Freiheitsbeschränkung als Trauma? - "Juristische Begleitmusik" zur Psychiatriereform - Dr. Michael Halmich LL.M.

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Freiheitsbeschränkung als Trauma? - "Juristische Begleitmusik" zur Psychiatriereform - Dr. Michael Halmich LL.M.
Freiheitsbeschränkung
als Trauma?
„Juristische Begleitmusik“ zur Psychiatriereform

Symposium „Psychiatrie und Trauma“
TZ Ybbs/Donau, 16. Mai 2018
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Freiheitsbeschränkung als Trauma? - "Juristische Begleitmusik" zur Psychiatriereform - Dr. Michael Halmich LL.M.
Vorüberlegungen
• Freiheitsentziehende (Schutz-) Maßnahmen werden seit jeher in der
  Betreuung psychisch kranker Menschen eingesetzt. Auch 2018!

• Die Einstellung dazu unterliegt aber einem grundlegenden Wandel!

• Einsatz von Zwang / Freiheitsbeschränkungen ist stets im Kontext der
  politischen und gesellschaftlichen Entwicklung einer Epoche zu sehen!
  Im Zentrum steht dabei das jeweilige Menschenbild einer Generation.

• Davon leitet sich auch die Aufgabe der Psychiatrie und der psychosozialen
  Betreuung ab.

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Freiheitsbeschränkung als Trauma? - "Juristische Begleitmusik" zur Psychiatriereform - Dr. Michael Halmich LL.M.
Vorüberlegungen
Aufgaben der Psychiatrie / Betreuung im historischen Kontext:

• Verwahrung von Menschen mit „problematischen Verhaltensweisen“
  (Schutz der Gesellschaft)

• Beeinflussung von Krankheitssymptomen (Leiden lindern, Herstellen einer
  Arbeitsfähigkeit)

• Behandlung von Krankheitsursachen

• Heilung

• Aber auch: Einleitung gesellschaftlicher Veränderungen (auch im Rahmen
  der Gesetzgebung zB durch Statements der Fachgesellschaften, Kongresse)
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Freiheitsbeschränkung als Trauma? - "Juristische Begleitmusik" zur Psychiatriereform - Dr. Michael Halmich LL.M.
Maßnahmen in der Historie

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Zwang: Mittelalter bis 18. Jhd.
Isolierung                                                 hochliegende Fenster

                             Ketten                                                Holzkisten („Tollkisten“)

              Einsperren in Stadttore                                     Folter

                                            Verbrennung (Teufelsbessenheit, Hexenwahn)

Zwang zur körperlichen Arbeit                                                      Verwahrlosung

                             Auch Misshandlungen durch Mitpatienten

                                                           Vorführung einem breiten Publikum

Quelle: Geschichte der Psychiatrie (Wikipedia mit umfassender Literaturliste)                                  5
Zwang ab dem 18. Jhd.
Ketten                        Isolierzellen                                Gärten untermauert                 Strom

               finstere Zimmer / Verschläge                                                Schutzhandschuhe

Gitterbetten                                 Schwere Türen                                         Schutzwesten

               Wickelungen                                  Netzbetten                     Bett-/Sitzgurten

Zwangsjacken                                 Fenster für Kranke nicht erreichbar                       Fesselungen

               Wärter: Einsatz von „Ochsenziemer, „Haselstöcke“, Ruten, Peitschen

Zwangsjacken                                 Medikamente                   für Lärmende: Mundbirnen

Quelle: Heinrich Schlöss Marhold, Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild (1912);                              6
Erwin H. Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie (1985) u.a.
Maßnahmen im 21. Jhd.
Anhaltung im geschlossenen Bereich                                            Bett-Seitenteile

             Psychopharmaka (mit Indikation der Bewegungsdämpfung / Unruheeindämmung)

Gurte im Bett / im Rollstuhl                                         Sitzgurte / Sitzhosen

      Zurückhalten / Festhalten                        Wegnahme Gehhilfsmittel

                           Versperrte(r) Tür / Bereich                        Barrieren / Tür-Codes

Funk-Überwachung / GPS-Überwachung                                   Rollstühle einbremsen …

Quelle: Michael Halmich, Unterbringungsgesetz Kommentar (2014)
Christian Bürger/Michael Halmich, Heimaufenthaltsgesetz Kommentar (2015)
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Führt all dies zum Trauma?

