FREUNDESBRIEF - Nagelkreuzgemeinschaft

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FREUNDESBRIEF - Nagelkreuzgemeinschaft
FREUNDESBRIEF
            NAGELKREUZGEMEINSCHAFT IN DEUTSCHLAND E. V.

Berührungen –
liebevoll oder tödlich
Aktuelle Anmerkungen zu George Floyd und Corona

Ein Impuls von Sarah Hills

Außerdem ein Beitrag von Paul Oestreicher:
»Ehret die Toten« – Gedenkkultur in
Australien und Neuseeland zum Ersten Weltkrieg
                                                    Juli 2020
                                                  25. Jg. | Nr. 1
FREUNDESBRIEF - Nagelkreuzgemeinschaft
2 • Inhaltsverzeichnis

3   	�������������   Grußwort des Vorsitzenden

Leitartikel
4 	������������� Berührungen – liebevoll oder tödlich?
                 Aktuelle Anmerkungen zu George Floyd und Corona

Aus der Nagelkreuzgemeinschaft
6 	������������� »Ehret die Toten« –
                 Gedenkkultur zum Ersten Weltkrieg in Australien und Neuseeland

Aus Coventry
9 	������������� Rückblick auf gute Lebenszeit in Coventry

Aus der Nagelkreuzarbeit
10 	������������� 5 Jahre auf den Spuren der Feindesliebe (Mittelschule Guntramsdorf/Österreich)
12 	������������� Nach Corona: Samen voll Hoffnung
14 	������������� Der Segen der verwandelnden Versöhnung

Allgemeines
15 	��������� Termine
               und Hinweis auf Corona-Andachten
16	����������� Adressen

                                                                         www.nagelkreuz.org

Herausgeber:                                              Gestaltung: SV SAXONIA Verlag GmbH ·
Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V.               Lingnerallee 3 · 01069 Dresden ·
                                                          www.saxonia-verlag.de
Redaktion:                                                Druck: siblog – Gesellschaft für
Vorstand der Nagelkreuzgemeinschaft in                    Dialogmarketing, Fulfillment &
Deutschland e. V.                                         Lettershop mbH · Großenhainer Straße 99 ·
Beiträge und Leserbriefe bitte an Jost                    01127 Dresden · www.siblog.de
Hasselhorn (siehe Rückseite) senden.

Hinweis: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der
Redaktion wieder.

Redaktionsschluss für die Winterausgabe 2020 ist der 15. Oktober 2020

                             Um den Freundesbrief postalisch versenden zu können an interessierte Per-
                             sonen, erfassen und speichern wir Adressdaten. Wenn Sie den Freundesbrief
                             nicht mehr postalisch zugesendet bekommen möchten, wenden Sie sich an
                             Lothar Schmelz (Erreichbarkeit siehe Rückseite).
FREUNDESBRIEF - Nagelkreuzgemeinschaft
�������� • 3

    Liebe Mitglieder,
    liebe Freundinnen und Freunde der Nagelkreuzgemeinschaft!

Zwei Ereignisse haben uns in den letzten         wir mit dieser Gebetsbitte unsere Mitschuld
Monaten beschäftigt und in Atem gehalten:        an den vielfältigen Formen von Rassismus
Covid-19 sowie der Tod von George Floyd, der     bekennen. Im Vorstand und Leitungskreis
uns erneut den Rassismus in den USA und          haben wir uns immer wieder der Frage nach
weltweit ins Gedächtnis gerufen hat. Beides      dem Wort »Rasse« angenommen, und ich
greift dieser Freundesbrief auf.                 stehe auch im Austausch mit Coventry und
                                                 den anderen Vorsitzenden der nationalen
Dean John Witcombe gibt eine erste Ein-          Nagelkreuzgemeinschaften. Finden wir eine
schätzung, vor welchen Herausforderungen         Formulierung ohne den Begriff »Rasse«, bei
Versöhnungssuchende im Geiste Coventry           der uns das Gebet in seiner vertrauten Struk-
angesichts der Pandemie stehen und welche        tur erhalten bleibt? Hierzu möchten wir der
Ressourcen und Hoffnungszeichen die Kathe-       nächsten Mitgliederversammlung (8. bis
drale und die weltweite Nagelkreuzgemein-        10. Oktober 2021) einen Vorschlag vorlegen.
schaft zur Bearbeitung dieser Krise vielleicht
anbieten können. Für Hanna-Lotta Lehmann         »Selig sind, die da hungert und dürstet nach
ist ihr Freiwilliges Soziales Jahr in Coventry   der Gerechtigkeit«. Liebe, die aus der uns
auf Grund von Covid-19 frühzeitig zu einem       berührenden und versöhnenden Liebe Got-
Ende gekommen. In dieser Ausgabe schaut sie      tes hervorgeht, ist eine Liebe, die sich nach
auf ihr recht kurzes Jahr in Coventry zurück.    Gerechtigkeit sehnt. Eine solche Liebe ist
                                                 Solidarität mit den Benachteiligten, mit
Lehren aus der tödlichen Gewalt des Ersten       denen, die an den gesundheitlichen und wirt-
Weltkrieges zu ziehen, ist das Anliegen einer    schaftlichen Folgen der Pandemie oder unter
Predigt von Paul Oestreicher. Über die Folgen    Rassismus leiden. Wie treten wir als Nagel-
des gewaltsamen Todes von George Floyd           kreuzgemeinschaft für solch eine Solidarität
macht sich Sarah Hills in einem sehr persön-     ein? Wie können wir Deutsche zum Beispiel
lich gehaltenen Beitrag Gedanken. Auf dem        solidarisch mit den Menschen in Italien und
Hintergrund ihrer eigenen biographischen         Spanien sein, die vom Virus so viel stärker
Erfahrungen stellt sie den Tod bringenden        betroffen waren als wir? Der Austausch mit
Berührungen von Spaltungen und Rassismus         Nagelkreuzlern in Südafrika, Indien oder den
die Sehnsucht nach liebevollen Berührungen       USA kann uns bewusst machen, wie sich
im Geiste Jesu gegenüber.                        Covid-19 und Rassismus in diesen Ländern
                                                 auswirkt und sensibilisiert uns, gemeinsam
Nicht zuletzt die weltweiten Demonstratio-       nach Heilung, Gerechtigkeit und Versöhnung
nen gegen offenen und latenten Rassismus         zu suchen.
haben in den letzten Wochen in Deutschland
aufs Neue zu intensiven Diskussionen über        Ihnen und Euch wünsche ich eine anregende
den Begriff »Rasse« geführt. Ein Wort, das       Lektüre zum Nach- und Weiterdenken in die-
sich auch im Versöhnungsgebet von Coven-         sen verwirrenden Zeiten
try findet, das uns als weltweite Nagelkreuz-
gemeinschaft verbindet. So prägend für alle      Ihr/Euer
von uns dieses Gebet ist, umso schwerer
fällt es vielen mittlerweile, die erste Bitte
der Litanei mitzusprechen, und dies, obwohl
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4 • Leitartikel

