Funktionserholung und Plastizität nach Schädigung der zentralen Sehbahn - Krause und ...
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Funktionserholung und Plastizität Homepage: nach Schädigung der zentralen www.kup.at/ Sehbahn JNeurolNeurochirPsychiatr Gall C, Prilloff S, Sabel BA Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2010; 11 (1), 18-30 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Funktionserholung und Plastizität nach Schädigungen der zentralen Sehbahn C. Gall, S. Prilloff, B. A. Sabel Kurzfassung: Das visuelle System ist auch jen- Zeichen der kortikalen Hyperaktivierung sowie Evidence for neuronal plasticity has been found seits der kritischen Entwicklungsperiode nicht (4) Blindsight und Residualsehen in geschädig- in animal models as well as in patients with dam- fest verschaltet und unveränderlich. Auf allen ten Gesichtsfeldarealen. Selbst wenn der Pro- age of the retina (macular degeneration, glau- Stufen der visuellen Informationsverarbeitung zess der spontanen Plastizität abgeschlossen coma), the optic nerve (e. g., after trauma) and (Retina, Nucleus geniculatum laterale und pri- ist, kann die Plastizität durch repetitive Stimula- postchiasmatic areas including the primary visual märer visueller Kortex) zeigt das Gehirn selbst tion von residualen Gesichtsfeldarealen mittels cortex (producing hemianopia). The brain can bis ins hohe Alter eine gewisse Veränderlichkeit Sehtraining oder, wie erst kürzlich gezeigt, durch adapt itself within certain limits to the resulting (Plastizität). Dies ist besonders deutlich nach Lä- transorbitale Elektrostimulation wieder ange- visual field defects caused by the damage. Signs sionen zu beobachten. So wurden Reorganisa- regt werden. Das Sehsystem hat somit ein Plas- for postlesional plasticity are (1) development of tionsprozesse rezeptiver Felder und Veränderun- tizitätspotenzial, das hinsichtlich seiner sponta- eccentric fixation in foveal lesions, (2) recovery gen der kortikalen Aktivierungsmuster nach reti- nen und induzierten Anpassungsfähigkeit nicht of function during the first weeks after the dam- nalen sowie prä- und postchiasmatischen Läsio- weniger ausgeprägt ist als in anderen funktio- age (spontaneous remissions), (3) pseudo-hallu- nen der zentralen Sehbahn gefunden. Hinweise nellen Systemen. Es gilt nun, dieses Plastizitäts- cinative perceptions of phosphenes and com- auf neuronale Plastizität sind sowohl in Tiermo- und Reparaturpotenzial besser in der klinischen plex objects which are attributed to cortical hy- dellen als auch bei Patienten mit Schädigungen Anwendung zu nutzen. peractivity as well as (4) blindsight and residual der Retina (Makuladegeneration, Glaukom), des vision in impaired visual field areas. Even after Nervus opticus (z. B. nach Trauma) und post- Abstract: Recovery of Function and Plastic- spontaneous recovery has plateaued, plasticity chiasmatischen Arealen, insbesondere des pri- ity after Lesions of the Central Visual Path- can be initiated again by repetitive stimulation mären visuellen Kortex (Hemianopsien) gefun- way. Even beyond the critical developmental of residual visual field areas using vision train- den worden. An die durch die Schädigungen her- period, the visual system is not rigidly fixed. ing or, as recently shown, by transorbital electric vorgerufenen Gesichtsfelddefekte versucht sich Rather, the brain shows plasticity at all levels of stimulation. Therefore, the visual system has a das Gehirn in gewissen Grenzen anzupassen. information processing (retina, lateral genicu- plasticity potential, i.e. an ability for spontane- Zeichen der Postläsions-Plastizität sind (1) Aus- late nucleus and primary visual cortex), even in ous and induced adaptive processes that is com- bildung exzentrischer Fixation bei fovealen Läsi- old age, and this is observed especially well af- parable to that known of other functional sys- onen, (2) funktionelle Erholung in den ersten ter lesions. Reorganisation of receptive fields tems. It is now essential to make better use of Wochen nach dem Schaden (Spontanremissio- and changes of cortical activation patterns have this plasticity and repair potential in clinical nen), (3) pseudo-halluzinative Wahrnehmungen been shown after retinal as well as pre- and post- practice. J Neurol Neurochir Psychiatr 2010; von Phosphenen und komplexeren Gebilden als chiasmatic lesions of the central visual pathway. 11 (1): 18–30. Einleitung weisen Wiederherstellung (Erholung) von Sehleistung besser zu verstehen, da sich hieraus Perspektiven für neue Behand- Gesichtsfeldausfälle nach Schädigung des zentralen Nerven- lungsformen in der Klinik ableiten lassen [2]. systems können akut infolge einer traumatischen, entzündli- chen oder vaskulären Schädigung des Sehsystems im Gehirn Die Plastizität ist selbst in den peripheren Strukturen des auftreten oder chronisch-progredient verlaufen, etwa bei ent- Sehsystems nachweisbar. Bereits auf retinaler Ebene zeigt zündlicher Degeneration des Nervus opticus oder retinaler sich eine gewisse Veränderlichkeit nach Läsionen. Auf Ebene Schädigung durch Glaukom, altersbedingter Makuladege- der Photorezeptoren beobachteten z. B. Smallman et al. [3] neration (AMD) oder Retinitis pigmentosa. Lange wurde an- anhand eines Einzelfalles, dass sich die Zapfen nach einer genommen, dass das Gehirn kaum die Fähigkeit hat, nach Kataraktoperation an den hellsten Stellen der Pupille neu aus- akuten Läsionen jenseits der spontanen Erholungsphase der richteten. Strukturelle und funktionelle Reorganisationen auf ersten Wochen nach der Sehschädigung diese zu kompensie- kortikaler Ebene wurden insbesondere nach Läsionen im Kin- ren. Es galt lange als allgemein akzeptiert, dass die einmal eta- desalter berichtet [4, 5]. Auch nach prächiasmatischen Läsio- blierte Erblindung irreversibel ist. Inzwischen gibt es jedoch nen finden kortikale und subkortikale funktionelle Reorgani- viele Hinweise, dass das visuelle System über die gesamte sationsprozesse statt, wie an Patienten mit prächiasmatischen Lebensspanne eine gewisse Fähigkeit zur Plastizität beibehält Läsionen mittels funktioneller Bildgebung untersucht wurde [1]. In der hier vorliegenden Übersichtsarbeit wird die Plasti- [6]. Die Patienten zeigten Spontanerholungen der Gesichts- zität des visuellen Systems über dessen verschiedene Ver- felder nach einseitiger akuter Optikusneuritis, die mit ausge- arbeitungsstufen hinweg betrachtet. Ein besonderer Fokus dehnten extraokzipitalen Aktivierungen zusätzlich zu okzipi- wird dabei auf postchiasmatische Läsionen gelegt. Ziel dieser taler Aktivierung einherging. In einer sehgesunden Kontroll- Betrachtungen ist es, das Potenzial der Plastizität an der teil- gruppe wurde hingegen ausschließlich okzipitale Aktivierung beobachtet. Bei Hemianopsie nach Läsion der adulten, post- chiasmatischen Sehbahn konnte mithilfe funktioneller Bild- Aus dem Institut für Medizinische Psychologie, Medizinische Fakultät, Otto-von- gebung im Einzelfall ebenfalls eine Reorganisation im Sinne Guericke-Universität Magdeburg, Deutschland Korrespondenzadresse: Dipl.