 Ich bin Jurist und
  kein Psychiater!

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Führt all dies zum Trauma?
• Laienhafter Blick ins ICD-10: Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)
  kann u.a. hervorgerufen werden durch belastendes Ereignis mit außer-
  gewöhnlicher Bedrohung. Als Auslöser ist – aus Sicht eines medizinischen
  Laien – u.U. auch eine psychische Krise mit notwendiger Freiheits-
  beschränkung denkbar.

• Studie von Beatrice Frajo-Apor et al. (2011) zum Erleben mechanischer
  Beschränkungen durch Psychiatrie-Patienten: Machtausübung des
  Personals, Strafe, Ohnmacht, Fremdbestimmung, Scham, Erniedrigung,
  Einsamkeit, unzureichende Information über Grund und Dauer.
  Aber auch: Schutz vor sich selbst, Zäsur in der Krise, Hilfe zum Zurück-
  kommen in die Normalität …
Quelle: Dissertation von Doris Aigner, Wahnsinn: Eine Frage der Macht. Auswirkungen der UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen auf Freiheitsbeschränkungen durch Psychiatrie in Österreich (2015); www.icd-code.de (Code F00-F99)
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Langsam sollten wir zum Recht übergehen …
• Es ist generell anzunehmen, dass heutzutage Mitarbeiter*innen der
  diversen Institutionen bei Eingriffen in die persönliche Freiheit fürsorgliche
  Zwecke verfolgen und das Wohl der Patient*innen in den Fokus rücken.

• Doch damit alleine lässt sich ein Eingriff in ein Grund-/Menschenrecht nicht
  rechtfertigen.

• Ein demokratischer Rechtsstaat sieht demnach auch für einen „gut
  gemeinten Zwang“ ein juristisches Regelwerk samt Kontrolle und
  Rechtsschutzmöglichkeiten vor. Dies darf nicht als „Misstrauen“ gegenüber
  dem Personal gesehen werden, sondern ist in einem Rechtsstaat geboten!

• Das Abwägen von unterschiedlichen Argumenten und die strenge
  Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Eingriffen in Rechte
  Anderer ist heutzutage ein wichtiges demokratisches Prinzip.         10
Aufgabe von Recht in der Psychiatrie
• Schutzfunktion
  Rechtsstaat, der sich zum Schutz von Grundrechten verpflichtet, muss alle
  Menschen, bei denen in die Grundrechte eingegriffen wird, schützen!

• Missbrauchsabwehr
  Es wäre weltfremd, im Gesundheitswesen nur mit tugendhaften und
  äußert sorgfältigen Akteuren zu rechnen. Ein Rechtsstaat kann es sich nicht
  leisten, die Sanktionierung „schwarzer Schafe“ der Berufsgruppe
  (Disziplinarrecht) zu überlassen. Effektive Kontrolle entfaltet
  Breitenwirksamkeit!

                                          Quelle: Jürgen Wallner, Rechtsethik in der Medizin (2018) 11
Aufgabe von Recht in der Psychiatrie
• Richtlinienfunktion
  Rechtsnormen sind eine Orientierungshilfe für den klinisch Tätigen.
  Innerhalb des Rahmens können klinisch Tätige ihre Ermessensspielräume
  nutzen. Diese Spielräume gilt es auch abzusichern; vor allem in
  rechtsethisch sensiblen Bereichen (zB Therapieziele, Indikationen, Eruieren
  des Patientenwillens/Beiziehung von Vertretern).

