Gangsterläufer Dossier - Bundeszentrale für politische Bildung
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Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 2 Einleitung Er nennt sich "Boss von der Sonnenallee": Yehya E. aus Berlin-Neukölln. Schon im Alter von 17 Jahren wird er zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" zeigt den jungen Intensivtäter vor und während dieser Zeit. Dabei entsteht ein intensives Porträt von Yehya und seiner Familie. Die bpb veröffentlicht den Film "Gangsterläufer" ergänzt um Informationen und Hintergrundtexte. Manche Beiträge spüren dem Film und der Geschichte von Yeyha E. nach. Andere lösen sich von dem „Fall“ und werfen einen umfassenderen Blick auf Ursachen und Entwicklungen. In Analysen und Interviews sowie anhand von Infografiken wird das Thema Jugendkriminalität betrachtet. Weitere Artikel beschäftigen sich mit der Perspektive der Opfer von Straftaten, ebenso mit den Aspekten Flucht und Migration sowie "Problemvierteln". Im Videointerview erzählt Regisseur Christian Stahl von den Dreharbeiten zu "Gangsterläufer" und der Zeit nach der Premiere des Films. (http://www.bpb.de/mediathek/206604/gangsterlaeufer) FSK (http://www.fsk.de/AltersstufenKennzeichen): ab 12 freigegeben. Dokumentarfilm aus dem Jahr 2012. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 3 Inhaltsverzeichnis 1. Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" 4 1.1 Nähe als Voraussetzung und Manko - eine Filmbesprechung 5 1.2 Eine deutsche Geschichte: Über das Leben des Yehya E. 8 1.3 "Die Geschichte hat sich selbst erzählt" 14 1.4 Links 16 2. Jugendkriminalität: Aktuelle Entwicklung und Ausstieg 18 2.1 Jugendkriminalität - Zahlen und Fakten 19 2.2 "Mehr Konsequenz, nicht mehr Härte" 33 2.3 "Wir wollen nicht bespaßen, und wir wollen nicht helfen" 40 2.4 Jugendarbeit im sozialen Brennpunkt 45 3. Familie im Kontext von Fluchtmigration 49 4. Problemviertel? Imageproduktion und soziale Benachteiligung städtischer Quartiere 55 5. Die Perspektive der Opfer 63 6. Gangsterläufer: Arbeitsblatt und Unterrichtsvorschläge 68 7. Redaktion 78 bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 4 Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" 1.4.2015 Yehya E. ist Intensivtäter. Mit 17 Jahren wird er zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" begleitet ihn und liefert ein intensives Porträt des jungen Mannes und seiner Familie. Die bpb veröffentlicht den Film im Rahmen dieses Dossiers. Ergänzend analysiert und bewertet der Filmjournalist Oliver Kaever "Gangsterläufer". Mehr Hintergründe zu Yehya bietet die Autorin Hadija Haruna - vor allem über die Zeit nach dem Haftende und nach dem Ende des Filmdrehs. Im Videointerview spricht Christian Stahl, Regisseur von "Gangsterläufer", über die Dreharbeiten, seine Beziehung zu Yehya und dessen Familie sowie über die Frage nach der Schuld. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 5 Nähe als Voraussetzung und Manko - eine Filmbesprechung Von Oliver Kaever 12.5.2015 Oliver Kaever lebt und arbeitet als freier Journalist in Hamburg und schreibt unter anderem für Spiegel Online, Zeit Online und fluter. de. Er ist hauptsächlich Filmkritiker, bearbeitet aber auch familien- und stadtpolitische Themen. Er studierte in Düsseldorf und Davis Germanistik und Medienwissenschaft und arbeitete beim Pacific Film Archive in Berkeley. Die besondere Beziehung zwischen Regisseur und Protagonisten wird in dem Dokumentarfilm "Gangsterläufer" schnell deutlich. Dadurch gelingt ein ungewöhnlich tiefer Einblick in die Lebenswirklichkeit des Intensivstraftäters Yehya E. und seiner Familie. Aber diese Nähe kann auch kritisch gesehen werden. Mit 13 Jahren ist Yehya E. bereits zigmal bei der Polizei auffällig geworden, der Jugendliche aus Berlin- Neukölln ist ein Intensivstraftäter. Regisseur Christian Stahl ist sein Nachbar und lernt ihn als außerordentlich höflich kennen. Auch mit Yehyas Familie versteht sich Stahl gut. Rached, Yehyas Vater, ist Palästinenser und vor 25 Jahren mit seiner Frau aus dem Libanon geflohen, als in den dortigen Flüchtlingslagern Massaker verübt wurden. Doch Stahl erlebt auch, dass sich Yehya als "Boss der Sonnenallee" begreift und seine Mitschüler bedroht. Zwei Jahre später, 2007, landet der Junge im Gefängnis: Gemeinsam mit drei Komplizen hat er in Hamburg ein Ehepaar überfallen und schwer verletzt. Das Urteil lautet auf drei Jahre Haft. Während dieser Zeit besucht ihn Christian Stahl immer wieder mit der Kamera im Gefängnis und begleitet parallel dazu seine Familie. Auch das Leben der Familie wird erzählt Der Regisseur folgt den Ereignissen vom Urteilsspruch bis zu Yehyas Entlassung, dazu kommen einige Szenen, die ihn noch vor seiner Haft zeigen, sowie ein kurzer Prolog und ein Epilog. Die erzählte Zeit beträgt fünf Jahre, es handelt sich also um eine Langzeitbeobachtung. Dramaturgisch bedingt diese lange Zeitspanne, dass Stahl das Geschehen stark verdichtet. Zu Wort kommen Yehya und seine Familienmitglieder sowie kurz die Opfer des Raubüberfalls und ein Bediensteter der Jugendstrafanstalt, in der Yehya einsitzt. Der Filmemacher begleitet den Jungen allerdings nicht in seinem Gefängnisalltag. Dieser wird in Interviews von ihm selbst geschildert, die zwar erstaunlich reflektiert, aber auch stark subjektiv gefärbt sind. Interessant ist die Gegenüberstellung der Gespräche des Filmemachers mit Yehya und Mohamed Akkad, dem Leiter Untersuchungshaft der Jugendstrafanstalt. Dadurch kommt ein objektivierendes Element in die Erzählung, etwa wenn Akkad den Verdacht äußert, Yehya instrumentalisiere die Menschen, die ihm helfen wollen. Parallel zeigt Christian Stahl den Alltag von Yehyas Familie. Er begleitet sie in die Moschee und zeigt das Fastenbrechen. Diese Struktur der Parallelmontage ist effektiv, weil sie einen Kontext etabliert. Sie öffnet den Blick, so dass Yehyas Geschichte als ein Schicksal in dem seiner Familie kenntlich wird. Im Lauf des Films zeigt sich, dass nicht nur er, sondern auch seine beiden Brüder immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Besondere Bedeutung kommt einer Reise in den Libanon zu, die Vater Rached mit Yehyas Brüdern antritt. Dort stehen die drei inmitten der Trümmer des Hauses, das der Familie gehört. Bei dieser Reise wird klar, dass es keinen Weg mehr zurück gibt. Und sie macht deutlich, welche Traumata Rached und seine Frau bei ihrer Flucht mit nach Deutschland brachten. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 6 Die Kamera als Fliege an der Wand Stilistisch folgt Christian Stahl keiner eindeutigen Dokumentarfilm-Tradition; er bedient sich einer Mischform der Stile. Über weite Strecken ist er mit der Kamera mitten im Geschehen und zeigt ganz direkt, was passiert. Er folgt dann der Schule des in den 1960er-Jahren in den USA entstandenen Direct Cinema. Die Kamera nimmt gewissermaßen die Position einer Fliege an der Wand ein und beobachtet das Geschehen. Der gefilmte Alltag soll so seine eigene Wahrheit enthüllen. Bei Stahl kommt allerdings stellenweise ein Voice-over, ein gesprochener Kommentar, des Filmemachers dazu, das im Direct Cinema als Tabu gilt, weil es die eigene Interpretationsleistung des Zuschauers vorwegnimmt. Tatsächlich fällt Stahls eigener Kommentar teilweise stark wertend und interpretativ aus. Er weist auch des Öfteren darauf hin, dass er seinem Erzählgegenstand sehr nahe steht. So sagt Stahl, er sei nicht nur Freund der Familie, sondern von dieser als Mitglied aufgenommen worden. Damit benennt er eine Tatsache, die gleichzeitig Vorteil und Manko für seinen Film ist. Einerseits gelingt Stahl nur so ein tiefer Einblick in die Lebenswirklichkeit der Familie; andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass der Filmemacher durch die fehlende Distanz stark Stellung bezieht und dem Zuschauer seine Sichtweise aufdrängen will. Immerhin gibt sich Stahl im Kommentar selbst als Handelnder zu erkennen und macht sein erzählerisches Vorgehen so zumindest teilweise transparent. Aber eben nur teilweise: Stahls Strategie bleibt ambivalent. Die Frage nach der Wahrheit im Dokumentarfilm Nicht nur die Frage nach der Einflussnahme begleitet die Gattung Dokumentarfilm seit ihrer Entstehung: Was genau bilden Dokus ab? Die "Realität"? Sind sie "objektiv"? Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass Dokumentarfilme ohne fiktionale Elemente arbeiten und die Wirklichkeit wahrer Menschen abbilden. Meist stehen die Inhalte im Vordergrund, während Fragen nach Ästhetik, Filmsprache und Inhaltsvermittlung weniger Beachtung finden als bei Spielfilmen. Dabei sind auch Dokumentarfilme immer etwas "Gemachtes", sie wenden sich unter Zuhilfenahme bestimmter Mittel an einen Zuschauer. Auch Dokumentationen sind immer inszeniert. Den Blick darauf zu lenken, ist in Zeiten umso wichtiger, in denen sich die Grenzen zwischen den Genres teilweise auflösen. Dokus setzen Animationen ein (wie zum Beispiel der autobiographische Zeichentrickfilm "Persepolis") oder lassen Protagonisten ihr früheres Handeln vor der Kamera reinszenieren (so im Film "The Act of Killing", der sich mit Massakern in Indonesien der 1960er-Jahre beschäftigt). Spielfilme geben sich als Dokumentation aus (wie der Film "Fraktus", der das Comeback einer fiktiven Musikband zeigt) oder setzen Laiendarsteller ein, die ihre eigene Geschichte "spielen" (beispielsweise in "Aus dem Leben eines Schrottsammlers" über eine bosnische Roma-Familie). Auch im Fernsehen ist dieser Trend der gegenseitigen Durchdringung zu beobachten. Reality-TV, Doku- Drama, Doku-Soap oder Scripted Reality – schon die zwitterhaften Genre-Bezeichnungen verdeutlichen die Vermischung. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 7 Wer gefangen wird, wird verprügelt Von der Inszenierung her ist "Gangsterläufer" über weite Strecken eine klassische Dokumentation. Beim Prolog und Epilog allerdings setzt der Regisseur stark fiktionalisierende Elemente ein. In stilisierten Bildern inszeniert Christian Stahl hier ein Spiel, das dem Film seinen Namen gibt. Eine Gruppe Jugendlicher rennt durch die Straßen, einer ist der Fänger. Wen er fängt, den darf er verprügeln, dann wird er ebenfalls zum Fänger. Wer als letzter übrig bleibt, ist der Gewinner und "Gangsterläufer". Stark setzen verwischte und unscharfe Handkamera-Aufnahmen ein sowie Zeitlupe und Panorama- Einstellungen, hinzu kommen schnelle Schnitte. Die Sequenz soll den Zuschauer in das Geschehen hineinziehen. Sie lädt zur Identifikation ein und wirkt spannungssteigernd. Distanz zum Geschehen, das in einer wilden Prügelei mündet, lässt sie hingegen kaum zu. Vor allem deshalb nicht, weil Yehya, der Gewinner des Spiels, als Held inszeniert wird. Noch bedenklicher ist der Prolog, der in der Inszenierungsweise der Titelsequenz ähnelt. Hier sehen wir Yehya über die Dächer von Berlin-Neukölln hechten und in Siegerpose verharren. Auch hier fehlt die Distanz des Filmemachers zu seinem Protagonisten. Es hat den Anschein, Yehya bekomme hier die Möglichkeit, sich in seiner Selbstsicht als Gangster und Sieger zu inszenieren. Natürlich ist es reizvoll, diese Binnenperspektive, die sich ja selbst mutmaßlich wiederum aus Gangsterfilmen speist, mit den Mitteln der Dokumentation nachzustellen. Was hier jedoch fehlt, ist das deutlich kenntlich gemachte Moment der Reflexion. Weiterführende Links Offizielle Website zum Film "Gangsterläufer" http://www.gangsterlaeufer.de/ (http://www.gangsterlaeufer.de/) Welt Online, Der Boss von der Sonnenallee, Besprechung von Gangsterläufer (26.03.2013) http://www.welt.de/vermischtes/article119398567/Der-Boss-von-der-Sonnenallee.html (http://www. welt.de/vermischtes/article119398567/Der-Boss-von-der-Sonnenallee.html) Frankfurter Rundschau, Kriminelle Karriere mit Staatsförderung, TV-Kritik von Gangsterläufer (20.06.2013) http://www.fr-online.de/tv-kritik/tv-kritik--gangsterlaeufer---arte--kriminelle-karriere-mit- staatsfoerderung,1473344,23459348.html (http://www.fr-online.de/tv-kritik/tv-kritik--gangsterlaeufer--- arte--kriminelle-karriere-mit-staatsfoerderung,1473344,23459348.html) Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Oliver Kaever für bpb.de bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 8 Eine deutsche Geschichte: Über das Leben des Yehya E. Von Hadija Haruna 12.5.2015 Hadija Haruna lebt und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung. Ihre Redakteurs-Ausbildung hat die Diplom-Politologin an der Berliner Journalistenschule (BJS) absolviert. Sie arbeitet u.a. für den Hessischen Rundfunk, den Tagesspiegel, die ZEIT und das Fluter Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie ist Preisträgerin des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gestifteten KAUSA Medienpreises 2012 "Macht sie sichtbar – Bildungswege von Migrantinnen und Migranten". Vom Flüchtlingslager im Libanon in die Zelle einer Berliner Jugendstrafanstalt. Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" handelt von Yehya, der zum Intensivstraftäter wird. Der Film erzählt seine Geschichte und die seiner Familie und kann als Plädoyer für eine neue Asylpolitik in Deutschland interpretiert werden. Wer ist Yehya? Ein Sohn palästinensischer Kriegsflüchtlinge. Einer dieser coolen, laut lachenden jungen Männer mit festem Blick, kräftigen Oberarmen und großem Geltungsdrang. Frech und intelligent, zärtlich zu seinen kleinen Geschwistern. Wütend. Ein Junge, der immer der Beste sein will und von einem Leben mit viel Geld und ohne Sorgen träumt. Sein Status: geduldet. Was bedeutet, dass sein Aufenthalt in Deutschland unrechtmäßig ist, seine Abschiebung jedoch ausgesetzt wird. Yehya wird 1990 im palästinensischen Flüchtlingslager Schatila im Libanon geboren. Zu dieser Zeit tobt dort der Bürgerkrieg, sodass seine Familie wenige Wochen nach Yehyas Geburt nach Deutschland flieht. Nachdem ihr Asylantrag abgelehnt wird, gelten sie als "staatenlose" Flüchtlinge, die nicht abgeschoben werden können, da es ihre Heimat, den Staat Palästina offiziell nicht gibt. Die Familie hat es schwer, in ihrer neuen Heimat anzukommen. Wie lange ihre Duldung dauert, weiß sie nicht. Monat um Monat, manchmal nach einem halben Jahr oder Jahr muss sie zur Ausländerbehörde. Sie sind sogenannte Kettengeduldete: Menschen, die ihre Zukunft in Deutschland nicht kennen, aber einen großen Teil ihres Lebens dort verbringen. Die Familie lebt in einem sozialen Vakuum. Politisch ist dieser Zustand nicht gewollt, aber seit Jahren gängige Praxis. Laut Ausländerzentralregister lebten Ende 2014 113 221 Geduldete in Deutschland. Fast jeder Fünfte war bereits über zehn Jahre im Land.[1] "Da wurden Söhne zu Vätern und Väter zu Söhnen" Yehyas Vater. Ein hagerer Mann mit eingefallenem Gesicht. Kettenraucher. In Kuwait leitete er einmal eine eigene Baufirma. In Deutschland erhält er als Geduldeter zunächst ein jahrelanges Arbeitsverbot. Außerdem ist der Zugang zum Arbeitsmarkt kompliziert und wird durch eine sogenannte Vorrangprüfung geregelt. An erster Stelle stehen deutsche, EU-Bürger oder entsprechend rechtlich gleichgestellte Ausländer und erst, wenn kein anderer den Job will oder dafür geeignet ist, darf ein Geduldeter ihn übernehmen. Die meisten Arbeitgeber stellen sie jedoch gar nicht erst ein, weil ihnen ihr Status zu unsicher ist. Diese Vorrangprüfung entfällt seit Anfang diesen Jahres: Bei bestimmten Fachkräften und Hochschulabsolventen beziehungswiese für Geduldete, die seit 15 Monaten ununterbrochen in Deutschland sind.[2] Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich Migration und Männlichkeit, die zeigen, dass es vielen Vätern in ihrer benachteiligten Lebenslage schwer gelingt, ihrer Funktion in der Familie gerecht zu werden.[3] Krieg in der Heimat und das deutsche Asylrecht haben viele zu gebrochenen bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 9 Männern gemacht. Es sind Männer, die in der neuen Heimat nie richtig angekommen sind, die schwierige soziale Situation ihrer Familien nicht verbessern konnten und für ihre Kinder keine Vorbilder darstellen. In der Forschung sind die Auswirkungen des Flüchtlingsstatus auf das Eltern-Kind-Verhältnis seit Jahren bekannt, während die Politik mit ihren Maßnahmen hinterherhinke, sagt der Migrationsbeauftragte Berlin-Neuköllns Arnold Mengelkoch: "Die Autoritäten in den Familien wurden degradiert, weil die Kinder sich besser orientieren konnten als die Eltern. Da wurden Söhne zu Vätern und Väter zu Söhnen. Das ist nicht gut gegangen." Das trifft auch auf Yehya und seine Familie zu. Er ist der Protagonist des Dokumentarfilms "Gangsterläufer". In einer Filmszene erklärt Yehya, dass seine Mutter und sein Vater nicht genug Deutsch könnten, um wirklich zu verstehen, was bei ihm los sei. Briefe der Staatsanwaltschaft verstünden sie nicht. Christian Stahl, Regisseur des Films, glaubt, dass Yehyas Eltern sehr wohl verstanden, aber aus Angst vor der Wahrheit und Scham vor der eigenen Ohnmacht nicht nachgefragt hätten: "Sie sind hilflos einer Welt gegenüber, die sie als Flüchtlinge aufgenommen, aber nie als Bürger akzeptiert hat und ihnen finanzielle Selbstständigkeit verwehrt. Und darüber hinaus können sie die Bedürfnisse ihrer Kinder oft nicht finanzieren", schreibt Stahl in seinem Buch "In den Gangs von Neukölln", das er 2014 veröffentlicht hat. Das Leben wird zum Doppelleben Die Geschichte von Yehyas Kindheit liest sich wie die vieler junger Flüchtlingskinder der ersten und zweiten Generation in Deutschland. Seine Heimat ist Berlin, mit einer Mauer drumherum. Bei Klassenausflügen außerhalb der Stadt muss er in der Schule bleiben, weil es ihm die Residenzpflicht nicht erlaubt, seinen Wohnort zu verlassen. Bei der Ausländerbehörde wird er ausgelacht, als er sagt, dass er sich Deutsch fühle, schreibt Stahl in seinem Buch. Und Polizisten wirken bedrohlich auf ihn, weil sie für ihn diejenigen sind, die seine Papiere kontrollieren und ihn und seine Familie abschieben können. Yehya E. In jedem Amt, in jeder Schule und an jeder Schlecker-Kasse kriegt man zu spüren: "Du bist ein Ausländer!" Und da neigt man dann eben auch dazu, zu sagen: "Ja, ich bin ein Ausländer!" und dazu zu stehen, was man ist. Dann bezieht man sich irgendwie auf die Kultur der Eltern. Weil man halt sowieso nicht dazu gehören kann, also tut man so, als ob man es nicht wollte. Anmerkungen von Yehya E. im Gespräch mit Christian Stahl. Quelle: Christian Stahl, In den Gangs von Neukölln, Hamburg: Verlag Hoffmann und Campe, 2014, Seite 159. Yehya ist anders, lebt anders. Ihm fehlt Halt. Er wird zum Träumer, der keine Konsequenzen kennt – führt ein Leben in vom Staat verordneter Perspektivlosigkeit. "Es ist wie ein Gefängnis im Kopf", beschreiben junge Flüchtlinge in Interviews ihre Lebenslage.[4] Was sie lernen ist, wie man ein Doppelleben führt, um bei jedem ein anderes Bild abzugeben: bei Freunden, in der Familie, in der Schule. Als Yehya zum ersten Mal einen Mitschüler mit dem Messer bedroht, ist er zehn Jahre alt. Mit 13 Jahren hat die Polizei bei ihm bereits über 50 Straftaten registriert, er gilt als Intensivstraftäter. Im Berliner Stadtteil Neukölln nennen sie ihn den "Boss der Sonnenallee". "Wir machen den größten Ausbruch der Geschichte. Abenteuer. Mit Pistolen auf die Polizei schießen. Ich sterbe mit 25 und mein Name wird großgeschrieben. Bei diesen Gedanken hatte ich ein schönes Gefühl", sagt Yehya im Film. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 10 Yeyha E. Ich liebte es, in den Klassenraum zu kommen und die Angst in den Gesichtern der Schüler zu sehen, und am schönsten war es, wenn ich den Lehrer am Unterrichten hinderte, dadurch, dass ich Schüler zwang, den Unterricht zu stören. Auszug aus einer E-Mail von Yehya E. an Christian Stahl über seine Zeit in der Rütli-Schule in Berlin- Neukölln. Quelle: Christian Stahl, In den Gangs von Neukölln, Hamburg: Verlag Hoffmann und Campe, 2014, Seite 47. 2008 kommt der inzwischen 17-Jährige wegen bewaffneten Raubüberfalls auf den Hamburger Prominenten-Wirt Reinhard R. für drei Jahre ins Gefängnis. Es ist eine brutale Tat, bei der Reinhard R. und dessen Freundin ein Jahr zuvor mit dem Messer verletzt werden und traumatische Folgen davontragen. Eine halbe Million Euro hatten sich Yehya und seine Komplizen von dem Überfall versprochen. "Ich dachte, wenn ich das durchziehe, muss ich nie wieder in meinem Leben klauen", sagt er im Film. Der Weg raus aus dem Gefängnis Regisseur Christian Stahl zeichnet in "Gangsterläufer" ein eindrückliches Portrait von Yehya und seiner Familie, die versucht, in Würde in der Fremde zu leben und deren Sohn dennoch zum Intensivstraftäter wird. Seine Geschichte ist zwiespältig, emotional und gewalttätig. Im Film scheint es aber, als würde er die Gründe für sein Handeln Schritt für Schritt begreifen, als würde er den Ausstieg schaffen. Im Juli 2009 wird Yehya zum Freigänger und darf von 7 bis 17 Uhr das Gefängnis Berlin-Plötzensee verlassen. Nach seiner Entlassung wird er in der Sonnenallee mit "Respekt" begrüßt, weil er jetzt ein Mann mit Geschichte ist, mit Gefängnisaufenthalt. Zugleich wird er zum Schüler, der seinen mittleren Schulabschluss mit der Note zwei nachholt. Yehya: Vorzeigeaussteiger und ab 2010 ehrenamtlicher Streitschlichter bei der Deutsch-Arabisch-Unabhängigen Gemeinde in Neukölln. Einer, der von Politikern als Ansprechpartner eingeladen und zum Berater der Berliner Polizei wird und sie bei der Deeskalation brenzliger Situationen unterstützt, wie es Stahl in seinem Buch schreibt. Yeyha: Ein junger Mann, der über Heiraten und Familiengründung nachdenkt. Es ist der Versuch, sich der bürgerlichen Gesellschaft anzunähern und ein Teil von ihr zu werden. Doch auf seinen vermeintlichen Erfolg folgen Rückschläge. Die Ausweisung droht Die Justiz will ihn ausweisen, weil sie das bei Ausländern ab einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren kann. In einem Bescheid der Ausländerbehörde wird Yehya aufgefordert, Deutschland nach dem Ende seiner Haftzeit zu verlassen, sonst wird er abgeschoben – auf Basis eines Rücknahmeabkommens in die Ukraine. Christian Stahl Die Ursachen der Kriminalität kann man nicht abschieben. Sie sind hier entstanden. Sie werden hier bleiben und sich verstärken, wenn wir nicht endlich die Fehler im deutschen System [der Asyl- und Flüchtlingspolitik] beheben. Anmerkungen von Christian Stahl zur deutschen Asyl- und Flüchtlingspolitik. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 11 Quelle: Christian Stahl, In den Gangs von Neukölln, Hamburg: Verlag Hoffmann und Campe, 2014, Seite 221f. Yehyas Anwalt klagt erfolgreich gegen die Entscheidung der Ausländerbehörde. Das Gericht urteilt, dass er einen Aufenthalt bekommen muss, wenn er sein Abitur macht. Doch als er sein Fachabitur an einem Oberstufenzentrum beginnt, bittet ihn das Direktorium nach wenigen Tagen, die Klasse zu verlassen.[5] Die Ausländerbehörde hat der Schule mitgeteilt, "dass geduldete Flüchtlinge wie Yehya, noch dazu mit seinen Straftaten, keinem Deutschen einen Abiturplatz wegnehmen dürfen", schreibt Stahl in seinem Buch. Yehya macht ein Praktikum bei einem Fotografen. Ein Antrag auf eine Arbeitserlaubnis wird abgelehnt. 2011 beginnt er die Ausbildung zum Sozialassistenten an einer Privatschule und nimmt an Sitzungen des Integrations- und Migrationsbeirates in Neukölln teil. Im Oktober 2012 steht er erneut vor Gericht. Der Vorwurf des Raubüberfalls wird fallen gelassen, doch erhält er wegen einfacher Körperverletzung eine einjährige Bewährungsstrafe. Zu diesem Zeitpunkt ist die Premiere des Films "Gangsterläufer" knapp eineinhalb Jahre her. Kein Ausstieg, wieder Gewalt, wieder Haft Yehya ist 23 Jahre alt, als er im März 2014 sein zweites Urteil bekommt: fünf Jahre Haft wegen Diebstahl, schweren Raubs in zwei Fällen, gefährlicher Körperverletzung und Planung eines weiteren Überfalls. Er wird verurteilt als Kopf einer Bande. Über 50.000 Euro erbeuteten Yehya und Komplizen in einer Kaufhauskette, einem Modegeschäft und einer Privatwohnung. "Kriminalität ist keine Krankheit, die man mal so eben heilen kann", schreibt Stahl daraufhin in einem Essay für die Zeitung "Die Welt". Bei Jungen wie Yehya wirke sie wie eine Droge und die Wut sei ihr Antrieb, weil sie das Bedürfnis nach ihr wecke. Der 23-Jährige gibt vor Gericht eine fast halbstündige persönliche Erklärung ab, die Stahl in seinem Buch zitiert. Er berichtet über seine Kindheit und das Gefühl der Ausgrenzung als "nicht-deutsches" Kind, dessen Eltern arbeitslos sind, weil sie nicht arbeiten dürfen. Über seinen Umzug innerhalb Berlins vom bürgerlichen Prenzlauer Berg nach Neukölln, wo er zum ersten Mal das Gefühl der Zugehörigkeit gespürt habe, weil dort Kinder wie er lebten. Wie es sei einer Gruppe anzugehören und sich beweisen zu wollen, wie er "Scheiße baut" und irgendwann "seine Hemmungen verliert". Und Yehya spricht über die Zeit nach der ersten Haft und seiner Arbeit als Streitschlichter: "In meinem ehemaligen Paradies [Berlin-Neukölln] war ich plötzlich der V-Mann. [...] Ich wollte stark genug sein, in Neukölln zu leben und nicht kriminell zu sein. Womöglich schaffen das auch viele. Aber ich bin gescheitert. [...] Ich wollte meine Aufenthaltserlaubnis, meine Arbeitserlaubnis, und ich wollte wegziehen von Neukölln. Ich hab keine Arbeitserlaubnis bekommen und konnte keine Arbeit haben. Wegziehen konnte ich auch nicht. Keiner gibt einem Geduldeten eine Wohnung. [...] Dass ich wenigstens Berlin mal verlassen kann. Abgelehnt. Ausziehen? Keine Chance. Du bleibst dort, du