-Psych. Carolin Gall, Institut für Medizinische einer veränderten kortikalen Repräsentation des hemianopen Psychologie, Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Halbfeldes beobachtet werden, die durch Gesichtsfeldtraining D-39120 Magdeburg, Leipziger Straße 44; E-Mail: carolin.gall@med.ovgu.de induzierbar war [7]. 18 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Dies stellt die nach wie vor häufig vertretene Lehrmeinung infrage, dass bei postchiasmatischen Läsionen zwar spontane Erholung in den ersten Wochen und Monaten nach dem Läsionsereignis möglich ist, nicht aber Veränderungen des Gesichtsfeldstatus jenseits einer natürlichen Verlaufsvariabi- lität. Physiologische Beobachtungen sprechen aber insbeson- dere den sensorischen Systemen bis ins Erwachsenenalter eine gewisse Plastizität zu [8]. Plastizität ist kein Ereignis, das ausschließlich nach Läsionen auftritt, sondern vielmehr ist der dynamische Charakter neuronaler Verschaltungen in der Hirnrinde Teil der normalen Hirnfunktion. Tatsächlich gilt die Plastizität als eine der wesentlichen physiologischen Grundlagen normaler perzeptueller Lernprozesse, und diese Mechanismen sind vermutlich auch für Reparaturen nach Verletzungen am Nervensystem, beispielsweise infolge eines Schlaganfalls, von Bedeutung. Rehabilitationsmaßnahmen nach einem Schlaganfall zielen deshalb auf die frühzeitige Förderung der Hirnplastizität ab. Bei der Rehabilitation von Gesichtsfelddefekten spielt neben der Kompensation vor allem die Restitution („restoration“) durch trainingsvermittelte Reaktivierung funktionell gestör- Abbildung 1: Gesichtsfeldausfälle bei den wichtigsten Sehbahnläsionen. Schemati- ter, aber morphologisch relativ intakter Hirnregionen oder die sche Darstellung unterschiedlicher postretinaler Gesichtsfelddefekte (1–9) und eines Gesichtsfeldausfalles bei Glaukom (10) mit der entsprechenden Lokalisation der Nutzung alternativer Strukturen des neuronalen Netzwerks Schädigung im primären Sehsystem (rote Linie: Ort der Läsion). Rechts sind die resul- eine Rolle. Die Stärkung dieser Residualstrukturen kann er- tierenden Gesichtsfeldausfälle dargestellt. Die Gesichtsfelder wurden mit Computer- klären, warum bestimmte Sehfunktionen verbessert werden basierter Kampimetrie (± 16° vertikal, ± 21,5° horizontal) erhoben. Mod. nach Macek Z. Neurologie in der ärztlichen Praxis. Urban und Schwarzenberg, München, 1970, mit können. Kompensation und Restitution können sich in der Genehmigung von Elsevier. neurovisuellen Rehabilitation gut ergänzen [9]. 1. Völliger Ausfall des linken Auges bei Unterbrechung des Nervus opticus links. 2. Bitemporale Hemianopsie bei Unterbrechung der kreuzenden Sehbahnanteile im Chiasma opticum. Im Folgenden werden Beispiele der Plastizität entlang der 3. Nasale Hemianopsie des linken Auges bei Unterbrechung der nichtkreuzenden Sehbahn (nach retinalen, prä- und postchiasmatischen Läsio- Nervenbahn vom linken Auge. 4. Homonyme rechtsseitige Hemianopsie bei Unterbrechung des Tractus opticus nen) diskutiert und daraus abgeleitet Möglichkeiten der Be- links. handlung aufgezeigt. 5. Obere rechtsseitige Quadrantenhemianopsie. 6. Untere rechtsseitige Quadrantenhemianopsie. 7. Vollständige homonyme rechtsseitige Hemianopsie (eventuell mit Aussparung Abbildung 1 zeigt typische Gesichtsfelddefekte nach postreti- des Zentrums, da die Macula lutea in der Sehrinde doppelseitig repräsentiert ist). nalen Läsionen sowie das Ergebnis einer Diagnostik im Falle 8. Homonymer Ausfall im Makulabereich (Läsion des Okzipitalpols). eines glaukombedingten Gesichtsfelddefektes. 9. Segmentaler temporaler Ausfall des rechten Auges (äußerste Peripherie des Ge- sichtsfelds nur in einer Sehbahn betroffen). 10. Gesichtsfeldausfall bei Glaukom. Plastizität nach retinalen Läsionen OS = linkes Auge; OD = rechtes Auge Akute Schädigung der Retina im Tierexperiment führen, die die kortikale Läsion umgeben (Randbereiche, Im Tierexperiment wurden retinale Läsionen häufig experi- Penumbra) [15]. mentell erzeugt, um Reorganisationsprozesse in deafferen- tierten (deprivierten) kortikalen Bereichen zu untersuchen. Keck et al. [16] zeigten kürzlich an adulten Mäusen, dass nach Bereits in frühen Tierstudien konnte gezeigt werden, dass sich kleinen retinalen Läsionen im deafferentierten Kortex eine visuelle Defekte nach Läsionen (aber auch nach sensorischer komplette Umsetzung dendritischer Dornen innerhalb von 2 Deprivation) entweder spontan oder trainingsinduziert erho- Monaten stattfand. Die Rate, mit der postsynaptische Ver- len können [10], was mit einer gewissen Reorganisation re- bindungen untergehen und wieder neu geknüpft werden, sei zeptiver Felder einhergeht [1, 11–13]. Chino et al. [14], die 3-fach höher als diejenige in intakten Arealen. Zweifel an eine quantitative Analyse der Charakteristika „reaktivierter kortikaler Reorganisation meldeten aber Smirnakis et al. [17] Neuronen“ nach retinaler Läsion bei Katzen durchführten, an, die in erwachsenen Makaken auch 7,5 Monate nach fanden, dass 98 % der deafferenzierten Neuronen innerhalb retinaler Läsion keine topographischen Änderungen anhand von 3 Monaten neue rezeptive Felder ausbildeten. Die Eigen- der BOLD-Antwort beobachten konnten. Laut Calford et al. schaften dieser rezeptiven Felder seien zwar normal, jedoch [18] ist die BOLD-Antwort jedoch ein indirektes und un- wiesen sie eine reduzierte Kontrastsensitivität auf. Die lokale, reliables Maß zur Feststellung von Plastizität, sodass bei Feh- kortikale Reorganisation äußerte sich in einer Positionsver- len von Hinweisen auf Plastizität anhand der BOLD-Antwort schiebung und Vergrößerung der rezeptiven Felder. Nähere nicht auf ein Fehlen von Plastizität geschlossen werden kann. Untersuchungen sowohl retinaler als auch kortikaler Läsionen gehen mit reduzierter GABAerger Hemmung und erhöhter Neben Beobachtungen von Plastizität nach akuten, strukturel- glutamaterger Exzitation einher, welche zu erhöhter Spontan- len Retinaläsionen in Tierexperimenten gibt es auch Evidenz aktivität und erhöhter visueller Erregbarkeit in den Regionen für Plastizität nach Retinaläsionen beim Menschen. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1) 19