• Vertrauensstabilisierung
  Rechtliche Normen können Sicherheit, Planbarkeit und Stabilität
  menschlicher Interaktionen erhöhen. Herrscht Rechtssicherheit, sind die
  Akteure eher dazu bereit, eine prinzipiell risikoreiche Unternehmung zu
  beginnen / sich darauf einzulassen.

                                          Quelle: Jürgen Wallner, Rechtsethik in der Medizin (2018) 12
Recht und Psychiatrie im Überblick
• Die juristischen Rahmenbedingungen in der Betreuung psychisch
  erkrankter Personen sind heutzutage – je nach Institution – unterschiedlich
  ausgestaltet.

Wir unterscheiden:
     Psychiatrisches Krankenhaus, Psychiatrische Abteilung => UBG
     Pflege- und Betreuungseinrichtung (Kinder/Jugendliche, ältere
       Menschen, Menschen mit kognitiven Einschränkungen), Krankenhaus-
       abteilungen außerhalb von Psychiatrien => HEIMAUFG
     Haftanstalten, Forensische Zentren (Maßnahmenvollzug) => STVG
     Betreuung zu Hause / im privaten Umfeld => kein Rechtsrahmen!

• Aber wie und wann entstanden diese rechtlichen Regelungen und was
  waren die Beweggründe damals?
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Rechtshistorie

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16. / 17. Jhd.
• 16. Jhd.: Bürgertum gewann an Bedeutung, Handwerker erleben mit
  Gewerben raschen Aufstieg, Adel verlor politisch an Bedeutung, Bauern
  waren den Grundherrn untergeordnet

• Betreuung psychisch Kranker/geistig Behinderter: Familienverband, Klöster,
  vereinzelt auch in „Irrenzellen/Tobabteilungen“ in kommunalen „Spitälern“

• „Irrenfürsorge“ vordergründig Aufgabe der Kirche

• Landesfürstliche Gesetzgebung als „gute Polizey“
   (Auftrag: Aufrechterhaltung der Ordnung; wobei wirkliche oder vermeintliche Missstände, die
   die Gesellschaft gefährden konnten, beseitigt werden sollten)

• Im Zentrum: Einheitliche Rechtsregeln für Vormundschaft und Kuratel
   (Gerhabschaftsordnung 1669 mit erster staatlichen Kontrolle in Form der Obervormundschaft;
   Bestellung ohne Arzt-Gutachten; kein Schutz bei Anwendung von Freiheitsbeschränkungen) 15
18. Jhd.
• „Irrenrecht“ unter Joseph II

• Aufklärung => Vernunft prägt das Menschenbild
     (angestrebt wird Heilung „unvernünftiger Irre“ bzw. „Tolle“)

• Staat => Verpflichtung für Gesundheit des Volkes
     (Schaffung entsprechender Einrichtungen für die Behandlung der „Irren“, auch wegen ihrer
     „Gemeingefährlichkeit“; erste Institutionen „Narrenturm“ 1784)

• Neues Rechtsgebiet „medizinische Polizey“
     (Ziel: zentrale Organisation der staatlichen Gesundheitsfürsorge, auch um die Lebensführung
     der Bürger zu überwachen)

• Regelung für Unterbringung „Wahnwitziger“
Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und   16
dementer Menschen (2010)
„Unterbringung“ unter Joseph II
• Die Aufnahme in eine Anstalt setzte das Vorliegen einer Geisteserkrankung
  voraus, andere Voraussetzungen waren nicht beachtlich

• idR lebenslange Inhaftierung, da kein Recht auf Überprüfung (auch sonst
  kein Rechtsschutz)

• Aber nach den Rechtsvorschriften sei darauf zu achten …

     „damit nicht von habsüchtigen und boshaften Anverwandten, oder Erben,
     aus bloßer Leidenschaft, Menschen für blödsinnig, wahnwitzig oder rasend
     ausgegeben werden, die es entweder gar nie gewesen sind, oder es bloß in
     dem Anfalle eines fieberhaften Zufalles […] gewesen sind“

Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und   17
dementer Menschen (2010)
Zeit ab ABGB 1811
• Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch trat mit 1.1.1812 in Kraft

• „Rasende, Wahn- und Blödsinnige“ wurden unter den besonderen Schutz
  der Gesetze gestellt (§ 21; auch Heute: Rechtsnorm für schutzberechtigte Personen)

• Schutz durch gesetzlichen Vertreter (Kurator)

• § 273 idF ABGB-1811 legte fest:
  „Für wahn- oder blödsinnig konnte nur derjenige gehalten werden, welcher
  nach genauer Erforschung seines Betragens und nach Einvernehmung der
  von dem Gerichte ebenfalls dazu verordneten Aerzte gerichtlich dafür
  erkläret wird.“

Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und
dementer Menschen (2010)                                                                                             18
Zeit zwischen 1812 und 1916
• Keine einheitlichen Regelungen für die Aufnahme in Anstalten

• Liberalismus / Konstitutionalismus bestärkt „Irrenrechtsreform“ – es kam
  aber nicht dazu!

• Verordnung 1874 als erstes „Irrengesetz“
   (Voraussetzungen für Aufnahme, Anhaltung und Entlassung von Geisteskranken; aber nur
   geltend für Privat-Irrenanstalten. Öffentl. Anstalten konnten dies in Anstaltsstatuten regeln)

• Voraussetzung für Aufnahme war die „Geisteskrankheit“
   (Anhaltung zum Zweck der Heilung mittels „Parere“; Einweisungen durch Sicherheitsbehörden
   zunehmend nur mehr wegen Selbst-/Fremdgefahr)

• Keine Regelungen für den eigentlichen Aufenthalt
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Zeit zwischen 1812 und 1916
• Deshalb auch kein Rechtsschutz bei Anwendung von Freiheitsbe-
  schränkungen

• Jedoch „Instruction für den Primararzt der Irrenanstalt“ (aus 1815):
            Primar musste „strenge seyn“ und durfte nicht dulden, dass „die Irrsinnigen von den
             Wärtern grob behandelt oder gar misshandelt werden“
            „Jede Art von Unmenschlichkeit oder auch nur von Lieblosigkeit [musste] diesem Institute
             fremd seyn.“
            Der Primar war verpflichtet, zu unregelmäßigen Zeiten die Irrenanstalt zu kontrollieren,
             um „sich von der Pflege und der Behandlung der Irren zu überzeugen“.
            Es sei „der Prudenz des Primararztes überlassen, ob und wenn manche Irren zur
             Besserung ihres Gemüthszustandes zu strafen seyen und unter welchen Modificationen
             diese moralische Arznei anzuwenden sey. Allein diese Strafe muss niemals aus
             Leidenschaft verfüget werden, und niemals die Gränzen der Humanität überschreiten“.

Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und
dementer Menschen (2010)                                                                                             20
Weg zur Entmündigungsordnung
• Langer Vorlauf – erste Forderungen bereits 1859
     (Hauptkritik: Kein Rechtsschutz, Willkür in Aufnahme/Anhaltung, Gerüchte über
     „Internierungen und Entmündigungen angeblich Geistesgesunder“, Progression „zwangsweise
     Hospitalisierter“ von 43/1000 um 1880 auf 140/1000 um 1910)

• Kaiserliche Verordnung über die Entmündigung (Entmündigungsordnung)
  wird per 28. Juni 1916 erlassen

• Entmündigung löst Kuratel wegen „Wahn- und Blödsinn“ ab
     (Neuerungen: volle/beschränkte Entmündigung, Gerichtsverfahren, Rechtsschutz)

• Obligates gerichtliches Verfahren bei Anhaltung in geschlossenen Anstalten

Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)

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Rechtsrahmen nach der EntmO
• Überprüfung der Beschränkung der Freiheit oder des Verkehrs mit der
  Außenwelt durch Gerichte

• Binnen drei Wochen ab Aufnahme

• Zum Schutz des Betroffenen war ein Vertreter zu bestellen, Betroffene
  hatte Anhörungsrechte und Rechtsmittelmöglichkeiten

