FUNKTIONSWANDEL DES WOHNENS - WOHNBEDÜRFNISSE NACH DER CORONAKRISE EINLEITUNG - Survey Research ...

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Ein Forschungsprojekt der Initiative Zukunft Bau

FUNKTIONSWANDEL DES WOHNENS
WOHNBEDÜRFNISSE NACH DER CORONAKRISE

EINLEITUNG
     Die Coronakrise hat unseren Alltag entschieden verändert. Sie hat entsprechend nicht nur
die medizinische und epidemiologische Forschung herausgefordert, sondern insbesondere
auch zu einer Fülle von gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungen Anlass gegeben. Der
Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD), der die Nachnutzung von Forschungsdaten or-
ganisiert, führt zurzeit 253 Studien und Initiativen zur Erforschung der gesellschaftlichen Fol-
gen der Corona-Pandemie in Deutschland auf, darunter 108 Untersuchungen mit repräsenta-
tiv angelegten, zum Teil bundesweiten Befragungen.1 Das Themenspektrum ist breit und um-
fasst u. a. die Wissenschaftsbereiche Wirtschaft, Soziologie, Psychologie, Bildungs- und Ge-
sundheitsforschung. Zu den architektonischen, wohnsoziologischen und stadtplanerischen
Konsequenzen allerdings werden keine Projekte registriert.
     Diese Lücke in der Krisenforschung im Architekturbereich soll jetzt mit einem Projekt zur
Erforschung der Wohnbedürfnisse in Nach-Coronazeiten geschlossen werden. Untersucht
werden sollen die Wohnbedürfnisse der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland als Reaktion
auf die während der Krise gemachten Erfahrungen. Welche Vorstellungen von zukünftigem
Wohnen haben die Menschen angesichts der Veränderungen in der Berufs- und Alltagswelt,
die die Krisenzeit überdeutlich in den Blick hat treten lassen und von deren Nachhaltigkeit alle
Beobachter ausgehen? Im Rahmen der Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesinstituts
für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
der Bundesregierung wird dazu das Projekt „Funktionswandel des Wohnens. Bestandsauf-
nahme und aktuelle Wohnpraxis mit dem Ziel der Projektion zukünftigen Wohnbedarfs“ ge-
fördert. Das Projekt steht unter der Leitung von Prof. Bernd Wegener, Humboldt-Universität
zu Berlin, in Zusammenarbeit mit Dr. Hans Drexler vom Architekturbüro Drexler Guinand Jaus-
tin Architekten in Frankfurt am Main.
     Die wesentliche Bilanz der Coronakrise in Bezug auf Wohnen ist, dass Wohnen multifunk-
tional geworden ist. Die Lockdown-Situation ebenso wie die von der Pandemie bestimmten
Verhaltensänderungen haben Wohnungen zum Fokuspunkt von Aktivitäten gemacht, die bis
dahin nach Ort und Zeit getrennt ausgeführt wurden. So gesehen kommt es zu einem Rückbau
der funktionalen Differenzierung des Alltagslebens, die sich im Zuge der Industrialisierung im
19. Jahrhundert durchgesetzt hat und selbstverständlich geworden ist. Während die sozialen
und psychologischen Folgen dieser Entwicklung im Zentrum des wissenschaftlichen und poli-
tischen Interesses stehen, ist die Klärung der architektonischen Voraussetzungen für diesen
Wandel weitgehend unbeachtet geblieben.
    Man kann aber sehr wohl fragen: Wie müssen Hauskonzeptionen beschaffen sein, um für
eine multifunktionale Wohnform die optimalen Bedingungen zu bieten? Der klassische starre
Grundriss mit Zimmern für Wohnen, Schlafen, Essen, Kochen und Kinder entspricht diesen
Bedingungen mit Sicherheit nicht. In Bezug auf den Raum außerhalb der Wohnung gibt es
inzwischen Ansätze, die Gestaltung zu flexibilisieren und den neuen Erfordernissen anzupas-
sen. „Es ist meiner Ansicht nach möglich,“ heißt es jüngst bei Richard Sennett, „öffentliche

1   https://www.ratswd.de/studies (Abrufdatum: 30.07.2021).
Funktionswandel des Wohnens       2

Plätze zu entwerfen, die so flexibel sind, dass man die Menschen im Fall einer Pandemie weit
genug voneinander trennen kann, ohne die Orte ganz zu räumen.“ (Sassen & Sennett, 2020).
Das entspricht Sennetts Vorstellung von einer „offenen Stadt“, in der Vielfalt möglich ist und
sich situationsspezifisch Handlungsopportunitäten für die Bewohner eröffnen (Sennett,
2018). Im Mikrobereich des Zusammenlebens in Wohnungen muss etwas Ähnliches möglich
sein, wobei die Abhängigkeiten und Funktionen in der Kleinräumigkeit von Wohnungen un-
gleich komplexer sein dürften als die auf öffentlichen Plätzen.
     Konsequenzenreich für das Wohnen und sein städtisches Umfeld ist auch der mögliche
Wandel von Mobilitätsmustern. Wenn es zur Konzentration unterschiedlicher Funktionen an
ein und demselben Ort kommt, verlieren die Transporte zur Arbeitsstätte, Kita, zu Einkaufs-
zentren und Freizeiteinrichtungen an Relevanz. Das Alltagsleben wird stationärer und räum-
lich fokussierter.
    Was wir brauchen, ist also eine neue Ausrichtung des Entwerfens und Gestaltens, um die
bauliche Struktur von Gebäuden ebenso wie die städtische Umgebung an diese multifunktio-
nalen und stationären Wohnerfordernisse anzupassen. Dazu muss aber zunächst in Erfahrung
gebracht werden, worin diese Erfordernisse bestehen. Es geht um neue, bleibende Wohnwün-
sche in Nach-Coronazeiten, die sich im Bauen niederschlagen sollen.
    Das Projekt Funktionswandel des Wohnens will diese Wohnwünsche erfragen und doku-
mentieren. Für die empirische Erfassung der neuen Wohnvorstellungen verfolgt das Projekt
eine Untersuchungsstrategie, die aus einer Abfolge von Einzelschritten besteht. An deren
Ende soll eine repräsentative Befragung in Deutschland stehen. Ihre Auswertung wird Auf-
schluss über die Forderungen und Vorstellungen vom Wohnen in Nachcoronazeiten in
Deutschland und Anregungen für die Baupraxis und Bedarfsplanung geben.