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Plastizität bei Makuladegeneration Patienten im Vergleich zu alters- und geschlechtsgematchten Perzeptuelle Plastizität zeigt sich u. a. bei Patienten mit alters- normalsichtigen Probanden ausgedehnte afferente Atrophien assoziierter Makuladegeneration („age-related macular dege- innerhalb des geniculo-striären Systems, welche beginnend neration“ [AMD]), die für den Bereich des Gesichtsfeldaus- beim Sehnerv über die optische Sehstrahlung bis hin zum falls das „Filling-in“-Phänomen zeigen [19–22]. Im Bereich visuellen Kortex beobachtet wurden. Der Schaden war so des Gesichtsfeldausfalls und in dessen Randzone wurden massiv, dass der Volumenverlust im Bereich des visuellen visuelle Halluzinationen infolge der Deafferentierung berich- Kortex ca. 25 % betrug. Das Pulvinar und dessen Projektio- tet (Charles-Bonnet-Syndrom), die mit Zeiträumen verstärk- nen zu assoziativen visuellen Arealen waren ebenfalls massiv ter spontaner Verbesserungen zusammenfielen [23, 24]. Ein atrophiert und auch im mittleren temporalen Kortex und in weiterer Anhaltspunkt für perzeptuelle Plastizität bei Patien- den Brodman-Arealen 18/19 fand sich ein Volumenverlust ten mit Makuladegeneration ist die spontane Ausbildung von ca. 20 %. Weiterhin wurden Veränderungen der weißen eines oder mehrerer bevorzugter „retinaler Orte“ („preferred Substanz im inferioren longitudinalen Tractus und im poste- retinal location“ [PRL]), die von den Patienten für eine exzen- rioren Teil des Corpus callosum beobachtet. trische Fixation genutzt werden. Hier kompensieren Patienten Schädigungen im Bereich der Fovea dadurch, dass sie andere, Bei kongenitaler Blindheit findet nun eine „intermodale noch intakte (oder teilintakte) Gebiete der Retina am Rande Plastizität“ statt. Im „visuellen“ Kortex von Blinden werden des Schadens nutzen, um Objekte zu fixieren [25–27]. Mithil- somatosensorische und auditive Reize verarbeitet, sodass eine fe dieser „exzentrischen Fixation“ kann das Lesen wiederer- Neuverschaltung neuronaler Verbindungen sehr wahrschein- lernt [28–30] und die PRL durch Training optimiert werden lich ist, die nichtvisuelle sensorische Informationen zum visu- [31]. Nilsson et al. stellten fest, dass untrainierte PRL oftmals ellen Kortex leitet [38, 39]. Wie diese Neuverschaltung gear- linksseitig der retinalen Läsion und somit auch linksseitig des tet ist und ob sie interindividuell ähnlich abläuft, ist jedoch Skotoms, d. h. an einer zum Lesen sehr ungeeigneten Posi- noch nicht ausreichend geklärt. tion, liegen [30]. Durch Training kann in der Mehrzahl der Patienten eine PRL ober- oder unterhalb des Skotoms erlernt Park et al. [40] untersuchten die neuronale Reorganisation im und die Lesegeschwindigkeit dadurch substanziell erhöht visuellen Kortex bei früh erblindeten Patienten mit Diffu- werden [29, 30]. sionstensorbildgebung. Hauptsächlich im Bereich der primä- ren Sehbahn fanden sie reduzierte Anisotropie und erhöhte In Einzelfallstudien zeigten Patienten mit AMD kortikale Diffusion im Vergleich zu sehgesunden Probanden. Verände- topographische Reorganisation in Bereichen des der Fovea rungen der regionalen Diffusionsrichtung wurden nicht nur in topographisch zugeordneten Kortexareals [32, 33]. In kortika- der Sehbahn, sondern auch in nicht-visuellen Arealen wie den len Regionen, die vormals ausschließlich zentrale (foveale) U-Fasern des Parietallappens, dem Striatum, dem Pulvinar visuelle Informationen verarbeiteten, konnten nun Aktivie- sowie dem inferioren und superioren longitudinalen Fascicu- rungen auch durch periphere Stimuli erzeugt werden. Diese lus beobachtet. Bei diesen Veränderungen handelt es sich um Reorganisation wurde jedoch nur dann beobachtet, wenn der Anpassungen auf frühen Verlust der Strukturen des visuellen foveale Funktionsverlust vollständig war, d. h. ohne Ausspa- Systems, die möglicherweise ein Korrelat von Hyperfunktio- rung. Schumacher et al. [34] zeigten, dass die Reorganisation nen anderer sensorischer Systeme (insbesondere Hörvermö- von der Ausbildung exzentrischen Sehens abhängig ist. gen und Somatosensorik) sind, die Blinde für eine Orientie- rung im Raum benötigen [41]. Plastizität bei Glaukom Plastizität nach prächiasmatischen Ein Glaukom ist eine optische Neuropathie, bei der retinale Ganglienzellen selektiv absterben und typische glaukomatöse Läsionen Skotome entstehen können, die den Patienten aber zumeist Prächiasmatische Läsionen können topographisch vielgestal- erst bei fortgeschrittenem Nervenzellverlust bewusst werden. tige Gesichtsfelddefekte zur Folge haben. Konzentrische Ein- Da einige retinale Ganglienzellen innerhalb der geschädigten engungen des Gesichtsfelds werden nach Kompression der Netzhautregion überleben [35] und der deafferentierte visuelle äußeren Faseranteile des Sehnervs beobachtet. Gesichtsfeld- Kortex Plastizität hinsichtlich einer örtlichen Verschiebung defekte bei glaukomatöser Optikusatrophie sind hingegen in und Vergrößerung rezeptiver Felder zeigt, scheint auch beim der Regel parazentral, sodass die (zentrale) Sehschärfe relativ Glaukom eine generelle Behandelbarkeit des visuellen Funk- unbetroffen bleibt. Sehnervläsionen sind auch nach traumati- tionsverlustes möglich. Gudlin et al. [36] stimulierten in einer scher und entzündlicher Genese zu beobachten. Pilotstudie 5 Patienten mit primärem Offenwinkelglaukom mit repetitiven schwellennahen Lichtreizen und beobachteten Wenn man annimmt, dass Plastizität nach Retinaläsionen vor Verbesserungen der Wahrnehmung von Lichtreizen in Peri- allem im visuellen Kortex auftritt, so kann kortikale Plastizi- metrien des zentralen Gesichtsfelds bei 4 Patienten. Aufgrund tät auch nach Schädigung des Nervus opticus erwartet wer- der kleinen Stichprobe und fehlender Replikation der Studie den. steht ein endgültiger Wirksamkeitsnachweis aber noch aus. Abbildung 2 zeigt die Gesichtsfelder sowie die Bébié-Kurven zur Darstellung der Gesichtsfeldtopographie eines Patienten Kongenitale Blindheit und frühe Erblindung mit Optikusneuritis. Der prächiasmatische Gesichtsfeldaus- Ptito et al. [37] untersuchten funktionelle Veränderungen des fall ist in der Regel heteronym, d. h. er zeigt auf beiden Augen Sehsystems bei kongenitaler Blindheit. Sie fanden bei blinden eine unterschiedliche Topographie. Zudem sind die Über- 20 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1)
