FREMDSPRACHLICHES UND MUSIKALISCHES LERNEN - ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM STRUKTURMODELL AM BEISPIEL ISLANDS - Babylonia Journal of Language Education
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FREMDSPRACHLICHES UND MUSIKALISCHES LERNEN – ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM esatra FTinem STRUKTURMODELL AM BEISPIEL ISLANDS In our paper we introduce our model “Structures of Language and Music” and report about a case study in Iceland. We show how language und music education partly draw from similar concepts in either discipline and how these concepts may be combined for a deeper understanding of language and music learning both in natural as well as in instructed settings. Looking at data collected in a focus group discussion at the University of Iceland and by observations in Icelandic music and foreign language classrooms in an inclusive school in Reykjavík we show in this paper how music and language learning can inspire each other. By understanding the relationship between music and language learning from a more theoretical approach suggested by our model and its reception by specialists from the music and modern languages departments of the University of Iceland as well as its application to classroom practice, we suggest that our model can make a contribution to language and music education as well as teacher education. Das Strukturmodell und seine Jörg-U. Keßler & Aufbauend auf den Erkenntnissen aus Genese dem EMP-Projekt wurde das Modell Robert Lang | Structures of Language and Music. Possible Eine internationale und interdisziplinäre Synergies for Language and Music Education PH Ludwigsburg Gruppe von Wissenschaftlerinnen (Abb. S. 32) entwickelt. Es bildet oben und Wissenschaftlern wie auch von und unten die beiden Domänen Sprache Dozierenden mit Praxiserfahrung in und Musik mit ihren jeweiligen An- den Bereichen Musikwissenschaften wendungsfeldern ab. Im Zentrum des und Fremdsprachendidaktik aus Modells stehen die für beide Gramma- Jörg-U. Keßler ist seit acht europäischen Ländern hat im tiken ähnlich bedeutsamen Parameter 2008 Professor für Comenius-Projekt European Music and der Tonhöhe, Betonung, Klangfarbe und englische Sprache und Language Portfolio die Schnittstellen des Rhythmus. In einem pyramidenartig ihre Didaktik sowie Pro- von musikalischem und sprachlichem angeordneten System prägen diese vier rektor für Forschung & Lernen untersucht (EMP; http://www. Elemente sowohl in der Domäne Sprache Internationales an der PH Ludwigsburg. emportfolio.eu/). Bereits zu Beginn der als auch der Domäne Musik bereits kleine Projektarbeit wurde deutlich, dass es prosodische bzw. melodische Einheiten neben den praktischen Synergien auch sowie auch komplexere Dimensionen und gerade im theoretischen Rahmen bis hin zu sprachlichen Absätzen bzw. Robert Lang ist seit eine breite Basis von vergleichbaren Musikstücken. 2007 Professor für Konzepten in beiden Domänen gibt (vgl. Musik an der PH dazu auch Patel 2008; Khaghaninejad Prosodie und Melodie sind demnach der Ludwigsburg. Lehrtätig- & Fahandejsaadi 2016). Lang & gemeinsame Ausgangspunkt des zentra- keiten an der UdK Berlin Keßler zeigen, dass in diesem Projekt len Feldes. Zum einen sind sie innerhalb (Musiktheorie), der Universität Bielefeld sowohl Grundlagenforschung zum ihrer Domänen von entscheidender Be- (Musikpädagogik/Musikwissenschaft) „Aufbau deklarativer und prozeduraler deutung, denn mündliche Kommunika- sowie der Bielefelder Laborschule. Wissenschstrukturen“ als auch die tion ist ohne die lautlichen Einheiten der Bereiche interkulturelle Kompetenz Prosodie nicht denkbar; Musik ist in den sowie strukturelle Aspekte des Lernens in meisten Stilrichtungen und kulturellen beiden Disziplinen Analogien aufweisen Kontexten melodisch geprägt und wird (Lang & Keßler 2013: 22). 88 | BABYLONIA finestra 1|2021
