seitens des Herstellers hingewiesen werden. Betreiber nur sichere Exoskelette erwerben können und infolge sicher einsetzen können. Bei den konstruktionsbedingt schwereren aktiven Exoskeletten muss auch die auf den Träger zusätzlich wirkende Belastung Ergänzend zu den maschinellen Anforderungen stellt die EMV- berücksichtigt werden. Eine wesentliche Anforderung bei akti- Richtlinie 2014/30/EU und bei eingebautem Funkmodul, wie ven Exoskeletten ist, dass sie während des An- bzw. Ablegens z. B. WLAN, die RED-Richtlinie 2014/53/EU Anforderungen nicht unerwartet starten. an die Produktgestaltung. In Abhängigkeit von der Betriebs- spannung eines aktiven Exoskeletts kann zusätzlich noch die 5.1.3 Anforderungen für Anwender von Niederspannungsrichtlinie 2014/35/EU anzuwenden sein. Exoskeletten Letzten Endes muss der Hersteller von aktiven Exoskeletten Aus nationaler Sicht müssen Arbeitgeberinnen und Arbeit- deren CE-Konformität untersuchen und durch eine Konformi- geber in Österreich unabhängig von der Technologie und tätserklärung bescheinigen. dem Assistenzumfang eines Exoskeletts das ArbeitnehmerIn- nenschutzgesetz (ASchG) mit § 33 und § 35 und infolge die Passive Exoskelette hingegen fallen nicht in die EU-Produk- dazugehörenden Verordnungen, wie die Arbeitsmittelver- trichtlinie und müssen daher nicht zwingend CE-konform ordnung (AM-VO), berücksichtigen, um Gefährdungen für entwickelt werden. Zum Schutz des Anwenders sind daher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch den Einsatz von auch nicht zwangsläufig alle sicherheitsrelevanten Informa- Exoskeletten zu verhindern. Die Kernaussage daraus ist, dass tionen über das Produkt und seine Verwendung verfügbar nur sichere Produkte (CE-Kennzeichnung, wo zutreffend) ver- (Mindestinhalte von Betriebsanleitungen) und ohne Konfor- wendet werden dürfen und die Arbeit durch die Arbeitgeberin mitätserklärung gibt es für den Betreiber keine Gewährleis- oder den Arbeitgeber sicher gestaltet und laut ASchG § 4 eine tung, dass das Produkt auch tatsächlich sicherheitsgerichtet Arbeitsplatzevaluierung durchgeführt werden muss. entwickelt und gebaut wurde. Damit fällt dem Betreiber eines passiven Exoskeletts die größere Aufgabe und Verantwortung Die Einhaltung der Vorschriften fordert vom Betreiber eines zu, nämlich die Durchführung einer detaillierten Arbeitsplatze- Arbeitsmittels eine entsprechende sicherheitstechnische Arbeits- valuierung. platzevaluierung. Um eine Arbeitsplatzevaluierung sauber und korrekt durchführen zu können, bedarf es einschlägigen Know- Da ein Exoskelett wie ein Anzug am Körper anliegt, ist die hows in den Bereichen Safety sowie Security und fundierte ergonomische Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Körper- Kenntnis über die Funktionsweise der eingesetzten Technologie. 18
5.2 Gefährdungsbeurteilung und (eng anliegend, isolierend etc.) nicht gegeben ist. Die PSA muss Methoden zur Absicherung daher gegebenenfalls angepasst werden, damit sie weiterhin ihren Zweck erfüllt, ohne die Bewegungsfreiheit des Anwenders Als Verfahrensnorm für die Gefährdungsbeurteilung bei der zu beeinträchtigen. Vorgaben diesbezüglich bietet die PSA- Produktentwicklung eignet sich die EN ISO 12100, die auch Verordnung (PSAV). Sinngemäß Gleiches gilt auch für spezielle bei der Maschinenkonstruktion vorgesehen ist. Mit deren Arbeitskleidung, wie