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen nalen Ganglienzellen fördern. Dagegen konnte ohne Linsen- verletzung keine Regeneration von durchtrennten Ganglien- zellaxonen festgestellt werden. Dieser Effekt wurde auch durch andere Forschungsgruppen bei verschiedenen Spezies bestätigt [66–68]. Zusätzlich trat bei Langzeitversuchen das Phänomen auf, dass regenerierende Axone über das Chiasma opticum hinaus bis in ihr natürliches Zielgebiet, den Collicu- lus superior, wachsen konnten. Die regenerierenden Axone wuchsen bei Durchquerung des Chiasma opticus nahezu kom- plett auf die kontralaterale Seite hinüber; sie „rekapitulierten“ somit ihren ursprünglichen Verlauf [64, 69]. Das Ausmaß der Regeneration ist mit 1–2 % der Axonen aber sehr be- schränkt. Neuroprotektive Ansätze ergaben, dass nicht jede Substanz, die sich als neuroprotektiv erwies, auch zu einer besseren Regeneration nach Axotomie führte. So konnte nach Applika- tion von BDNF („brain-derived neurotrophic factor“) zwar ein besseres Überleben axotomierter Ganglienzellen erzielt werden, aber keine Erhöhung der Anzahl [70–73]. Auch der allgemeine Caspase-Hemmer ZVAD (Z-Val-Ala-Asp-CH2F) verbesserte das Überleben von retinalen Ganglienzellen, aber nicht die Regeneration von Axonen [74]. Dagegen wirkte nach Transplantation eines peripheren Nervs die Applikation Abbildung 2: Monokulare Perimetrien eines Patienten mit Optikusneuritis. Es sind von CNTF („ciliary neurotrophic factor“) fördernd auf die die einzelnen Schwellenwerte (oben) entsprechend ihrer Abweichung von der Emp- Regeneration [73, 75–78]. Des Weiteren konnte in aktuellen findlichkeitsnorm in Grauwerten dargestellt (Mitte). Kumulative Bébié-Defektkurven (unten) können der Veranschaulichung des Übergangs zwischen intaktem und absolut Studien gezeigt werden, dass durch elektrische Stimulation geschädigtem Gesichtsfeldareal dienen. In diesem Einzelfall ist ersichtlich, dass auf des Sehnervs gleichfalls eine neuroprotektive Wirkung erzielt dem rechten Auge (OD) ein partieller Sehnervschaden vorliegt, der einem halbseiti- wurde [79–82]. Nach Transsektion des Sehnervs konnte das gen Ausfall entspricht. Auf dem linken Auge (OS) zeigt sich jedoch kein homonymes Bild sondern ein diffuser Ausfall. Entsprechend zeigt die Bébié-Defektkurve für den Absterben retinaler Ganglienzellen sowohl durch direkte Sti- diffusen Ausfall einen flachen und für den Halbseitenausfall einen steilen Gradien- mulation des Sehnervs als auch durch transkorneale elektri- ten. Die Gesichtsfelder wurden mit dem Twinfield-Perimeter (Oculus, Lynnwood, WA) sche Stimulation gemindert werden [80, 81]. erhoben. Ein weiterer Ansatz zur neurobiologischen Klärung der funk- gangsbereiche zwischen intaktem und geschädigtem Ge- tionellen Erholung nach Läsion ist die in unserem Labor etab- sichtsfeld bei prächiasmatischen im Vergleich zu den später lierte und in der Literatur ausführlich beschriebene graduelle besprochenen postchiasmatischen Läsionen diffuser. Quetschung des Nervus opticus (ONC) [83–85]. ONC führt zum retrograden Verlust von ca. 80–90 % der retinalen Gang- lienzellen; der massivste Zelltod tritt innerhalb der ersten 1–2 Schädigung des Sehnervs im Tiermodell Wochen auf [84, 86, 87]. Etwa 10–20 % der retinalen Gangli- Zahlreiche tierexperimentelle Studien befassen sich mit Neu- enzellen überleben den Schaden und bleiben mit ihrem Ziel- roprotektion, Regeneration und funktioneller Wiederherstel- gebiet (Colliculus superior) verbunden. Dies konnte sowohl lung nach akuter Schädigung des Nervus opticus [42–61]. in vitro durch die Meerrettich-Peroxidase-Methode [84] als auch in vivo durch das „In Vivo Confocal Neuroimaging“- Das am häufigsten beschriebene Modell zur Untersuchung (ICON-) Verfahren nachgewiesen werden [57, 87–89]. Es der Regeneration von Ganglienzellaxonen ist das Transplan- war auffällig, dass bei überlebenden „gesunden“ Zellen die tat peripherer Nerven, welches an den bulbären Stumpf des Größe des Zellkörpers [88, 89] und die Kalziumaktivität kom- durchtrennten Sehnervs angenäht wird. Mit dieser Methode pensatorisch zunahmen [57]. Dies könnte erklären, warum wurden in der Vergangenheit an verschiedenen Spezies be- sich trotz eines massiven retrograden Zelltods nach einem an- deutende Erkenntnisse zur Regenerationsfähigkeit von axo- fänglichen Sehleistungsverlust alle bisher beobachteten Ver- tomierten Ganglienzellen gewonnen. So konnte bei Ratten haltensparameter erholten. Obschon diese Erholung nicht beobachtet werden, dass die Axone im Idealfall mit einer Ge- vollständig war, stieg die Leistung in Sehaufgaben von an- schwindigkeit von ca. 1,3 mm pro Tag durch das Transplantat fänglich 10–30 % unmittelbar nach der Läsion in der Regel wuchsen und bei Erreichen des Endes aus dem Transplantat auf ca. 80–90 % nach 2–3 Wochen an [87, 89]. Dieser Zeit- heraustraten und mit den Neuronen des Colliculus superior verlauf und auch das Ausmaß der Funktionserholung waren synaptische Verbindungen bildeten. Diese Synapsen waren zwischen den unterschiedlichen Experimenten konsistent. nicht nur morphologisch präsent, sondern nahmen ihre Funk- Funktionelle Erholung der Sehleistung konnte auch in ganz tion der Übermittlung visueller Reize auf [46, 62]. Fischer et unterschiedlichen Verhaltensaufgaben beobachtet werden: al. [63, 64] und Leon et al. [65] beobachteten, dass eine Ver- visuell induziertes Orientierungsverhalten [83, 85], Hellig- letzung der Linse mit dem Einströmen von Makrophagen in keitsdiskrimination [84] und auch Mustererkennung [86, 89– das Auge verbunden ist und diese die Regeneration von reti- 93] erholten sich spontan innerhalb von ca. 2–3 Wochen. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1) 21
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Optikusneuritis geschädigten Anteilen des Gesichtsfelds mit Lichtreizen, die Wurde der Sehnerv des Menschen durch entzündliche Prozes- mithilfe von Computertrainingsverfahren präsentiert werden, se geschädigt, konnte oftmals eine starke spontane Funktions- konnte eine signifikante Funktionsverbesserung beobachtet erholung innerhalb der ersten Wochen und Monate bis hin zu werden, die sich in einer Vergrößerung des Gesichtsfelds und normaler Sehschärfe beobachtet werden, wobei jedoch eine einer verbesserten Sehschärfe äußerte [9, 100]. verminderte Leitgeschwindigkeit bestehen bleibt, die in ver- längerten Latenzen visuell evozierter Potenziale sichtbar wird Erholung nach postchiasmatischen [6, 94, 95]. Läsionen Korsholm et al. [96] untersuchten an einer Stichprobe von 19 Läsionen des okzipitalen Kortex verursachen kontralaterale Patienten mit durch Multiple Sklerose verursachter Optikus- Ausfälle in korrespondierenden Bereichen des Gesichtsfelds. neuritis Aktivierungen im Nucleus geniculatum laterale Sind die Läsionen des primären visuellen Kortex unilateral, so (LGN) und im visuellen Kortex sowohl im akuten Zustand ist der Patient nicht mehr in der Lage, visuelle Informationen sowie 3 und 6 Monate nach der Läsion mit funktioneller im kontralateralen Halbfeld wahrzunehmen, es liegt eine Bildgebung. In der akuten Phase war die Aktivierung im LGN Hemianopsie vor. Nelles et al. [101, 102] untersuchten bei und visuellen Kortex bei Stimulation des geschädigten Auges Patienten mit ischämischen Läsionen des visuellen Kortex signifikant herabgesetzt. Der Unterschied in der Aktivierung und partiell spontan remittierten Gesichtsfelddefekten Verän- des intakten und geschädigten Auges nahm jedoch im Laufe derungen der neuronalen Aktivität mittels funktioneller Bild- der Zeit ab und war nach 6 Monaten nicht mehr signifikant. gebung. Während in einer Kontrollgruppe sehgesunder Pro- Dies konnte sowohl auf eine Zunahme der Aktivierung bei banden das Aktivitätsmaximum bei Halbfeldstimulation im Stimulation des geschädigten Auges als auch auf eine Abnah- kontralateralen