Militärgeschichte 9/11 - Der Tag, an dem die Welt stillstand - Bundeswehr
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung Heft 2/2021 Niemand hat die Absicht ... Nordeuropa in Flammen Francos Terror Berlinkrise und Mauerbau Der Große Nordische Krieg Der Spanische Bürgerkrieg 9/11 Der Tag, an dem die Welt stillstand
Militärgeschichte | 2/2021 Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Terroranschläge am 11. September 2001 waren ein singuläres Ereignis mit weitreichenden Folgen – in Wirkung und Bedeutung vergleichbar mit dem Angriff auf Pearl Harbor 1941. Der »War on Terror« wurde zum dominanten Paradigma der US-Außenpolitik, das erst heute langsam einer neuen Groß- mächtekonkurrenz weicht. Jeder weiß noch, wo er an diesem Tag war. Das Zusammengehörigkeitsgefühl in den USA erstarkte, Enyas emotionales »Only Time« verband die Welt und es folgte eine Welle internationaler Solidarität. Symbolisch dafür steht die Pas- sage des deutschen Zerstörers »Lütjens« an der USS »Winston Churchill« mit dem emotionalen Banner: »We stand by you«. Der UN-Sicherheitsrat stufte den Anschlag als Bedrohung des Weltfriedens ein und zum ersten und bisher einzigen Mal wurde der Bündnisfall der NATO nach Artikel 5 ausgerufen. Die Empfehlungen der »9/11 Commission« hatten Auswirkungen auf die US- Sicherheits-, Innen- und Rechtspolitik. Im allgegenwärtigen Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit wurden mit dem USA PATRIOT Act bereits im Oktober 2001 Sicherheitsmaßnahmen ver- schärft. FBI und CIA erhielten mehr Rechte zur Terrorprävention. Markantes- te strukturelle Änderung war die Aufstellung des Department of Homeland Security, der mittlerweile drittgrößten Bundesbehörde. Im Zuge des Kampfes gegen den Terror wuchs die Bedeutung des Pentagons in der Außenpolitik. Bereits am 7. Oktober 2001 begann die Operation »Endu- ring Freedom«, phasenweise mit Beteiligung der Bundeswehr. In den nächs- ten 20 Jahren änderten sich die Einsatzformen in Afghanistan von klassischen Luftkriegsoperationen mit Luftunterstützung für die Nordallianz am Boden, über Stabilisierungsoperationen in der folgenden eher ruhigeren Phase und schließlich zum Kampf gegen asymmetrische Kräfte. Dies erforderte im Ver- gleich zu den beiden klassisch konventionellen Golfkriegen eine Anpassung der Operationsformen von Großverbänden hin zu Spezialkräften. Die US-Re gierung hat inzwischen einen Zeitplan zur Beendigung des »forever wars« vorgelegt. Damit einher geht eine Schwerpunktverlagerung vom Pentagon zum zivilen Apparat des Department of State: die Rückkehr der Diplomatie. Zwei Dekaden Krieg gegen den Terror haben die USA Ressourcen gekostet. Die geostrategische Weltordnung der unipolaren Vormachtstellung der Ver- einigten Staaten wandelte sich nach 9/11. Die Anschläge verursachten einen Paradigmenwechsel mit Folgen für die innere und äußere Sicherheit der USA, die bis heute nachwirken. In Anbetracht des 20. Jahrestages von 9/11 widmet sich daher die vorliegende Ausgabe der Militärgeschichte in einem Schwerpunkt diesem einschneiden- den Ereignis. Ich wünsche Ihnen eine gewinnbringende und zugleich nach- denklich stimmende Lektüre des vorliegenden Heftes. Brigadegeneral Frank Gräfe Verteidigungsattaché in Washington 3
inhalt Militärgeschichte | Zeitschrift für historische Bildung picture-alliance/dpa|epa afp Rudisill Heritage Images/Fine Art Images/akg-images 6 Bis ins Mark getroffen: Das zerstörte Pentagon nach dem 11. September 2001. 30 Feldherr und Terrorist? Franco im Spanischen Bürgerkrieg, 1936‑1939. Deutsche Teilung: Das Brandenburger Tor hinter Stacheldraht zwei 16 Heritage Images/Fine Art Images/akg-images Tage nach Beginn des ap/dpa/SZ Photo Mauerbaus, 1961. 24 22 bpk Geschlagen: Im Großen Nordischen Krieg verlor Schweden seine Vorherr- Demonstration gegen den Panzerschiffbau, 1928. schaft im Ostseeraum, Poltawa 1709. 4