auch bei Plagiatsvorwürfen vorwiegend Das Beispiel Island anhand melodischer Strukturen beurteilt. Zum anderen sind Prosodie und Melodik Nachdem im Rahmen des europäischen hervorgehoben, weil sich in ihnen eine Projekts EMP interdisziplinäre Praxis- Reihe von Berührungspunkten, teils so- zugänge systematisiert und die theore- gar Schnittmengen der beiden Domänen tische Basis weiterentwickelt worden bilden. So beschäftigt sich schon seit waren, lag der Transfer der Erträge auf langem die auf frühkindlichen Sprach- einen die EU-Grenzen überschreitenden erwerb spezialisierte Forschung mit dem Kontext nahe. Island erscheint hierfür „Brabbeln“ von Kleinkindern in den ers- als geeignetes Beispiel, denn unweit des ten beiden Lebensjahren (z.B. Cruttenden nordwestlichen Europa gelegen, bietet es 1982) und mit der Frage, ob es sich bei sowohl vergleichbare Strukturen (etwa den hervorgebrachten Lauten eher um im Bildungssystem) als auch ganz eige- (Vor-)Formen von Sprache oder von Mu- ne kulturelle Ausprägungen. Es handelt sik handelt (Byrd et al. 2012). Auch in der sich um einen überschaubaren Insel- elaborierten Kunst ist es unumstritten, staat (ca. 360.000 Einwohnern/-innen) dass Prosodie und Melodik in diversen außerhalb der Europäischen Union, ge- Formaten – vor allem rezitationsbetonten prägt von einer entsprechend kleinen Kunstgattungen wie Oper – untrennbar Sprachgemeinschaft des Isländischen und miteinander verbunden sind (Hill 2003; von meist sehr guten Zweit- und Dritt- Gaudefroy-Demonbynes G. 2011). sprachkompetenzen (Dänisch, Englisch). Musikalisch sind für die vorliegenden Für den schulischen Kontext wurden theoretischen Überlegungen vor allem im EMP-Projekt wiederum ganz einfa- die speziellen isländischen Volksliedtra- che Aktivitäten von Kindern im Grund- ditionen relevant. schulalter zusammengetragen und sys- tematisiert (Ludke & Weinmann 2012). Die nachfolgenden Ausführungen greifen Ob es sich um ein Morgenlied handelt, Ergebnisse aus Begegnungen mit koope- um rhythmische Sprachspiele oder um rierenden isländischen Bildungsinstitu- experimentelle Filmmusik mit der Stim- tionen auf, wobei sich das Erkenntnisin- me: Stets sind es die Parameter Tonhöhe, teresse zur Interdisziplinarität Sprache/ Betonung, Klangfarbe und Rhythmus, auf Musik um zwei Punkte bündeln lässt: die es bei einer verständlichen sprachli- chen oder musikalischen Äußerung an- 1. Die internationale theoretische Refle- kommt und durch welche auch die inter- xion des vorgelegten Modells Structures disziplinären Synergien erfasst werden of Language and Music, insbesondere mit können. Im Modell ist die Relevanz der Blick auf seine Anwendbarkeit unter Be- linguistischen und musiktheoretischen rücksichtigung isländischer Bildungstra- Strukturen (aus der Mitte des Modells) ditionen. Ein hierauf fokussiertes Fach- für konkrete kulturelle Kontexte mit kolloquium wurde gemeinsam mit ca. 20 ihren jeweiligen sachbezogenen, künstle- Hochschullehrenden aus Sprachen und rischen oder rituellen Bedeutungsebenen Musik der Universität Reykjavík bzw. der (äußerer Rahmen des Modells) mit dem angegliederten Musikhochschule (Lista- geöffneten Feld „Connotation“ angezeigt. háskóli Íslands) durchgeführt. Die Analogien im abgebildeten Pyrami- 2. Die Frage nach der pädagogischen Pra- densystem sind theoretisch begründet. So xis in Island. Entsprechend wurde Unter- wird etwa die sprachliche Silbe dem mu- richt in Musik und Englisch an der Sjá- sikalischen Motiv gegenübergestellt, weil landsskóla Reykjavík beobachtet, ferner dort Prosodie bzw. Melodie auf kleinstem fanden zu den konzeptionellen Grundla- Raum wirksam wird. Das Modell grenzt gen Diskussionen mit der dortigen Schul- sich insofern von anderen Ansätzen leitung und den Fachlehrenden statt. ab, bei denen die Gegenüberstellungen von Sprache