    Berührungen – liebevoll oder tödlich?
    Aktuelle Anmerkungen zu George Floyd und Corona

Wie viele von uns war ich in der letzten Mai-      um: Liebe, die den Tod überwindet, gerechten
Woche gleichermaßen wütend, traurig und            Zorn, Vergebung und Gerechtigkeit, Vielfalt,
verwirrt. George Floyd starb in Minneapolis        Heilung, Versöhnung. Dies sind nicht nur
– niedergedrückt, mit einem Knie am Boden          Worte. Es dürfen nicht nur Worte sein. Die
gehalten, um Luft zum Atmen ringend. Berüh-        Bibel verkörpert diese Worte in der Berührung
rungen können unterschiedlich sein. George         mit Jesus Christus. Er rührt uns an mit seiner
starb durch eine Berührung. Dieser Körper-         Liebe und lässt sich von uns anfassen.
kontakt war entschlossen und brutal und töd-
lich. Diese „Berührung“ eines Polizisten wurde     In der Karwoche erinnern wir in unseren Kir-
gesehen von den Leuten, die an jenem Tag in        chen an die Fußwaschung Jesu. Ein anrühren-
der Nähe waren. Sie wurde auf Millionen von        der Kontakt zu seinen Jüngern kurz vor seinem
Bildschirmen gezeigt. Und diese Berührung          eigenen Tod. Für mich ist die Fußwaschung
wurde schnell zu einem Bild für so vieles, das     am Gründonnerstag einer der ergreifendsten
falsch in unserer Welt läuft: Hass, Rassismus,     Momente, den unsere Liturgie zu bieten hat.
Spaltung, Arroganz, ja Bösartigkeit.               Die Füße einer anderen Person zu berühren,
                                                   vorsichtig die Zehen zu trocknen, ist für mich
Und später hielt Donald Trump vor der Kulisse      ein sakramentaler Moment. Dienst, Hingabe,
einer anglikanischen Kirche eine Bibel in der      intime Verbindung. Berührungen der Liebe.
Hand. Auch eine Berührung – arrangiert,
schockierend, unheilvoll. Die Bibel – das Buch     Mein Vater ist Ende März verstorben. Ich konnte
der Liebe. Die darin enthaltene frohe Botschaft    mich nicht von ihm verabschieden. Daher war
spricht von Inklusion, nicht Spaltung. Es geht     es mir wichtig, ihn nochmals am offenen Sarg
                                                   zu sehen, was ich tat. Aber vor allem wollte ich
                                                   ihn nochmals berühren, was ich ebenfalls tat.
                                                   Ich habe seine Hand gehalten, ihn geküsst und
                                                   ihm auf Wiedersehen gesagt. Natürlich war
                                                   diese letzte Berührung nicht dasselbe, aber es
                                                   war eine liebevolle Berührung.

                                                   Ich frage mich, ob die Familie von George
                                                   Floyd Gelegenheit hatte, ihn ein letztes Mal
                                                   liebevoll zu berühren, nachdem ihn zuvor der
                                                   Druck eines Knies getötet hatte.

                                                   Unser Bedürfnis nach einer tröstenden Berüh-
                                                   rung, nach der Umarmung eines Freundes oder
                                                   einer Freundin, nach dem bergenden Schoß der
                                                   Eltern, nach dem Halten der Hand eines Ster-
                                                   benden – bei all dem geht es um Güte. Es sind
Lichterkreuz in zerstörter Kirche von Batnaya      Zeichen der Gnade, theologisch gesprochen:
(Nord-Irak), während Versöhnungsmarsch             sakramentale Zeichen. Es geht um Liebe, die
Ostern 2017.                  Foto: Sarah Hills   sichtbar wird.
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Leitartikel • 5

Es ist ein verabscheuungswürdiges Zerrbild,       an mit Tausend anderen Südafrikanern, um
wenn eine andere Person nicht aus Liebe           gegen die Apartheid zu demonstrieren. Wäh-
berührt wird, sondern um sie zu töten. Zu         rend einer dieser Demos wurden wir von der
töten aufgrund der Zugehörigkeit zu einer         Polizei beschossen. Mit anderen Medizinerin-
bestimmten Ethnie, der Hautfarbe, Glaubens-       nen und Medizinern versorgten wir in den
überzeugung, Sexualität oder Gender. Oder         Gassen der Townships die Verwundeten. Ich
jeden anderen vermeintlichen Grund.               berührte die Schulter eines Angeschossenen,
                                                  während ich eine Kugel aus seinen Muskeln
Ich lebe ein Leben voller Privilegien. Das        entfernte. Später, als die Kugel entfernt war,
weiß ich. Vielleicht sollte ich diese Zeilen      berührten wir uns blutverschmiert in einer
überhaupt nicht schreiben. Aber ich bin über-     vorsichtigen Umarmung. Wir beiden hatten
zeugt, dass es meine Pflicht ist als Südafrika-   Glück an diesem Tag. George Floyd, Trayvon
nerin, die in Nordirland während der Zeit der     Martin, Stephen Lawrence, Ahmaud Arbery,
Unruhen aufwuchs, nun eine Versöhnerin            Belly Mujinga, Steve Biko, die Menschen auf
ist und als Pfarrerin auf Holy Island arbeitet,   der Brücke von Selma und viele andere hatten
meinen Mund aufzumachen. Deshalb bringe           nicht dieses Glück.
ich diese Gedanken voller Demut zu Papier.
Nicht weil ich eine Expertin wäre, nicht weil     Von Liebe berührt zu werden: Dies kann uns
ich Rassismus hätte erfahren müssen wie           nicht genommen werden. Von Liebe berührt
George Floyd oder Millionen andere, sondern       werden, ermöglicht es uns, wütend zu sein.
weil ich durcheinander bin und es mir das         Und das sollten wir auch. Von Liebe berührt
Herz zerbrochen hat. Ich habe das Gefühl,         zu werden, führt zu Trauer und Klage. Aber
dass ich mit diesen Zeilen etwas von mir          auch zur Suche nach Gerechtigkeit für alle
selbst offenlegen muss, um mir klarer zu wer-     jene, die Rassismus, Brutalität und Diskrimi-
den, was um uns herum passiert. Vielleicht        nierung in dieser Welt erdulden. Für unsere
klingt es ja bei anderen nach. Der emeritierte    Kinder und Kindeskinder. All dies – Trauer,
Erzbischof Desmond Tutu hat einmal gesagt,        Klage, Suche nach Gerechtigkeit, ja sogar Ver-
dass das Schweigen im Angesicht von Unter-        söhnung – müssen wir tun. Ohne all dies wäre
drückung bedeute, die Seite der Unterdrücker      Versöhnung nutzlos. Nur wenn wir festhalten
zu wählen. Diese Unterdrückung kommt mir          an den Berührungen aus Liebe, wird Versöh-
zugute und allen, die aussehen wie ich.           nung kommen. Vielleicht nicht morgen oder
                                                  übermorgen. Aber sie wird kommen durch die
Diese letzten Wochen haben mich heftig an         Hoffnung, die Jesus Christus uns bringt. Liebe
die Zeit der Apartheid in Südafrika erinnert,     ist stärker als alles, was tötet. Immer und für
gegen die meine Eltern und so viele ande-         immer.
ren Menschen gekämpft haben. Unzählige,
auf Grund ihrer Hautfarbe Getötete. Getö-         Ich möchte mit einem Gebet von Desmond
tet durch Schläge, Schlagstöcke, Kugeln           Tutu, dem »Vater der Versöhnung«, schließen:
oder Elektroschocks. Ich wurde in Südafrika
geboren, meine Eltern waren beide im Anti-        Güte ist stärker als das Böse;
Apartheidskampf aktiv. Als wir das Land           Liebe ist stärker als Hass;
verließen, war ich noch ein Kind. Wir gin-        Licht ist stärker als die Dunkelheit;
gen nach Nordirland, wo ich dann aufwuchs.        Leben ist stärker als der Tod;
Als Medizinstudentin kam ich eine Zeit lang       Der Sieg ist unser durch den, der uns liebt.
zurück nach Südafrika, um in den 1980er in        Amen.
einem Krankenhaus auf dem Land zu arbei-                                                 Sarah Hills
ten. Ich schloss mich den Protestmärschen                             (Übersetzung Oliver Schuegraf)
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6 • Aus der Nagelkreuzgemeinschaft

