Freiheitsbeschränkung als Trauma? - "Juristische Begleitmusik" zur Psychiatriereform - Dr. Michael Halmich LL.M.
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Freiheitsbeschränkung als Trauma? „Juristische Begleitmusik“ zur Psychiatriereform Symposium „Psychiatrie und Trauma“ TZ Ybbs/Donau, 16. Mai 2018 1
Vorüberlegungen • Freiheitsentziehende (Schutz-) Maßnahmen werden seit jeher in der Betreuung psychisch kranker Menschen eingesetzt. Auch 2018! • Die Einstellung dazu unterliegt aber einem grundlegenden Wandel! • Einsatz von Zwang / Freiheitsbeschränkungen ist stets im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung einer Epoche zu sehen! Im Zentrum steht dabei das jeweilige Menschenbild einer Generation. • Davon leitet sich auch die Aufgabe der Psychiatrie und der psychosozialen Betreuung ab. 2
Vorüberlegungen Aufgaben der Psychiatrie / Betreuung im historischen Kontext: • Verwahrung von Menschen mit „problematischen Verhaltensweisen“ (Schutz der Gesellschaft) • Beeinflussung von Krankheitssymptomen (Leiden lindern, Herstellen einer Arbeitsfähigkeit) • Behandlung von Krankheitsursachen • Heilung • Aber auch: Einleitung gesellschaftlicher Veränderungen (auch im Rahmen der Gesetzgebung zB durch Statements der Fachgesellschaften, Kongresse) 3
Zwang: Mittelalter bis 18. Jhd. Isolierung hochliegende Fenster Ketten Holzkisten („Tollkisten“) Einsperren in Stadttore Folter Verbrennung (Teufelsbessenheit, Hexenwahn) Zwang zur körperlichen Arbeit Verwahrlosung Auch Misshandlungen durch Mitpatienten Vorführung einem breiten Publikum Quelle: Geschichte der Psychiatrie (Wikipedia mit umfassender Literaturliste) 5
Zwang ab dem 18. Jhd. Ketten Isolierzellen Gärten untermauert Strom finstere Zimmer / Verschläge Schutzhandschuhe Gitterbetten Schwere Türen Schutzwesten Wickelungen Netzbetten Bett-/Sitzgurten Zwangsjacken Fenster für Kranke nicht erreichbar Fesselungen Wärter: Einsatz von „Ochsenziemer, „Haselstöcke“, Ruten, Peitschen Zwangsjacken Medikamente für Lärmende: Mundbirnen Quelle: Heinrich Schlöss Marhold, Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild (1912); 6 Erwin H. Ackerknecht, Kurze Geschichte der Psychiatrie (1985) u.a.
Maßnahmen im 21. Jhd. Anhaltung im geschlossenen Bereich Bett-Seitenteile Psychopharmaka (mit Indikation der Bewegungsdämpfung / Unruheeindämmung) Gurte im Bett / im Rollstuhl Sitzgurte / Sitzhosen Zurückhalten / Festhalten Wegnahme Gehhilfsmittel Versperrte(r) Tür / Bereich Barrieren / Tür-Codes Funk-Überwachung / GPS-Überwachung Rollstühle einbremsen … Quelle: Michael Halmich, Unterbringungsgesetz Kommentar (2014) Christian Bürger/Michael Halmich, Heimaufenthaltsgesetz Kommentar (2015) 7
Führt all dies zum Trauma? Ich bin Jurist und kein Psychiater! 8
Führt all dies zum Trauma? • Laienhafter Blick ins ICD-10: Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) kann u.a. hervorgerufen werden durch belastendes Ereignis mit außer- gewöhnlicher Bedrohung. Als Auslöser ist – aus Sicht eines medizinischen Laien – u.U. auch eine psychische Krise mit notwendiger Freiheits- beschränkung denkbar. • Studie von Beatrice Frajo-Apor et al. (2011) zum Erleben mechanischer Beschränkungen durch Psychiatrie-Patienten: Machtausübung des Personals, Strafe, Ohnmacht, Fremdbestimmung, Scham, Erniedrigung, Einsamkeit, unzureichende Information über Grund und Dauer. Aber auch: Schutz vor sich selbst, Zäsur in der Krise, Hilfe zum Zurück- kommen in die Normalität … Quelle: Dissertation von Doris Aigner, Wahnsinn: Eine Frage der Macht. Auswirkungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Freiheitsbeschränkungen durch Psychiatrie in Österreich (2015); www.icd-code.de (Code F00-F99) 9