• Zwei große Kritikpunkte:
    Keine Voraussetzungen zur zwangsweisen Aufnahme. Dies blieb die
      „Geisteskrankheit“ oder die „Anstaltsbedürftigkeit“.
    Regelungen waren nicht anzuwenden auf Personen, die bereits
      gerichtlich entmündigt waren.
Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)
                                                                                           22
Auswirkungen
• Zahl der Anstaltspatienten stieg weiterhin. Zeit rund um Wirtschaftskrise
  1929/1930 war ein Höhepunkt erreicht.

• Versorgungssituation psychisch                              Erkrankter           /       geistig   Behinderter
  verschlechterte sich dadurch.

• Anstalten mutierten zu reinen „Aufbewahrungsstätten“

• Vorherrschend war eine soziale Kontroll- und Ordnungsfunktion und nicht
  ein therapeutisch-helfender Anspruch.

• Pessimismus machte sich breit. Dieser lieferte einen Nährboden für
  eugenisches Gedankengut in Teilen der Psychiatrie.
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Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)
1938-1945
• Verfolgung / Vernichtung von „rassenschädlichen“ und nicht „verwertungs-
  fähigen“ psychisch kranken und geistig behinderten Menschen

• Organisierter Massenmord durch Euthanasie-Aktion T4

• Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses = Zwangssterilisationen

• Entmündigungsordnung blieb auch während der NS-Zeit in Kraft

• Hinzu kamen deutsche Rechtsquellen, die u.a. auch eine zeitlich
  unbefristete Zwangseinweisung „arbeitsfähiger Fürsorgeempfänger in eine
  Anstalt/Arbeitseinrichtung“ vorsahen

Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)
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Anfangsjahre 2. Republik
• Rechtslage vor NS-Zeit war wieder in Geltung

• Reform des „Irrensrechts“ durch Regelungen im Krankenanstaltengesetz

• Aus „Irrenanstalten“ werden „Sonderheilanstalten für Geisteskranke“

• Aufnahmevoraussetzung: Geisteskrankheit + Selbst-/Fremdgefahr

• Einweisung mittels „Parere“

• Aufnahme aus rein therapeutischen-fürsorglichen Gründen wurde ausge-
  schlossen; außer bei „Entmündigten“

Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)
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60iger / 70iger Jahre
• 1958: EMRK statuiert Grundrechte für psychisch Kranke (Recht auf Freiheit
  und Sicherheit)

• 1970er-Jahre: Krise der Psychiatrie und Psychiatriekritik
     (Kritik an mangelhafter Betreuung, hoher Anteil von Zwangsaufnahmen, „Verwahrung“ - vor
     allem für chronisch Erkrankte, Rechtsrahmen führt eher zur Entrechtung als zum Schutz,
     teilweise Forderung eines Anhaltegrunds der „Behandlungs-/Beobachtungsbedürftigkeit)

• Auch Strafrechtsreform: Herauslösung „geistig abnormer Rechtsbrecher“
  aus dem Anhalterecht und Einbettung in das Justizstrafrecht (samt
  Einweisungsmöglichkeiten in Justizanstalten / Anstalten für geistig
  abnorme Rechtsbrecher)

Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)
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1984: Sachwalterrecht
• Entmündigungsordnung aus 1916 wird abgelöst

• Sachwalterschaft streng subsidiär, „moderner Rechtsrahmen“

• Anhalteverfahren bleibt jedoch in Geltung

• Rechtsschutz psychisch Erkrankter weiterhin unbefriedigend

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1988: BVG Schutz pers. Freiheit
• Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit trat 1991 in
  Kraft

• Demnach darf die Freiheit einem Menschen u.a. nur in folgenden Fällen
  auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

     wenn auf Grund einer mit Strafe bedrohten Handlung auf
      Freiheitsentzug erkannt worden ist
     wenn Grund zur Annahme besteht, daß er eine Gefahrenquelle für die
      Ausbreitung ansteckender Krankheiten sei oder wegen psychischer
      Erkrankung sich oder andere gefährde
     zum Zweck notwendiger Erziehungsmaßnahmen bei einem
      Minderjährigen
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1991: Unterbringungsgesetz
• Reform des Anhalterechts