    »Ehret die Toten« – Gedenkkultur zum
    Ersten Weltkrieg in Australien und Neuseeland

Der ANZAC Day am 25. April ist ein nationa-         Heute können die Enkel derer, die auf beiden
ler Gedenktag in Australien, Neuseeland und         Seiten gekämpft haben, an diesem türki-
Tonga. Der 25. April 1915 ist der Tag der ersten    schen Strand Hände halten und zusammen
Militäraktion von australischen und neusee-         trauern, obwohl dieses Jahr nur in Gedanken,
ländischen Truppen sowie Soldaten aus Tonga         weil dieselbe Krankheit alle bedroht. Es gibt
im Ersten Weltkrieg – der Landung auf Gallipoli.    nur eine Menschheit.

Shirley Murray ist Anfang dieses Jahres gestor-     Weep for the places ravaged with our blood,
ben. »HONOR THE DEAD«, eine Hymne für den           weep for the young bones buried in the mud,
ANZAC-Tag, ist eines ihrer schönsten Gedichte.      weep for the powers of violence and greed,
Wir werden über die Worte nachdenken und            weep for the deals done in the name of need.
dann die gesungene Hymne hören.
                                                    Weine um die Orte,
Honour the dead, our country’s fighting brave,       die mit unserem Blut verwüstet wurden,
honour our children left in foreign grave,          Weine um die jungen Knochen,
where poppies blow and sorrow seeds her flowers,     die im Schlamm vergraben sind,
honour the crosses marked forever ours.             Weine um die Kräfte der Gewalt und Gier,
                                                    Weine um die Geschäfte,
Ehre die Toten,                                      die im Namen der Not gemacht werden.
 die tapferen Kämpfer unseres Landes,
Ehre unsere Kinder,                                 In jedem Krieg ist der wahre Feind nicht
 die im fremden Grab zurückgelassen wurden,         der Soldat auf der anderen Seite, der wie Du
wo Mohnblumen wehen                                 atmet und denkt und fürchtet, sondern der
 und Trauer ihre Blumen sät,                        Krieg selbst. Krieg verspottet die Menschheit.
Ehre die Kreuze,                                    Krieg tränkt die gute Erde mit gutem Blut. Es
 die für immer unsere sind.                         gibt kein türkisches Blut, kein Maori- oder
                                                    Pakeha-Blut, kein deutsches oder russisches
Sie waren unsere Söhne, unsere Brüder,              Blut. Kein jüdisches oder muslimisches Blut.
unsere Liebhaber, unsere Ehemänner. Wir             Nur menschliches Blut. Bist du verwundet?
haben sie geliebt. Wie könnten wir auch             Frage nicht, wessen Blut dein Leben retten
anders? Ein Imperium, das unsrige, befand           wird. Du brauchst einen Chirurgen? Frage
sich im Krieg mit anderen Imperien. Ihre            nicht nach der Farbe ihrer Haut. Wenn du
Söhne, Brüder, Liebhaber und Ehemänner              stirbst, werden sie sagen, dass deine Sache
hatten wie wir den Befehl, den Feind zu töten,      heilig war. Und wenn Du einen Feind tötest,
in der Hoffnung zu überleben. All dies, um die      wird sein Volk glauben, dass seine Sache hei-
Machtstrukturen aufrechtzuerhalten. Heute           lig war. Die Kriegstreiber werden die Kriegs-
erzählen uns die Historiker, es war ein sinn-       gräber mit Kreuzen schmücken. Glaube ihren
loser, vergeblicher Krieg. Sie sagten, es sei ein   Lügen nicht. Die Wahrheit ist das erste Opfer
Krieg, um alle Kriege zu beenden – das war          des Krieges. Aber habe Mitleid mit den Lüg-
es nicht. Es hat den nächsten angeheizt, und        nern, denn »sie wissen nicht, was sie tun«.
wieder wurden junge Männer geschickt, um            Weine um die Toten. Weine um die Lebenden.
zu töten und notfalls getötet zu werden.            Arbeite daran, das Töten zu beenden.
FREUNDESBRIEF - Nagelkreuzgemeinschaft
Aus der Nagelkreuzgemeinschaft • 7

Honour the brave whose conscience was their call,   religiösen Gründen freigestellt und der Rest
answered no bugle, went against the wall,           wie Kriegsgefangene behandelt. Zumindest
suffered in prisons of contempt and shame,          wussten die Leute jetzt, was Kriegsdienstver-
branded as cowards, in our country’s name.          weigerung war.