Langsam sollten wir zum Recht übergehen … • Es ist generell anzunehmen, dass heutzutage Mitarbeiter*innen der diversen Institutionen bei Eingriffen in die persönliche Freiheit fürsorgliche Zwecke verfolgen und das Wohl der Patient*innen in den Fokus rücken. • Doch damit alleine lässt sich ein Eingriff in ein Grund-/Menschenrecht nicht rechtfertigen. • Ein demokratischer Rechtsstaat sieht demnach auch für einen „gut gemeinten Zwang“ ein juristisches Regelwerk samt Kontrolle und Rechtsschutzmöglichkeiten vor. Dies darf nicht als „Misstrauen“ gegenüber dem Personal gesehen werden, sondern ist in einem Rechtsstaat geboten! • Das Abwägen von unterschiedlichen Argumenten und die strenge Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Eingriffen in Rechte Anderer ist heutzutage ein wichtiges demokratisches Prinzip. 10
Aufgabe von Recht in der Psychiatrie • Schutzfunktion Rechtsstaat, der sich zum Schutz von Grundrechten verpflichtet, muss alle Menschen, bei denen in die Grundrechte eingegriffen wird, schützen! • Missbrauchsabwehr Es wäre weltfremd, im Gesundheitswesen nur mit tugendhaften und äußert sorgfältigen Akteuren zu rechnen. Ein Rechtsstaat kann es sich nicht leisten, die Sanktionierung „schwarzer Schafe“ der Berufsgruppe (Disziplinarrecht) zu überlassen. Effektive Kontrolle entfaltet Breitenwirksamkeit! Quelle: Jürgen Wallner, Rechtsethik in der Medizin (2018) 11
Aufgabe von Recht in der Psychiatrie • Richtlinienfunktion Rechtsnormen sind eine Orientierungshilfe für den klinisch Tätigen. Innerhalb des Rahmens können klinisch Tätige ihre Ermessensspielräume nutzen. Diese Spielräume gilt es auch abzusichern; vor allem in rechtsethisch sensiblen Bereichen (zB Therapieziele, Indikationen, Eruieren des Patientenwillens/Beiziehung von Vertretern). • Vertrauensstabilisierung Rechtliche Normen können Sicherheit, Planbarkeit und Stabilität menschlicher Interaktionen erhöhen. Herrscht Rechtssicherheit, sind die Akteure eher dazu bereit, eine prinzipiell risikoreiche Unternehmung zu beginnen / sich darauf einzulassen. Quelle: Jürgen Wallner, Rechtsethik in der Medizin (2018) 12
Recht und Psychiatrie im Überblick • Die juristischen Rahmenbedingungen in der Betreuung psychisch erkrankter Personen sind heutzutage – je nach Institution – unterschiedlich ausgestaltet. Wir unterscheiden: Psychiatrisches Krankenhaus, Psychiatrische Abteilung => UBG Pflege- und Betreuungseinrichtung (Kinder/Jugendliche, ältere Menschen, Menschen mit kognitiven Einschränkungen), Krankenhaus- abteilungen außerhalb von Psychiatrien => HEIMAUFG Haftanstalten, Forensische Zentren (Maßnahmenvollzug) => STVG Betreuung zu Hause / im privaten Umfeld => kein Rechtsrahmen! • Aber wie und wann entstanden diese rechtlichen Regelungen und was waren die Beweggründe damals? 13
Rechtshistorie 14
16. / 17. Jhd. • 16. Jhd.: Bürgertum gewann an Bedeutung, Handwerker erleben mit Gewerben raschen Aufstieg, Adel verlor politisch an Bedeutung, Bauern waren den Grundherrn untergeordnet • Betreuung psychisch Kranker/geistig Behinderter: Familienverband, Klöster, vereinzelt auch in „Irrenzellen/Tobabteilungen“ in kommunalen „Spitälern“ • „Irrenfürsorge“ vordergründig Aufgabe der Kirche • Landesfürstliche Gesetzgebung als „gute Polizey“ (Auftrag: Aufrechterhaltung der Ordnung; wobei wirkliche oder vermeintliche Missstände, die die Gesellschaft gefährden konnten, beseitigt werden sollten) • Im Zentrum: Einheitliche Rechtsregeln für Vormundschaft und Kuratel (Gerhabschaftsordnung 1669 mit erster staatlichen Kontrolle in Form der Obervormundschaft; Bestellung ohne Arzt-Gutachten; kein Schutz bei Anwendung von Freiheitsbeschränkungen) 15
18. Jhd. • „Irrenrecht“ unter Joseph II • Aufklärung => Vernunft prägt das Menschenbild (angestrebt wird Heilung „unvernünftiger Irre“ bzw. „Tolle“) • Staat => Verpflichtung für Gesundheit des Volkes (Schaffung entsprechender Einrichtungen für die Behandlung der „Irren“, auch wegen ihrer „Gemeingefährlichkeit“; erste Institutionen „Narrenturm“ 1784) • Neues Rechtsgebiet „medizinische Polizey“ (Ziel: zentrale Organisation der staatlichen Gesundheitsfürsorge, auch um die Lebensführung der Bürger zu überwachen) • Regelung für Unterbringung „Wahnwitziger“ Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und 16 dementer Menschen (2010)
