Findlinge sind wertvolle Lebensräume - ZHAW
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26 PARTNER milan 3 | 2020 Findlinge sind wertvolle Lebensräume Dass Findlinge schützenswerte Zeugen der Eiszeiten sind, gehört zum Schweizer Allgemeinwissen. Ihre wichtige Lebensraumfunktion für besondere Moos-, Farn- und Flechtenarten ist jedoch nur den wenigsten bekannt. Im Rahmen des Forschungsprojekts «Natur- schutzbiologie der Findlingsflora» wurden deshalb Grundlagen erarbeitet, um dieses geologisch-botani- sche Naturerbe zu erhalten. Text: Daniel Hepenstrick, ZHAW/WSL und Françoise Schmit, Abteilung Landschaft und Gewässer Dieser Findlingsschwarm bei Nesselnbach ist geologisch wie auch botanisch besonders reichhaltig. Auf ihm wurden Hedwigsmoos, Nabelflechten und der seltene Rötliche Mauerpfeffer entdeckt. Das Mittelland und der Jura bestehen es gut 20 verschiedene Moosarten so- Weggeräumt oder ausgehoben hauptsächlich aus kalkhaltigen Gestei- wie der Nordische Streifenfarn, die im Im Rahmen des schweizweiten For- nen. Felsbewohnende Arten, die keinen Schweizer Mittelland und Jura fast nur schungsprojekts «Naturschutzbiologie Kalk ertragen, würden darum im Mittel- auf Findlingen vorkommen. In den alpi- der Findlingsflora» wurden auch Aar- land und Jura eigentlich nicht vorkom- nen Herkunftsgebieten der Findlinge gauer Findlinge unter die Lupe genom- men – wären da nicht Findlinge aus Gra- sind diese Arten häufig, während sie im men. Der Fokus wurde dabei auf den nit oder Gneis, die wie kalkfreie Inseln in Flachland seltene Besonderheiten dar- nördlichen Teil der besonders find- der ansonsten kalkreichen Landschaft stellen. Die Findlinge als geologisch- lingsreichen Glaziallandschaft Brem- liegen. Über den Wind haben Sporen von botanisches Naturerbe zeigen eindrück- garten-Wohlen-Bünzen-Besenbüren kalkmeidenden Arten diese wenige Qua- lich, wie spezialisierte Sporenpflanzen gelegt. Wie im gesamten Mittelland dratmeter grossen Lebensräume erreicht sich über weite Strecken mit dem Wind zeigte sich grundsätzlich ein ernüch- und bereichern so die regionale Arten- ausbreiten und auf winzigen Lebens- terndes Bild. Die beiden historisch ver- vielfalt. Neben zahlreichen Flechten sind rauminseln überleben können. bürgten Vorkommen des im Mittelland
milan 3 | 2020 PARTNER 27 vom Aussterben bedrohten Nordischen menhang nachgewiesen. Dies zeigt arten ist in Laufenburg zu erwarten, Streifenfarns sind verschwunden und etwa der riesige Lorenstei bei Hägglin- wo die Gneisfelsen des Schwarzwalds die geologischen Karten verzeichnen gen der mit 22 verschiedenen Moos- zu Tage treten. In diesem Geotop von viel weniger Findlinge im Offenland als arten (davon fünf typische Findlings- nationaler Bedeutung wurde, leider im Wald, was auf die zahllosen Find- moose) die höchste Artenzahl der im bislang erfolglos, nach dem Nordi- linge hinweist, welche Flurbereinigun- Aargau untersuchten Findlinge beher- schen Streifenfarn gesucht, der um gen zum Opfer gefallen sind. Im Feld bergt. Eine noch grössere Anzahl an 1900 dort mehrfach dokumentiert wurden hingegen überraschend häu- kalkmeidenden Moos- und Flechten- wurde. fig Baugrubenfindlingen angetroffen, also erratische Blöcke, die bei Aushub- arbeiten gefunden und in Vorgärten deponiert wurden. Diese erst seit Jahrzehnten auf der Erdoberfläche liegenden Blöcke sind zwar oft be- moost, doch wurde auf ihnen im ge- samten Projekt keine einzige spezielle Moosart der Findlinge gefunden. Dies zeigt, dass es lange dauert, bis ein Findling von kalkmeidenden Sporen- pflanzen besiedelt wird. Bemerkenswerte Aargauer Funde Die gute Nachricht ist, dass die Find- lingsflora trotz einem Jahrhundert in der Vergessenheit (siehe graue Box S. 29) in unserer Landschaft überdauert hat. In einer Stichprobe von 20 kalk- Der Erdmannlistein ist nicht nur ein sagenumwobenes Aargauer Wahrzeichen, er ist auch eine freien Aargauer Findlingen (je zehn wertvolle Lebensrauminsel für das Himbeer-Kissenmoos. zufällig gewählte Blöcke im Wald und im Offenland) wurde immerhin auf deren sechs mindestens eine typi- sche Moosart der Findlinge festgestellt. Besonders bemerkenswert ist der Be- wuchs eines geologisch vielfältigen Findlingsschwarms auf einer Weide bei Nesselnbach, wo auf Nagelfluh-Find- lingen der stark gefährdete Rötliche Mauerpfeffer und auf Granit-Findlingen das Hedwigsmoos und Nabelflechten entdeckt wurden. Solche gut besonn- ten Blöcke mit lichtbedürftigen Moos- und Flechtenarten sind im Mittelland selten geworden. Zwischen der Grösse eines Findlings und der Anzahl Moosarten, die er be- herbergt, wurde ein positiver Zusam- Auf den Granit- und Gneis-Flanken der Alpen wächst das Wimpern-Hedwigsmoos überall, im Flachland ist es eine Besonderheit. Wie 20 weitere Moosarten kommt es im Flachland fast nur auf FOTOS 26, 27 Daniel Hepenstrick kalkfreien Findlingen vor.