• Langer Vorlauf – Beginn in den 1970iger Jahren

• Unterbringungsvoraussetzungen für alle gleich:
    Psychische Krankheit
    Ernste / erhebliche Selbst- / Fremdgefahr
    Alternativenlosigkeit (ultima ratio der Unterbringung)

• Zudem: Regelungen für präklinisches Vorgehen, kostenlose Vertretung
  durch Patientenanwälte, Verständigungspflichten, Dokumentation,
  Gerichtskontrolle, Sachverständigen-Beiziehung, Schutz von Persönlich-
  keitsrechten, eigene Regelungen für die ärztliche Behandlung …
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Nach 1991
• Rechtschutz für Patienten in Psychiatrien nun durch UBG

• Bestimmungen des Aufenthaltsortes durch den Sachwalter außerhalb der
  Psychiatrie aber nach wie vor üblich (Alten-, Pflegeheime, Behinderten-
  einrichtungen) – dies auch gegen/ohne den Willen der Betroffenen

• Vermehrter Fokus darauf auch im Hinblick auf die „Ausgliederung
  behinderter Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen“

• Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen als auch Behinderten-
  einrichtungen liegen im rechtsfreien Raum. Forderung nach Regelungen
  auch vom Personal der Einrichtungen (wollen klare Handlungsbefugnisse)
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Nach 1991
• Zwangsakte des Sachwalters bei Aufenthaltsortbestimmung                 wird
  zunehmend aufgrund verfassungsrechtlicher Grundlagen abgelehnt

• Lainz-Skandal 1989 samt juristischer / medialer Aufbereitung danach

• Breite öffentliche Diskussion / zahlreiche wissenschaftliche Beiträge

• Vorarbeiten für gesetzliche Regelung beginnen ab 2000

• Heimaufenthaltsgesetz tritt mit 1.7.2005 in Kraft und orientiert sich
  maßgeblich am UBG

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Heimaufenthaltsgesetz 2005
• Gilt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen, Behinderteneinrichtungen,
  Krankenhausabteilungen außerhalb der Psychiatrie und ab 1.7.2018 auch in
  Kinder- und Jugendeinrichtungen

• Umfassender Freiheitsbeschränkungsbegriff (§ 3 HeimAufG):

   Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes liegt vor, wenn
   eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (im
   Folgenden Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln,
   insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse
   Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird.

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Heimaufenthaltsgesetz
Wann darf eine Freiheitsbeschränkung vorgenommen werden?

Wenn

1.   der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im
     Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben
     oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet
2.   sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer
     Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie
3.   diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere
     Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann.

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Heimaufenthaltsgesetz
• Konkrete Regelungen über Anordnungsbefugnisse (Ärzte, Pflegepersonal,
  pädagogisches Personal)

• Verständigung, Dokumentation, Aufklärung

• Kostenlose Vertretung durch Bewohnervertreter

• Gerichtskontrolle nur auf Antrag

• Aber: Keinen Schutz der Persönlichkeitsrechte

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2018: Erwachsenenschutzgesetz
• Löst mit 1.7.2018 das Sachwalterrecht ab

• Problempunkte:
    Anzahl an Sachwalterschaften stark gestiegen (30.000 um 2003,
      bereits 60.000 um 2016)
    Steigende Lebenserwartung, Zunahme dementiell Erkrankter
    Erhöhte Anforderungen im Geschäfts- und Rechtsverkehr

• Auch internationale Verpflichten erfordern eine Reform: UN BRK

• Zentrale Drehscheibe: Erwachsenenschutzvereine
  (vormals Sachwaltervereine)
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Zentrale Bestimmung: § 239 ABGB
• Im rechtlichen Verkehr ist dafür Sorge zu tragen, dass volljährige Personen,
  die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren
  Beeinträchtigung in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt sind,
  möglichst     selbständig,    erforderlichenfalls   mit      entsprechender
  Unterstützung, ihre Angelegenheiten selbst besorgen können.