„Unterbringung“ unter Joseph II • Die Aufnahme in eine Anstalt setzte das Vorliegen einer Geisteserkrankung voraus, andere Voraussetzungen waren nicht beachtlich • idR lebenslange Inhaftierung, da kein Recht auf Überprüfung (auch sonst kein Rechtsschutz) • Aber nach den Rechtsvorschriften sei darauf zu achten … „damit nicht von habsüchtigen und boshaften Anverwandten, oder Erben, aus bloßer Leidenschaft, Menschen für blödsinnig, wahnwitzig oder rasend ausgegeben werden, die es entweder gar nie gewesen sind, oder es bloß in dem Anfalle eines fieberhaften Zufalles […] gewesen sind“ Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und 17 dementer Menschen (2010)
Zeit ab ABGB 1811 • Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch trat mit 1.1.1812 in Kraft • „Rasende, Wahn- und Blödsinnige“ wurden unter den besonderen Schutz der Gesetze gestellt (§ 21; auch Heute: Rechtsnorm für schutzberechtigte Personen) • Schutz durch gesetzlichen Vertreter (Kurator) • § 273 idF ABGB-1811 legte fest: „Für wahn- oder blödsinnig konnte nur derjenige gehalten werden, welcher nach genauer Erforschung seines Betragens und nach Einvernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu verordneten Aerzte gerichtlich dafür erkläret wird.“ Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und dementer Menschen (2010) 18
Zeit zwischen 1812 und 1916 • Keine einheitlichen Regelungen für die Aufnahme in Anstalten • Liberalismus / Konstitutionalismus bestärkt „Irrenrechtsreform“ – es kam aber nicht dazu! • Verordnung 1874 als erstes „Irrengesetz“ (Voraussetzungen für Aufnahme, Anhaltung und Entlassung von Geisteskranken; aber nur geltend für Privat-Irrenanstalten. Öffentl. Anstalten konnten dies in Anstaltsstatuten regeln) • Voraussetzung für Aufnahme war die „Geisteskrankheit“ (Anhaltung zum Zweck der Heilung mittels „Parere“; Einweisungen durch Sicherheitsbehörden zunehmend nur mehr wegen Selbst-/Fremdgefahr) • Keine Regelungen für den eigentlichen Aufenthalt 19
Zeit zwischen 1812 und 1916 • Deshalb auch kein Rechtsschutz bei Anwendung von Freiheitsbe- schränkungen • Jedoch „Instruction für den Primararzt der Irrenanstalt“ (aus 1815): Primar musste „strenge seyn“ und durfte nicht dulden, dass „die Irrsinnigen von den Wärtern grob behandelt oder gar misshandelt werden“ „Jede Art von Unmenschlichkeit oder auch nur von Lieblosigkeit [musste] diesem Institute fremd seyn.“ Der Primar war verpflichtet, zu unregelmäßigen Zeiten die Irrenanstalt zu kontrollieren, um „sich von der Pflege und der Behandlung der Irren zu überzeugen“. Es sei „der Prudenz des Primararztes überlassen, ob und wenn manche Irren zur Besserung ihres Gemüthszustandes zu strafen seyen und unter welchen Modificationen diese moralische Arznei anzuwenden sey. Allein diese Strafe muss niemals aus Leidenschaft verfüget werden, und niemals die Gränzen der Humanität überschreiten“. Quelle: Dissertation Martina Wolz, Der Schutz der persönlichen Freiheit psychisch kranker, geistig behinderter und dementer Menschen (2010) 20
Weg zur Entmündigungsordnung • Langer Vorlauf – erste Forderungen bereits 1859 (Hauptkritik: Kein Rechtsschutz, Willkür in Aufnahme/Anhaltung, Gerüchte über „Internierungen und Entmündigungen angeblich Geistesgesunder“, Progression „zwangsweise Hospitalisierter“ von 43/1000 um 1880 auf 140/1000 um 1910) • Kaiserliche Verordnung über die Entmündigung (Entmündigungsordnung) wird per 28. Juni 1916 erlassen • Entmündigung löst Kuratel wegen „Wahn- und Blödsinn“ ab (Neuerungen: volle/beschränkte Entmündigung, Gerichtsverfahren, Rechtsschutz) • Obligates gerichtliches Verfahren bei Anhaltung in geschlossenen Anstalten Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005) 21