KERNTHEORIE
    Leitgebend für das Projekt ist die Frage nach dem Wohlbefinden beim Wohnen in Gebäu-
den mit unterschiedlichen Hauskonzepten. Wie wohl fühlen sich die Nutzer mit bestimmten
Formen des Haus- und Wohnungsaufbaus? Zweifellos sind die äußeren Charakteristiken eines
Gebäudes die wichtigsten Bedingungen für das Wohlbefinden beim Wohnen. Allerdings stellt
die Wohnform, d. h. in welcher Konstellation die Wohnung oder ein Gebäude in der Praxis
jeweils genutzt wird, eine zentrale intervenierende Variable dar: In welcher Weise das Haus
einen direkten Effekt auf die Wohnzufriedenheit ausübt, hängt von der realisierten Wohnform
ab, die insofern mit einem indirekten Effekt auf die Zufriedenheit wirkt. Kausalanalytisch re-
präsentiert sich das wie in Abbildung 1 mit c als direktem und a x b als indirektem Effekt.
     Empirisch muss man das Dreiecksverhältnis von Hauskonzept, Wohnform und Zufrieden-
heit unumgänglich unter Berücksichtigung von Kontextvariablen untersuchen. Das Quartier
und die Nachbarschaft spielen z. B. eine Rolle ebenso wie die Partizipationsmöglichkeiten der
Bewohner, die Haushaltszusammensetzung und die betriebliche und städtische Organisation.
Zudem gibt es Orte, die kulturell und historisch besonders ausgezeichnet sind und die Identi-
fikation mit der gebauten Umwelt prägen. Die Umweltpsychologie reserviert dafür den Begriff
place, der die Facetten der Zugehörigkeit zu einer räumlichen Lage umfasst (Canter & Ress,
1982; Canter, 1997). Diese jeweiligen Kontrollbedingungen der Umgebung können sich so-
wohl auf den Entwurf der Hauskonzeption als auch auf das resultierende Wohlbefinden aus-
wirken, in Bezug auf das die Wohnform sich als mögliche Mediation darstellt.
Funktionswandel des Wohnens   3

                                           Wohnform

                                     a                     b

                                                c
                           Gebäude                             Zufriedenheit

                                     d                     e

                                           Umgebung

                        Abbildung 1. Kausaldiagramm für Wohnzufriedenheit

      Das Projekt Funktionswandel gründet auf dieser kausalen Logik. Sie liefert die Kerntheo-
rie, um Hauskonzept, Wohnform und Wohnzufriedenheit bei Berücksichtigung von Kontext-
effekten empirisch in Beziehung zu setzen. Welche theoretischen Spezifikationen, Begriffsde-
finitionen, Eingrenzungen und bauliche Anwendungen man auf dieser Basis vornimmt und an-
strebt, ist der konkreten Projektarbeit überlassen. Die Kerntheorie stellt dafür ein breites
Spektrum von Weiterbestimmungsmöglichkeiten von Wohnkonzepten und Wohnformen zur
Verfügung.

OFFENHEIT
     Die Bedeutung der Kerntheorie für das Bauen ergibt sich, wenn man das Wohlbefinden
beim Wohnen als Nachhaltigkeitselement begreift. Nachhaltig Bauen heißt, Gebäude zu
bauen, in denen die Nutzer sich wohl fühlen. Sie werden sonst nicht bewohnt und langfristig
genutzt. So verstanden sind Hauskonzept und Wohnform die beiden wesentlichen Einfluss-
faktoren für Nachhaltigkeit. Stadtsoziologisch markiert die Unterscheidung die beiden Ele-
mente, die Richard Sennett als building und dwelling—als Bauen und Bewohnen—gegenüber-
stellt, um aus ihrem Wechselspiel die Vision einer „offenen Stadt“ zu entwickeln (Sennett,
2018). Die Gebäude und ihre von den Planern intendierten Funktionen stellen nur die Struktur
für das Wohnen dar. Erst daraus, wie diese Struktur genutzt wird, ergibt sich die lebensweltli-
che Realität für die Menschen.
     Wie aber lässt sich die offene Stadt sicherstellen? Darauf gibt Sennett mit seiner „Ethik
des Bauens und Bewohnens“ im Grunde keine Antwort. Er belässt es—an der Seite seiner gro-
ßen Heroin Jane Jacobs—beim moralischen Appell und der Anmahnung von politischen Akti-
onen zur Verhinderung stadtplanerischer Kahlschläge (Jacobs, 1961). Viel zu wenig wird in
diesem Zusammenhang davon geredet, dass es die Strukturen selbst sind, die die Bedingun-
gen der Möglichkeit für Offenheit ausmachen. Stadt und Gebäude müssen anpassungsfähig
sein. Konkret heißt das: Welche Eingriffsmöglichkeiten haben die Menschen, um sich die Ar-
chitektur dienstbar zu machen und nach den eigenen Vorstellungen umzuformen? Offenheit
heißt dann, dass die Konzeption eines Gebäudes so sein muss, dass Handlungsopportunitäten
für die Bewohner bereitgestellt werden. Die Chancen für unterschiedliche persönliche Wohn-
formen müssen offenbleiben.