Ehre den Mutigen, dessen Gewissen ihr Ruf war,      Archibald und seine Leidensgenossen hatten
Antwortete keinem Signalhorn,                       einen hohen Preis für das Menschenrecht
  und ging an die Wand,                             gezahlt, nein zu sagen. Es gibt immer noch
in Gefängnissen der Verachtung                      viele Länder, in denen dieses Recht nicht
  und Schande gelitten,                             besteht. In Hitlers Deutschland weigerte sich
im Namen unseres Landes                             der fromme Bauer Franz Jägerstätter wäh-
  als Feiglinge gebrandmarkt.                       rend des Zweiten Weltkriegs zu töten: »Jesus«,
                                                    sagte er, »lässt mich nicht«. Sein Bischof ver-
Diejenigen, die sich der öffentlichen Meinung       suchte, seine Meinung zu ändern: »Sie wer-
widersetzten und Nein zum Ersten Weltkrieg          den hingerichtet. Ihre Kinder werden keinen
sagten, weil sie nicht töten wollten, waren         Vater haben. »Wollen Sie damit sagen, dass
wenige in Neuseeland. Ihre Namen sind               ich die Väter russischer Kinder töten soll?« Er
bekannt. Sie stellen die Menschheit vor die         wurde enthauptet. Ein halbes Jahrhundert
Nation. Sie wurden als feige Verräter behan-        später wurde er selig gesprochen vom Papst.
delt. Ein Name steht für sie alle: Archibald        Unsere Kirchen lernen nur langsam.
Baxter. Sein Buch »We will not Cease« erzählt
die bittere Geschichte der Grausamkeiten, die       Weep for the waste of all that might have been,
er erleiden musste. Es ist schmerzhaft dies         weep for the cost that war has made obscene,
zu lesen. Deren Zahl im Zweiten Weltkrieg           weep for the homes that ache with human pain,
war größer. Einige von ihnen wurden aus             weep that we ever sanction war again.

                                                    Weine um die Verschwendung von allem,
                                                     was gewesen sein könnte,
                                                    Weine um die Kosten,
                                                     die der Krieg obszön gemacht hat,
                                                    Weine um die Häuser,
                                                     die vor menschlichem Schmerz leiden,
                                                    Weine, dass wir jemals wieder Krieg
                                                     sanktionieren.

                                                    Die Nationen haben nicht aufgehört, den
                                                    Krieg zu sanktionieren. Oft genug wird es am
                                                    ANZAC-Tag als heilig angesehen. Es war nie so,
                                                    obwohl gute Männer gekämpft haben. Solda-
                                                    ten sind nicht das Problem, unsere Denkweise
                                                    ist es. Doch lange vor Jesus – der seine Nach-
                                                    folger lehrte, ihre Feinde zu lieben – freute sich

                                                    »Where Light Falls« –
                                                    Inszenierung am 15. November 2019
                                                                     Foto: Hanna-Lotta Lehmann
FREUNDESBRIEF - Nagelkreuzgemeinschaft
8 • Aus der Nagelkreuzgemeinschaft

der Prophet Micha auf den Tag, an dem »die           immer noch bluten? Aber es sind die Toten aller
Nation kein Schwert gegen die nächste Nation         Kriege der ganzen Geschichte, die Jesus zum
erheben und keinen Krieg mehr lernen wird«.          Weinen bringen. Um ihn zu zitieren: »Sie wis-
Schauen Sie sich für einen Moment an, was            sen nicht, was wirklich für Frieden sorgt«.
wir Menschen für die Vorbereitung auf den
Krieg ausgeben:                                      Ich wurde 1976 an einem ANZAC-Tag auf
                                                     einem Friedhof des Ersten Weltkriegs an die
Das Geld, das benötigt wird, um allen Men-           Worte Jesu erinnert – Sie werden jetzt über-
schen auf der Welt angemessene Nahrung,              rascht sein, etwas außerhalb Berlins, mit den
Wasser, Bildung, Gesundheit und Wohnraum             Gräbern jener Commonwealth-Soldaten, die in
zur Verfügung zu stellen, beläuft sich auf           deutschen Kriegsgefangenenlagern gestorben
etwa 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Eine          waren. Mein Job hatte mich ins kommunis-
riesige Geldsumme. Es ist ungefähr so viel,          tische Ostberlin geführt, wo der australische
wie die Welt jede Woche für Rüstung ausgibt.         Botschafter mich als Kiwi (umgangssprach-
                                                     lich für Neuseeländer) bat, die traditionelle
Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich,          Zeremonie zum ANZAC-Tag durchzuführen.
Herr, erbarme dich.                                  In Neuseeland wäre ich angesichts meiner
                                                     Ansichten zum Krieg niemals gefragt worden.
Honour the dream for which our nation bled,          In Neuseeland wäre ich in der Menge gewesen
held now in trust to justify the dead,               und hätte eine weiße Mohnblume getragen.
honour their vision on this solemn day:
peace known in freedom, peace the only way.          An diesem ANZAC-Tag 1976 waren diese
                                                     Commonwealth-Gräber von einer sowjeti-
Ehre den Traum, für den unsere Nation blutete,       schen Panzerbrigade umgeben. Die Trauern-
jetzt im Vertrauen daran gehalten,                   den waren Diplomaten: aus Indien, Pakistan,
  um die Toten zu rechtfertigen,                     Australien und Sri Lanka. Es schien surreal.
Ehre ihre Vision an diesem feierlichen Tag:          In meinem Herzen betete ich für die Millio-
Frieden in Freiheit bekannt,                         nen von Russen und Deutschen, die in beiden
  Frieden ist der einzige Weg.                       Weltkriegen gestorben waren. Aber öffentlich
                                                     folgte ich dem traditionellen ANZAC-Militär-
Ehre die Toten, hier begann dieses Lied, begann      protokoll, dem Signalhorn und allem. Ich sah
mutig mit dem Kampf unseres Landes. Gallipoli        auf und sah wie gewöhnlich ein Schwert über
war vor über hundert Jahren, aber warum sollte       dem Kreuz auf dem Kenotaph – und weinte.
unser Ehren, wenn wir denn ehren müssen,             Ich kann das letzte Wort nur Jesus überlassen:
nicht weiter zurückgehen als dieser britische        »Wer nach dem Schwert greift, wird durch
Krieg an einem fremden Strand? Warum nicht           das Schwert sterben.«
um die Tapferen der Maori/Pakeha-Kriege trau-
ern, als die ursprünglichen Menschen um ihr          Amen.
Land, dieses Land, kämpften? Wollen wir die                                             Paul Oestreicher
Kriege vergessen, in denen unser Land blutete?                   (übersetzt von Vikar Matthias Kasparick,
Wollen wir uns verstecken, dass ihre Folgen                                  Nagelkreuzkapelle Potsdam)

Auf YouTube können Sie die gesungene Version unter dem Namen »Honour the Dead« (unter Leitung von David
Burchell) hören: https://www.youtube.com/watch?v=B8EhR44SUp4.
Aus Coventry • 9