Rechtsrahmen nach der EntmO • Überprüfung der Beschränkung der Freiheit oder des Verkehrs mit der Außenwelt durch Gerichte • Binnen drei Wochen ab Aufnahme • Zum Schutz des Betroffenen war ein Vertreter zu bestellen, Betroffene hatte Anhörungsrechte und Rechtsmittelmöglichkeiten • Zwei große Kritikpunkte: Keine Voraussetzungen zur zwangsweisen Aufnahme. Dies blieb die „Geisteskrankheit“ oder die „Anstaltsbedürftigkeit“. Regelungen waren nicht anzuwenden auf Personen, die bereits gerichtlich entmündigt waren. Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005) 22
Auswirkungen • Zahl der Anstaltspatienten stieg weiterhin. Zeit rund um Wirtschaftskrise 1929/1930 war ein Höhepunkt erreicht. • Versorgungssituation psychisch Erkrankter / geistig Behinderter verschlechterte sich dadurch. • Anstalten mutierten zu reinen „Aufbewahrungsstätten“ • Vorherrschend war eine soziale Kontroll- und Ordnungsfunktion und nicht ein therapeutisch-helfender Anspruch. • Pessimismus machte sich breit. Dieser lieferte einen Nährboden für eugenisches Gedankengut in Teilen der Psychiatrie. 23 Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005)
1938-1945 • Verfolgung / Vernichtung von „rassenschädlichen“ und nicht „verwertungs- fähigen“ psychisch kranken und geistig behinderten Menschen • Organisierter Massenmord durch Euthanasie-Aktion T4 • Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses = Zwangssterilisationen • Entmündigungsordnung blieb auch während der NS-Zeit in Kraft • Hinzu kamen deutsche Rechtsquellen, die u.a. auch eine zeitlich unbefristete Zwangseinweisung „arbeitsfähiger Fürsorgeempfänger in eine Anstalt/Arbeitseinrichtung“ vorsahen Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005) 24
Anfangsjahre 2. Republik • Rechtslage vor NS-Zeit war wieder in Geltung • Reform des „Irrensrechts“ durch Regelungen im Krankenanstaltengesetz • Aus „Irrenanstalten“ werden „Sonderheilanstalten für Geisteskranke“ • Aufnahmevoraussetzung: Geisteskrankheit + Selbst-/Fremdgefahr • Einweisung mittels „Parere“ • Aufnahme aus rein therapeutischen-fürsorglichen Gründen wurde ausge- schlossen; außer bei „Entmündigten“ Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005) 25
60iger / 70iger Jahre • 1958: EMRK statuiert Grundrechte für psychisch Kranke (Recht auf Freiheit und Sicherheit) • 1970er-Jahre: Krise der Psychiatrie und Psychiatriekritik (Kritik an mangelhafter Betreuung, hoher Anteil von Zwangsaufnahmen, „Verwahrung“ - vor allem für chronisch Erkrankte, Rechtsrahmen führt eher zur Entrechtung als zum Schutz, teilweise Forderung eines Anhaltegrunds der „Behandlungs-/Beobachtungsbedürftigkeit) • Auch Strafrechtsreform: Herauslösung „geistig abnormer Rechtsbrecher“ aus dem Anhalterecht und Einbettung in das Justizstrafrecht (samt Einweisungsmöglichkeiten in Justizanstalten / Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher) Quelle: Susanne Jaquemar / Harald Kinzl, Vom Narrenturm zum Heimaufenthaltsgesetz (2005) 26
1984: Sachwalterrecht • Entmündigungsordnung aus 1916 wird abgelöst • Sachwalterschaft streng subsidiär, „moderner Rechtsrahmen“ • Anhalteverfahren bleibt jedoch in Geltung • Rechtsschutz psychisch Erkrankter weiterhin unbefriedigend 27
1988: BVG Schutz pers. Freiheit • Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit trat 1991 in Kraft • Demnach darf die Freiheit einem Menschen u.a. nur in folgenden Fällen auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: wenn auf Grund einer mit Strafe bedrohten Handlung auf Freiheitsentzug erkannt worden ist wenn Grund zur Annahme besteht, daß er eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten sei oder wegen psychischer Erkrankung sich oder andere gefährde zum Zweck notwendiger Erziehungsmaßnahmen bei einem Minderjährigen 28