MULTIFUNKTIONALITÄT
    Charakteristikum des neuen Alltags im Gefolge der Coronakrise ist die Vervielfachung der
Aufgaben, die Wohnen in Zukunft erfüllen muss. Eine Wohnung muss mehr zur Verfügung
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stellen als nur den Rückzugsraum für die Familie und ihr Wohlergehen. Sie muss auch (1) Ar-
beitsort für Berufsarbeit sein können, weil die strikte Trennung zwischen Beruf und Familie in
Auflösung begriffen ist, und Berufsarbeit inzwischen häufig in der Wohnung stattfindet. Sie
muss ferner (2) praktische Möglichkeiten zur Ausübung von Für- und Vorsorgemaßnahmen
für alle Haushaltsmitglieder bereitstellen und baulich entsprechend flexibel konzipiert sein.
Und sie muss (3) in jeder Hinsicht umweltverträglich sein und ein nachhaltiges Bewohnen er-
möglichen. Zur Akzeptanz durch die Bewohner gehört schließlich auch, (4) dass die Wohnung
und die Wohnumgebung eine typische Identifizierung und eine lokale oder nationale Traditi-
onsidentität vermittelt, soll sie mehr sein als bloße Behausung.
     Für alle diese Erfordernisse können staatlicherseits jederzeit Vorschriften und Einschrän-
kungen wirksam werden, die den Alltag des Wohnens beeinflussen—so wie das in der Corona-
krise schon überdeutlich spürbar wurde. Der Sinn dieser potenziellen Einschränkungen ist die
Gewährung von Schutz, so dass die Wohnung (5) Teil der Schutzvorkehrungen des Staates
wird (Bude, 2020).
     Die Rolle der Berufsarbeit mithin, die Realisierung von Fürsorgeethik, Nachhaltigkeitsge-
sichtspunkte, eine regionale Identifizierungsqualität und der persönliche Schutz konstituieren
ein multifunktionales Spektrum für das Wohnen als Konsequenz aus den sozialen Verände-
rungsprozessen in diesen Bereichen. Mit dieser Ausprägung von Multifunktionalität findet die
Idee des Wohnens Anschluss an Sennetts Vision einer offenen Stadt, deren Kern ebenfalls in
der Diversität der Nutzung und der Parallelität von Funktionen besteht.

HOUSING WELLBEING

Wellbeing und Gerechtigkeit
    Bei der Betrachtung stadtplanerischer Konsequenzen und der Wirkung auf das Wohler-
gehen des Einzelnen haben Wohnkonzepte und Wohnformen immer auch Gerechtigkeits-
implikationen. Die Verteilung von Wohnraum und wie man ihn nutzt, wirft Fragen der Ange-
messenheit, Zulässigkeit und Ungleichheit auf. Welche Rolle spielt Gerechtigkeit bei der Erklä-
rung von Wohlbefinden beim Wohnen?
     Hier müssen wir den Blick auf die Wohlfahrtsökonomie richten. Wenn man die kapitalis-
muskritische Stadtsoziologie, die explizit vom Impetus nach Veränderung ungerechter Wohn-
verhältnisse vorangetrieben wird, einmal beiseitelässt (Harvey, 1973; Soja, 1989), setzt sich
heute ein Standpunkt durch, der gerechtigkeitstheoretisch deskriptiv, nicht präskriptiv ist, d.
h. es geht um das Empfinden der in der Stadt lebenden Menschen als gerecht oder ungerecht,
nicht um die Vision einer gerechten Gesellschaft (Wegener, 2001). Sennetts offene Stadt ist
die lebenswerte und damit gerechte Stadt, weil sie von den Menschen so empfunden wird
und Ausdruck ihres Wohlbefindens ist. In dieser subjektorientierten und deskriptiven Ausrich-
tung ist die Gerechtigkeitsforschung mit Blick auf die Stadt also Teil der Wellbeing-Forschung.
     In dieser Forschung wird im Allgemeinen die Unterscheidung gemacht zwischen einer
Wellbeing-Messung, die auf einem „Haben“ beruht, auf Konsumption und Einkommen, oder
sich auf „Gefühle“ richtet (subjektives Wellbeing oder Glück). Dem wird heute ein Ansatz ent-
gegengehalten, der in der internationalen Entwicklungspolitik die Norm ist und Wellbeing un-
ter dem Gesichtspunkt von Verwirklichungschancen konzipiert. Der erstmals 1990 im Welt-
entwicklungsbericht veröffentlichte Index der menschlichen Entwicklung (Human Develop-
ment Index) beruht auf dieser, vom Nobelpreisträger Amartya Sen vorgeschlagenen Well-
being-Messung (Sen & Drèze, 1999).
Funktionswandel des Wohnens        5