Stadtsilhouette: Coventry im Abendlicht                             Foto: Hanna-Lotta Lehmann

    Rückblick auf gute Lebenszeit in Coventry

Unsere deutsche FSJlerin Hanna-Lotta Leh-          In der Mitte des Kapellenbodens ist eine Frie-
mann schreibt uns von ihren Gedanken – leider      denstaube dargestellt. Ein wenig weiter ent-
war der Einsatz wegen der Pandemie auf sieben      fernt sind die unterschiedlichen Kontinente
Monate verkürzt:                                   der Welt als Mosaik im Boden abgebildet.
                                                   Während der Führung stellen sich die Kinder
Wie schon im letzten Heft berichtet, war           auf die Kontinente und erhalten Golfbälle,
meine Arbeit in der Kathedrale sehr vielseitig.    die sie auf ein gemeinsames Zeichen hin los-
Ich habe mit Menschen unterschiedlichsten          lassen. Durch die Neigung des Bodens kugeln
Alters und Herkunft arbeiten können. Beson-        alle Bälle zur Mitte des Raumes, der Friedens-
ders gerne denke ich an die Gespräche mit den      taube, hin. Es ist beeindruckend zu sehen, wie
Schüler*innen, die die Kathedrale im Rahmen        schnell jede Schulklasse die Symbolik versteht
eines Schulausflugs besuchen. Meine Aufgabe        und darüber spricht, dass unabhängig von
war es die Schüler*innen durch die Kathed-         Religion und Herkunft jeder Mensch nach Frie-
rale zu begleiten und ihnen, je nach Führung,      den und damit letzten Endes nach Versöhnung
besondere Punkte des Gebäudes zu zeigen.           strebt. Die Augen beginnen zu leuchten, wenn
Oft beginnt der Besuch für die Schüler*innen       sie diesen Prozess verstehen. Sehr engagiert
mit der Geschichte der Nagelkreuzgemein-           entwerfen die Kinder in den folgenden Work-
schaft. Die Kinder sehen hier dann das origi-      shops eigene Ideen, wie sie ganz persönlich in
nale Nagelkreuz, das sich in der neuen Kathe-      ihrem eigenen Umfeld zur Versöhnung beitra-
drale befindet. Manche Gruppen beten auch          gen können. Die Ideen sind so unterschiedlich
um 12 Uhr die Litanei von Coventry mit. Der        wie die Kinder. Hier ein paar Beispiele, die
Höhepunkt für viele Kinder ist die »Chapel of      mir in Erinnerung geblieben sind: Den Eltern
Unity«. Hier in der Kapelle ist der Boden leicht   »Danke« für das Pausenbrot zu sagen, nie-
abschüssig zur Mitte hin gebaut. Man erkennt       manden beim Spielen mehr auszuschließen,
dies mit bloßem Auge nicht. Wer diese Kapelle      Müll aufzusammeln, fremden Menschen ein
schon einmal gesehen hat, weiß, dass sie ein       Lächeln zu schenken. Aus der Vergangenheit
wirklich besonderer Raum in der ohnehin            für die Zukunft lernen wird hier Realität.
schon beeindruckenden Kathedrale ist.                                  Hanna-Lotta Lehmann, Bonn
10 • Aus der Nagelkreuzarbeit

Religionsunterricht zur Geschichte des Nagelkreuzes                        Foto: Krisztina Giefing

    Fünf Jahre auf den Spuren der Feindesliebe

Die Versöhnungsgeschichte von Coventry hat           Unsere Aktionen und Ideen sind nicht »vorgege-
uns vor einigen Jahren angesteckt! Erst war          ben«, sondern wir sind an der Schule aufmerk-
es eine Lehrerin, die davon erzählte, inzwi-         sam, wo Schüler oder Eltern oder Lehrer – quer
schen gibt es einen Kreis, von zehn Lehren-          durch alle Unterrichtsfächer – eine Idee haben
den, der koordinierend und unterstützend die         und versuchen dann, sie zu verwirklichen.
Arbeit begleitet. Alle Kollegen sind dann, je
nachdem, an den Projekten beteiligt. Einmal          Es waren zum Beispiel zwei muslimische
pro Semester wird eine offene Sitzung gehal-         Mädchen, die 2013 die Idee einer Charity-Jause
ten, um die Ideen zu besprechen.                     hatten: eine Klasse übernimmt für einen Tag
                                                     die Verantwortung für die Schulverpflegung
Am 17. Juni 2015 feierten wir die Verleihung         in den Schulpausen. Die Familien spenden die
des Nagelkreuzes mit Gottesdienst und Pro-           Zutaten und die Kinder arbeiten den ganzen
zession durch den Ort. Eine Besonderheit ist         Tag in der Küche. Sie schmieren Brote, backen
wohl, dass beinahe alle Kinder an unseren            Kuchen oder Pizzaschnecken und richten
Gottesdiensten teilnehmen, unabhängig von            Obstspieße. Diese werden dann verkauft.
ihrer Religionszugehörigkeit.
                                                     Diese Aktion machen wir ein- bis zweimal im
Die Neue Mittelschule Guntramsdorf ist eine          Jahr; sie ist so beliebt, dass manchmal gelost
staatliche Schule in Niederöstereich (südlich von    werden muss, welche Klasse sie durchführen
Wien), mit etwa 45 Lehrern und 315 Kinder (10 bis    darf. Mit dem Reinerlös werden solche Pro-
14 Jahre). Sie gehören zu zwölf Nationen und zu      jekte unterstützt, bei denen Kindern geholfen
vier Religionsgemeinschaften: katholisch, evange-    wird, zum Beispiel ein Straßenkinder-Projekt
lisch, orthodox und muslimisch. Siehe unter ‚nagel
                                                     in Bolivien oder Kindersoldaten in Burundi.
kreuzguntramsdorf,wordpress.com‘.
Seit 2015 ist die Schule im ökumenischen Netz-
werk der ICONS (Internationale Nagelkreuz-Schu-      Vor jeder Charity-Jause wird das Projekt, das
len) Mitglied – ein Netzwerk von 33 britischen       unterstützt wird, allen SchülerInnen vorge-
und 17 nichtbritischen Schulen (Nordirland,          stellt und die Kinder kriegen ein Einblick in
Österreich, Deutschland, Niederlande, Südafrika,     die Lebenssituation der Menschen, denen
Isarael/Palästina, USA und Hong Kong).               geholfen wird.
Aus der Nagelkreuzarbeit • 11

                                                  mit einzubeziehen, ist die Ausbildung von
                                                  Schulmediatoren. Bisher haben über 25 Schü-
                                                  lerinnen und Schüler dieses zusätzliche Lern-
                                                  angebot mitgemacht und sind qualifiziert,
                                                  ihren MitschülerInnen in Konfliktsituatio-
                                                  nen beistehen zu können.