Militärgeschichte | 2/2021 picture alliance/newscom|John Angelillo »Tribute in Light«: Zum Jahrestag der Anschläge von 9/11 strahlen alljährlich zwei Lichtkegel in den Himmel, die als visuelle Installation an die vormaligen Twin Towers erinnern und zugleich als Zeichen der Hoffnung dienen, 2016. 14 Mehr dazu lesen Sie auf Seite 15. Inhalt 2/2021 6 MILITÄRGESCHICHTE INTERNATIONAL 24 FRÜHE NEUZEIT Anschlag auf das Herz des US-Militärs Nordeuropa in Flammen Der 11. September 2001 am Pentagon Der Große Nordische Krieg 1700‑1721 14 Im Blickpunkt 28 Geschichte kompakt 11. September 2001 Viermächteabkommen | 1971 Global War on Terror, Verschwörungstheorien, Otto Lilienthals Erstflug | 1891 Opferzahlen, NATO-Bündnisfall, 9/11 Memorial RAF-Anschlag auf Ramstein | 1981 Boxerprotokoll | 1901 16 DEUTSCH-DEUTSCHE MILITÄRGESCHICHTE 30 Spanischer Bürgerkrieg »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten« Berlinkrise und Mauerbau 1961 Psychologische Kriegführung, Terror und Vernichtung 22 Militärgeschichte im Bild Franco als Feldherr im Spanischen Bürgerkrieg 1936‑1939 Kinderspeisung statt Panzerkreuzer 34 Service Die Panzerschiffdebatte 1928 Bücher | Medien Ausstellungen | Der besondere Tipp Impressum 5
Militärgeschichte International Anschlag auf das Herz des US-Militärs Der 11. September 2001 am Pentagon Wer an 9/11 denkt, hat zumeist das Bild des brennenden oder kollabierenden World Trade Centers vor Augen. Doch auch das Pentagon wurde an diesem Tag das Ziel eines Anschlages mit einem Flugzeug. Der US-amerikanische Historiker Sarandis Papadopoulos betrachtet detailliert das Anschlagsgeschehen und seine Folgen am und im Pentagon. Schließlich zieht der Autor am Ende ein Fazit in Form von Lehren, die das US-Militär aus der Analyse der Ereignisse gewann. Von Sarandis Papadopoulos 6
Militärgeschichte | 2/2021 D er Anschlag auf das Pentagon am erfolgende Betrachtung der Vorfälle zu- übernahmen die Kontrolle über die 11. September 2001 (»9/11«) for- gleich weiterreichende, eher operativ- Flugzeuge. Die mit reichlich Treibstoff derte die zweithöchste Zahl an taktische Fragen auf. Die Geschichte des für einen Langstreckenflug vollgetank- Menschenleben, die je auf US-amerika- Angriffs und die folgende Reaktion bie- ten Maschinen verwandelten sie in ext- nischem Boden einem terroristischen ten sowohl Wissenschaftlerinnen und rem zerstörerische und todbringende Akt zum Opfer gefallen sind. In Arling- Wissenschaftlern als auch Militärs aus- Marschflugkörper – mit den gekidnapp- ton (Virginia) töteten die Terroristen reichend Stoff zum Nachdenken. Der ten Passagieren darin. Die vier Maschi- 184 Menschen, 108 weitere Personen vorliegende Artikel soll den Blick im nen hoben nacheinander innerhalb von mussten in Krankenhäusern behandelt Besonderen auf die umfassenden und 43 Minuten ab, wobei die letzte weniger werden. Diese Opferzahl wurde nur von in erster Linie improvisierten Maßnah- als 20 Kilometer vom WTC entfernt star- dem parallel in New York City stattfin- men richten, die von Soldatinnen und tete. Nur vier Minuten später traf das denden Anschlag mit zwei Flugzeu- Soldaten wie Zivilistinnen und Zivi- erste Flugzeug den Nordturm des WTC. gen auf das World Trade Center (WTC) listen ergriffen wurden, als sie mit den Die tödlichen Anschläge von 9/11 dauer- übertroffen. Dort kamen 2753 Men- sich schnell ändernden Ereignissen des ten weniger als zwei Stunden. Ange- schen ums Leben. Diese hohen Opfer- Tages zu kämpfen hatten. sichts dieser kurzen Zeitspanne lässt sich zahlen allein bieten genügend Anlass, Was genau geschah vor 20 Jahren am der 11. September, in der Terminologie die Ereignisse zu untersuchen, um ein 11. September 2001? Vier amerikanische des