     Die Besonderheit dieser Operationalisierung ist, dass das, was wir sind und tun, dem ge-
genübergestellt, was wir sein und tun könnten. So wird deutlich, was Wellbeing und Gerech-
tigkeit verbindet. Wir messen unser Sein und Tun an unseren grundsätzlich möglichen indivi-
duellen Fähigkeiten (formal: an dem Vektor unserer realisierbaren functionings). Wenn unser
Sein und Tun ganz dem entspricht, was es in diesem Sinne sein könnte, ist unser Wellbeing
optimal austariert. Das, was wir sind und tun, ist dann gerecht. Nach diesem sog. capability-
Ansatz sind Aussagen über das Wellbeing von Menschen also immer zugleich Aussagen über
Gerechtigkeit (Sen, 2009).
     Wie lässt sich diese logische Verbindung von Wellbeing und Gerechtigkeit auf die Wohn-
forschung übertragen? Wenn wir realisierte Wohnkonzepte und gelebte Wohnformen, buil-
ding und dwelling, unterscheiden, lässt sich zunächst sagen, dass das Wellbeing dann am größ-
ten ist, wenn die gelebte Wohnform den Möglichkeiten der Betroffenen maximal entspricht.
Ihr Leben im Rahmen der bestimmten Wohnform ist dann gerecht. In Bezug auf „mögliche“
Wohnformen sprechen wir sowohl von der inneren als auch von der äußeren Umgebung, von
der Wohnumwelt und von der Stadt. D. h. zur Bestimmung von housing wellbeing müssen wir
die ganze Palette der Möglichkeiten der urbanen Existenz einer Person, ihr diesbezügliches
capability set, kennen. Und die Bestimmung des Wellbeing erfolgt im Vergleich zu unseren
potenziellen Fähigkeiten.

Psychologie des Wellbeing
     Außer der Betrachtung von wohlfahrtsökonomischen Eigenschaften des Wellbeingbe-
griffs hat Wellbeing natürlich auch eine psychologische Qualität. Es ist eine affektive Reaktion,
wobei offenbleibt, inwieweit kognitive Elemente dabei eine Rolle spielen. Tatsächlich ist es
genau diese Frage, die Daniel Kahneman und andere Psychologen (Kahneman, Diener, &
Schwarz, 1999) dazu veranlasst hat, eine wichtige Unterscheidung einzuführen, die zwischen
erlebtem und erinnertem Wellbeing. Die Unterscheidung fußt auf einer Zweifaktorentheorie
des Bewusstseins, die sich auf die Kritik an der rationalen Entscheidungstheorie von
Kahneman und Tversky (1979) zurückbezieht. In der von Kahneman und Tversky in diesem
Zusammenhang entwickelten prospect theory ging es nicht nur um die Einbeziehung von Emo-
tionen und Heuristiken in den individuellen Entscheidungsprozess, die einem rationalen Ver-
halten manchmal im Wege stehen, sondern viel grundsätzlicher um die Erkenntnis, dass der
Mensch überhaupt ein doppeltes Selbst hat—das erlebende und das erinnernde. Bei Kahne-
man erscheint diese Trennung später als das System 1 und das System 2 des Denkens
(Kahneman & Riis, 2005). Während das System 1-Denken spontan und schnell ist, ist das Sys-
tem 2-Denken reflektierend und langsam, oder wie es bei Kahneman heißt: „System 1 opera-
tes automatically and quickly, with little or no effort and no sense of voluntary control. System
2 allocates attention to the effortful mental activities that demand it, including complex com-
putations“ (Kahneman, 2013, pp. 20-21).
     In Bezug auf Wellbeing kommt es dann zu einer entsprechenden Verdoppelung: Wir müs-
sen das unmittelbar erlebte Wohlbefinden von der Erinnerung an das erlebte Wohlbefinden
trennen. Ersteres ist Ausdruck einer direkten Beglückung, die sich potenziell als Nutzenfunk-
tion im Sinne Benthams abbilden lässt. Erinnertes Wohlbefinden hingegen involviert Ansprü-
che und Normen und die Projektion auf zukünftige positive Erlebnisse und vergangene Ent-
täuschungen. Wir folgen Kahneman (1999) darin, die System 1-Form der Befriedigung als
Wellbeing und die System 2-Form als Zufriedenheit zu bezeichnen, also im vorliegenden Zu-
sammenhang als housing wellbeing und residential satisfaction.
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PRIVATHEIT
     Mit der Ausprägung von Multifunktionalität beim Wohnen allerdings schwindet auch die
Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. Nicht nur ist die Kamera als Auge von außen stän-
dig in der Wohnung, unser Verhalten, beruflich und außerberuflich, wird zudem immer mit-
verfolgt und mitprotokolliert. Ob man will oder nicht, man ist fortwährend on display.
     Der Wert von Privatheit als Merkmal von Bürgerlichkeit ebenso wie von Freiheit gerät so
in Gefahr (Rössler, 2001). Seit dem 19. Jahrhundert haben das Haus und die städtische Woh-
nung diese Abgrenzung zementiert und zur Schau gestellt. Auch innerhalb einer Wohnung gab
es noch Abstufungen von Räumen, die für das Private reserviert waren. Durch den Einbruch
digitaler Technik gerät diese Ordnung jetzt ins Wanken. Und die Frage ist, wie die Architektur
diesem Trend entgegenwirken kann, indem sie Freiräume für Abschirmung und für die Zurück-
gewinnung von Privatheit schafft.