                                                  Im Jahr 2017 wurde in Zusammenarbeit mit
                                                  der Katholischen Jugend Österreich ein geist-
                                                  licher Erfahrungsweg als einwöchiges Pro-
Bilder zu Frieden und Versöhnung.                 jekt eingerichtet: Soul Space. In einem Klas-
                       Foto: Krisztina Giefing   senzimmer wurden 14 Stationen aufgebaut,
                                                  die kindgerecht Impulse für die Seele geben.
Nach der finanziellen Unterstützung der Simba     Zum Beispiel wurden auf einem Spiegel gute
Vision School in Madebe/Tanzania (www.afri-       Eigenschaften angeheftet, um sich selber
caaminialama.com/projekte/bildung/detail/         besser sehen zu können. Für die Kinder war
simba-v ision-englisch-med iu m-academy)          es ziemlich schwer, ihr eigenes Spiegelbild zu
durch Spenden unseres Friedenskonzertes und       betrachten. An einer anderen Station schrieb
durch mehrere Charity-Jausen entwickelt sich      man seine »Sternstunden« auf Papiersterne
nun langsam eine Schulpartnerschaft dort-         und ließ so einen Sternenhimmel entstehen.
hin – so wird Aussöhnung auch international       Die Station, welche die heftigsten Emotionen
in den Blick genommen.                            ausgelöst hat, war die Trauerweide. Hier konn-
                                                  ten die Kinder von etwas, oder jemandem den
Themen der Versöhnung werden im Fachun-           sie geliebt haben Abschied nehmen. Drei Mäd-
tericht regelmäßig aufgegriffen. Beispielsweise   chen aus der 2a haben durch diese Trauerweide
war bei uns im Ort 1943 bis 1945 ein KZ-Aussen-   zu Versöhnung kommen können. Sie waren
lager, das vor allem Insassen aus Mauthausen      zerstritten und haben um ihre Freundschaft
aufnahm. Der Besuch des Geländes wurde im         getrauert. Als sie zueinander gefunden haben,
Geschichtsunterricht integriert. 2015 besuchte    nutzten sie die Möglichkeit, ihr schlechtes Ver-
ein ehemaliger Insasse, Herr Roman Waz, unsere    halten einzusehen. Sie haben ihre Fehler auf-
Schule, und erzählte über sein Leben im KZ Gun-   geschrieben und die Zettel an die Wäscheleine
tramsdorf. Ganz spontan mit Tränen in den         gehängt. Der Soul Space Raum war für alle Kin-
Augen standen einige Schüler auf und baten um     der offen, nicht nur für die Katholiken, und die
Vergebung für sein Schicksal im KZ. Roman Waz     Kinder haben auch dieses Angebot genützt. Die
war durch diese Geste ebenfalls tief bewegt.      katholischen Kinder waren anschließend zur
                                                  Beichte eingeladen, zur Versöhnung mit Gott
Oder ein ganz anderes Beispiel: als 2016 Papst    und mit den Mitmenschen.
Franziskus ein Nagelkreuz aus der Kathedrale
von Coventry geschenkt bekam, haben Schü-         Fünf Jahre in der Nagelkreuzgemeinschaft
lerinnen und Schüler Gedanken zur Versöh-         haben das Leben der Kinder und Erwachsenen
nung gemalt und sie als Gruß an den Papst         in der Mittelschule Guntramsdorf bereichert.
geschickt. Wie war die Freude groß, als eines
Tages ein freundlicher Brief des Papstes an       Wir versuchen weiterhin, unsere Vielfalt zu
die Schüler diesen Bildergruß erwiderte!          feiern und an einer Kultur des Friedens mit
                                                  zu bauen.
Eine längerfristige und sehr wirksame Weise,                                       Krisztina Giefing,
Versöhnung als Gedanken in das Schulleben         Religionslehrerin Guntramsdorf (römisch-katholisch)
12 • Aus der Nagelkreuzarbeit

Versöhnungsstatue in der Ruine der Kathedrale Coventry.                           Foto: Martin Williams

     Nach Corona: Samen voll Hoffnung

Wir leben in seltsamen Zeiten. Viele schauen              nachfolgen, der uns gerufen hat in die Bot-
auf Coventry: was hat die Kathedrale denen zu             schaft und den Auftrag der Feindesliebe
sagen, die nach dem Sinn oder nach Ermutigung             (siehe 2. Korinther 5, 18 und 19).
in der Covid-19-Pandemie fragen? Es ist nicht
leicht, mitten in einer Krise den Sinn dieser Situ-    2. Wir müssen an der Hoffnung festhalten.
ation zu beschreiben – normalerweise braucht              Mir war es hilfreich auf unsere Versöh-
es Überblick, Abstand und Reflektion, um die              nungs-Statue in den Ruinen der Kathe-
gemachten Erfahrungen einordnen zu können.                drale zu schauen – ein Symbol erfüllter
Aber ich will mich der Frage stellen. Wir sollten         Hoffnung. Ursprünglich »Vereinigung«
unser Bestes geben und überlegen, was man                 genannt, stellt die Statue von Josefina de
schon jetzt sagen und festhalten kann.                    Vasconcellos die Umarmung zweier Men-
                                                          schen dar, die durch Krieg auseinander
1. Versöhnung ist immer wesentlich. In Krisen-            gerissen waren – hier insbesondere durch
   zeiten können wir uns entweder einander                den Zweiten Weltkrieg. Heute spricht die
   in gegenseitiger Unterstützung zuwenden,               Darstellung zu neuen Generationen, was
   oder wir sehen voneinander weg in Angst                es bedeutet, sich aneinander zu lehnen in
   und Furcht. Mitten in der Krise dürfen wir             gegenseitiger Umarmung. Wir nutzten die
   ermutigt sein, weil Gott sich uns zuwendet,            Plastik, um über Versöhnung ins Gespräch
   sich nicht von uns abwendet. Manche mögen              zu kommen, besonders mit den Schulklas-
   denken, dass Gott uns im Stich gelassen hat            sen, die uns besuchen. Dieses Paar, das sich
   (zum Beispiel wie in Psalm 77, 10). Aber ein           gegenseitig hält, hält auch unsere Hoff-
   kurzes Nachdenken macht deutlich, dass                 nung wach. Der Tag wird kommen, an dem
   er das niemals tut (Psalm 77, 12 1). Wir soll-         wir wieder uns gegenseitig umarmen und
   ten ihm nacheifern und Gott in Christus                stärken können (Psalm 27, 13 und 14).