und Musik aus dem rea- Es überrascht nicht, dass im Rahmen der len Mechanismus von Textvertonungen Gespräche und Hospitationen in dieser abgeleitet sind (dort nämlich findet die interkulturellen Konstellation eine ganze Silbe nicht ihr musikalisches Pendant im Reihe von Themen zum Komplex Sprache mehrtönigen Motiv, sondern im bloßen und Musik sowohl direkt erlebbar als Einzelton, weil Liedtext-Silben über- auch vertiefend diskutiert wurden. Den wiegend syllabisch vertont werden – s. Mitschnitten aus den genannten Fokus- Lerdahl 2013: 272). gruppen folgten daher eine Transkription 1|2021 finestra BABYLONIA | 89
und eingehende Analysen unter Rück- sprache mit den Beteiligten. Für den vorliegenden Textbeitrag seien exemp- larisch drei Aspekte vorgestellt: erstens die Bedeutung impliziten bzw. expliziten Lernens auf sprachlicher wie auch auf musikalischer Ebene; zweitens das Phä- nomen des „Rollenwechsels“ in sprach- lich bzw. musikalisch geprägten Situatio- nen; drittens die Verbindung von Sprache und Musik speziell in der Geschichte und Gegenwart Islands. Bei den Erläuterungen der genannten Aspekte wird jeweils die Relevanz des Modells Structures of Lan- guage and Music verdeutlicht. Aspekt a) Intuition und ‚practice‘ – implizite und explizite Zugänge Aufbauend auf den Erkenntnissen aus Für die Grammatiken beider Domänen sind im Modell (rechts) die Bezeich- dem EMP-Projekt wurde das Modell nungen „implizit“/“explizit“ vermerkt, da sowohl im sprachlichen als auch im Structures of Language and Music. musikalischen Lernen diese Unterschei- dung essenziell ist. In der Spracherwerbs- Possible Synergies for Language forschung finden sich hierzu sehr unter- schiedliche Positionen, die auf einem and Music Education (Abb.1, S. 3) Kontinuum zwischen den Fragen, ob Lernen an sich überhaupt ohne Bewusst- entwickelt. Es bildet oben und unten die sein möglich wäre und ob andererseits explizites Wissen jemals für spontanen beiden Domänen Sprache und Musik mit Sprachgebrauch nutzbar wäre, rangie- ren (vgl. VanPatten & Williams, 2015:12). ihren jeweiligen Anwendungsfeldern ab. Dabei wird deutlich, dass implizites und explizites Wissen zwar miteinander ver- bunden, aber dennoch verschiedene Kon- zepte sind (vgl. Schmidt, 1994, zitiert in VanPatten & Williams, 2015: 13). 90 | BABYLONIA finestra 1|2021
In der Musikpädagogik wird das Begriffs- liche Steine) zuvor auf ihre Ästhetik, Be- paar explizit – implizit oft mit einem zwei- schaffenheit und Herkundt hin reflektiert ten, deklarativ – prozedural, synonym ver- worden war. wendet, obwohl es beim ersten um Be- wusstheit und beim zweiten um (Sach-) Wissen vs. Tun geht. Musiktheoretisches und musikgeschichtliches Faktenwissen Ob es sich um ein Morgenlied handelt, gehört demnach zweifellos zum dekla- rativen, meist auch explizit erworbenen um rhythmische Sprachspiele oder um Wissen. Auf dem prozeduralen bzw. im- pliziten Feld beschäftigen sich neuere experimentelle Filmmusik mit der Stimme: Studien insbesondere mit Prozessen des Übens am Instrument und der hirnphy- Stets sind es die Parameter Tonhöhe, Betonung, siologisch noch immer schwer lokali- sierbaren dreischrittigen Speicherung Klangfarbe und Rhythmus, auf die es bei einer entsprechender Automatismen im sen- sorischen Speicher, im Arbeitsgedächtnis verständlichen sprachlichen oder musikalischen und schließlich im Langzeitgedächtnis (Lehmann & Kopiez 2018: 369 f.). Äußerung ankommt und durch welche auch die Im internationalen Fachkolloquium an interdisziplinären Synergien erfasst werden der Iceland University Reykjavík berich- tete eine Kollegin von ihrer Strategie, können. beim Fremdsprachenlernen ähnlich wie in der Musik vorzugehen. Fremdspra- chenlernende müssten demnach ein Be- Aspekt b) Rollenwechsel in wusstsein dafür entwickeln, dass es hier sprachlichen und musikalischen sowohl implizite