visuellen Kortex und bilateral im extrastriären me der Aktivierung bei Stimulation des intakten Auges zu- Kortex beobachtet wurde, zeigte sich in der Patientengruppe rückgeführt werden. Adaptive kortikale Reorganisationen bei Stimulation des hemianopen Halbfelds eine stärkere ipsi- wurden in der Studie von Korsholm et al. [96] jedoch nicht laterale Aktivierung im extrastriären Kortex. beobachtet. Neben der stark reduzierten Aktivierung des visu- ellen Kortex repräsentieren möglicherweise extraokzipitale Im Vergleich zu relativ häufigen Beobachtungen der sponta- Aktivierungen eine adaptive Reorganisation der zerebralen nen und trainingsinduzierten Restitution von Gesichtsfeld- Aktivität [97, 98]. Diese wurden in der rechten Insula/Claus- defekten wurden kortikale Reorganisationsprozesse nach spät trum, lateralen Teilen des temporalen und posterior-parietalen erworbenen Läsionen auf Ebene des visuellen Kortex nur sehr Kortex sowie im Thalamus beobachtet [97]. Es handelt sich selten untersucht [103]. Wie bereits dargelegt, zeigen hin- somit um Strukturen, die an der visuellen Verarbeitung auf gegen Patienten mit frühen Erblindungen massive Reorga- integrativer, multisensorischer Ebene beteiligt sind. Das Vo- nisationen im Vergleich zu sehgesunden Probanden, wie z. B. lumen dieser extraokzipitalen Aktivierungen, die nur für das Aktivierungen des visuellen Kortex beim Lesen von Braille- geschädigte und erholte Auge, nicht jedoch für das intakte Schrift [104, 105]. Auge gefunden wurden, korrelierte hoch mit verlängerten Latenzen visuell evozierter Potenziale [97]. Plastizität nach Läsionen des visuellen Kortex Zusammenfassend scheinen Veränderungen der Aktivitäts- im Tiermodell muster im Laufe der Funktionserholung insbesondere in Für das Verständnis von Mechanismen der Funktionserho- extrastriären Gebieten mit Funktionsverbesserungen einher- lung sind insbesondere tierexperimentelle Befunde von Inter- zugehen [7, 97, 98]. Es ist jedoch noch nicht geklärt, inwie- esse, bei denen die Organisation und Reorganisation mit phy- weit diese Aktivierungsänderungen hinreichend bzw. not- siologischen Methoden untersucht wurden. wendig für den Erholungsprozess sind. Experimentelle Läsionen des visuellen Kortex sind im Ver- Für die Klinik ist vor allem interessant, inwieweit funktio- gleich zu retinalen experimentellen Läsionen relativ selten nelle Erholung im Sehsystem beeinflussbar ist, allerdings gibt durchgeführt worden. Am Affen wurden retrograde Degene- es bisher nur wenige Versuche einer therapeutischen Inter- rationen im dorsalen Nucleus geniculatum laterale und parvo- vention. So führten Fujikado et al. [99] eine transkorneale zellulärer retinaler Ganglienzellen in Abhängigkeit von der elektrische Stimulation (TES) an Patienten mit ischämischer Größe der Läsion in V1 beobachtet [106–108]. Eysel et al. Optikusneuropathie durch. Die TES wurde einmalig für eine [109] zeigten, dass im visuellen Kortex adulter Katzen die Dauer von 30 min. mit 600–800 microAmp bei einer Fre- rezeptiven Felder in den Randbereichen von Läsionen vergrö- quenz von 20 Hz durchgeführt. Die Stimulation führte zu ßert sind. Verbesserungen der Sehschärfe von ≥ 0,3 logMAR bei 6 von 8 behandelten Patienten. Aufgrund der kleinen Stichprobe In Studien an Makaken mit V1-Läsionen fanden erstmals und fehlender Replikation der Studie steht ein endgültiger Cowey und Weiskrantz [110, 111], dass die Fähigkeit, visu- Wirksamkeitsnachweis noch aus. elle Reize im blinden Bereich des Gesichtsfelds zu erkennen und zu lokalisieren, bestehen bleibt. Diese Fähigkeiten wur- Neben der Elektrostimulation kann die Erholung von Seh- den durch Training erworben, die Verbesserungen traten nicht leistungen nach Läsionen des Nervus opticus auch durch spontan auf [110, 112] und waren hauptsächlich auf trainierte Verhaltenstraining erreicht werden. Durch intensive repeti- Bereiche des Gesichtsfelds beschränkt [112]. Wenn die tive Reizung der Übergangsbereiche zwischen intakten und Läsionierung in höherem Alter stattfand, sank die Fähigkeit, 22 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1)
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen visuelle Reize zu erkennen und zu lokalisieren [113–115]. Ein Wiederholte Stimulation von Bereichen, in denen Blindsight enger Zusammenhang mit dem Blindsight-Phänomen beim beobachtet wurde, kann zu einer Verbesserung der dort gemes- Menschen ist anzunehmen [114, 116]. senen Leuchtdichteunterschiedsschwellen führen [131, 132], wie dies auch für den Übergangsbereich zwischen intaktem und geschädigtem Gesichtsfeldareal nach wiederholten Mes- Blindsight sungen der Inkrementalschwellen beobachtet wurde [133]. Trotz kortikaler Erblindung können unter bestimmten experi- mentellen Bedingungen auch beim Menschen bestimmte Während der absolut geschädigte Bereich über die oben be- Wahrnehmungseigenschaften innerhalb des Gesichtsfeld- schriebenen „Restfunktionen“ verfügt, weist der intakte Be- ausfalls nachgewiesen werden; hierzu zählt insbesondere die reich des Gesichtsfelds mitunter subtile Defizite, z. B. in der Bewegungswahrnehmung. Nach kortikaler Erblindung ist in Gestaltwahrnehmung auf, die mit perimetrischer Gesichts- der Regel keine bewusste visuelle Wahrnehmung in korres- feldmessung allein nicht messbar sind [134, 135]. pondierenden Gesichtsfeldbereichen mehr möglich. Residua- le, zumeist unbewusste Bewegungs- [117–119], Form- [120] und Farbwahrnehmung [121–123], wurden jedoch innerhalb Residualsehen an der Gesichtsfeldgrenze von Gebieten des Gesichtsfelddefekts zuerst von Pöppel et al. Perimetrische Gesichtsfeldvermessungen (Abb. 1) dienen beobachtet [124] und von Weiskrantz als „Blindsight“ bezeich- in der Regel der Bestimmung der Lage und des Ausmaßes net [125]. Am häufigsten bleibt innerhalb des blinden Areals eines Gesichtsfeldausfalls, wobei die Identifikation der Ge- die Bewegungswahrnehmung erhalten; einige Patienten mit sichtsfeldgrenze im Vordergrund steht, d. h. die Ausdehnung striären Läsionen sind in der Lage, bewegte Reize im Skotom des verbliebenen intakten Gesichtsfelds in Abgrenzung zum zu erkennen und bei einfachen im Vergleich zu komplexen ausgefallenen Gesichtsfeldbereich. In der kinetischen Peri- Reizen auch deren Richtung anzugeben [118, 119]. metrie werden Leuchtmarken von außen in das Gesichtsfeld des Patienten hineinbewegt, sodass lediglich eine Abgren- Blindsight wird in der Regel als unbewusstes Wahrneh- zung des intakten und ausgefallenen Gesichtsfelds möglich mungsphänomen beschrieben, da der Patient zwar berichtet, ist. nichts gesehen zu haben und dennoch eine über der Ratewahr- scheinlichkeit liegende Trefferquote in „Forced-choice“-Ver- Eine präzise, funktionelle Charakterisierung der verschiede- suchsanordnungen zeigt. Blindsight scheint jedoch mehr zu nen Bereiche des Gesichtsfelds nicht nur bezüglich intakter sein als eine unbewusste