US-amerikanischen Historikers besseres Bild vom Schicksal einzelner Linienflugzeuge wurden nach ihren Philip K. Lundeberg, am besten als »ter- Beteiligter zu gewinnen, oder um mit Starts von Boston (Massachusetts), Ne- minal event« beschreiben, das durch ei- den Worten des britischen Militärhis- wark (New Jersey) und Dulles (Virginia) nen festen Beginn und ein festes Ende torikers John Keegan zu sprechen: der in der Nähe von Washington, D.C. ent- gekennzeichnet ist. »Schlacht ein Gesicht« zu geben. Da- führt. Neunzehn Geiselnehmer nutzten Kurz nach 9:37 Uhr flog American- neben wirft eine zwei Jahrzehnte später das Überraschungsmoment und Airlines-Flug 77 in das größte Büroge- bäude der Welt: das Pentagon. Genau gegenüber der Bundeshauptstadt Wa- shington auf der anderen Seite des Flus- ses Potomac beendete der Absturz einen eineinviertelstündigen Flug, der am Dulles International Airport bei Wa- shington begonnen hatte. Die Zerstö- rung, die der Aufschlag der 100 Tonnen schweren Boeing bei 460 Knoten bezie- hungsweise 235 Metern pro Sekunde mit sich brachte, war verheerend. Die Innenfläche des Pentagon beträgt insge- samt 610 000 Quadratmeter. Der Auf- schlag zerstörte sofort etwa vier Prozent dieser Fläche und tötete 125 Personen im Pentagon sowie 59 unschuldige Passa- giere an Bord des Flugzeugs. Die circa 18 Tonnen Kerosin an Bord verursachten zusätzlich einen sich schnell ausbreiten- den Brand. Dieser gefährdete die etwa 20 000 sich zu dieser Zeit im Gebäude befindenden Menschen sowie die zahl- reichen Einsatzkräfte, die innerhalb der nächsten 32 Stunden vor Ort eintrafen. Wucht des Anschlags: Ein Zufall rettete viele Leben: Die Büros picture alliance/AP|Will Morris Flammen und Rauch von 4000 Mitarbeitern in der Aufschlag- schlagen aus dem zone waren bereits für begonnene Reno- brennenden Pentagon, vierungsarbeiten im Pentagon geräumt nachdem es von einem worden. von Terroristen entführten So hilfreich diese Zusammenfassung Linienflugzeug getroffen der Ereignisse auch sein mag, sie kann wurde. Dienstag, nicht die Ungewissheit, das Durchein- 11. September 2001. 7
MILITÄRGESCHICHTE INTERNATIONAL Flug 175 Der 11. September 2001 2 A t l a n t i k Chronologie der Anschläge 7.58 Uhr Boston Albany Flug 93 United Airlines Flug 175 Boeing 767 World Trade Center, 8.42 Uhr startet in Boston 1 New York Ziel: Los Angeles United Airlines Flug 93 9.03 Uhr Flug 11 2 Boeing 757 startet in Newark Maschine Nordturm O n t a r i o Ziel: San Francisco trifft den Südturm 7.45 Uhr (1 WTC) S e e (2 WTC) 3 10.03 Uhr American Airlines Flug 11 Boeing 767 Maschine stürzt startet in Boston Cleveland bei Pittsburgh ab Ziel: Los Angeles New York 8.46 Uhr Flugzeug 1 rast in den Nordturm 3 Pittsburgh Philadelphia (1 WTC) Südturm (2 WTC) Baltimore Washington, Potoma c River D.C. 4 Flug 77 Eingang Potomac River 8.10 Uhr 7 6 Ground 5 Zero American Airlines Flug 77 1 Boeing 757 3 startet in Washington 2 4 Ziel: Los Angeles Zerstörte Gebäude 8 treet 4 9.43 Uhr 1 WTC Turm 1 ay 2 WTC Turm 2 tS dw Boeing schlägt 3 Marriott Hotel Wes oa ins Pentagon ein 4 WTC 4 Br 5 WTC 5 M a n h a t t a n 6 WTC 6 Westseite 7 WTC 7 Südeingang 8 One Liberty Plaza Pentagon, Washington, D.C. Freiheits- 500 m Grafik 8453 bearbeitet durch die ZMG-Redaktion statue ander, den Schock und die Gefahr wie suchte sie in den sich mit Rauch füllen besprühte. Minuten später fand ihn eine dergeben, die an diesem Tag bei jedem den Gängen. Als McKeown die schnell Gruppe von sieben Offizieren und Einzelnen vorherrschten. Für Lieute zunehmende Hitze nicht mehr aushielt, brachte Birdwell in Sicherheit. Einer von nant Nancy McKeown, Leiterin des Me floh sie in den Hauptkorridor. Sie hat die ihnen, Lieutenant Colonel Bill McKin teorologiedezernats der Führungszent zwei Unteroffiziere nie wiedergesehen. non, erkannte