als auch explizite As- Situationen pekte gibt. Insbesondere im lexikalischen Bereich müsse explizit gelernt werden. In Dass Rollenwechsel Schlüssel zu neuen der Anwendung des Gelernten wird dann Erfahrungen und damit neuem Wis- zunächst das lexikalische Wissen auto- senserwerb bedeuten können, hat die matisiert. Dies führt im weiteren Sprach- Pädagogik bereits für sich entdeckt und erwerb dazu, dass auch morphologische methodisch erschlossen (Goffmann 1983; und syntaktische Strukturen impliziert Scheller 1998). Für Musik und Sprachen weiterentwickelt werden. gibt es dabei zwei Standardsituationen. Erstens: Musikerinnen und Musiker tre- Ein spannendes Feld eröffnet dies auch ten vor Beginn eines Konzertes in eine hinsichtlich der Unterscheidung zwi- neue Rolle, ja einen geänderten mentalen schen Intuition und dem Üben von Zustand über, um ihre Musik zu prä- sprachlichen oder musikalischen Struk- sentieren (insbesondere auch Dirigen- turen bzw. Mustern: Sowohl beim Fremd- ten, denn ihre prominente Rolle kommt sprachenlernen als auch beim musikali- der eines „Statthalters des Komponisten“ schen Lernen entwickeln Lernende ein gleich). Zweitens: Im fremdsprachlich „Gefühl“ für richtige Strukturen, die sie geprägten Umfeld kann die Übernahme dann zwar anwenden können, also im- der Sprache und der Gesten generell als plizit beherrschen, jedoch häufig nicht Rollenwechsel betrachtet werden (was explizit erklären können. Nimmt man etwa im Englischunterricht an der Sjá- den englischen Begriff „practice“, so landsskóla durch die Klasseninszenierung werden hier beide Aspekte von Lernen einer News-Show anschaulich wurde). zusammengefasst. Einerseits bedeutet Insbesondere die Domäne Musik steht da- „practice“ das (Ein)-Üben von Strukturen bei für den Rollenwechsel zu gebündelter und Mustern, also explizites Lernen, auf handwerklicher Präsenz und gesteiger- der anderen Seite umfasst dieser Begriff ter Expressivität, gleichzeitig aber auch auch das Konzept des Anwendens, also als anfällige Situation für Aufführungs- des impliziten Wissens um sprachliche angst (Schuppert & Altenmüller 2018: bzw. musikalische Strukturen. Im Musik- 425). Die Domäne Sprache ist wegen des unterricht an der Sjálandsskóla Reykjavík Zusammenspiels aus sprachlichem und wurde eine solche integrierende Strate- gestischem Repertoire interessant, das gie am Beispiel von Rhythmusübungen ebenfalls neue Dimensionen eröffnen und deutlich, deren Materialien (unterschied- gleichzeitig Hemmnisse evozieren kann, 1|2021 finestra BABYLONIA | 91
wenn erworbene Strukturen zu expres- Isländischen und manchen romanischen sivem Leben erweckt werden sollen. Die Sprachen auch das Finnische, was den Theaterpädagogik versucht, mit extern Eindruck isländischer Wissenschaftlerin- zugewiesenen Texten, im Schutze einer nen und Wissenschaftler bestätigt, dass Rolle Sprache mit Ausdruck zu füllen am ehesten noch finnische Melodien zu (mit der Sprache „Musik zu machen“1) den isländischen Volksliedtexten passen und dadurch eigentliche Bedeutung zu würden. Dagegen sind es die Melodien geben sowie Kommunikation zu ermög- akzentzählender Sprachen wie deutsch lichen. oder englisch, die im analogen Versuch zu den oben genannten Problemen führen. Für beide Domänen, Sprache und Musik, Dass sich in traditionellen Liedern einer wird der Rollenwechsel zur Konkretion Kultur der jeweilige Sprechrhythmus eines Konnotationsprozesses. Links im („syllable-timed“ bzw. „stress-timed“) Modell ist diese connotation als Öffnung widerspiegelt, hat auch eine Studie von in Richtung der kulturell bedingten Si- Hannon et al. an der University of Ne- tuationen visualisiert. Im Falle vieler vada Las Vegas bestätigt. Bei den Analy- Rollenwechsel geht es hier um das An- sen eines Korpus von 269 französischen wenden – bzw. allgemeiner: den Umgang und englischen Volks- bzw. Kinderlie- mit