FORTBILDUNG & PRAXIS - Kinder ...

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FORTBILDUNG & PRAXIS

                                                              „ Einleitung

                                                              Im Säuglingsalter treten Schädelverformungen
                                                              häufig auf . Ist das relative Verhältnis von Breite
    Die lagerungsbedingte                                     und Länge des Schädels erhalten, so spricht man
                                                              von einer Plagiozephalie . Bei einer Brachyzepha-
          Plagiozephalie –                                    lie hingegen ist der Schädel durch die Verfor-
                                                              mung verbreitert . Die Abplattung kann die Stirn
                  wirklich                                    oder den Gesichtsschädel betreffen (anteriore
                                                              Plagio- bzw . Brachyzephalie) oder aber den Hin-
     »lagerungsbedingt«?                                      terkopf (posteriore Plagio- bzw . Brachyzephalie) .
                                                              Sie kann sowohl symmetrisch (dies ist bei der
                                                              Brachyzephalie häufiger) als auch asymmetrisch
                                                              sein (dies ist häufiger bei der Plagiozephalie
                                                              zu beobachten) . Abhängig von der Ausprägung
                                                              können zu der abnormen Schädelform auch eine
                                           H . Renz-Polster   faziale Asymmetrie, ein Hervortreten der Stirn
                                                              (frontal bossing), eine Schiefstellung der Ohren
            Mannheimer Institut für Public Health,            und asymmetrisch angelegte Augenhöhlen hin-
             Sozial- und Präventivmedizin (MIPH),             zutreten [1] .
                  Universitätsklinikum Mannheim,
                            Universität Heidelberg            Schädelverformungen können in utero aufgrund
                                                              einer beengten intrauterinen Lage entstehen,
                                                              etwa bei ungünstig aneinander liegenden Zwil-
                                                              lingen oder bei zu wenig Fruchtwasser (angebo-
                                                              rene Plagiozephalie) . Sie können aber auch Folge
                                                              einer schweren Geburt sein oder sich postnatal
                                                              entwickeln, wenn sich die Nähte zwischen den
                                                              Knochenplatten des Schädels zu früh verschlie-
                                                              ßen (Kraniosynostose) .

                                                              „ Lagerungsbedingte Plagiozephalie

                                                              In den allermeisten Fällen entsteht die Schä-
                                                              delverformung jedoch durch die stetige Wirkung
                                                              der Schwerkraft, die den relativ weichen Schädel
                                                              des Säuglings verformen kann . Diese Verformung
                                                              kann sowohl als Plagiozephalie oder als Brachy-
Lagerungsbedingte Plagiozephalie – Ätiologie –                zephalie imponieren, sie wird aber zumeist
Vorbeugung – Evolutionsbiologie                               unter dem Begriff der lagerungsbedingten Pla-
                                                              giozephalie (LP) zusammengefasst (engl .: posi-
          pädiatrische praxis 94, 559–565 (2020)              tional oder deformational plagiocephaly) .
                     Mediengruppe Oberfranken –
                      Fachverlage GmbH & Co . KG