KLIMAWANDEL
Die Verschärfung der Umweltbedingungen durch Temperatursteigerung, Unwetter und Über-
flutungen führt vor Augen, dass Schutzmaßnahmen ergriffen und Vorkehrungen getroffen
werden müssen, die sich auch auf die Architektur von Gebäuden beziehen. Starkregenschutz,
Wärmeregulierung der Innenräume, neue planungsrechtliche Verfahren der Standortauswahl
sind Elemente, die das Wohnen zukünftig beeinflussen werden und schon jetzt beeinflussen.
Auch hier ist zu fragen, inwieweit sich diese Perspektive auf die Formulierung von Wohnwün-
schen auswirkt.

BESTANDSAUFNAHME UND ERKLÄRUNG
    Die Forschungsprobleme, die sich bei der Untersuchung neuer Wohnformen stellen, sind
sowohl beschreibend als auch erklärend. Zunächst geht es um die reine Bestandsaufnahme.
Auf welche Wohnbedürfnisse treffen wir? Welche Wohnbedürfnisse haben die Menschen
jetzt, welche hatten sie während der Krise, welche Erwartungen und Forderungen haben sie
für ihr zukünftiges Wohnen? Diese Bestandsaufnahme ist die Grundlage für die Bestimmung
der zukünftigen Nutzungsanforderungen und des Bedarfs an Wohnraum, der sich daraus ab-
leitet. Übersetzt in die Begrifflichkeit unserer Theorie geht es um die Vorstellungen über das
Zusammenspiel von Gebäudekonzeption und Wohnform, um die Ermöglichung von Wohn-
funktionen in Wohnungen und ihren Umgebungen. Voraussetzung für die Analyse dieser Ab-
hängigkeiten ist die empirische Erfassung diesbezüglicher Bewohnererfahrungen und Nutzer-
wünsche. Als deskriptives, erstes Forschungsproblem ergibt sich also:
1. Erfassung und Klassifizierung von Wohnbedürfnissen: Welche Vorstellungen vom Wohnen
   treffen wir in den Gruppierungen der Bevölkerung an? Was wird unter den jeweiligen
   räumlichen Bedingungen in den Wohnungen getan, was könnte getan werden und welche
   Hinderungsgründe gibt es?
Unter Erklärungsgesichtspunkten lassen sich dann weiterführend aus der Kerntheorie zwei
zusätzliche Forschungsprobleme ableiten (vgl. Abbildung 1):
2. Determinanten von Wohnformen: Wie sehen Hauskonzepte aus, die Offenheit ermögli-
   chen und die Varianz der Wohnformen und ihr housing wellbeing maximieren (unter Be-
   rücksichtigung spezifischer Umwelt-Kontextbedingungen)?
3. Determinanten von housing wellbeing: Wie lässt sich Wohn-Wohlbefinden aus der Kon-
   zeption eines Hauses und der realisierten Wohnform erklären (ebenfalls unter Berücksich-
   tigung spezifischer Kontextbedingungen)?
Funktionswandel des Wohnens        7

    Für diese drei Fragestellungen müssen operationale Weiterbestimmungen vorgenommen
werden. Welche Hauskonzepte? Welche Wohnformen? Welche Umweltkonstellationen als
Kontextbedingungen? Und welche Vorstellungen von funktionaler Offenheit?

OPERATIONALISIERUNGEN
       Nach Vorgabe des Kausalmodells von Abbildung 1 gehen wir von den folgenden Vari-
ablenklassen für die Untersuchungen aus:

Hauskonzept
         Hier ist die architektonische Gestalt und Grundidee des Gebäudes mit allen seinen ge-
bäudekundlichen Merkmalen gemeint. Der Schwerpunkt liegt auf der nutzerorientierten Ge-
staltbarkeit der Architektur, d. h. auf der Flexibilität der Gebäude und Wohnungen (Schneider
& Till, 2007). Das muss sich nicht notwendig auf die Möglichkeit baulicher Eingriffe und Ver-
änderungen beziehen. Es geht allgemein um den Freiraum zur Gestaltung der individuellen
Aneignung der Wohnumwelt. Ob die so geartete Flexibilität in der Nutzung auch gegeben ist
und angenommen wird, ist dann eine empirisch zu klärende Frage aposteriori.
Es ist jeweils sinnvoll, vorweg hypothetische Typen von Hauskonzepten zu benennen, um in
Untersuchungen mit einer konkreten Vorstellung von der Auswahl der Objekte zu beginnen.
Als Schema dafür übernehmen wir das sog. Grid-group-Paradigma der Cultural Theory (Doug-
las, 1982), das auch in anderen wohnsoziologischen Untersuchungen zugrunde gelegt wurde
(Wegener et al., 2019).