Kulturtechniken der representation dern konnte eine erhöhte Variabilität (s. Domänen-Felder oben und unten im der Silbenlängen nach dem „normalized Modell). Konnotationen wie Leistung/ pairwise viability index“ (nPVI) sowohl Anerkennung können vor Publikum in den englischen Liedtexten als auch in musikalische und sprachliche Hervor- den Tonlängen der zugehörigen Melo- bringungen potenzieren. Sie können al- dien nachgewiesen werden (Hannon et lerdings auch (verzerrenderweise) mu- al. 2016). Taktwechsel in traditionellen sik/-sprachimmanente Ziele dominieren isländischen Liedern und das eigentliche Zustandekommen der Musik/Sprache stören. Zu den traditionellen Formen isländi- scher Vokalmusik zählen „Rímur“ (epi- Aspekt c) Interkulturelle sche Lieder, bei denen die Zuhörenden Kompatibilität von Texten und zuweilen in den Zeilenschlusston mit Melodien einstimmen), „Tvísöngur“ (in Quintpa- rallelen vorgetragene zweistimmige Ge- In den Fachkollegien der Sprach- und sänge aus dem 15.-18. Jahrhundert) und Musikwissenschaften der Universität vorwiegend geistliche Hymnen. In allen Reykjavík wurde übereinstimmend die drei Liedarten wechseln die Texte häufig Erfahrung gemacht, dass traditionelle zwischen sieben und sechs oder zwischen isländische Lieder eine besondere Ver- acht und fünf Silben und fügen sich ty- bindung von Sprache und Musik aufwei- pischerweise auch in wechselnde Takte sen. Umgekehrt lautet die Feststellung: der Musik (Valsdóttir 2007; Faulkner Wenn man versuchsweise die isländi- 2012). Die Sammlung „Íslensk Þjóðlög“ schen Liedtexte mit Melodien aus dem (Isländische Volkslieder, 1906-1909) von Ausland versieht – etwa mit solchen Bjarni Þorsteinsson liefert hierfür viele aus Deutschland –, „funktionieren“ die Beispiele, die sich sehr deutlich von der resultierenden Vertonungen im Sinne Regelmäßigkeit etwa deutscher oder eng- eines stimmigen metrisch-melodischen lischer Metrik unterscheiden. Ein noch Gebildes nicht mehr. Dieser zunächst heute sehr bekanntes isländisches Ríma praxisgebundene Erfahrungswert lässt mit den charakteristischen Taktwechseln sich sowohl aus sprachlichem als auch ist ein Kinderlied mit dem Titel „Dýra- aus musikalischem Blickwinkel theore- vísur“ (Tierverse). Es zählt allerlei Tiere tisch begründen: wie Henne, Rabe, Hund und Schwein auf und spielt mit deren Lauten. Isländisch als syllable-timed language 1 Im interkulturellen Musikunterricht, anläss- lich der Annäherung an fremde Kulturen Die schon von A. Lloyd James (1940) (etwa am Beispiel eines arabischen Liedes) eingeführte Isochronie-Hypothese mit gelingt auch eine mündliche oder schrift- ihrer Unterscheidung in silbenzählende liche Stellungnahme deutlich leichter „im und akzentzählende Sprachen erlangt Schutze der jeweiligen Rolle“, z.B. als Kalif, an dieser Stelle Tragweite. Zu silben- als dessen Frau, als arabischer Musiker etc. zählenden Sprachen, deren Silben eine (Bubinger & Stroh 2019: 86). ähnliche Länge haben, zählt neben dem 92 | BABYLONIA finestra 1|2021
Das Singen und Spielen von Liedern die- der Liedtexte) und der Musik (in Form ser und ähnlicher metrischer Fakturen der traditionellen Vokalmusik). gehört in den Schulen zum Alltag. Auch in der Sjálandsskóla in Reykjavík werden Dies verdeutlicht das Modell, indem es mit Metrum- und Rhythmusspielen die auf der linken Seite mittels des Feldes Kenntnisse zu Spezifika der isländischen connotation die Öffnung zu (inter)kultu- Musik und Sprache vertieft. Daneben fin- rellen Kontexten vorsieht, denn letzt- det durch parallel erlernte Fremdspra- lich werden Erfahrungen zur Passung chen Englisch und Dänisch automatisch von Liedtexten in kulturell bedingten eine entsprechende Sensibilisierung für Situationen gemacht. Eine widerständige „stress-timed languages“ statt. Konstellation aus vertrauter Melodie und fremdsprachlichem Text – oder