bleibst mitten im Dreck. Das war mein Gefühl." Wie fühlt es sich an, wenn das Zuhause niemals ein wirkliches Zuhause ist? Ist einem dann alles egal? Sind die Kriegsbiografien palästinensischer Einwandererfamilien ein Grund für die Kriminalität und Gewalt? Wer oder was ist schuld, dass Yehya kriminell geworden ist? Er selbst, die Gesellschaft, das familiäre Umfeld, die Freunde? Oder das enge Korsett bürokratischer Regeln: das Arbeitsverbot, die Residenzpflicht, die ständige Bedrohung, abgeschoben zu werden? Arnold Mengelkoch sagt, dass auch Kinder, die die Traumata nicht bewusst erlebt hätten, die Geschichte und Überlebensstrategie ihrer Eltern verinnerlichten und zum Teil falsch übertragen würden. Es sind Gefühle von Angst, Widerstand und Kampf, die im Inneren der Kinder weiterleben, doch über die in den Familien meist nicht geredet wird. Christian Stahl Falls Yehya 2018 vorzeitig entlassen wird, wird er, nach heutigem Stand des deutschen Aufenthaltsrechts, weiterhin lediglich eine Duldung haben, keine Arbeits- und keine bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 12 Aufenthaltserlaubnis bekommen, und die Ausländerbehörde wird weiter ohne Aussicht auf Erfolg versuchen, ihn abzuschieben. Anmerkungen von Christian Stahl zur Perspektive von Yehya E. nach seiner voraussichtlichen Haftentlassung im Jahr 2018. Quelle: Christian Stahl, In den Gangs von Neukölln, Hamburg: Verlag Hoffmann und Campe, 2014, Seite 221f. "Die Schuld muss Yehya tragen", sagt Stahl. Doch reicht es ihm nicht, mit dem moralischen Zeigefinger auf Jungen wie ihn zu zeigen, härtere Strafen zu fordern und pauschal von kulturellen Konflikten und von Abschiebung zu sprechen. Es sei wichtig, die Hintergründe ihrer Geschichte zu verstehen. "Ohne zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, aber mit der Absicht zuzuhören", schreibt Stahl auf seiner Facebook-Seite. Mehr als zehn Jahre sind inzwischen vergangen, seitdem er und Yehya sich kennengelernt haben. Der Junge lässt Stahl nah an sich heran, sie reden, sie streiten, Stahl wird zu einer wichtigen Ansprechperson. "Wer das Problem der Intensivstraftäter aus Flüchtlingsfamilien verstehen und abschaffen will, muss mit den jungen Männern und ihren Familien sprechen und nicht über sie", sagt auch Mengelkoch. Auf diese Weise werden der Film und das Buch von Stahl nicht nur das Zeugnis einer ungewöhnlichen Freundschaft, das die Enttäuschung, Erwartung und Sehnsucht nach einem anderen Leben als das der Eltern in einem zum Teil brutalen und intelligenten jungen Mann sichtbar macht, sondern auch eine unbequeme Deutung der deutschen Asylpolitik. "Die Probleme sind hier entstanden. Sie werden hier bleiben und sich verstärken", schreibt der Regisseur in seinem Buch. Für ihn steht fest, dass Yehya kein arabischer oder genauer: palästinensischer, sondern ein deutscher Krimineller ist. Deshalb fragt er: "Wann werden wir in Deutschland aufgewachsene Menschen endlich als Deutsche und die Probleme, die durch verfehlte Einwanderungspolitik mit verursacht wurden, als deutsche Probleme anerkennen?" Weiterführende Literatur und Links Bundesregierung, Erleichterungen für Asylbewerber, 02.01.2015, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/10/2014-10-29-verbesserungen-fuer-asylbewerber- beschlossen.html (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/10/2014-10-29-verbesserungen- fuer-asylbewerber-beschlossen.html) King, Vera (2005): Bildungskarrieren und Männlichkeitsentwürfe bei Adoleszenten aus Migrantenfamilien. In: King, Vera/Flaake, Karin (Hrsg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt/Main: Campus. S. 57-76 Prömper, Hans/Jansen, Mechtild M./Ruffing, Andreas/Nagel, Helga (Hrsg.) (2010): Was macht Migration mit Männlichkeit? Kontexte und Erfahrungen zur Bildung und Sozialen Arbeit mit Migranten. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich. S. 19-35 Schäfer, Eberhard/Moradli, Baljan/Yaşaroğlu, Ercan (2006): »Baba – Papa. Väter im Gespräch« – Ein Konzept für die Arbeit mit Vätern mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund in Berlin- Kreuzberg. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Migration und Männlichkeiten. Schriften zur Geschlechterdemokratie. http://www.gwi-boell.de/sites/default/files/uploads/2014/04/migration_oder_maennlichkeiten_nr.14.pdf (http://www.gwi-boell.de/sites/default/files/uploads/2014/04/migration_oder_maennlichkeiten_nr.14. pdf) Stahl, Christian, „Die Neuköllner Gangs sind süchtig nach Kriminalität“, 22.09.2014, http://www.welt.de/vermischtes/article132494500/Die-Neukoellner-Gangs-sind-suechtig-nach-Kriminalitaet. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 13 html (http://www.welt.de/vermischtes/article132494500/Die-Neukoellner-Gangs-sind-suechtig-nach- Kriminalitaet.html) Stahl, Christian, Videos mit Yehya E. in der Justizvollzugsanstalt im Sommer/Herbst 2014, https://www.youtube.com/user/Stahlmedien (https://www.youtube.com/user/Stahlmedien) Tunç, Michael (2007): Väter mit Migrationshintergrund zwischen Skandalisierung und Vernachlässigung. Umrisse einer Väterarbeit in der Migrationsgesellschaft. In: Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit. Jg. 29. Heft 1. S. 33-39. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Hadija Haruna für bpb.de Fußnoten 1. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung, Kleine Anfrage der Partei Die Linke, Drucksache 18/3987, 10. Februar 2015 (Seite 26ff): http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/18/039/1803987.pdf (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/039/1803987.pdf) 2. Die Neuregelungen im Asyl- und Staatsangehörigkeitsgesetz sowie bei der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern wurden im Dezember im Bundestag und Bundesrat beschlossen. Es trat mit seinen überwiegenden Regelungen am 1. Januar 2015 in Kraft, einzelne Vorschriften am 1. März 2015. Die Regelungen sind zum Teil umstritten, denn neben Erleichterungen wurden u.a. Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Drittstaaten erklärt. Asylsuchende aus diesen Ländern haben damit kaum Chancen auf ein Bleiberecht in Deutschland. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2014/10/2014-10-29- verbesserungen-fuer-asylbewerber-beschlossen.html (http://www.bundesregierung.de/Content/ DE/Artikel/2014/10/2014-10-29-verbesserungen-fuer-asylbewerber-beschlossen.html) 3. Zum Beispiel: Prömper, Hans/Jansen, Mechtild M./Ruffing, Andreas/Nagel, Helga (Hrsg.) (2010): Was macht Migration mit Männlichkeit? Kontexte und Erfahrungen zur Bildung und Sozialen Arbeit mit Migranten. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich. S. 19-35 . 4. Siehe: Haruna, Hadija, "Gekommen, um zu bleiben? Das Leben junger Flüchtlinge in Berlin", www. fluter.de, 23.05.2011; http://www.fluter.de/de/flucht/thema/9330/ (http://www.fluter.de/de/flucht/ thema/9330/) 5. Mit den Neuregelungen ab 2015 wird auch die Residenzpflicht nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland formell abgeschafft. An ihre Stelle tritt eine Wohnsitzauflage für Asylbewerber und Geduldete, die auf Transferleistungen angewiesen sind. Sie sind also verpflichtet an einem bestimmten Ort zu wohnen, dürfen sich aber ansonsten frei bewegen. Hier sind Einschränkungen möglich, sodass abzuwarten ist, wie die Wohnsitzauflage wirkt. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 14 "Die Geschichte hat sich selbst erzählt" Videointerview mit Christian Stahl Von Christian Stahl, Sonja Ernst 12.5.2015 Christian Stahl ist Journalist, Filmemacher und Autor. Er hat als Radiomoderator und ARD-Korrespondent in Berlin gearbeitet. 2005 gründete er eine Agentur für digitales Erzählen. Christian Stahl ist der Regisseur des preisgekrönten Dokumentarfilms "Gangsterläufer" und Autor des Buches "In den Gangs von Neukölln". Sonja Ernst ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie ist arbeitet vor allem für Onlinemedien und Hörfunk, unter anderem zum Thema städtische Entwicklung. Im zweiteiligen Videointerview erzählt Christian Stahl von den Dreharbeiten und der Machart des Dokumentarfilms "Gangsterläufer". Der Filmemacher hat den jungen Intensivtäter Yehya E. über Jahre mit der Kamera begleitet. Hier schildert er die Zeit nach der Premiere des Films sowie das Scheitern Yehyas, aus der Kriminalität auszusteigen. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Yehya plädiert Stahl für eine andere Asylgesetzgebung. Christian Stahl ist der Regisseur von "Gangsterläufer". Im Interview erzählt er von Dreharbeiten, von der Machart sowie über seine Motivation, Yehya E. zu begleiten. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (© Bundeszentrale für politische Bildung / bpb) (http://www.bpb.de/mediathek/204873/die-geschichte-hat-sich-selbst-erzaehlt) Video 1: Im Interview erzählt der Regisseur Christian Stahl, wie er Yehya E. kennengelernt hat und über seine Motivation, den Jugendlichen mit der Kamera zu begleiten. Er schildert die Dreharbeiten und wie im Verlauf des Filmemachens eine enge Verbindung zwischen ihm und Yehya sowie zu dessen Familie entstanden ist. Stahl erklärt, wieso er den Dokumentarfilm als Genre gewählt hat. Ebenso, dass er den Film im Stil des "New Journalism" umgesetzt hat. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 15 Christian Stahl ist der Regisseur von "Gangsterläufer". Im Interview erzählt er, wie Yehya E. wieder straffällig wird. Außerdem plädiert Stahl für eine andere Asylgesetzgebung. Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (© Bundeszentrale für politische Bildung / bpb) (http://www.bpb.de/mediathek/204874/kein-ausstieg-nach-dem-ende-der-dreharbeiten) Video 2: Im zweiten Teil des Interviews spricht Christian Stahl über die Zeit nach der Premiere des Dokumentarfilms "Gangsterläufer" in 2011. Der Intensivtäter und Protagonist des Films, Yehya E., steigt zunächst aus der Kriminalität aus. Doch 2014 wird er erneut verurteilt. Während dieser Zeit bleibt sein Aufenthaltsstatus in Deutschland "geduldet". Er ist der Sohn palästinensischer Kriegsflüchtlinge. Stahl plädiert für eine andere Asylgesetzgebung und spricht vom "Vakuum der Duldung". Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Christian Stahl, Sonja Ernst für bpb.de bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 16 Links 12.5.2015 Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" wurde in verschiedenen Medien besprochen. Darüber hinaus gab es diverse Presseberichte zum Fall Yehya E. Hier finden Sie eine Auswahl weiterführender Links. Berliner Morgenpost Der Artikel "Hauptdarsteller von 'Gangsterläufer' festgenommen" liefert Hintergründe zu Yehya E. (17.10.2013) http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article121002489/Hauptdarsteller-von-Gangsterlaeufer-festgenommen. html (http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article121002489/Hauptdarsteller-von-Gangsterlaeufer- festgenommen.html) Frankfurter Rundschau Rezension "Kriminelle Karriere mit Staatsförderung, TV-Kritik von Gangsterläufer" des Dokumentarfilms (20.06.2013) http://www.fr-online.de/tv-kritik/tv-kritik--gangsterlaeufer---arte--kriminelle-karriere-mit- staatsfoerderung,1473344,23459348.html (http://www.fr-online.de/tv-kritik/tv-kritik--gangsterlaeufer--- arte--kriminelle-karriere-mit-staatsfoerderung,1473344,23459348.html) Website zum Film "Gangsterläufer" Offizielle Website ergänzend zum Dokumentarfilm http://www.gangsterlaeufer.de/ (http://www.gangsterlaeufer.de/) RBB Fernsehen Das Video "In den Gangs von Neukölln" zeigt Yehya E. und auch Christian Stahl sowie weitere im Interview (25.09.2014) http://www.rbb-online.de/stilbruch/archiv/20140925_2215/in-den-gangs-von-neukoelln.html (http://www. rbb-online.de/stilbruch/archiv/20140925_2215/in-den-gangs-von-neukoelln.html) Spiegel Magazin Markus Deggerich rezensiert in seinem Artikel "Entweder wir oder sie" das Buch von Christian Stahl "In den Gangs von Neukölln" (15.09.2014) http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-129211340.html (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-129211340. html) Videos mit Yehya E. Christian Stahl hat im Sommer/Herbst 2014 Videos mit Yehya E. in der Justizvollzugsanstalt gedreht https://www.youtube.com/user/Stahlmedien (https://www.youtube.com/user/Stahlmedien) Tagesspiegel Rezension "Arte dokumentiert die Karriere eines jungen Intensivtäters" des Dokumentarfilms "Gangsterläufer" (19.06.2013) http://www.tagesspiegel.de/medien/gangsterlaeufer-in-berlin-neukoelln-arte-dokumentiert-die-karriere- eines-jungen-intensivtaeters/8370478.html (http://www.tagesspiegel.de/medien/gangsterlaeufer-in- berlin-neukoelln-arte-dokumentiert-die-karriere-eines-jungen-intensivtaeters/8370478.html) bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 