                                  schwache Gemeinschaft           starke Gemeinschaft
                                         (privat)                      (öffentlich)
             starke Funktion
                                           isoliert                      traditionell
                   (starr)
           schwache Funktion
                                      individualistisch             unkonventionell
                 (flexibel)

                              Tabelle 1. Funktions-Gemeinschaftsschema

         Begrifflich unterscheidet die Theorie zwei Strukturmomente beim Wohnen: die star-
ken oder schwachen Funktionen, die entweder starr, d. h. unveränderbar, oder flexibel sein
können; und die starke und schwache Ausprägung von Gemeinschaft, die sich auf dem Konti-
nuum von nicht-gemeinschaftlich/privat bis gruppenbezogen/öffentlich bewegt. Die Kombi-
nationen dieser Dimensionen bestimmen jeweils die Präferenzen und das interaktive Verhal-
ten der Bewohner. Angewendet auf die Dimensionen „Funktion“ und „Gemeinschaft“ erhal-
ten wir als grobe Typengliederung vier Konzeptionsvarianten des Wohnens: traditionelles, un-
konventionelles, individualistisches und isoliertes Wohnen (Tabelle 1). An dieser Systematik
orientieren sich die Operationalisierungen für die Typologie von Hauskonzepten: Sind sie auf
Flexibilität vs. Nichtflexibilität ausgelegt und richtet sich die Planung auf individuelles vs. ge-
meinschaftliches Wohnen?
       Allerdings muss das, was die Charakteristik eines Gebäudes oder einer Wohnung aus-
macht, wesentlich genauer abgebildet werden. Es geht um die Erfassung der jeweiligen archi-
tektonischen Struktur. Im Idealfall würde man für die empirische Bestimmung ausführliche
Begehungen, zeichnerische Dokumentationen, Flächenanalysen und Wohnwertbestimmun-
gen einsetzen. Dieses Vorgehen ist aber nur in Fallstudien mit einer begrenzten Anzahl von
Funktionswandel des Wohnens      8

Objekten realisierbar, die individuell aufgesucht werden können (Wegener et al., 2019). Bei
Zugrundelegung großer Fallzahlen lassen sich diese Methoden nicht anwenden, so dass ein
approximatives Klassifizierungssystem entwickelt werden muss, um die Gebäude auf der Basis
von Befragtenauskünften einzuordnen. Auch Kennwerte für die üblichen Komfortdimensio-
nen (Temperatur, Licht, Binnenraumklima, Geräuschpegel) müssten sich daraus ableiten las-
sen. In jedem Fall ist es das Ziel, ein detailliertes Klassifizierungsschema zu erstellen und, wo
dies möglich ist, quantitative Abstufungen vorzunehmen, um auf dieser Basis datenreduzie-
rende Verfahren (Faktoren- oder Clusteranalysen) zur Anwendung zu bringen.

Wohnform
       Bei der Wohnform geht es um die Realität des Bewohnens, d. h. um das, was die Men-
schen im Prozess des Wohnens tun und in welcher Konstellation dies geschieht. Hier ist zu-
nächst für die tatsächliche Nutzung das Kontinuum vom isolierten bis zum gemeinschaftlichen
Wohnen mit den Zwischenformen von z. B. Einzelapartments, Flurgemeinschaften, Cluster-
Wohnungen und Wohngemeinschaften abzubilden.
Überlagert wird diese Einteilung von bestimmten Organisationsformen wie Mieter- und Ei-
gentümerverbünden, Genossenschaften oder Wohngemeinschaften, die zu einem expliziten,
über das Wohnen hinausgehenden Zweck gegründet wurden. Auch die Taxonomie der äuße-
ren Wohnformen orientiert sich an dem Funktions-Gemeinschaftsschema (Wegener et al.,
2019). Tabelle 2 benennt beispielhafte Zuordnungen, die sich typologisch ergänzen lassen, in-
dem insbesondere unterschiedliche Individuations- und Gemeinschaftstypen differenziert
werden.
                                  schwache Gemeinschaft          starke Gemeinschaft
                                         (privat)                     (öffentlich)
             starke Funktion
                                     Einzelapartments            Wohngemeinschaften
                   (starr)
           schwache Funktion
                                    Flurgemeinschaften            Cluster-Wohnungen
                 (flexibel)

                   Tabelle 2. Funktions-Gemeinschaftsschema für äußere Wohnformen

   Darüber hinaus sind die Aspekte der multifunktionalen Nutzung mit mindestens den fol-
genden Dimensionen zu berücksichtigen:
- Öffentlich/privat: Aufteilung der Sphären für Arbeit und Familie/Haushalt
- Sicherheit/Zugänglichkeit: Als Arbeitsort muss unter Umständen der Zugang durch Fremd-
  personen gewährleistet werden, wobei Sicherheitsaspekte involviert sind
- Life-long living: Nutzbarkeit der Wohnung in verschiedenen Lebensphasen
- Komfort für unterschiedliche Funktionen: insbesondere Arbeit und Haushalt
- Rolle der Stadt und der Nachbarschaft: insbesondere in Bezug auf Arbeit und Haushalt

Housing wellbeing
    Die Wohnform ist die subjektive Komponente des Bewohnens, sie drückt sich im Wohn-
Wohlbefinden oder housing wellbeing der Beteiligten aus. Es stellt die Bewertung des Alltags
des Bewohnens im Vergleich zu anderen möglichen Wohnformen dar. Kennzeichnend für die
empirische Bestimmung von housing wellbeing ist, dass das Konstrukt nicht etwa als Summe
einzelner Komfortmessungen erfasst wird, sondern als ein eigenständiges Phänomen, das
Ausdruck unmittelbar erlebter Wohlfahrt beim Wohnen ist (Wegener, 2013; Wegener & Fed-
kenheuer, 2016).
Funktionswandel des Wohnens                 9