umge- Sichtbar wird, dass es genau die Elemente kehrt – wurde indes von den Dozieren- im Zentrum des hier vorgestellten Mo- den der Universität Reykjavík nicht als dells sind (nämlich Stress, Rhythm, Pitch, Problem, sondern als Gewinn gesehen: s. S. xy), welche die Grammatiken des als interkulturelle Erkenntnis durch die jeweiligen Mediums Sprache oder Musik Spiegelung des Eigenen im Fremden. prägen, eingebunden in alle Dimensionen von einzelnen sillables/motifs bis hin zu Transfer: Ríma in the classroom ganzen paragraphs/songs. Dies gilt uni- versell (siehe Lerdahl 2013), führt an- Das isländische Lied „Hani, Krummi, dererseits aber auch zu typologischen Hundur“ kann als Gegenstand für einen Differenzierungen, wie etwa hier im Schulunterricht verwendet werden, der Isländischen oder in anderen Sprach- in Anlehnung an das vorgestellte Modell konstellationen (s.o. Hannon 2016, für sprachliche und musikalische Strukturen italienische Lieder auch Lang 2000). aufeinander bezieht. Drei Ideen hierzu seien im Folgenden skizziert: Diese Erkenntnisse zur interkulturellen Kompatibilität von Musik und Sprache • Pattern-Übungen. Das Lied enthält können theoretisch auch im Rahmen des Takte mit unterschiedlichen Rhyth- Modells erklärt werden: Auf der rechten men, etwa T. 1 und 3: Seite stehen die Grammatiken der Musik und der Sprache, die sich jeweils sowohl bzw. implizit als auch explizit in den fachspezi- fischen Domänen (siehe den Mittelpunkt Diese Einzeltakte können als rhyth- des Modells) in den Ausdrucksformen misches Patterns vor- und nachge- „prosody“ (Sprache) und „melody“ (Musik) klatscht werden, wobei gemäß der treffen. Die oben genannten kulturspezi- Music Learning Theory E. Gordons fischen Charakteristika der isländischen jeweils ein ca. 5-sekündiges Intervall Sprache (syllable-timed language) und der Stille vor dem Nachklatschen ein- den traditionellen Formen der isländi- gehalten wird. Diese Pause provoziert schen Vokalmusik beeinflussen genau die mentale Repräsentation des Pat- diese beiden Ausdrucksformen in ihrer terns im Sinne einer explizierenden kulturellen isländischen Ausprägung. Audiation (Süberkrüb 2006). Analog Transferiert man nun Liedtexte in einer kann explizites lexikalisches Wissen anderen Sprache auf die isländische Vo- aufgebaut und durch die eingeübten kalmusik, so kommt es – je nach Sprach- rhythmischen Patterns können lexi- typ – zu einer größeren oder kleineren kalische Einheiten eingeübt und ver- Passung zwischen der Sprache (in Form festigt werden. Bei diesem Vor gehen 1|2021 finestra BABYLONIA | 93
profitieren sowohl Lernende als auch ländischen Liedtextes verteilen sich Lehrkräfte aus den Erkenntnissen der gleichmäßig auf die Viertel-Werte Musikpädagogik, denn die für das der Takte (s.o. syllable-timed langua- musikalische Lernen auf der Basis ge). Indem die Lernenden nun eine von Gordons Theorie begründeten andere Sprache einsetzen, müssen Intervalle der Stille lassen sich sehr sie flexibel mit Silbenverteilungen, gut auf das fremdsprachliche Lernen Betonungen und ggf. Füllwörtern übertragen. In beiden Medien wird umgehen, um den prosodisch-me- auf diese Weise vermieden, dass die lodischen Kern des Liedes sangbar Lernenden den neuen Wortschatz zu erhalten. Zu erkenntnisreichen (bzw. den Rhythmus) im flüchtigen Herausforderungen werden dabei Hörfluss ausschließlich als Patterns beispielsweise das Deutsche oder und somit quasi als chunks memo- Englische in ihren Eigenschaften als rieren (vgl. Blell 2016). Stattdessen stress-timed languages. Grobüber- kann durch die Pausen das Lernen setzungen: (dt.) Henne, Rabe, Hund, und Einprägen vertieft und differen- Schwein, Pferd, Maus, Meise. Gackern, ziert werden, insbesondere wenn Krächzen, Bellen, Quieken, Wiehern, dann nach den Pausen, am besten Piepsen, Singen; (engl.) Hen, raven, in einer anderen Reihenfolge