pädiatrische praxis   2020   Band 94 / 4                                                                     559
Die meisten von LP betroffenen Säuglinge sind         gie der LP beim normalen, ansonsten gesunden
ansonsten gesund . Allerdings erhöhen bestimm-        Kind nur unzureichend beschrieben [7–9] .
te Begleit- oder Vorerkrankungen das Risiko für
die Ausbildung einer LP . So kann bei einem an-       Wie viele Fragen hier noch offen sind, konnten
geborenen oder früh erworbenen Schiefhals (Tor-       wir zuletzt in einer systematischen Übersichts-
ticollis) wegen der fixierten Halsstellung leicht     arbeit zeigen [10] . Tatsächlich haben bisher
eine Schädelverformung entstehen . Während            nämlich nur wenige empirische Studien die Ri-
ein Torticollis z . B . nur bei etwa 1 % der Kinder   sikofaktoren für eine LP in nicht ausgewählten
mit normaler Kopfform vorliegt, so wird er bei        (Normal-)Populationen auf einem höhergradi-
20 % der Kinder mit einer LP beobachtet [2] .         gen methodischen Niveau beschrieben . Die in
Auch Frühgeborene und Kinder mit bestimmten           der Literatur am häufigsten beschriebenen Ri-
Krankheiten, etwa Säuglinge mit hypotonen             sikofaktoren sind dabei: männliches Geschlecht,
Muskelkrankheiten oder bei häufigem Aufenthalt        Rückenlage, Einschränkungen der Halsrotation,
auf Intensivstationen (etwa bei Säuglingen mit        Bevorzugung einer Kopfposition, erstgeborenes
Herzfehlern), sind anfälliger für lagerungsbe-        Kind, bestimmte Fütterungstechniken (Flaschen-
dingte Schädelverformungen .                          fütterung, insbesondere aber das »bottle prop-
                                                      ping«), fehlende »Spielzeiten« auf dem Bauch
Die lagerungsbedingte Plagiozephalie des an-          (»tummy time«) oder der häufige Einsatz von
sonsten gesunden Säuglings entsteht im Ver-           Trage- und Transportschalen bzw . Federliegen .
lauf der ersten Lebenswochen und -monate . Die        Allerdings ist die Übereinstimmung der Studien
Schädelverformung ist dabei meist im 3 .–4 . Mo-      bezüglich dieser Risikofaktoren sehr gering . Le-
nat am stärksten ausgeprägt, wobei die Schwe-         diglich beim männlichen Geschlecht und bei der
re alle Abstufungen von leicht bis schwerwie-         Rückenlage liegt die Konkordanz zwischen den
gend annehmen kann . Die Verformungen gehen           Studien in unserer systematischen Übersichtsar-
ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres         beit bei über 40 % [10] .
deutlich zurück, weil die bessere Kopfkontrolle
jetzt eine freie und vielfältigere Kopfpositionie-
rung erlaubt . In einer Longitudinalstudie wiesen     „ Problemstellung
etwa 16 % der Kinder im Alter von 6 Wochen
Schädelverformungen auf, während im Alter von         Diese Konkordanz ist deshalb überraschend, da
2 Jahren nur noch 3,3 % betroffen waren [3] .         in der Literatur fast immer von einem biophysi-
Zuletzt ist die Prävalenz in einer italienischen      kalischen, pathogenetischen Modell ausgegan-
Kohorte von 2–3 Monate alten Säuglingen sogar         gen wird . Danach ist die Entwicklung einer LP
mit fast 38 % angegeben worden [4] . Damit ist        das Ergebnis der Schwerkraft, die zu lange auf
die LP heute einer der abnormen Befunde, die          ein bestimmtes Schädelareal einwirkt . Viele der
am häufigsten an Säuglingen erhobenen werden          bisher genannten Risikofaktoren, wie etwa der
und oftmals ein Grund für die Suche nach kin-         Gebrauch von Transportschalen oder die Rücken-
derärztlichem Rat .                                   lage, scheinen tatsächlich gut zu diesem Modell
                                                      zu passen . Die pathogenetische Relevanz der Rü-
Das Gehirnwachstum ist bei der LP nicht ein-          ckenlage scheint zudem durch die epidemiologi-
geschränkt, dennoch treten motorische Ent-            schen Daten erhärtet zu werden, nach denen die
wicklungsverzögerungen bei Kindern mit LP             Inzidenz der LP seit der »back to sleep«-Kam-
insgesamt häufiger auf [5] . Dies könnte auf ge-      pagne der 1990er Jahre deutlich zugenommen
meinsame Umgebungsfaktoren zurückzuführen             hat . Mit dieser Kampagne wurde die Rückenlage
sein, etwa dass Kinder mit LP für gewöhnlich          als sicherste Schlafposition zur Vorbeugung des
in einem eher weniger entwicklungsförderlichen        Plötzlichen Kindstods beworben [11, 12] .
Milieu aufwachsen [6] . Während die Risikofakto-
ren für die nicht lagerungsbedingten Formen der       Dennoch enthalten die bisherigen Studien zur
Plagiozephalie gut bekannt sind, ist die Ätiolo-      Ätiologie der LP ein caveat: Die Rückenlage er-