Form des normalen Sehvermögens und ausgefallener Areale (absolute Defekte), sondern auch [126]. Es wurden auch bewusste Formen beschrieben [125]. unter Berücksichtigung von Arealen mit residualem Sehen Zudem kann sich bewusste visuelle Wahrnehmung entwi- (relative Defekte) wird bedeutsam, wenn der Versuch unter- ckeln, wenn die kortikale Erblindung im frühen Kindesalter nommen werden soll, in diesen Bereichen Verbesserungen auftrat [127]. der Sehfunktionen zu erzielen [136–141]. Die meisten peri- metrischen Methoden sind aber nicht für eine Diagnose von Blindsight beruht nicht auf intakten residualen Bereichen des residualen visuellen Funktionen konzipiert. Daher wird neben primären visuellen Kortex [125]. Eine naheliegende Erklä- der statischen Schwellenperimetrie, in der relative Defekte rung für das Auftreten von Blindsight sind alternative Path- Positionen im Gesichtsfeld entsprechen, an denen die Leucht- ways, die visuelle Informationen von der Retina zu extrastriä- dichteunterschiedsempfindlichkeit herabgesetzt ist, eine spe- ren kortikalen Arealen prozessieren. Dies kann wahrschein- ziell entwickelte Computerkampimetrie verwendet, in der lich dadurch erklärt werden, dass bei Läsionen des primären überschwellige Lichtreize dargeboten werden [137]. Abbil- visuellen Kortex (V1) Projektionen der Retina über das dung 3 zeigt das Ergebnis einer binokularen Computerkampi- Genikulatum und Pulvinar/Colliculus unbeschädigt bleiben, metrie des Patienten aus Abbildung 2. Es ist zu erkennen, dass sodass die Area V5 afferente Inputs ohne V1-Beteiligung die wiederholte Darbietung von Reizen im Übergangsbereich erhält. Hierfür spricht, dass einige Neuronen des dorsalen zu inkonsistenten Detektionen führt (Graubereiche), während Nucleus geniculatum laterale und sogar retinale Ganglienzel- intakte Bereiche durch eine konsistente Reizerkennung (wei- len (in zu der kortikalen Läsion retinotopischen Gebieten) ße Bereiche) und absolut defekte Bereiche durch eine konsis- lange Zeit überleben können [128]. Es handelt sich hierbei je- tente Nichterkennung (schwarze Bereiche) charakterisiert doch um Untersuchungen an Affen und es ist bekannt, dass sind. Die Helligkeit der dargebotenen Lichtreize ist von ent- das Überleben dieser Zellen durch Projektionen in extrastriäre scheidender Bedeutung für die Charakterisierung des Ge- Gebiete, insbesondere V4 und MT, begründet ist. sichtsfelds in intakte, residual (teilgeschädigte) und absolut geschädigte Bereiche. Bei Verwendung hellerer (kontrastrei- Das Blindsight-Phänomen ist hochgradig von den Eigen- cherer) Lichtreize wird der intakte Gesichtsfeldbereich ent- schaften der verwendeten Reize und deren räumlich-zeitlicher sprechend größer kartiert als bei Verwendung dunklerer Darbietung abhängig. Es ist daher nicht möglich, anhand der (kontrastärmerer) Lichtreize. Studienlage abzuschätzen, wie häufig Blindsight bei Patien- ten mit postchiasmatischen Läsionen auftritt. In einer Studie An der Grenze des geschädigten Gesichtsfeldareals können von Schärli et al. [129] wurde Blindsight nur bei einem von oft Übergangszonen beobachtet werden, die in Größe und insgesamt 9 untersuchten Patienten mit homonymen Gesichts- Form beträchtlich variieren [137]. Abbildung 2 zeigt, dass bei felddefekten nach Läsionen des visuellen Kortex beobachtet. Vorliegen eines abrupten Übergangs zwischen intaktem und Wüst et al. [130] fanden das Blindsight-Phänomen auch bei geschädigtem Gesichtsfeldbereich in der Perimetrie dement- Patienten mit Läsionen des Nervus opticus. sprechend steile Schwellengradienten (Bébié-Kurve) vorlie- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1) 23
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Neben der Detektion von Lichtreizen sind auch andere visu- elle Funktionen im Übergangsbereich beeinträchtigt. Sowohl objektive Untersuchungen als auch subjektive Patienten- berichte deuten darauf hin, dass die Qualität der visuellen Wahrnehmung dort erheblich gemindert ist. Neben einer Reaktionszeiterhöhung auf dargebotene Lichtreize können Farben und Formen zwar wahrgenommen, jedoch schlecht diskriminiert werden [100, 139]. In subjektiven Berichten er- wähnen Patienten den Eindruck eines Schattens oder diffusen Sehens im Übergangsbereich. Residualsehen im Übergangsbereich ist der Teil des Gesichts- felds, der die größte Variabilität aufweist. Zihl et al. [142] beobachteten tagesperiodische Schwankungen der Gesichts- feldgröße, die bis zu 10° betragen konnten. Eine mögliche Ursache für Schwankungen der Gesichtsfeldausdehnung und intraindividuell variierendes Residualsehen sind periodische Schwankungen der Hirnaktivität insbesondere im Bereich des Alpha-Bandes (8–14 Hz) [143, 144]. Romei et al. [143, 144] beobachteten, dass Fluktuationen im Alpha-Band hoch mit der Wahrscheinlichkeit korrelierten, einen visuellen Stimulus wahrzunehmen. Diese Fluktuationen könnten daher den Er- regungszustand des visuellen Kortex widerspiegeln und einen Beitrag zur Erklärung des Auftretens inkonsistenter Reiz- detektionen bei Patienten mit Gesichtsfeldausfällen leisten. Darüber hinaus gibt es einen Zusammenhang zwischen der klinischen Beobachtung des Residualsehens und Schwankun- gen in der räumlichen Aufmerksamkeit, die ebenfalls mit dem Abbildung 3: Binokulare Messung des zentralen Gesichtsfelds mit überschwelliger Kampimetrie (im Detail beschrieben bei [137–140]) unter Kontrolle der Augenbewe- Erregungszustand des visuellen Kortex assoziiert ist [145– gungen durch einen infrarotbasierten Eye-Tracker (Tobii ET1750, Tobii Technology, 148]. AB, Schweden). Es zeigt sich, dass unreliable Reizwahrnehmungen (graue Positio- nen) wie im oberen Bild dargestellt auch bei relativ guter Fixation beobachtet wurden (unterer Teil des Bildes). Die Ergebnisse einer Studie von Gothe et al. [149] legen nahe, dass die Erzeugung von Phosphenen durch transkranielle Magnetstimulation über dem visuellen Kortex ein Indikator gen. Dies ist hauptsächlich bei Patienten mit kompletten für residuale Funktionen sein kann. Sie zeigten, dass die homonymen Hemianopsien nach postchiasmatischen Läsio- Wahrscheinlichkeit, mit der Phosphene ausgelöst werden nen des visuellen Systems der Fall. Komplette Halbseitenaus- konnten, bei blinden Patienten mit Residualsehen deutlich fälle auf nur einem Auge können jedoch auch nach Läsionen höher war als bei blinden Patienten ohne Residualsehen. des Sehnervs entstehen, wie das Beispiel des Patienten in Abbildung 2 zeigt. Insbesondere Patienten mit prächiasmati- Poggel et al. [150] zeigten, dass einfache Phosphene haupt- schen Läsionen zeigen flache Schwellengradienten mit breite- sächlich im Übergangsbereich zwischen intaktem und ge- ren Gesichtsfeldgrenzen in der Perimetrie und entsprechend schädigtem Gesichtsfeld spontan auftraten und zu Zeitpunk- großen Übergangsbereichen bei eher inhomogenen, verstreu- ten beobachtet wurden, bei