17 Die Welt Christian Stahl mit dem Essay "Die Neuköllner Gangs sind süchtig nach Kriminalität" (22.09.2014) http://www.welt.de/vermischtes/article132494500/Die-Neukoellner-Gangs-sind-suechtig-nach-Kriminalitaet. html (http://www.welt.de/vermischtes/article132494500/Die-Neukoellner-Gangs-sind-suechtig-nach- Kriminalitaet.html) Die Welt Pia Frey liefert mit "Yehya von der Sonnenallee, Intensivtäter mit Grips" Hintergrundinformationen zum Leben von Yehya E. (26.02.2014) http://www.welt.de/vermischtes/prominente/article125195391/Yehya-von-der-Sonnenallee-Intensivtaeter- mit-Grips.html (http://www.welt.de/vermischtes/prominente/article125195391/Yehya-von-der-Sonnenallee- Intensivtaeter-mit-Grips.html) Die Welt Rezension "Der Boss von der Sonnenallee" des Dokumentarfilms "Gangsterläufer" (26.03.2013) http://www.welt.de/vermischtes/article119398567/Der-Boss-von-der-Sonnenallee.html (http://www. welt.de/vermischtes/article119398567/Der-Boss-von-der-Sonnenallee.html) Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 18 Jugendkriminalität: Aktuelle Entwicklung und Ausstieg 12.5.2015 Die Zahlen sind eindeutig: Jugendkriminalität ist rückläufig. Zugleich gibt es jugendliche Intensivtäterinnen und Intensivtäter, die für Angst und Gewalt sorgen - an der Schule, im Stadtteil. Diese Täter bestimmen meist die öffentliche Diskussion über Jugendkriminalität. Zu Recht? Der Kriminologe und Rechtswissenschaftler Wolfgang Heinz liefert Zahlen und Fakten zum Thema. Im Gespräch berichten der Jugendrichter Stephan Kuperion und der Soziologe Jost Reinecke über ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Forderungen. Aus der Praxis mit benachteiligten Jugendlichen erzählt in einem Audio-Beitrag Susanne Korbmacher. Die Lehrerin hat 1991 in München den Verein "Ghettokids" gegründet. Auch Ibrahim Ismail kennt die Arbeit mit Jugendlichen gut, insbesondere mit Intensivtätern. Im Interview erklärt er, was kriminellen Jugendlichen beim Ausstieg hilft. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 19 Jugendkriminalität - Zahlen und Fakten Von Wolfgang Heinz 18.10.2016 Prof. Dr. Wolfgang Heinz war von 1981 bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Konstanz. Seine Forschungsschwerpunkte hat er im Bereich der Kriminologie, der Rechtstatsachenforschung, des Jugendstraf- und Wirtschaftsstrafrecht. In zahlreichen empirischen Untersuchungen hat er sich mit Fragen der Jugendkriminalität, der Kriminalstatistik und der strafrechtlichen Sanktions- und Wirkungsforschung beschäftigt. U.a. hat Heinz das Konstanzer Inventar zur Kriminalitätsentwicklung sowie das Konstanzer Inventar zur Sanktionsforschung aufgebaut. Jugendliche Kriminelle scheinen brutaler geworden zu sein. Kommt es zu gewalttätigen Übergriffen, wird meist rasch die Forderung nach einem härteren Durchgreifen gegenüber den Tätern laut – in den Medien, der Politik, der Öffentlichkeit. Der Kriminologe und Rechtswissenschaftler Wolfgang Heinz skizziert die Jugendkriminalität in Deutschland. Diese sei insgesamt nicht brutaler geworden und auch die Zahlen der Delikte seien rückläufig. Über kriminelle Jugendliche wurde und wird zu allen Zeiten geklagt. Die wohl schönste poetische Ausdrucksform dieser Klage hat vor 400 Jahren Shakespeare gefunden: "Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit: Denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen."[1] Weniger poetisch, aber weitaus wirkmächtiger sind die Schlagzeilen heutiger Medien, etwa der Titel "Junge Männer: Die gefährlichste Spezies der Welt."[2] Solche und ähnliche Berichte bestimmen weitgehend unser "Wissen" über Jugendkriminalität, unsere "Kriminalitätsfurcht" und unsere kriminalpolitischen Einstellungen. Jugendkriminalität und "gefühlte" Jugendkriminalität Diese "gefühlte" Kriminalität stimmt mit der Realität nur begrenzt überein. Befragungsdaten über selbstberichtete Delinquenz, also freiwillige Angaben zur persönlichen Straffälligkeit, zeigen zunächst, dass Jugendkriminalität ubiquitär ist, das heißt im "statistischen Sinne" (wie zum Beispiel Karies) "normal". "Anormal" ist es, dabei erwischt oder deshalb bestraft zu werden. In Schülerbefragungen gaben – in Abhängigkeit vom erfragten Deliktsbereich – teilweise bis zu 70 Prozent an beziehungsweise zu, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eines der dort erfragten Delikte verübt zu haben. In der jüngsten Studie, die 2007/2008 bei einer deutschlandweit repräsentativen Schülerstichprobe in Jahrgangsstufe 9 durchgeführt wurde, war dies bei 43,7 Prozent der männlichen und 23,6 Prozent der weiblichen Befragten der Fall (siehe Schaubild 1). Diese selbstberichtete Delinquenz bietet Einblick in das sogenannte Dunkelfeld, nämlich hinsichtlich jener Delikte, die der Polizei nicht bekannt werden. Nimmt man auch Schwarzfahren, ein typisches Jugenddelikt, in die Befragung auf, liegen die Zahlen noch darüber: In einer im Jahr 2000 in fünf deutschen Städten beziehungsweise Landkreisen durchgeführten Befragung hatten insgesamt 71,4 Prozent der männlichen und 67,6 Prozent der weiblichen Jugendlichen angegeben, mindestens ein Delikt begangen zu haben; 53,2 Prozent der männlichen und 38,5 Prozent der weiblichen Jugendlichen hatten hierbei auch Schwarzfahren zugegeben. Jugendkriminalität ist danach kein Minderheitenphänomen. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 20 Schaubild 1: Dunkelfeldkriminalität - Selbstberichtete Delinquenz von Jugendlichen Lizenz: cc by-nd/3.0/de (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/01_bpb_dunkelfeldkriminalit%C3%A4t.pdf) Schaubild 1 zeigt, dass schwere Formen der Kriminalität selten sind. Jugendkriminalität bewegt sich innerhalb eines Kontinuums, an dessen einem Ende die große Mehrzahl der Jugendlichen mit jugendtypischen, wenigen und leichten Delikten steht, und an dessen anderem Ende sich relativ wenige Jugendliche mit vielen und/oder schweren Delikten befinden. Aus Schaubild 1 lässt sich auch ablesen, dass zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen bei einem Delikt wie Ladendiebstahl die Unterschiede in der Begehungshäufigkeit gering sind. Mit der Schwere des Delikts werden aber die Unterschiede größer. Jugendkriminalität ist überwiegend Jungenkriminalität. Diese ist höher und in der Regel schwerer als diejenige der jeweiligen Altersgenossinnen. Kriminalstatistiken zeigen, dass junge Menschen in jeder Gesellschaft und zu allen Zeiten (insgesamt gesehen) sehr viel häufiger kriminell werden als Erwachsene (siehe Schaubild 2).