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scheint zwar häufig, aber längst nicht in allen        sich gerade in der Zeit, in der heute die Defor-
Studien als Risikofaktor für die Entwicklung ei-       mierung der Babyköpfe ihr Maximum erreicht .
ner LP . In unserer Literaturanalyse wurde die Rü-     Dass sich dieses Reizschema zur Mitte des ersten
ckenlage z . B . nur in 6 von 14 qualifizierten Ori-   Lebensjahres entwickelt, hat damit zu tun, dass
ginalarbeiten als signifikanter Einfluss genannt .     das Baby jetzt für weitere Versorger neben der
In den anderen Studien wurde diesem Einfluss           stillenden Mutter attraktiv werden soll . Schließ-
keine Signifikanz zugeschrieben . Möglicherweise       lich kann es jetzt beigefüttert werden, d . h . die
reicht also das biophysikalische Erklärungsmo-         kalorische Versorgung des Nachwuchses kann auf
dell allein nicht aus, um das Zustandekommen           mehrere Akteure verteilt werden . Studien zeigen,
einer LP zu erklären .                                 dass diese kindliche Merkmalskombination auch
                                                       heute noch ein wirksames Signalsystem darstellt,
                                                       denn die Menge und Qualität der Versorgung, die
„ Die evolutionsbiologische Perspektive                ein Säugling erhält, korreliert tatsächlich mit
                                                       einem intakten Kindchenschema: »Niedlichkeit«
Dieser Schluss wird auch aus einer anderen             scheint auch in der modernen Welt eine Entwick-
Perspektive nahegelegt – der evolutionsbiolo-          lungsressource zu sein [17–19] .
gischen Perspektive, die wir in einer eigenen
Publikation besprochen haben [13] . Sie bringt         Das Verhältnis zwischen dem sicheren Schlaf
folgende grundsätzliche Überlegungen ein: Wenn         und der Entwicklung einer LP enthält also einen
man der klassischen biophysikalischen Erklärung        Widerspruch . Wenn die Rückenlage wirklich die
folgt, so ist die Entwicklung einer LP die mög-        sicherste Schlafposition ist – und das gerade in
liche nachteilige Folge eines vorteiligen Verhal-      der Zeit, in der sich eine LP und die oft mit ihr
tens, nämlich der Rückenlage . Durch sie wird          einhergehenden Veränderungen des Gesichts-
der Säugling schließlich vor dem Plötzlichen           schädels entwickeln – warum sollte durch diese
Kindstod geschützt [14] . Die LP wäre demnach          Art der Lagerung ein soziales Handicap für das
eine mögliche Folge oder Begleiterscheinung der        weitere Leben des Kindes entstehen?
»richtigen« Schlafposition . Damit ist sie sozusa-
gen der Preis, den manche Babys dafür zahlen,
sicher zu schlafen .                                   „ Das biokulturelle Modell

Vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie ist          Das gegenwärtige biophysikalische Modell für die
diese Erklärung allerdings wenig attraktiv: Wa-        Pathogenese der LP bedarf also aus evolutions-
rum sollte der sichere Schlaf mit einer Patho-         biologischer Sicht einer Ergänzung . Aus evolu-
logie oder einem sozialen Handicap verbunden           tionärer Perspektive wäre nämlich zu vermuten,
sein? Um diesen Einwand besser zu verstehen,           dass es sich bei der Verknüpfung von Rücken-
müssen wir uns die Bedeutung der normalen              lagerung und Entwicklung einer LP um einen
Kopfform des Säuglings kurz vor Augen halten .         fakultativen Zusammenhang handelt – nämlich,
Der menschliche Säugling verlässt sich bei der         dass die Rückenlage nicht als hinreichender pa-
Sicherung seiner Überlebensressourcen nämlich          thogenetischer Einfluss, sondern lediglich als
auch auf ein Muster körperlicher Merkmale, die         notwendige Voraussetzung für eine Schädelver-
seinen Versorgern »Attraktivität« signalisieren        formung anzusehen ist, zu der jedoch weitere
und deren Pflegebereitschaft steigern [15] .           Einflussfaktoren treten müssen . Dies würde auch
                                                       zu den widersprüchlichen empirischen Daten zur
Zu diesem von Konrad Lorenz beschriebenen              Ätiologie der LP passen, nach denen die Rücken-
Kindchenschema gehören unter anderem die Kul-          lage nur manchmal, aber eben bei weitem nicht
leraugen, die hohe Stirn, das Stupsnäschen, das        durchgängig als Risikofaktor der LP imponiert .
fliehende Kinn – und eben der gerundete Hinter-
kopf [16] . Dieses Schema, mit dem die Säuglinge       Welche weiteren Faktoren könnten also die
Gesundheit und Vitalität signalisieren, entwickelt     Verbindung der Rückenlagerung mit der Ausbil-