Die Operationalisierung orientiert sich am functionings Konzept Sens als das, worüber die Per-
son tatsächlich beim Wohnen verfügt, und capabilities als ihr persönlicher Möglichkeitshori-
zont. Entsprechend müssen wir nicht nur den Wohnalltag der Betroffenen explorieren, son-
dern auch ihre Vorstellungen vom Wohnen. In beiden Hinsichten ist der jeweilige Referenz-
rahmen sowohl auf den individuellen Haushalt als auch auf die Wirklichkeit des Stadtlebens
und räumlichen Umfelds zu beziehen.2

Wohnzufriedenheit
     Wie einleitend ausgeführt, unterscheiden wir (im Anschluss an die residential satisfaction
Forschung) zwischen housing wellbeing und Wohnzufriedenheit. Housing wellbeing ist das un-
mittelbar erlebte, spontane Wohlbefinden, während Zufriedenheit eine bilanzierende und
normbezogene Bewertung darstellt (Kahneman, 2013). Als Unmittelbarkeitserlebnis trägt
housing wellbeing zur Wohnzufriedenheit bei, die sich aber zusätzlich an Standards und Ver-
gleichen orientiert und über das unmittelbare Wohlbefinden hinausgeht (Kahneman et al.,
1999; Wegener & Schmidt, 2021). Mit der Messung von Wohnzufriedenheit ist deswegen eine
alternative Effektvariable im Kausalitätsverhältnis der Kerntheorie von Abbildung 2 gegeben,
die zusätzlich untersucht und deren Abhängigkeit vom housing wellbeing bestimmt werden
kann (Wegener & Schmidt, 2021).
       Als Operationalisierung von Wohnzufriedenheit kommen die üblichen Versionen der
Zufriedenheitsmessung in Frage, etwa in der Form „All in all, how satisfied are you with your
current home?“ gemessen mit 11fachen Antwortvorgaben, die in der Zufriedenheitsforschung
am häufigsten anzutreffen ist.

Kontrollvariablen
    Als Kontrollvariablen bieten sich an:
- das Quartier: die Infrastruktur und Vernetzung der Umgebung und des Stadtteils
- die Nachbarn: die soziale Zusammensetzung der Nachbarn und die sozialen Beziehungen
  im Viertel
- die soziodemografischen Merkmale des individuellen Bewohners (Alter, Geschlecht, Bil-
  dung, eigene Wohngeschichte)
- die Haushaltszusammensetzung und -größe, auch im zeitlichen Verlauf
- die Partizipationsform: die Form und Genese von Wohnprojekten und Gemeinschaften
    Für die Berücksichtigung dieser Kontrollvariablen sprechen die etablierten Befunde der
Umweltpsychologie, die neben home als Prädiktor für residential satisfaction verschiedene
place-Variablen nachgewiesen haben (Aragonés, Amérigo, & Pérez-López, 2017; Lewicka,
2011). Andere Faktoren—außer dem Quartier und den Nachbarn, Bewohnermerkmalen, der
Haushaltszusammensetzung und Partizipationsstruktur—können sich im Zuge der empiri-
schen Analyse als notwendig erweisen.

Module
     Zusammenfassend enthält das Fragebogeninstrument vier inhaltliche Module:

2  Bei der Erfassung von Wellbeing im Rahmen des capability-Ansatzes kann man sich auf die Versuche berufen, die entweder
mit vorhandenen Daten aus Umfragen sekundäranalytisch Faktorstrukturen von Wellbeing rekonstruieren (Anand & van
Hees, 2006; Anand et al., 2007; Leßmann, 2011; Coates, Anand, & Norris, 2015) oder mit eigenen Primärerhebungen capab-
ilities operationalisiert haben (Chiappero-Martinetti, 1996).
Funktionswandel des Wohnens 10

   1. Hauskonzept (building):
         a. Hauskonzept (Gebäudetypologie, Wohnraumgröße, Zimmerzahl, Grundriss-
            schema; gebäudekundliche Merkmale)
         b. Grundidee des Gebäudes
         c. Kennwerte für die üblichen Komfortdimensionen
         d. Gestaltbarkeit der Architektur (Flexibilität und Adaptabilität)
         e. Außenbereich
         f. Nachbarschaft (als Konzept)

   2. Wohnform (dwelling) (aktuell und retrospektiv):
        a. Haushalts- und Gemeinschaftstypologie
        b. Anzahl der Personen im Haushalt, Beziehungsstruktur zwischen den Bewoh-
           nern
        c. Wohnaktivitäten nach Wohnbereichen, Aktivitäten in den Räumen (function-
           ings; gemeinschaftlich/individuell, Aufenthaltsdauer in Räumen)
        d. Nutzbarkeit der Architektur (Adaptabilität)
        e. Gemeinschaftlichkeit, Rückzugsoptionen, Beengtheit
        f. Komfortdimensionen
        g. Nachbarschaft
        h. Mobilität

   3. Wohnzufriedenheit (housing wellbeing):
        a. Beurteilung der Wirklichkeit des Wohnens (functionings) und der gewünschten
           Möglichkeiten (capabilities)
        b. Home attachment
        c. Wohnzufriedenheit (Wohnung, nähere und weitere Umgebung)
        d. Wohnwünsche

   4. Kontrollbedingungen (environment):
         a. Nachbarschaft, Quartier, Gemeindegröße
         b. Nachbarn: soziale Zusammensetzung und die sozialen Beziehungen
         c. Aktivitäten im Quartier
         d. Infrastruktur im Quartier, Vernetzung
         e. Standarddemografie (in Auswahl)
         f. Haushaltszusammensetzung
         g. Eigentumsverhältnisse (Mietverhältnis)
         h. Partizipationsmöglichkeiten

PROJEKTPLANUNG
      Welche Typen von Untersuchungen zur Anwendung und Überprüfung der Kerntheorie
sind möglich? Methodisch kann man zwei Ansätze unterscheiden: Explorationsstudien und
hypothesenprüfende Analysen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung sind die folgen-
den Untersuchungsschritte vorgesehen.