1991: Unterbringungsgesetz • Reform des Anhalterechts • Langer Vorlauf – Beginn in den 1970iger Jahren • Unterbringungsvoraussetzungen für alle gleich: Psychische Krankheit Ernste / erhebliche Selbst- / Fremdgefahr Alternativenlosigkeit (ultima ratio der Unterbringung) • Zudem: Regelungen für präklinisches Vorgehen, kostenlose Vertretung durch Patientenanwälte, Verständigungspflichten, Dokumentation, Gerichtskontrolle, Sachverständigen-Beiziehung, Schutz von Persönlich- keitsrechten, eigene Regelungen für die ärztliche Behandlung … 29
Nach 1991 • Rechtschutz für Patienten in Psychiatrien nun durch UBG • Bestimmungen des Aufenthaltsortes durch den Sachwalter außerhalb der Psychiatrie aber nach wie vor üblich (Alten-, Pflegeheime, Behinderten- einrichtungen) – dies auch gegen/ohne den Willen der Betroffenen • Vermehrter Fokus darauf auch im Hinblick auf die „Ausgliederung behinderter Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen“ • Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen als auch Behinderten- einrichtungen liegen im rechtsfreien Raum. Forderung nach Regelungen auch vom Personal der Einrichtungen (wollen klare Handlungsbefugnisse) 30
Nach 1991 • Zwangsakte des Sachwalters bei Aufenthaltsortbestimmung wird zunehmend aufgrund verfassungsrechtlicher Grundlagen abgelehnt • Lainz-Skandal 1989 samt juristischer / medialer Aufbereitung danach • Breite öffentliche Diskussion / zahlreiche wissenschaftliche Beiträge • Vorarbeiten für gesetzliche Regelung beginnen ab 2000 • Heimaufenthaltsgesetz tritt mit 1.7.2005 in Kraft und orientiert sich maßgeblich am UBG 31
Heimaufenthaltsgesetz 2005 • Gilt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen, Behinderteneinrichtungen, Krankenhausabteilungen außerhalb der Psychiatrie und ab 1.7.2018 auch in Kinder- und Jugendeinrichtungen • Umfassender Freiheitsbeschränkungsbegriff (§ 3 HeimAufG): Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes liegt vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (im Folgenden Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. 32
Heimaufenthaltsgesetz Wann darf eine Freiheitsbeschränkung vorgenommen werden? Wenn 1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet 2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie 3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann. 33
Heimaufenthaltsgesetz • Konkrete Regelungen über Anordnungsbefugnisse (Ärzte, Pflegepersonal, pädagogisches Personal) • Verständigung, Dokumentation, Aufklärung • Kostenlose Vertretung durch Bewohnervertreter • Gerichtskontrolle nur auf Antrag • Aber: Keinen Schutz der Persönlichkeitsrechte 34
2018: Erwachsenenschutzgesetz • Löst mit 1.7.2018 das Sachwalterrecht ab • Problempunkte: Anzahl an Sachwalterschaften stark gestiegen (30.000 um 2003, bereits 60.000 um 2016) Steigende Lebenserwartung, Zunahme dementiell Erkrankter Erhöhte Anforderungen im Geschäfts- und Rechtsverkehr • Auch internationale Verpflichten erfordern eine Reform: UN BRK • Zentrale Drehscheibe: Erwachsenenschutzvereine (vormals Sachwaltervereine) 35
Zentrale Bestimmung: § 239 ABGB • Im rechtlichen Verkehr ist dafür Sorge zu tragen, dass volljährige Personen, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt sind, möglichst selbständig, erforderlichenfalls mit entsprechender Unterstützung, ihre Angelegenheiten selbst besorgen können. • Unterstützung kann insbesondere durch die Familie, andere nahe stehende Personen, Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen der Behindertenhilfe und soziale und psychosoziale Dienste, Gruppen von Gleichgestellten, Beratungsstellen oder im Rahmen eines betreuten Kontos oder eines Vorsorgedialogs geleistet werden. • Ist die Unterstützung nicht ausreichend, so kommt es bei nicht- 36 entscheidungsfähigen Personen bei Bedarf zur Vertretung.