pädiatrische praxis   2020   Band 94 / 4                                                              561
dung einer LP beeinflussen? Aus evolutionärer         Krafteinwirkung auf die immer gleichen Kopf-
Sicht ist anzunehmen, dass diese Determinan-          partien entgegenwirkt . Umgekehrt – und das
ten in modernen Pflegepraktiken zu suchen             stimmt mit den Befunden aus der Literatur zur
sind . Schließlich gibt es gute Hinweise, dass        Ätiologie der LP überein – ist die Lagerung des
die Rückenlage zum arttypischen Verhalten des         Säuglings in Trage- oder Transportschalen ein
humanen Säuglings gehört . Die Schlafforschung        deutlicher Risikofaktor für die Ausbildung ei-
beispielsweise kann durch Beobachtungen an            ner LP, insbesondere wenn diese Vorrichtungen
Mutter-Kind-Dyaden im Schlaflabor zeigen, dass        auch als Schlafgelegenheiten zuhause verwen-
gestillte Säuglinge zumeist intuitiv in Rücken-       det werden [23, 24] .
lage positioniert werden: Nach dem Stillen plat-
zieren Mütter ihre Säuglinge typischerweise in        Hinzugefügt werden muss, dass aus theoreti-
eine »stillbereite« Lage, in der das Kind Kopf zu     schen Gründen auch der häufige Gebrauch von
Brust im Nahbereich der Mutter und meist auf          Kinderwägen einen negativen Einfluss auf die
dem Rücken liegt [20] .                               Schädelform haben könnte, da damit im Ver-
                                                      gleich zum Tragen am Körper eine deutlich
Gehen wir deshalb den »Pflegealltag« des Säug-        uniformere und weniger variable Belastung des
lings einmal durch und untersuchen die jewei-         Schädels während des Transports verbunden ist .
ligen Einflüsse in ihrer entsprechenden Auswir-       Allerdings liegt bislang weder eine ausformulier-
kung auf die Schädelentwicklung:                      te Hypothese noch eine Studie zu einer mögli-
                                                      chen präventiven Wirkung des Tragens auf die
Säuglingsernährung und Schädelentwicklung             Entwicklung einer LP vor [10] .
Aus evolutionärer Sicht wurde der menschliche
Säugling an der Brust ernährt . Da das Primaten-      Schlafverhalten und Schädelentwicklung
modell zwei Brüste vorsieht, war damit immer          In den ersten Lebensmonaten stellt der Schlaf
auch eine wechselnde Positionierung des Schä-         die vorwiegende Tätigkeit des Säuglings dar .
dels verbunden, durch die sowohl die längere als      Zum Zusammenhang von Schlaf und Schädel-
auch die dauerhafte Einwirkung der Schwerkraft        entwicklung liegen bisher keine systematischen
auf dieselbe Schädelseite minimiert wurde . Die-      Studien vor . Lediglich die Positionierung beim
ses Argument passt zu den Befunden aus der Li-        Einschlafen (infant positioning) sowie die physi-
teratur zur Ätiologie der LP . Sie zeigen, dass mit   kalische Schlafumwelt (Härte der Bettmatratze)
der Flasche gefütterte Säuglinge häufiger einen       wurde bisher in Verbindung mit der Entwicklung
abgeplatteten Hinterkopf haben – insbesonde-          einer LP gestellt, nicht jedoch die soziale Di-
re dann, wenn sie nicht auf dem Arm gefüttert         mension des Schlafs (also solitäres Schlafen vs .
werden, sondern im Liegen [2, 9, 21] .                bedsharing) . Letzteres ist deshalb relevant, da
                                                      menschliche Säuglinge evolutionär ein dyadi-
Säuglingstransport und Schädelentwicklung             sches Schlafverhalten aufwiesen, bei dem die
Der menschliche Säugling ist aus evolutions-          stillende Mutter und ihr Kind in enger Proximi-
biologischer Perspektive ein Tragling . Diese         tät geschlafen haben (»breastsleeping«) [25] .
Erfahrung bildete den natürlichen Kontext für         Schließlich wären allein schlafende Säuglinge in
seine biologische und soziale Entwicklung [22] .      der nomadischen Vergangenheit des Homo sapi-
So hängt beispielsweise die adäquate Ausrei-          ens leicht zur Beute von Raubtieren, Reptilien
fung des menschlichen Hüftgelenks davon               oder Insekten geworden oder in den meisten
ab, ob der Säugling ausreichend Gelegenheit           Klimazonen wegen ihrer unzureichenden Ther-
zur Hüftabduktion bekommt . Der Einfluss des          moregulation gefährdet gewesen .
Getragenwerdens auf die Schädelentwicklung
wurde zwar nach unserem Kenntnisstand bisher          Aus theoretischer Sicht könnte die Bedeutung
nicht systematisch erforscht, aber es ist offen-      des dyadischen Schlafens (geteilte Schlaf-
sichtlich, dass die mit dem Tragen verbundene         oberfläche von Mutter und Säugling) auf die
variable Position des Kopfes einer uniformen          Schädelentwicklung signifikant sein . Das er-