z. B. dicke Hosen und Jacken, Schürzen Gefährdungslisten können die meisten Gefährdungen erkannt oder Overalls. und mit den Anforderungen aus den entsprechenden gelten- den Verordnungen wie z. B. mit der EMF-Verordnung (EMF: 5.2.2 Arbeitsplatzgestaltung elektromagnetische Felder) abgeglichen werden. Bedingt durch das Alter der Norm werden jedoch nicht alle heute bekannten Weitere Einflussfaktoren für die Sicherheit und die korrekte Gefährdungen und genutzten Technologien behandelt und Funktion sind der Platzbedarf, das Arbeitsumfeld und der auch nur solche beschrieben, die unmittelbar mit dem Arbeits- Einsatzort von Exoskeletten. mittel oder der Tätigkeit am Arbeitsmittel zusammenhängen. Hier gilt es durch entsprechende Expertise, Anpassungen und Während passive Exoskelette gut beherrschbare Anforde- Erweiterungen bei der Gefährdungsbeurteilung vorzunehmen. rungen an die Arbeitsplatzgestaltung stellen, sind aktive Exoskelette im Vergleich zu passiven größer und stellenweise Safety und Security Neben der vorgesehenen betrieblichen Tätigkeit mit dem Exo- sperriger, wodurch die Interaktionsmöglichkeit mit Maschinen skelett ist ergänzend die Betrachtung all jener Vorgänge durch oder eine unpassende Arbeitsraumgestaltung zu Problemen eine Arbeitsplatzevaluierung erforderlich, die während der Zeit bei der Durchführung der Tätigkeiten führen kann. Zudem der Verwendung auch noch vernünftigerweise vorkommen muss das zusätzliche Gewicht des Exoskeletts als Belastung für können. Das beginnt mit der Verwahrung und den Vorkehrun- den Benutzer während seiner Anwendung, bei einem Sturz gen beim An- und Ablegen des Exoskeletts und endet nicht oder Fall sowie beim Aufstehen berücksichtigt werden. bei der Evakuierung und Vorkehrungen gegen Sturz und Fall. Darüber hinaus gilt es im Sinne der ganzheitlichen Sicherheits- Bei Bedarf muss der Fluchtweg entsprechend gestaltet werden, betrachtung Safety und Security und aufgrund der Wechsel- falls das Exoskelett nicht abgelegt werden kann, damit auch mit wirkung zwischen der das Exoskelett tragenden Person und geringerer Gehgeschwindigkeit oder größeren Konturen in der alle anderen Aspekten des ArbeitnehmerInnenschutzes (von vorgesehenen Zeit ein sicherer Ort erreicht werden kann. In die- der Arbeitsstätte über technische Sicherheitsaspekte bis hin zur sem Zusammenhang müssen bei kabelgebundenen Systemen Persönlichen Schutzausrüstung), diese sorgfältig zu betrachten. entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Für kabelge- bundene und kabellose aktive Exoskelette müssen zudem die 5.2.1 Kompatibilität mit Persönlicher Einsatzdauer, die Energieversorgung und die Maßnahmen bei Schutzausrüstung (PSA) Störung der Energieversorgung entsprechend dem Anwen- dungszweck evaluiert und berücksichtigt werden. Exoskelette als Assistenzsystem bietet aus ergonomischer Sicht einen deutlichen Vorteil für die physische Entlastung der Die Gewährleistung der Funktionalität des Exoskeletts hängt in Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Allerdings kann der Einsatz erster Linie von den Witterungs- und Umgebungsbedingungen auch zu potenziellen Gefährdungen führen, wenn die Kompa- ab, wie z. B. Feuchtigkeit und Staub. Des Weiteren muss der tibilität mit der PSA und ihren unterschiedlichen Eigenschaften Kontakt mit Arbeitsstoffen und die dadurch möglicherweise 19
Sie können auch lesen