den schwer verletzten rale der Marine, das 25 Meter im Inneren Der Zufall rettete weitere Leben. Lieu Birdwell zunächst nicht, obwohl dieser des Pentagons lag, etwa änderte sich der tenant Colonel der US Army Brian Bird sein Lehrgangskamerad an der General Vormittag schlagartig. Zusammen mit well hatte kurz nach 9:30 Uhr seinen stabsakademie der US Army gewesen den beiden Aerographer’s Mates Edward Schreibtisch verlassen. Wäre der Feld war. Earhart und Matthew Flocco verfolgte artillerist in seinem Büro des Standort Die Offiziere, die Birdwell und viele sie die Fernsehübertragung über den service geblieben, wäre er dort wahr weitere retteten, ergriffen in diesen ers Flug der zweiten Maschine in den Süd scheinlich zusammen mit zwei zivilen ten kritischen Minuten Eigeninitiative turm des World Trade Centers. McKe Kollegen ums Leben gekommen. Bird und improvisierten, um Leben zu ret own kehrte daraufhin an ihren Schreib wells Glück währte jedoch nur kurz. Als ten. Ungewiss, was sie erwartete, rann tisch zurück. Kurz danach vernahm sie er den Korridor entlanglief, erfasste ihn ten die Leute vor Ort in brennende ein schnell lauter werdendes durchdrin ein Feuerball. Mit Kerosingeschmack im Räume voller Hindernisse, um einge gendes Geräusch, das von einem starken Mund und schweren Verbrennungen sperrten Büroarbeitern – egal, ob in Uni Windstoß, der durch die Akustikfliesen stürzte er zu Boden. Der zutiefst religiöse form oder zivil – zu helfen, sich in Si der Decke wehte, begleitet wurde. Sie Offizier befürchtete bereits zu sterben, cherheit zu bringen. Abgesehen von schrie »Bombe!« und ging unter dem ohne sich von seiner Frau und seinem Feuerlöschern, Taschenlampen und im Tisch in Deckung. In der darauffolgen Sohn verabschieden zu können. Dann provisierten Gesichtsmasken, die sie zur den Stille stand sie wieder auf, rief nach spürte er, wie die Sprinkleranlage des Abwehr des dichten Rauches aus mit ihren Kollegen Earhart und Flocco und Gebäudes ansprang und ihn mit Wasser Wasser befeuchteten T-Shirts hergestellt 8
Militärgeschichte | 2/2021 hatten, verfügten sie weder über medizi- Gemeinden sowie Krankenwagen und Pentagon aus und gaben den Ret- nische Ausrüstung noch über Rettungs- Polizeikräfte vor dem Gebäude aufge- tungsteams Anweisungen über Funk. mittel, um Verletzte zu transportieren fahren und Feuerwehrleute bekämpf- Der Kampf gegen die Feuersbrunst in oder sich selbst ausreichend zu schüt- ten den Brand. Eine kleinere Gruppe dem riesigen Gebäude erforderte eine zen. Einige Mitarbeiter verließen ihre von Rettungsfahrzeugen fuhr in den straffe Führung. Ein großer Teil des Ein- Büros nicht sofort nach dem Feueralarm, 2,2 Hektar großen Innenhof des Penta- satzes musste ohne direkte Sicht auf den sondern blieben vor Ort, um denjeni- gons, um mit ihren Mannschaften den Brand organisiert werden; stattdessen gen, die versuchten herauszukommen, Brand von innen nach außen zu be- verließ man sich auf Zeichnungen, die durch Rufen sichere Wege aufzuzeigen. kämpfen. Gemäß der US-Notfallrichtli- für das Renovierungsprojekt angefertigt Auf diese Weise halfen sie dutzende Le- nie führte in dieser Phase des Rettungs- worden waren, um die Vorgänge im Ge- ben zu retten, einschließlich das von einsatzes ein Führer am Einsatzort bäudeinneren zu verstehen. Bei der vom Susan Livingstone, Staatssekretärin im (Incident Commander) alle Rettungs- Treibstoff genährten Feuerwalze, die bis US-Marineministerium, die zusammen kräfte. Obwohl dies für die meisten Ret- zu 1000 Grad Celsius heiß war und auf mit 40 weiteren Personen aus einem tungskräfte der größte Brand war, den fünf Etagen in den drei äußeren Ringen Teil des Außenrings des Pentagons ent- sie je bekämpft hatten, funktionierte des Pentagons wütete, mussten 30 ver- kommen konnte, 