[3] Jugendzeit ist die Zeit höchster Aktivität und des Erkundens von Grenzen. Allerdings unterscheiden sich die Zahlen je nach Art des Delikts: So werden der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) in Deutschland zufolge Körperverletzungsdelikte vor allem von 18- bis unter 21-Jährigen verübt, während bei der Wirtschaftskriminalität die Gruppe der 50- bis unter 60-Jährigen die höchsten Raten aufweist. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 21 Schaubild 2: Kriminalität im Altersverlauf Lizenz: cc by-nd/3.0/de (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/02_Kriminalit%C3%A4t_im_Altersverlauf.pdf) Die Höherbelastung junger Menschen mit registrierter Kriminalität setzt sich, wie Schaubild 2 zeigt, nicht weit in das Vollerwachsenenalter hinein fort. Dies zeigen alle nationalen wie internationalen Statistiken. Ein gegen Strafnormen verstoßendes Verhalten bleibt für die weit überwiegende Zahl der jungen Menschen eine Episode im Rahmen ihres Reifungs- und Anpassungsprozesses. Diese Episode wird zumeist ohne Intervention durch Polizei und Justiz beendet. Bei den von jungen Menschen typischerweise verübten Delikten handelt es sich mehrheitlich um leichtere Delikte, vor allem aus dem Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte. Das Deliktspektrum der Erwachsenen ist demgegenüber wesentlich breiter und schwerer als das junger Menschen. Erwachsene – und nicht Jugendliche – sind die typischen Täter des Drogen-, Waffen- und Menschenhandels und weiterer Spielarten der Organisierten Kriminalität, der Gewalt in der Familie, der Korruption, der Wirtschafts- und Umweltkriminalität. Derartige Erwachsenendelikte sind allerdings schwerer zu entdecken und schwerer nachzuweisen. Insofern ergibt sich eine statistische Überrepräsentation junger Menschen auch als Folge der Unterrepräsentation von Erwachsenen. Jugendliche sind übrigens häufiger Opfer von Gewalt, insbesondere von innerfamiliärer Gewalt, als Täter von Gewalt. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 22 Entwicklung von Jugendkriminalität im Hellfeld – registrierte Kriminalität Auslöser der kriminalpolitischen Diskussion über Jugendkriminalität war und ist vor allem die deutliche Zunahme der Zahl der polizeilich registrierten tatverdächtigen jungen Menschen seit den 1990er- Jahren. Es handelt sich dabei um Straftaten, die der Polizei bekannt geworden sind, zumeist durch Anzeigen, und zu denen auch ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Dieses Hellfeld der ermittelten Tatverdächtigen ist ein Ausschnitt aus einem "doppelten" Dunkelfeld – dem der nicht angezeigten Fälle und dem der nicht ermittelten Tatverdächtigen. Die Aufklärungsrate, also der Anteil der Fälle, zu denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, ist deliktspezifisch unterschiedlich. Im Schnitt werden derzeit 55 Prozent der Fälle aufgeklärt. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird lediglich dieser Ausschnitt abgebildet, also das Hellfeld der bekannt gewordenen Fälle und der ermittelten Tatverdächtigen. Den Daten der PKS zufolge ist die registrierte Kriminalität der (deutschen) Jugendlichen (14 bis unter 18 Jahre), der Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) und der Jungerwachsenen (21 bis unter 25 Jahre) nicht nur wesentlich höher als die der Erwachsenen, sondern bis Mitte der 2000er-Jahre auch stärker angestiegen (siehe Schaubild 3). Diese Anstiege registrierter Kriminalität sind seit einigen Jahren durch Rückgänge abgelöst worden. Es wird angenommen, dass die in den vergangenen Jahren verstärkten Präventionsbemühungen Wirkung zeigen. Angesichts der Vielzahl von Bedingungsfaktoren für registrierte Jugendkriminalität gibt es weder eine vollständige Erklärung für den Anstieg der Jugendkriminalität ab 1990 noch für die aktuellen Rückgänge. Gestützt auf die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung (vgl. weiter unten, Abschnitt "Entwicklung von Jugendkriminalität im Dunkelfeld"), kann begründet angenommen werden, dass jedenfalls ein nicht unerheblicher Teil des Anstiegs in den vergangenen beiden Jahrzehnten darauf beruht, dass vermehrt angezeigt und infolgedessen auch polizeilich registriert wurde. Ein kleiner Teil dürfte Folge einer gestiegenen Aufklärungsquote sein. Auch hinsichtlich der Rückgänge dürften verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: Schulprojekte zur Gewaltvermeidung, weniger elterliche Gewaltausübung, vermehrte Ächtung von Gewalt und ein Rückgang der Gewaltbereitschaft insgesamt. bpb.de
Dossier: Gangsterläufer (Erstellt am 31.08.2021) 23 Schaubild 3: Deutsche Tatverdächtige Lizenz: cc by-nd/3.0/de (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/03_bpb_tatverd%C3%A4chtige_0.pdf) Dieser Rückgang polizeilich registrierter Kriminalität zeigt sich auch bei Gewaltdelikten im Sinne der PKS.[4] "Gewaltdelikte" sind eine heterogene Sammelgruppe, in der für die PKS Straftaten beziehungsweise -gruppen unterschiedlichster Schwere zusammengefasst werden sind. Die Bandbreite reicht von vollendetem Mord bis zur "gefährlichen Körperverletzung" (§ 224 Strafgesetzbuch). Die schwersten Fälle, also Tötungsdelikte sowie Vergewaltigungen, machten 5 Prozent aller Gewaltdelikte aus. Die Entwicklung der Zahl der Fälle wird vor allem von der Gruppe "gefährliche Körperverletzung" bestimmt, auf die 2015 70 Prozent aller Gewaltdelikte entfielen. Mit diesem Straftatbestand wird freilich ein breites Handlungsspektrum abgedeckt, das von der folgenlosen gemeinschaftlichen Schlägerei auf dem Schulhof bis zu ernsthaften Verletzungsfolgen reicht. Diese Fallstruktur spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der wegen dieser Delikte registrierten jungen Tatverdächtigen wider. Schaubild 4 zeigt, dass mehr als drei Viertel der wegen Gewaltkriminalität registrierten jungen Menschen wegen gefährlicher/schwerer Körperverletzung ermittelt worden sind. Die Rückgänge der Tatverdächtigenbelastungszahlen – also unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung – erfolgten bei Raub/räuberischer Erpressung schon in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, bei gefährlicher/schwerer Körperverletzung ab 2008. bpb.de
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