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gibt sich aus Laborstudien, die in den 1990er      • Wechselnde Orientierung des Bettes zum
Jahren die Unterschiede des solitären vs . des       Fenster bzw . zur Tür
gemeinschaftlichen Schlafens eines Säuglings       • Vermeidung von Flaschenfütterung im Liegen
herausgearbeitet haben [26–28] . Danach haben      • Vermeidung von langen Schlafphasen in
gestillte, im Nahbereich ihrer Mutter schlafen-      Trageschalen
de Säuglinge nicht nur einen weitaus aktiveren     • Regelmäßige tägliche Bauchlagerung
Schlaf (weniger Tiefschlafphasen, höhere Antei-      (»tummy time«) wacher Säuglinge unter
le an REM-Schlaf), sie zeigen zudem häufigere        Beobachtung
Wachphasen – die sie oft zur Nahrungsaufnahme      • Lagerungs- und Entlastungskissen für den
nutzen . Darüber hinaus werden sie während des       Säuglingsschädel (bisher ohne Absicherung
gesamten Schlafs regelmäßig von der Mutter in-       auf ausreichendem Evidenzniveau)
tuitiv in eine »stillbereite« Position – also in
Rücken- oder Seitenlage – umpositioniert . Ein     Unter Berücksichtigung des oben dargelegten
langanhaltender Druck auf die immer gleiche        Einflusses des Pflege- und Alltagskontextes wäre
Stelle des Schädels ist bei Säuglingen beim        dieses – nur teilweise evidenzbasiertes – Reper-
dyadischen Schlaf deshalb deutlich seltener als    toire durch weitere plausible Vorbeugungsstra-
bei der solitären Variante, die durch kürzeren     tegien zu ergänzen, die jedoch in ihrer Wirkung
REM-Schlaf, seltenere Wachphasen und fehlende      bisher ebenfalls nicht ausreichend untersucht
intuitive Umpositionierung gekennzeichnet ist .    wurden:

                                                   • Abwechslung der Seiten beim Flaschenfüttern
„ Fazit für die Praxis                             • Häufiges Hochnehmen des Säuglings
                                                   • Tragen des Säuglings im Tragetuch oder
Aus evidenzbasierter Sicht ist die Entwicklung       -gestell statt Schieben im Kinderwagen
der LP nach wie vor ein weißes Feld . Bisher       • Gemeinsames Schlafen bzw . bedsharing von
konnte keiner der vielen vorgeschlagenen De-         Mutter und Kind (unter Berücksichtigung
terminanten – auch nicht die Rückenlage – als        der Sicherheitsaspekte zur Vorbeugung des
eindeutiger Risikofaktor identifiziert werden        Plötzlichen Kindstods und der persönlichen
[10] . Vielmehr scheinen die Bestimmungsfakto-       Entscheidungen der Eltern)
ren der LP kontextabhängig zu sein oder vom
Vorliegen weiterer Schutz- oder Risikofaktoren
abzuhängen .                                       „ Zusammenfassung