oder dog, pig, horse, mouse, chickadee. in anderen Kontexten, wieder auf Crows, cronks, barks, squeals, neighs, die eingeführten lexikalischen (bzw. chirps, sings. rhythmischen) Einheiten zurückge- griffen wird. Fazit Transferiert man nun Liedtexte in einer anderen Es konnte anhand ausgewählter Aspekte (implizites/explizites Lernen, situative Sprache auf die isländische Vokalmusik, so kommt Rollenwechsel, interkulturelle Text-Me- lodie-Kompatibilitäten) gezeigt werden, es – je nach Sprachtyp – zu einer größeren dass das theoretisch entwickelte Modell Structures of Language and Music zentrale oder kleineren Passung zwischen der Sprache (in Schnittstellen zwischen den beiden Do- mänen Fremdsprache und Musik und ihr Form der Liedtexte) und der Musik (in Form der Zusammenwirken abbildet. Ursprüng- lich im Rahmen des EU-Projekts zum traditionellen Vokalmusik). Europäischen Musikportfolio entstanden, wurde das hier vorgestellte Strukturmo- dell durch Fokusgruppengespräche mit • Ein Lied in Bewegung (Grundschule). isländischen Expertinnen und Experten In Island wird die charakteristische erweitert und insbesondere im Bereich Metrik des Liedes zusätzlich durch des interkulturellen Lernens geschärft. Klatschen betont (s. Betonungszei- Im Praxistest an der inklusiven Sjá- chen über den Noten). Auch der in Is- landsskóla Reykjavík wie auch bei den land praktizierte Rundtanz bietet sich hier skizzierten Unterrichtsideen zum für den Unterricht an: Mit den mar- Lied „Hani, Krummi, Hundur“ zeigt sich kierten Betonungen erfolgt jeweils neben seiner theoretischen Stärke auch ein Auftreten, der rechte Fuß beginnt; seine Bedeutung für die betreffenden die Schritte führen in eine Bewegung Fachdidaktiken. Für die Fremdsprachen- des Tanzkreises nach links. Alternativ didaktik bietet das Modell eine gute Aus- werden die Tiere als Rollen verteilt, gangsbasis insbesondere für die Bereiche sodass ab Takt 5 die Tierlaute nicht des Zweitsprachenerwerbs und den damit gemeinsam im Liedtext beschrieben, eng verbundenen Teildisziplinen in der sondern von einzelnen Kindern imi- angewandten Linguistik (insbesondere in tiert werden. Die vielfältigen Rol- der Syntax und Morphologie, aber auch lenwechsel (Mensch/Tier, Sprachen, der Semantik und Pragmatik). Darüber interkulturelle Dimensionen), ber- hinaus unterstützt es den Erkenntnis- gen die oben beschriebenen Anreize, gewinn zum interkulturellen Lernen Schutzfunktionen und praktischen und baut gerade hier eine Brücke zum Herausforderungen. fächerübergreifenden Lehren und Lernen, nicht zuletzt auch im (Unterrichts)-Fach • Sprachen im Vergleich (weiterfüh- Musik. rende Schulen). Die Silben des is- 94 | BABYLONIA finestra 1|2021
Somit kann das Modell einen Beitrag zur Gaudefroy-Demonbynes, Géraldine (2011): Lehrdahl, Fred (2013): Musical Syntax and Its Weiterentwicklung der Lehrerinnen- und Métrique et prosodie dans l’analyse de la Relation to Linguistic Syntax. Arbib, Michael Lehrerbildung leisten. Dies gilt im Be- déclamation musicale en France. Musur- A. (Ed.): Language, Music, and the Brain. Cam- sonderen für die Ausbildung von Lehr- gia: Analyse et pratique musicales. 18(4). bridge, S. 257-272. kräften, die beide Fächer unterrichten http://search.ebscohost.com/login.aspx?di- wollen (z.B. im Rahmen eines Europa- rect=true&db=ram&AN=A862285&site= Lloyd James, Arthur (1940): Speech Signals in lehramtsstudiums an der Pädagogischen ehost-live. Zugriff am 10.3.2020. Telephony. London. Hochschule Ludwigsburg); in gleicher Weise aber auch für Ausbildung der bei- Goffmann, E. (1983): Wir alle spielen Theater. Ludke, Karen & Weinmann, Hanna (Eds.) den voneinander unabhängig studierten Die Selbstdarstellung im Alltag. München: (2012): European Music Portfolio: A Creative Fachdidaktiken. Am Beispiel der islän- Piper Way into Languages. Teachers Handbook. dischen Kultur wurde