denen Verbesserungen der visuel- ten Gesichtsfelddefekten. len Funktionsfähigkeit entweder spontan oder trainingsindu- ziert stattfanden. Gebiete des Residualsehens sind auch be- Die Existenz des Residualsehens innerhalb einer Übergangs- sonders anfällig gegenüber Schwankungen durch modulie- zone zwischen intakten und absolut geschädigten Gesichts- rende Einflüsse wie Aufmerksamkeit und Vigilanz. Darüber feldarealen wird durch das Vorhandensein von teilgeschädig- hinaus ist wahrscheinlich, dass Sensibilitätsänderungen in ten Hirnarealen erklärt, in denen noch einige Neuronen den den teilgeschädigten Arealen auftreten (z. B. Denervierungs- Schaden überlebt haben. In diesen Gebieten wird visuelle supersensitivität, Rezeptorplastizität etc.), die dann mögli- Information auf einem suboptimalen Level verarbeitet [137– cherweise zu Phosphenen und anderen visuellen Halluzinatio- 139]. Die Übergangszone hat ihre Entsprechung in relativen nen im Bereich des Residualsehens führen. Defekten in der konventionellen statischen schwellennahen Perimetrie und inkonsistenten Reizdetektionen in der stati- schen, kampimetrischen, überschwelligen Gesichtsfeldmes- Spontanremission von Sehfunktionen sung, wobei nicht ausreichend geklärt ist, ob relative Defekte Die Beschaffenheit des Übergangsbereichs bestimmt in der am Automatikperimeter (gemessen mit Schwellenperimetrie Regel das Ausmaß der spontanen und trainingsinduzierten bei ansteigender Helligkeit bzw. Eingabelungsverfahren) Restitution. Patienten mit breiter Gesichtsfeldgrenze zwi- identisch sind mit Übergangsbereichen in der Kampimetrie, schen intaktem und geschädigtem Areal bzw. mit hoher An- die durch multiple Messungen mit gleichbleibender Hellig- zahl relativer Defekte in der Perimetrie und dementsprechend keit gefunden wurden. großen Übergangsbereichen zeigen in der Regel ein größeres 24 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1)
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Ausmaß an Spontanremission [137, 139]. Derartige spontane das anteriore Zingulum und den dorsolateralen frontalen Kor- Erweiterungen des Gesichtsfelds sind bei ca. der Hälfte aller tex sowie andere höhere visuelle Areale im okzipitotempora- Patienten mit homonymen Hemianopsien im ersten Monat len und medialen temporalen Kortex vermittelt. nach der Läsion zu erwarten; die Wahrscheinlichkeit für Spontanremissionen nimmt aber mit zunehmendem Läsions- Eine Reihe weiterer Arbeiten legt ebenfalls nahe, dass Plasti- alter ab [151]. zitätsmechanismen innerhalb des visuellen Systems ein po- tenzielles Erklärungsmodell für Gesichtsfelderweiterungen darstellen [7, 101, 102, 166]. Trainingsinduzierte Restitution von Sehfunktio- nen Studien mit postchiasmatisch geschädigten Patienten konnten Mithilfe von Trainingsverfahren wurde über gezielte Stimula- häufig Gesichtsfelderweiterungen nachweisen, für die neuro- tion teilgeschädigter Areale des Gesichtsfelds eine teilweise physiologische Korrelate gefunden wurden. Als ein grundle- Funktionserholung erreicht und somit blinde Gesichtsfeldan- gender Kritikpunkt an den Verfahren wurde jedoch geäußert, teile verkleinert [9, 100, 139–141, 152–159]. Das wesentliche dass das Ausmaß der Gesichtsfelderweiterung nicht klinisch Stimulationsprinzip besteht in einer schrittweisen Erhöhung relevant sei [167–169]. Verbesserungen der Stimulusdetek- der Helligkeit, mit der Reize im Übergangsbereich dargebo- tion in der Gesichtsfelddiagnostik gehen jedoch mit einer ten werden. Das Trainingsprinzip ähnelt somit einer wieder- ebenfalls verbesserten sehbezogenen Lebensqualität (gemes- holten Messung der Inkrementalschwellen im Übergangs- sen mit dem National Eye Institute-Visual Functioning Ques- bereich. Wie in frühen Untersuchungen hierzu gezeigt wurde, tionnaire [NEI-VFQ]) einher [170]; es wurden signifikante konnte bei der Hälfte der mit einem derartigen Training der Verbesserungen in 8 der 12 Subskalen beobachtet. Insbeson- Leuchtdichteunterschiedsschwellen behandelten Patienten dere Verbesserungen in den Subskalen „Allgemeine Seh- ein Gesichtsfeldzuwachs von durchschnittlich mindestens 5° kraft“, „Nahsehen“, „Einschränkungen der sozialen Funk- erreicht werden [133, 136]. Dabei ist aber anzumerken, dass tionsfähigkeit aufgrund von Sehproblemen“ und „Probleme der Trainingserfolg eine hohe Variabilität aufweist, denn etwa mit dem Autofahren aufgrund von Sehproblemen“ wiesen 1/3 der Patienten zeigen keine Verbesserungen [100, 139, 140, systematische Zusammenhänge mit verbesserter Reizdetek- 152, 153]. tion in der Kampimetrie auf. Auch die allgemeine gesund- heitsbezogene Lebensqualität – erhoben mit dem Fragebogen Eine weitere, in der klinischen Praxis häufiger angewandte zum allgemeinen Gesundheitszustand (SF-36) – verbesserte Trainingsmethode ist das Sakkaden- oder Explorationstrai- sich nach dem Gesichtsfeldtraining. Im Gegensatz zur seh- ning, mit dem Augenbewegungen in den blinden Bereich hin- bezogenen Lebensqualität fanden sich mit der allgemeinen ein trainiert werden. Dieser Ansatz ist prinzipiell kompensa- gesundheitsbezogenen Lebensqualität keine korrelativen torisch und zielt nicht auf eine Verbesserung der Sehleistung Zusammenhänge mit Verbesserungen der Gesichtsfeldgröße. selbst ab, sondern auf ein verbessertes Scanning der visuellen Welt durch vermehrte Augenbewegungen. Sakkadentraining führt damit auch zu verbesserten Explorationsleistungen im Augenbewegungen als Gegenargument der blinden Gesichtsfeldbereich [160–162], aber auch gelegent- Funktionswiederherstellung nach Gesichts- lich zu Gesichtsfelderweiterungen [163–165]. Während für feldtraining Gesichtsfeldtrainingsverfahren einige neurophysiologische Um Gesichtsfelder valide zu diagnostizieren und Gesichts- Korrelate trainingsinduzierter Gesichtsfelderweiterung beob- felderweiterungen beobachten zu können, ist während der achtet werden konnten, ist dies bislang für Kompensations- Diagnostik eine stabile, zentrale Fixation erforderlich. Hierzu training nicht der Fall. sind jedoch nicht alle Patienten in der Lage. Die Lokalisation der vertikalen Gesichtsfeldgrenze ist stark vom Fixationsver- Julkunen et al. [155] untersuchten visuell evozierte Potenziale halten abhängig [171]. Hemianopiker mit makularer Ausspa- (VEPs) vor und nach Gesichtsfeldtraining mit Stimulation des rung fixieren meist ruhig und zentral, wohingegen Patienten Übergangsbereichs. Von insgesamt 5 behandelten Patienten ohne makulare Aussparung in der Regel deutlich häufiger dieser Studie zeigten nach dem Training 3 Patienten eine Sakkaden in den anopen Bereich ausführen und exzentrische Normalisierung der P100-Latenzen. In einer weiteren Studie Fixationen ausbilden können. Exzentrische Fixation und eines Patienten mit Quadrantenanopsie zeigte dieser sowohl Augenbewegungen in den anopen Bereich wurden häufig als eine Gesichtsfelderweiterung als auch eine nach Training