Sekundäranalysen und Pilotstudien
       Es gibt im deutschen und europäischen Maßstab vereinzelt Datensätze aus Bevölke-
rungsumfragen, in denen Informationen zum Wohnen enthalten sind. Obwohl Wohnzufrie-
denheit in der Regel erfasst wird—zum Teil ergänzt durch Variablen, die die Umzugsbereit-
Funktionswandel des Wohnens 11

schaft beschreiben—beschränken sich die Auskünfte, die man zur Erklärung von Zufrieden-
heitsniveaus heranziehende könnte, zumeist auf äußere, rein statistische Sachverhalte: Ge-
bäudetyp, Wohnungsgröße, Modernisierungsstand, Besitzverhältnisse, Wohnumfeld. Eine Zu-
sammenstellung verfügbarer Datensätze hat Fedkenheuer (2020a) erstellt. Für Wohnkon-
zepte und Wohnformen im Sinne unserer Kerntheorie lassen sich in den vorliegenden Projek-
ten nur ansatzweise Belege finden. Aber gleichviel kann man diese Umfragen dazu benutzen,
Kausalanalysen für Wohn-Wohlbefinden (Regressionsanalysen) mit den jeweils äußeren
Merkmalen des Wohnens als unabhängige Variablen zu spezifizieren und zu testen. Als Mittel
der Exploration sind die Sekundäranalysen insofern ein wichtiger Ausgangspunkt.
        In einem zweiten Schritt ließen sich dann Ergänzungen z. B. von housing wellbeing Va-
riablen durch exemplarische Zusatzerhebungen vornehmen mit dem Ziel, die Modelle mit den
Fragestellungen unseres Forschungsprogramms in Einklang zu bringen. Die Erfassung des je-
weiligen Wohnkonzepts und der Wohnungsmerkmale stellen eine Herausforderung dar, für
die operationale Lösungen gefunden und in den Pilotuntersuchungen getestet werden müs-
sen. Dies geschieht in Online-Umfragen an begrenzten Stichproben (kommerzielle online ac-
cess panels), um die wesentlichen Operationalisierungen der Konzepte zu prüfen, Varianzen
zu bestimmen und offene Explorationsfragen einzubauen.

Bevölkerungsumfrage
        Die dritte Projektphase avisiert dann eine bundesweise repräsentative telefonische
Bevölkerungsumfrage ohne eine Untersuchung der Wohnumgebung vor Ort. Hier geht es um
die Erfassung von allgemeinen Einstellungen zu Wohnkonzepten und Wohnformen, um die
empirischen Determinanten für Wohn-Wellbeing für die Bevölkerung in Deutschland zu be-
stimmen. Die Hauptaufgabe liegt in der Entwicklung eines Befragungsinstruments für Telefon-
umfragen für die Klassifizierung von Wohnkonzepten und Wohnformen, um unsere Kernthe-
orie empirisch überprüfen zu können.3

EMPFEHLUNGEN
        Wenn die Ergebnisse der Umfrage verfügbar und die kausalen Abhängigkeiten sta-
tistisch ausgewertet sind, ist der architektonische Sachverstand gefragt, die untersuchten
Wohnbedürfnisse in Empfehlungen für das Bauen umzusetzen. Aus einer Bevölkerungsum-
frage als solcher kann man derartige Empfehlungen nicht ableiten, weil die konzeptionelle
und bauliche Umsetzung von den professionellen Experten kommen muss. Aber die Anre-
gungen dafür kann die Forschung zum multifunktionalen Wohnen liefern, sofern sie reprä-
sentative und valide Daten in Bezug auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen generiert
und sozialstrukturell differenziert. Das Ergebnis der Untersuchung wird deswegen in der
Klassifizierung von Wohnwünschen bestehen, die sich an sozialstrukturelle Bedingungen
zurückbinden lassen, damit die Architektur sich darauf situationsspezifisch beziehen kann.
Das praktische Ziel des Forschungsprogramms ist also eine Bestandsaufnahme der aktuel-
len Wohnpraxis in der Bundesrepublik mit dem Ziel der Projektion zukünftigen Wohn-

3Vorgesehen ist ein Interview von durchschnittlich 20 Minuten Dauer und mindestens 2.000 analysierbaren Fällen. Grund-
gesamtheit ist die in Privathaushalten lebende Bevölkerung ab 18 Jahren. Der Stichprobenplan sieht eine Zufallsstichprobe
nach dem Dual-Frame Ansatz vor, bei dem für eine Erhebung sowohl eine Festnetz- als auch eine Mobilfunkstichprobe zum
Einsatz kommen und die Ergebnisse durch Gewichtung zusammengeführt werden (ADM, 2013).
Funktionswandel des Wohnens 12

bedarfs am Maßstab der allgemeinen Wohnbedürfnisse, um daraus planerische Maßnah-
men abzuleiten.

LITERATUR
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