offenbar, dass das Stuttgart. Strukturmodell gerade auch im Kontext des interkulturellen Lernens in den fach- Hannon, Erin E. et al. (2016): Exaggeration of wissenschaftlichen Theorien wie auch in Language-Specific Rhythms in English and Patel, Aniruddh D. (2008): Music, language den jeweiligen fachdidaktischen Unter- French Children‘s Songs. Frontiers in Psycholo- and the brain. Oxford University Press. richtspraxen Aussagekraft erlangt. gy, 7/2016, S. 1-14. Þorsteinsson, Bjarni (1906-1909): Íslensk Literatur Hill, John W. (2003): Beyond isomorphism Þjóðlög. Kopenhagen. toward a better theory of recitative. Journal Bubinger, Anne & Stroh, Wolfgang M. (2019): of seventeenth-century music, V. 9, Number Scheller, Ingo (1998): Szenisches Spiel: Hand- Szenische Interpretation eines arabischen 1, 2003. http://search.ebscohost.com/login. buch für die pädagogische Praxis. Berlin: Cor- Liedes. Barth, Dorothee et al.: Musikunterricht. aspx?direct=true&db=ram&AN=A274445&si- nelsen Scriptor. Bildung – Musik – Kultur. Band 4: Am Puls der te=ehost-live. Zugriff am 10.3.2020. Zeit. Bundeskongress Musikunterricht, Hanno- Schmidt, Richard (1994): Deconstructing ver 2018. Kassel und Mainz, S. 82-89. Khaghaninejad, Mohammad Saber & consciousness: In search of useful definitions Fahandejsaadi, Rahim (2016): Music and for applied linguistics. AILA Review, Number 11, Blell, Gabriele (2016): Üben im Fremdspra- Language Learning. Shiraz University. S. 129-158. chenunterricht: „Wenn das Üben unmerklich https://www.researchgate.net/profile/ in den Unterricht integriert werden kann, so Mohammad_Khaghaninejad/publica- Schuppert, Maria & Altenmüller, Eckart könnte es weiter bestehen…“. Burwitz-Mel- tion/307014316_Music_and_Language_Le- (2018): Musikphysiologie und Musikermedi- zer, Eva, Frank. G. König, Claudia Riemer, Lars arning/links/57c1554008ae2f5eb333f042/ zin. Lehmann, Andreas C. & Kopiez, Reinhard Schmelter (Hrsg.): Üben und Übungen beim Music-and-Language-Learning.pdf. Zugriff am (Hrsg.): Handbuch Musikpsychologie. Bern, S. Fremdsprachenlernen. Tübingen: Narr, S. 8.7.2020. 411-434. 19-29. Kopiez, Reinhard & Wöllner, Clemens (2018): Süberkrüb, Almuth (2006): Üben in der mu- Byrd, Michael et al. (2012): Cooing, Crying, Musikalische Interpretation und Reproduk- sikalischen Lerntheorie von Edwin Gordon. and Babbling: A Link between Music and tion. Lehmann, Andreas C. & Kopiez, Reinhard Mahlert, Ulrich (Hrsg.): Handbuch „Üben“. Prelinguistic Communication. Conference (Hrsg.): Handbuch Musikpsychologie. Bern, S. Wiesbaden, S. 242-264. Paper. https://www.researchgate.net/publi- 311-340). cation/236218329_Cooing_Crying_and_ Bab- Valsdóttir, Kristín (2007): Saying and Sin- bling_ A_Link_between_Music_and_Prelin- Lang, Robert (2000): Die Canzonen und ihre ging in Iceland. Orff Schulwerk Informationen guistic_Communication Zugriff am 10.3.2020. Bedeutung für die neapolitanische Musik- 78/2207, S. 14-20. komödie. Ders.: „Neapolitanische Schule“. Cruttenden, Alan (1982): How Long Does In- Lokalstilistische Ausprägungen in der Oper des VanPatten, Bill & Williams, Jessica (Eds.) tonation Acquisition Take? Papers and Reports Settecento. Frankfurt u.a., S. 27-43. (2015): Theories in Second Language Acquisi- on Child Language Development, Number 21, tion. New York und London. S. 112-118. Lang, Robert & Keßler, Jörg-U. (2013): Euro- pean Language Portfolio. Diskussion Musikpä- Faulkner, Robert (2012): Icelandic Men, Male dagogik 60/2013; S. 22-23. Voice Choirs and Masculine Identity. Harrison, Scott D. et al. (Eds.): Perspectives on Males and Lehmann, Andreas C. & Kopiez, Reinhard Singing. Heidelberg u.a., S. 215-233. (2018): Auswendig, nach Gehör und vom Blatt spielen. Dies. (Hrsg.): Handbuch Musikpsycho- logie. Bern, S. 367-388. 1|2021 finestra BABYLONIA | 95
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