Alternativerklärungen für trainingsinduzierte Gesichtsfelder- nachweisbare P100, die zuvor nicht ausgelöst werden konnte weiterungen geäußert [167–169, 172]. Kompensatorisches [156]. Der gleiche Patient zeigte in einer PET-Aufnahme nach Augenbewegungsverhalten wird jedoch in der Regel relativ der Therapie erhöhten Blutfluss in an der visuellen Verarbei- früh nach der Läsion erlernt [173]. Daher ist es unwahrschein- tung beteiligten kortikalen und subkortikalen Strukturen. In lich, dass trainierte Patienten erst Jahre nach der Hirnschädi- einer Kontrolluntersuchung 3 Monate nach Trainingsende gung während der Durchführung eines Gesichtsfeldtrainings, war die Erhöhung des zerebralen Blutflusses auf den Okzipi- das zudem eine stabile Fixationsleistung erfordert, mit der tallappen im Bereich der Läsion und den kontralateralen Ausführung sakkadischer Augenbewegungen beginnen oder Okzipitallappen beschränkt [156]. Marshall et al. [157] zeig- exzentrisch fixieren. Es konnte gezeigt werden, dass kein be- ten, dass ein ähnliches Gesichtsfeldtraining zu einer Erhö- handelter Patient nach dem Gesichtsfeldtraining eine exzen- hung des zerebralen Blutflusses in Bereichen führt, die das trische Fixation entwickelte [158]. Kasten et al. [174] zeigten Sehen im Übergangsbereich zwischen intaktem und geschä- außerdem in einem Vergleich der Augenbewegungen vor und digtem Gesichtsfeld vermitteln. Dieser Effekt wurde durch nach Gesichtsfeldtraining, dass Sakkaden mit gleicher Häu- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1) 25
Plastizität nach zentralen Sehbahnläsionen Abbildung 4: Gesichtsfeld eines Patienten mit inkompletter Hemianopsie vor (links) und nach (rechts) visuellem Gesichtsfeldtraining. Das Gesichtsfeld konnte insbeson- dere im rechten unteren Quadranten erheblich verbessert werden. Die Grenze des Gesichtsfelddefekts verläuft zu beiden diagnostischen Zeitpunkten an der gleichen Stelle. Horizontale Augenbewegungen können somit die Verbesserung nicht erklä- ren. figkeit in beide Richtungen ausgeführt wurden, d. h. nicht Abbildung 5: Mittels Eyetracking adjustierte Stimulusdetektion in der Computer- überwiegend in Richtung des blinden Areals sondern gleich kampimetrie vor und nach visuellem Gesichtsfeldtraining. Wenn die Fixation des un- tersuchten Patienten vom zentralen Fixationspunkt abwich, wurden die Stimulus- häufig in den intakten Bereich. Zudem waren die Augen- positionen neu berechnet und entsprechend verschoben dargestellt. Die adjustierten bewegungen von geringer Amplitude; im Bereich von ± 2° Stimuluspositionen zeigen hohe räumliche Übereinstimmungen mit den nicht-adjus- um den Fixationspunkt lagen ca. 95 % der Sakkaden vor dem tierten Positionen. Training und sogar ca. 99 % danach. Weiterhin konnte keine Veränderung der Position des blinden Flecks in der Gesichts- Reize reagiert). Bergsma und Van der Wildt [176] zeigten felddiagnostik nach dem Training beobachtet werden [174]. kürzlich, dass sich in den verbesserten Bereichen des Ge- Zudem befanden sich Gesichtsfelderweiterungen oft nicht sichtsfelds nicht nur die Lichtreizdetektion sondern auch Seh- entlang der gesamten Gesichtsfeldgrenze (was man bei Au- schärfe, kritische Flicker-Fusions-Frequenz sowie das Farb- genbewegungen erwarten würde) sondern nur an bestimmten sehen verbesserten. Abschnitten der Grenze, besonders dann, wenn Patienten die Aufmerksamkeit auf diesen Bereich lenkten [175]. Funktionsverbesserungen nach Gesichtsfeldtraining finden hauptsächlich an der Gesichtsfeldgrenze statt. Basierend auf Vergleichende Betrachtungen der Gesichtsfeldgrenzen vor den Topographien der Verbesserungen bereits behandelter und nach Gesichtsfeldtraining zeigen, dass substanzielle Ge- Patienten ist es möglich, für den Einzelfall eine Vorhersage sichtsfelderweiterungen unabhängig von Verschiebungen der der Verbesserungen zu treffen, ehe mit dem Gesichtsfeld- vertikalen Gesichtsfeldgrenze stattfinden können (Abb. 4). training begonnen wird [177]. In erster Linie ist hierfür die Horizontale Augenbewegungen in Richtung des Gesichts- Größe des Übergangsbereichs zwischen intaktem und geschä- felddefekts können insbesondere bei Patienten mit inkom- digtem Gesichtsfeld von Bedeutung [154]. Dies könnte zur pletten Hemianopsien, deren Ausfall sich hin zu Quadranten- Konsequenz haben, dass Patienten mit „scharfer“ Gesichts- anopsien verbessert (wie im Beispiel von Abb. 4), die Funk- feldgrenze nur relativ geringe Aussichten auf Funktions- tionsverbesserung nicht erklären. verbesserungen im Sinne einer Gesichtsfelderweiterung haben. Bei solchen Patienten könnte stattdessen ein Kompen- Auch wenn Augenbewegungen die beschriebenen Restitu- sationstraining durchgeführt werden. tionsphänomene nicht erklären können, so sind diese immer eine mögliche Artefaktquelle in der Gesichtsfelddiagnostik Zusammenfassung und deren Kontrolle kann die Validität der Messung erheblich verbessern. Daher wurden vor vs. nach Training kampimetri- Nach partieller Unterbrechung der zentralen Sehbahn wurde sche Gesichtsfelder mit gleichzeitigem „eye tracking“ gemes- Plastizität sowohl nach retinalen als auch nach prä- und post- sen und anschließend eine Adjustierung der getesteten Sti- chiasmatischen Läsionen sowohl im Tiermodell als auch beim muluspositionen vorgenommen. Die tatsächlich getestete Menschen beobachtet. Zu unterscheiden sind Funktionswie- Position wurde anhand der gemessenen Abweichung der derherstellungen, die mit neurophysiologischen Korrelaten Augen vom Fixationspunkt neu berechnet; die gemessene einhergehen (z. B. im Falle postchiasmatischer Läsionen par- Position wurde somit um die Abweichung der Augenposition tielle Gesichtsfelderweiterungen) von multimodalen Reorga- korrigiert. Abbildung 5 zeigt exemplarisch das Ergebnis eines nisationsprozessen (z. B. Verarbeitung taktiler Informationen Patienten vor und nach Training. Das Adjustierungsverfahren im visuellen Kortex bei früh Erblindeten). Perzeptuelle Plasti- zeigt, dass nach Gesichtsfeldtraining im ehemals als absolut zität des visuellen Systems insbesondere bei Patienten mit defekt getesteten Gesichtsfeldbereich Lichtreize erkannt wur- postchiasmatischen Läsionen äußert sich in Spontanremissio- den. Die dargebotenen Reize in der Computerkampimetrie nen, halluzinativen Wahrnehmungen von Phosphenen und sind überschwellig. Wenn von diesen überschwelligen Reizen komplexeren Gebilden, Blindsight und Residualsehen sowie in enger räumlicher Nachbarschaft oder an sich überlappen- Schwankungen der Gesichtsfeldausdehnungen. den Positionen Reize nach dem Training inkonsistent erkannt werden, deutet dies auf eine Funktionsverbesserung hin. Der ehemals „absolut defekte“ Gesichtfeldbereich ist nun als X „relativ defekt“ zu bewerten (da der Patient nicht auf alle 26 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2010; 11 (1)
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