1   Vgl. Walter Brueggemann, Virus as a Summons to Faith: Biblical Reflections in a Time of Loss, Grief and
    Uncertainty (Cascade Books) 2020
Aus der Nagelkreuzarbeit • 13

3. Die Versöhnungslitanei von Coventry hat          wir nicht Gott sind – es gibt Dinge, die wir
   ungeheure Kraft, in alle Brüche und Tren-        nicht kontrollieren können und auf die wir
   nungen hinein zu sprechen, mit denen wir         nicht stolz sein sollten. Zuletzt werden wir
   konfrontiert sind. Wir beten um die Hei-         gedrängt dazu, »freundlich und herzlich zu
   lung der Wunden der Geschichte, indem            sein und einander zu vergeben, wie Gott in
   wir gegen das Ansteigen des Hasses bitten,       Christus uns vergeben hat«. (Epheser 4, 32).
   und stehen zugleich in der Versuchung, die
   Schuld nur anderen zuzuschieben. Wenn          4. Schließlich müssen wir erkennen, dass wir
   wir uns anstrengen, Schutzausrüstungen            in unserer Sprache ganz »kriegerisch« sind:
   und Impfstoffe heranzuschaffen, müssen            wir »kämpfen gegen den Virus«. Manchmal
   wir der Gefahr widerstehen, nach dem              stehe ich vor der Kathedrale und schaue auf
   Besitz der Anderen zu schauen (sogar nach         den Erzengel St. Michael, wie er voller Tri-
   dem Besitz anderer Nationen). Und wenn            umph den Teufel überwältigt, und bin ganz
   wir die Balance zwischen ökonomischer             nachdenklich. (Es ist nur ein paar Meter von
   Absicherung und Gesundheit halten wollen,         meinem Wohnhaus entfernt, und ich komme
   dürfen wir nicht der Gier anheim fallen. Nur      jeden Tag daran vorbei). Es ist ein ziemlich
   zu leicht werden wir neidisch auf andere          beunruhigendes Bild für eine Kathedrale,
   Nationen, die mit der Pandemie erfolgrei-         die sich so sehr dem Frieden und der Versöh-
   cher umzugehen scheinen als wir – und             nung verpflichtet weiß! Manche meinen in
   immer müssen wir erinnert werden an die           den Augen des Teufels eine große Bitte um
   Menschen am Rande unserer Gesellschaft,           Versöhnung lesen zu können – aber der Engel
   die mehr unter Corona leiden als wir. In          antwortet nicht darauf. Jedenfalls schaut
   den Zeiten der Isolierung stehen wir in der       der Engel auf die Welt mit Leidenschaft und
   Versuchung, andere nicht human zu behan-          Traurigkeit, ungeachtet des Sieges, der sich
   deln, sowohl in unserer Vorstellung als auch      in seiner Haltung ausdrückt. Der Engel sagt
   in unseren persönlichen Beziehungen. Und          uns, dass der Sieg Gott gehört – aber dieser
   zuletzt erinnert uns der Virus daran, dass        Sieg wischt nicht alle Tränen und Schmerzen
                                                     fort (Offenbarung 12, 7f).

                                                  Wir wünschen und erbitten, dass die Hoff-
                                                  nung über den teuflischen Virus triumphiert,
                                                  aber wir wissen, dass immer Verluste bleiben
                                                  werden. Unsere Aufgabe als Kathedrale und
                                                  als Gemeinschaft der Versöhnungssuchenden
                                                  ist neue, phantasievolle Ideen anzubieten. Wir
                                                  müssen anfangen, Samen voll Hoffnung aus-
                                                  zustreuen, um auf eine kreative Gesellschaft
                                                  hin zu wirken nach dieser Zeit des »Exils«.
                                                  Dieser Erneuerungsprozess wird nicht den
                                                  bleibenden Verlust vergessen machen. Er wird
                                                  aber getragen von der Hoffnung, dass Gott
                                                  für alle eine sinnvolle Zukunft bereit hält. So
                                                  beten wir für eine ehrliche Hoffnung, die uns
                                                  durch alle Schmerzen hindurch erreicht, und
                                                  uns in eine neue Zukunft führt.
Erzengel St. Michael an der Kathedrale in                           Dean John Witcombe, Coventry
Coventry.                   Foto: Klaus Wirbel                      (übersetzt von Jost Hasselhorn)
14 • Impuls

    Der Segen der verwandelnden Versöhnung

Am Pfingstsonntag morgens laufe ich durch den       des Versöhnungsgebets auf. Es eröffnet eine
Wald, höre die Vögel, rieche den frischen Duft      Spur, die für den Segen der verwandelnden
des neuen Morgens. Hat mich dieses so beson-        Versöhnung öffnen kann.
dere Frühjahr 2020 empfänglicher gemacht?
Mir wird intensiver als sonst bewusst, wie          Erste kleine Schritte in dieser Richtung haben
stark die Kräfte sind, die Neues wachsen lassen.    Teilnehmende einer Tagung 2017 versucht.
Im Laufen und Wahrnehmen kommt ein weite-           Die Evangelische Tagungsstätte Löwenstein
rer Impuls hinzu, die Erinnerung an das »Bles-      hatte gemeinsam mit der Nagelkreuzgemein-
sing of transformation«. Das ist wie ein pfingst-   schaft zu einem Versöhnungs-Wochenende
liches Geschenk. Es leitet meinen Geist dahin,      eingeladen. Bei der Beschäftigung mit dem
wie die Kraft der Versöhnung mit dem verwan-        »Blessing of Transformation« war eine erste
delnden Geist Gottes zusammenkommt: Ver-            Überraschung: Im Englischen wird das Wort
söhnung am Tag des Geistes.                         »to bless« (segnen) auch im Blick auf Gott
                                                    verwendet. Im Deutschen wird eine Aussage
Vor einigen Jahren ist in Coventry ein »Bles-       wie in Psalm 145,2 oft ähnlich wie in Luthers
sing of Transformation« entstanden. Wie beim        Übersetzung wiedergegeben: »Ich will dich
Versöhnungsgebet leitet ein biblischer Vers         erheben, mein Gott, du König, und deinen
sieben Gebetsaussagen ein, die mit einer kur-       Namen loben immer und ewiglich.« Das
zen gemeinsamen Segensaussage beantwor-             he­bräische barak wird unterschiedlich über-
tet werden. Wie auf das Kyrie ein Gloria folgt,     setzt. Bezogen auf Menschen, wird es deutsch
so nimmt das Blessing die konkreten Themen          meist mit segnen übersetzt, bezogen auf
                                                    Gott loben oder preisen. Im Englischen steht
                                                    in beiden Fällen bless, auch wenn der Segen
»Jeden Tag will ich dich segnen                     Gott zugesprochen wird. Ein kleiner Schritt,
  und deinen Namen preisen« (Ps 145,2),             aber er atmet den Geist der Veränderung. Der
jubelnd will ich teilen:                            Segen verbindet Mensch und Gott, bringt
Deine Liebe, die Wunden heilt                       lebensfördernde, heilschaffende Kraft.
  Ehre sei Gott
Deine Großherzigkeit,
                                                    Diese Spur finde ich wertvoll und will der
  die der Hoffnung Raum öffnet
  Ehre sei Gott                                     verwandelnden Kraft des Segens weiter fol-
Deine Fürsorge,                                     gen. Sie erscheint mir gerade in diesen Tagen,
  die eine Kultur des Friedens stiftet              wo viel über eine »neue Normalität« nach
  Ehre sei Gott                                     Corona nachgedacht wird, wichtig. Pfings-
Dein Strahlen, das Vielfalt feiert                  ten weist darauf, dass wir tragende Wurzeln
  Ehre sei Gott                                     brauchen, aber genauso eine adventliche Öff-
Dein Erbarmen, das für alle das Beste sucht         nung. Ich wünsche mir, dass das Neue aus
  Ehre sei Gott
                                                    der verwandelnden Kraft des Segens erfahr-
Deine Achtung, die befähigt,
                                                    bar werde, damit wir die Dinge so klar beim
  mit Unterschiedlichkeit zu leben
  Ehre sei Gott                                     Namen nennen wie das Versöhnungsgebet –
Deine Demut, die unsere Beziehung zu Gott           und dass wir uns zugleich zu mutigen Schrit-
  und zu anderen aufbaut                            ten auf dem Weg der Nachfolge Jesu motivie-
  Ehre sei Gott.                                    ren lassen.
                  (übersetzt durch Arbeitsgruppe                             Albrecht Fischer-Braun,
          der Ev. Tagungsstätte Löwenstein 2017)                                         Löwenstein
Termine • 15