• Unterstützung kann insbesondere durch die Familie, andere nahe stehende
  Personen, Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen der Behindertenhilfe und
  soziale und psychosoziale Dienste, Gruppen von Gleichgestellten,
  Beratungsstellen oder im Rahmen eines betreuten Kontos oder eines
  Vorsorgedialogs geleistet werden.

• Ist die Unterstützung nicht ausreichend, so kommt es bei nicht-
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  entscheidungsfähigen Personen bei Bedarf zur Vertretung.
Neue Vertretungsmodelle

Quelle: Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz, 2018

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Maßnahmenvollzugsrecht 20??
• Regelungen seit 1975 unverändert

• Auch Vollzugsregelungen nicht mehr kompatibel mit modernem Grund-
  rechtsverständnis

• Keine effektiven Beschwerdemöglichkeiten / keine Vertretung

• BM Brandstetter legte Entwurf für Maßnahmenvollzugsgesetz 2017 vor –
  dieser harrt der Bearbeitung …

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Entwurf Maßnahmenvollzugsrecht
• Regelungsbereich soll weiterhin dem Strafrecht angehören

• Eigenes Gesetz: Maßnahmenvollzugsgesetz

• Strafrechtliche Unterbringung künftig in besonderen Einrichtungen der
  Justiz (forensisch-therapeutische Zentren) und nur ausnahmsweise in öff.
  Krankenanstalten für Psychiatrie

• Starker Ausbau alternativer Wohnformen für geeignete Personen (WGs,
  sonst. Betreuungseinrichtungen) – sog. „ambulanter Vollzug“

• Ausbau Bewährungshilfe und Vertretung durch Patientenanwälte (UbG)

Quelle: Entwurf zum Maßnahmenvollzugsgesetz, 2017                        39
Recht und Psychiatrie im Überblick
Was gilt nun nochmals wo?

     Psychiatrisches Krankenhaus, Psychiatrische Abteilung => UBG

     Pflege- und Betreuungseinrichtung (Kinder/Jugendliche, ältere
      Menschen, Menschen mit kognitiven Einschränkungen), Krankenhaus-
      abteilungen außerhalb von Psychiatrien => HEIMAUFG

     Haftanstalten, Forensische Zentren (Maßnahmenvollzug) => STVG

     Betreuung zu Hause / im privaten Umfeld => kein Rechtsrahmen!

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Schlussbemerkungen
• Ein Zusammenspiel von allen Beteiligten in diesen Settings soll dazu
  verhelfen, unter Achtung der Autonomie des Betroffenen sein Wohl
  bestmöglich zu fördern.

• Die gesetzlichen Rahmenbedingungen definieren auch den konkreten
  Auftrag im jeweiligen Setting.

• Die gesetzlichen Regelungen ebnen den Weg, der Thematik „Freiheits-
  beschränkung“ stets sensibel entgegen zu treten.

• Somit kann durch Änderungen der Strukturen / der Haltung des Personals
  in der Krise ggf. auch ohne Zwang für eine ausreichende Sicherheit gesorgt
  werden.
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Zu guter Letzt …
Alle, die mit Rechtsnormen im Alltag arbeiten, sollten folgenden Satz stets
beherzigen:

  „Scire leges non hoc est verba earum tenere sed
                vim ac postestatem.“
(„Die Kenntnis des Rechts besteht nicht darin, Gesetzeswortlaute zu zitieren,
    sondern die Bedeutung und Auswirkung der Gesetze zu erkennen.“)

                                                Zitat von Celsus, 2. Jhd. nach Christus

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Dr.iur. Michael Halmich LL.M.
medrecht@halmich.at
www.halmich.at

                        2018 erschienen!

 www.educa-verlag.at                       www.oegern.at
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