Was die bisher vorgeschlagenen Präventionsmaß-     Die Epidemie der lagerungsbedingten Plagio-
nahmen angeht, so sind bislang nur wenige auf      zephalie ist nicht einfach eine Folge der La-
höhergradigem Evidenzniveau und mit ausrei-        gerung von Säuglingen auf dem Rücken . Sie
chender Probandenzahl auf ihre Effizienz unter-    ist überhaupt per se kein lagerungsbedingtes
sucht oder gar in ihrer Wirksamkeit verglichen     Phänomen . Vielmehr zeigen die beschriebenen
worden . Immerhin konnte in zwei randomisierten,   Zusammenhänge, dass die Rückenlagerung nur
kontrollierten Studien gezeigt werden, dass die    unter bestimmten Bedingungen ein Risiko für
Beratung der Eltern bezüglich der Unterstützung    die normale Schädelentwicklung darstellt . Die
der spontanen motorischen Aktivität des Säug-      Positionierung bildet nur dann eine Gefahr, wenn
lings präventiv gegenüber der Ausbildung einer     der Säugling Pflegeroutinen ausgesetzt ist, die in
LP wirken kann [29, 30] . Als vorbeugende Maß-     ihrer Einzel- oder Gesamtwirkung die biologische
nahmen wurden außerdem vorgeschlagen [1]:          Resilienz der normalen Schädelentwicklung über-
                                                   fordern . Erst diese Bedingungen machen die Rü-
• Aufklärung der Eltern bezüglich Kontaktauf-      ckenlage beim ansonsten gesunden und normal
  nahme von verschiedenen Seiten                   entwickelten Kind zu einem pathogenen Einfluss .
• Abwechslung beim Halten des Kindes

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Nach diesem Modell wäre die Rückenlage also         Positional plagiocephaly therefore can be
weder eine Determinante der LP noch ein Risi-       viewed as another example of a biocultural
kofaktor per se, sondern ein kontextabhängiger      mismatch, similar to myopia, obesity, allergic
Einfluss, der unter manchen Pflegebedingungen       disorders, sleep »disorder« or dental caries .
»unschuldig« wäre . Unter anderen Bedingungen       The environmental specifications of infant
wiederum wäre die Rückenlage ein Manifestati-       care as they predominate in certain parenting
onsfaktor für die Ausbildung einer LP .             cultures do not fit well with the biological or
                                                    evolutionarily developed expectations of the
Die LP ist damit gleichzeitig – ähnlich der kind-   young Homo sapiens . The cranium of the infant
lichen Myopie, der Adipositas, den allergischen     does not seem to be evolutionarily prepared for
Erkrankungen, den »Schlafstörungen« oder der        the invention of prams, strollers, bottle holders,
Karies – ein gutes Beispiel einer biokulturellen    car seats, or solitary sleep .
Fehlanpassung (biocultural mismatch): Die Aus-
gestaltung der Pflegeumwelt des Homo sapiens,
wie sie in manchen modernen Elternschaftskul-       Keywords: positional plagiocephaly – aetiology –
turen vorherrscht oder praktiziert wird, passt      prevention – evolutionary biology
nicht zu den biologischen bzw . evolutionär
entstandenen Anlagen und »Entwicklungserwar-
tungen« des menschlichen Nachwuchses . Der
kindliche Schädel scheint evolutionär nicht auf
die Erfindung von Kinderwagen, Flaschenhalter,      Literatur
Maxi-Cosi und eigenem Kinderbett vorbereitet
zu sein .                                           1.   Linz C, Kunz F, Böhm H, Schweitzer T . Positional skull
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According to this model, the supine sleeping        2016; 138: 682e–689e .
position is not a risk factor in and of itself,     7.   Bialocerkowski AE, Vladusic SL, Wei Ng C . Prevalence,
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in another care environment, it could be a          8.   Hutchison BL, Hutchison LA, Thompson JM, Mitchell EA .
risk factor for the manifestation of positional     Plagiocephaly and brachycephaly in the first two years of life:
plagiocephaly .                                     a prospective cohort study . Pediatrics 2004; 114(4): 970–980 .

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