     Termine 2020/2021

27. September 2020               	������������������������������������   2. Nagelkreuzsonntag der weltweiten Versöhnungsarbeit

14. bis 16. Oktober 2020                        	��������������������    Webinar »Pilgrimage online« (Teilnahme vom Rechner aus)

13. bis 15. November 2020                              	�������������    Leitungskreissitzung in Würzburg

21. November 2020             	���������������������������������������   Regionales Treffen »Berlin« in Cottbus

5. und 6. März 2021           	��������������������������������������    Vorstandssitzung in Wunstorf

7. bis 9. Mai 2021   	������������������������������������������������   Pilgrimage in Coventry

12. bis 16. Mai 2021       	�����������������������������������������    3. Ökumenischer Kirchentag in Frankfurt/Main

26. September 2021              	�������������������������������������   3. Nagelkreuzsonntag der weltweiten Versöhnungsarbeit

8. bis 10. Oktober 2021                    	��������������������������   Bundesweite Mitgliederversammlung in Hofgeismar

Hinweis auf Corona-Andachten

 Zwölf Wochen lang haben wir jeden Freitag                                               Zudem hat sich jeden Freitag um 12 Uhr eine
 ein neues Video mit dem Versöhnungsgebet                                                kleine Gruppe zu einer Video-Konferenz
 auf unsere Webseite gestellt und auf Face-                                              getroffen, um gemeinsam das jeweilige Video
 book gepostet, um in der Zeit, in der keine                                             anzuschauen. Offenbar hat allen unser inter-
 Andachten möglich waren, ein Zeichen der                                                nationales Treffen (Deutschland, Polen, Öster-
 Nähe und Verbundenheit zu setzen. Herz-                                                 reich, Coventry, Südafrika) so gut gefallen,
 lichen Dank an alle, die Zeit und Kreativi-                                             dass wir uns weiterhin an jeden ersten Freitag
 tät in diese Videos investiert haben. Es ist                                            im Monat um 12 Uhr online treffen werden,
 zugleich ein beeindruckendes Kaleidoskop                                                um uns kurz auszutauschen und dann das
 unserer Nagelkreuzgemeinschaft entstan-                                                 Versöhnungsgebet miteinander zu beten. Wer
 den. Es lohnt sich, die Videosammlung auch                                              noch zu dieser Gruppe dazu stoßen möchte,
 im Nachhinein anzuschauen.                                                              melde sich bitte unter vorsitz@nagelkreuz.org.
ADRESSEN
der nagelkreuzgemeinschaft in                   D eutschland e. V.

VORSITZ                                  KASSENFÜHRUNG/ADRESSVERWALTUNG
OKR Dr. Oliver Schuegraf                 sowie BESTELLUNGEN von Flyern und Freundesbriefen
c/o Deutsches Nationalkomitee des        Lothar Schmelz
Lutherischen Weltbundes                  An der Schonung 19 b
Podbielskistraße 164                     27478 Cuxhaven-Altenwalde
30177 Hannover                           TEL.:   04723-505 8543
TEL.:   0511-69 68 72-18                 E-MAIL: lotharschmelz@web.de
E-MAIL: vorsitz@nagelkreuz.org
                                         WEITERE LEITUNGSKREISMITGLIEDER
SCHRIFTFÜHRUNG                           Maite Böhm, Sievershausen
Pfarrerin Antje Biller                   Walter Elsner, München
Dürrbachtal 69                           Niels Faßbender, Dortmund
97080 Würzburg                           Jost Hasselhorn, Südheide/Cottbus
TEL.:   0931-304 986 07                  Pfarrerin Dr. Cornelia Kulawik, Berlin-Dahlem
E-MAIL: post@nagelkreuz.org              Christian Roß, Darmstadt
                                         Pfarrer Karsten Wolkenhauer, Demmin
BEISITZENDE
Erstkontakt bei allgemeinen Fragen       REDAKTION FREUNDESBRIEF/NEWSLETTER
und neuen Anfragen                       Jost Hasselhorn
Britta Däumer                            Diedrich-Speckmann-Weg 15
In der Ennert 17                         20320 Südheide OT Hermannsburg
58849 Herscheid                          TEL.:   Telefon: 05052-97 84 06
TEL.:   02357- 36 23                     E-MAIL: jost.hasselhorn@gmx.de
E-MAIL: Britta.Daeumer@kk-ekvw.de
                                                                                         Titelfoto: Hanna-Lotta Lehmann

Felicitas Weileder
Berlin
E-MAIL: felicitasweileder@gmx.de

BANKVERBINDUNG
Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland e. V.
Berliner Volksbank • IBAN: DE21 1009 0000 1736 7830 09 • BIC: BEVODEBB

www.nagelkreuz.orgpost@nagelkreuz.org
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