28 PARTNER milan 3 | 2020 Der Rötliche Mauerpfeffer ist schweizweit stark gefährdet. Im Rahmen Nabelflechten sind im Mittelland seltene Bewohner von Findlingen. des Projekts «Naturschutzbiologie der Findlingsflora» wurde eine bisher unbekannte Population entdeckt. Im Reusstal wächst er auf Nagelfluh- Findlingen, wo er von den sonnig-trockenen und konkurrenzarmen Bedingungen profitiert. Auf Findlingen in Vorgärten wachsen zwar keine seltene Moosarten, doch auch ihr Bewuchs lädt zum Erkunden ein: Moos- und Flechtenarten können vor der eigenen Haustüre bestaunt werden.
milan 3 | 2020 PARTNER 29 Wir schützen nur, was wir kennen Die Zeiten sind vorbei, als Findlinge Historische Kontroversen zur Baumaterialgewinnung zerstört wurden und in den meisten Kantonen Nicht immer fristete die Find- – so auch im Aargau – gelten Findlinge lingsflora ihr heutiges Mauer- als geschützte Objekte. Trotzdem wur- blümchendasein. Vor gut 100 den bei der schweizweiten Feldarbeit Jahren stand sie im Zentrum einer wissenschaftlichen Debatte. Verluste in der Findlingsflora festge- Mitte des 19. Jahrhunderts – als stellt, die sich in den letzten Jahrzehnten die Findlinge als Zeugen der Eis- ereignet haben. Beispielsweise wurden zeiten erkannt wurden – brach grosse Findlinge von ihrem Moosbe- unter Schweizer Naturforschern wuchs «befreit», um sie als Kletter-Trai- ein regelrechtes Findlingsfieber ningsplatz zum Bouldern herzurichten, aus. Einerseits kämpften sie bei Meliorationen wurden Offenland- gegen den damals weit verbrei- Findlinge an den Waldrand verschoben teten Abbau von Findlingen als und manche Blöcke sind derart dicht Baumaterial und andererseits von Feldgehölzen eingewachsen, dass ging man der Frage nach, wie Der Nordische Streifenfarn ist im Mittelland sie für die sonnenliebenden Arten der die Vergletscherung unser Land und Jura vom Aussterben bedroht. Im Aargau Findlingsflora keinen Lebensraum mehr geprägt hatte. Dabei präsentier- wurde die Art zum letzten Mal um 1900 auf Findlingen gefunden – auf dem Lorenstei in bieten. Vielen Gefährdungsursachen ten namhafte Wissenschaftler die Hägglingen und einem Granitblock bei Künten ist gemeinsam, dass die verantwortli- seltenen auf Findlingen wach- ist der Farn heute ausgestorben. chen Personen wohl gar nicht wussten, senden Farne und Moose als den lebendigen Beweis dafür, dass dass auf Findlingen seltene Arten mit den Findlingsblöcken sogar Vertieftes Verständnis wachsen. Viel wäre bereits gewonnen, Alpenpflanzen von den eiszeit- Das Forschungsprojekt deckte Zu- wenn Findlinge in Meliorations- oder lichen Gletschern ins Flachland sammenhänge auf, die für den Erhalt Vernetzungsprojekten als Lebensraum- transportiert wurden. Diese Kon- der Findlingsflora wichtig sind. Einer- insel berücksichtigt würden oder wenn troverse befeuerte die Erforschung seits dauert es offenbar sehr lange, bis in den Geotopinventaren vermerkt der Findlingsflora, was sich in ein Findling von speziellen Moosarten wäre, ob ein Findling spezielle Arten zahlreichen Publikationen nieder- besiedelt wird und andererseits – das beherbergt. Wo die Gefahr einer unbe- schlug. Das zusammenfassende haben genetische Untersuchungen absichtigten Beeinträchtigung der Find- Schlusswort in dieser Debatte gezeigt – scheinen die auf den Find- lingsflora durch Erholungssuchende wurde schliesslich 1926 gespro- lingen wachsenden Populationen nicht besteht, ist das Aufstellen von Infor- chen: Die Eiszeiten hoch oben miteinander vernetzt zu sein. Jede mationstafeln sinnvoll. Weiter muss in den Alpen überleben, einen Population ist also das Resultat einer die Existenz der schützenswerten weiten Transport auf eisigen unabhängigen Besiedlung. Dass eine Findlingsflora in Erinnerung gerufen Gletschern überstehen und dann weitgereiste Moosspore vom Wind werden: Dieser Artikel will dazu einen noch Jahrtausende auf wenigen Quadratmetern auf einem Find- ausgerechnet auf einen Findling ver- Beitrag leisten. ling überdauern, das sind schlicht- frachtet wird und eine Population weg zu viel der Unwahrschein- gründet, ist ein bemerkenswerter Zufall. lichkeiten. Stattdessen wurde die Umso eindrücklicher sind Findlinge, Findlingsflora korrekterweise zum auf denen gleich mehrere kalkmei- lebenden Beweis der eindrück- dende Moosarten wachsen, die sich lichen Ausbreitungsfähigkeit von über einen langen Zeitraum dort ein- Sporenpflanzen. Seither ist es still gefunden und anschliessend gehalten geworden um die Findlingsflora; haben. höchste Zeit, dieses besondere Naturerbe wieder in Erinnerung zu rufen. FOTOS 28, 29 Daniel Hepenstrick
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