Neue Vertretungsmodelle Quelle: Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz, 2018 37
Maßnahmenvollzugsrecht 20?? • Regelungen seit 1975 unverändert • Auch Vollzugsregelungen nicht mehr kompatibel mit modernem Grund- rechtsverständnis • Keine effektiven Beschwerdemöglichkeiten / keine Vertretung • BM Brandstetter legte Entwurf für Maßnahmenvollzugsgesetz 2017 vor – dieser harrt der Bearbeitung … 38
Entwurf Maßnahmenvollzugsrecht • Regelungsbereich soll weiterhin dem Strafrecht angehören • Eigenes Gesetz: Maßnahmenvollzugsgesetz • Strafrechtliche Unterbringung künftig in besonderen Einrichtungen der Justiz (forensisch-therapeutische Zentren) und nur ausnahmsweise in öff. Krankenanstalten für Psychiatrie • Starker Ausbau alternativer Wohnformen für geeignete Personen (WGs, sonst. Betreuungseinrichtungen) – sog. „ambulanter Vollzug“ • Ausbau Bewährungshilfe und Vertretung durch Patientenanwälte (UbG) Quelle: Entwurf zum Maßnahmenvollzugsgesetz, 2017 39
Recht und Psychiatrie im Überblick Was gilt nun nochmals wo? Psychiatrisches Krankenhaus, Psychiatrische Abteilung => UBG Pflege- und Betreuungseinrichtung (Kinder/Jugendliche, ältere Menschen, Menschen mit kognitiven Einschränkungen), Krankenhaus- abteilungen außerhalb von Psychiatrien => HEIMAUFG Haftanstalten, Forensische Zentren (Maßnahmenvollzug) => STVG Betreuung zu Hause / im privaten Umfeld => kein Rechtsrahmen! 40
Schlussbemerkungen • Ein Zusammenspiel von allen Beteiligten in diesen Settings soll dazu verhelfen, unter Achtung der Autonomie des Betroffenen sein Wohl bestmöglich zu fördern. • Die gesetzlichen Rahmenbedingungen definieren auch den konkreten Auftrag im jeweiligen Setting. • Die gesetzlichen Regelungen ebnen den Weg, der Thematik „Freiheits- beschränkung“ stets sensibel entgegen zu treten. • Somit kann durch Änderungen der Strukturen / der Haltung des Personals in der Krise ggf. auch ohne Zwang für eine ausreichende Sicherheit gesorgt werden. 41
Zu guter Letzt … Alle, die mit Rechtsnormen im Alltag arbeiten, sollten folgenden Satz stets beherzigen: „Scire leges non hoc est verba earum tenere sed vim ac postestatem.“ („Die Kenntnis des Rechts besteht nicht darin, Gesetzeswortlaute zu zitieren, sondern die Bedeutung und Auswirkung der Gesetze zu erkennen.“) Zitat von Celsus, 2. Jhd. nach Christus 42
Dr.iur. Michael Halmich LL.M. medrecht@halmich.at www.halmich.at 2018 erschienen! www.educa-verlag.at www.oegern.at
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