15 Minuten bevor die- das planvolle Vorgehen einschließlich schiedene Löschangriffe sorgfältig aufei- ser einstürzte. Befehlskette und Meldewesen glückli- nander abgestimmt werden. Dies war Besser ausgerüstete und koordiniert cherweise wie erwartet. keine leichte Aufgabe. Gruppen von geführte Rettungskräfte trafen schon Innerhalb von 15 Minuten nach dem Feuerwehrleuten verbanden Schläuche, binnen fünf Minuten am Pentagon ein. Absturz war James Schwartz als stellver- die sie per Hand ins Gebäude geschleppt Die schiere Größe des Gebäudes tretender Brandmeister des Arlington hatten, bis auf über 120 Meter Länge bremste jedoch ihren Einsatz. Gegen County (Assistant Fire Chief) der Führer miteinander, um vom Absturz verschont 10:10 Uhr waren bereits einige Dutzend am Einsatzort. Er und sein Team verfolg- gebliebene unbeschädigte Wasserlei- Feuerwehrfahrzeuge der umliegenden ten den Einsatz vom Südparkplatz des tungen zu erreichen. REUTERS/Hyungwon Kang Kampf gegen das Chaos: Löscharbeiten am kollabierten Gebäudeteil zeigen die Dimension des Schadens und das noch wütende Feuer am 11. September 2001. 9
Militärgeschichte International picture-alliance/DoD|Mark D. Faram Erste Hilfe: Rettungskräfte versorgen Verwundete vor dem Pentagon, gegen 10 Uhr, 11. September 2001. Gegen 10:15 Uhr erfuhr Schwartz von zweite Flugzeug mittlerweile im ländli- die es den Terroristen ermöglicht hatte, Arthur Eberhart, einem Sonderermitt- chen Pennsylvania zum Absturz ge- gleichzeitig vier Flugzeuge von drei ler des FBI, von einem zweiten unbe- bracht worden war. Passagiere hatten an verschiedenen Flughäfen zu entführen, kannten Flugzeug (United-Airlines- Bord vergeblich versucht, das Flugzeug machte fast jedes in der Luft befind- Flug 93). Es flog wohl in Richtung wieder unter Kontrolle zu bringen. liche Flugzeug zu einer potenziellen Washington, D.C. und sollte binnen Schwartz’ Handeln war zweifellos wohl- Angriffswaffe. Infolgedessen mussten zehn Minuten eintreffen. Im Wissen überlegt und kostete wahrscheinlich das Flugverkehrskontrollsystem der um den Doppelanschlag auf das WTC in keine Leben. Dennoch war es eine US-Bundesluftfahrtbehörde (Federal New York musste der Einsatzführer vor schwierige Entscheidung, die zeitkri- Aviation Administration – FAA) und das Ort eine folgenschwere Entscheidung tisch getroffenen werden musste und Nordamerikanische Luftverteidigungs- treffen. Er hatte das Leben der mögli- auf unvollständigen Informationen be- kommando (NORAD), das zusammen cherweise im Pentagon eingeschlosse- ruhte. mit den kanadischen Verbündeten die nen Menschen gegen das Risiko abzu- kontinentale Luftverteidigung sicher- wägen, die Rettungskräfte im Gebäude Chaos im US-Luftraum stellt, bei den einzuleitenden Maßnah- zu lassen. Nach kurzer Überlegung traf men improvisieren. Schwartz seine taktische Entscheidung Bereits eine knappe Stunde zuvor wa- Die entstandene Verwirrung im Luft- und befahl den Feuerwehrleuten im äu- ren bereits auf operativer Ebene der raum war das Ergebnis geschickter Pla- ßeren Bereich, das Gebäude zu verlas- Luftraumkontrolle Entscheidungen nungen durch die Terroristen. Nach- sen, während die Kräfte, die sich zu tief gefallen, die zu dieser kritischen Füh- dem sie die Flugzeuge in ihre Gewalt im Gebäude befanden, um es rechtzei- rungsentscheidung am Pentagon ge- gebracht hatten, schalteten die Entfüh- tig verlassen zu können, sich in den In- führt hatten. Im gesamten Luftraum rer die Transponder, die die Kennung nenhof zurückziehen sollten. Alle der nordöstlichen USA, ja in ganz des jeweiligen Flugzeuges übermitteln, Mannschaften warteten 20 Minuten, Nordamerika, musste zu dieser Zeit im- bei drei Flugzeugen ab. Dadurch waren doch es tauchte kein weiteres Flugzeug provisiert werden. Die entscheidende diese deutlich schwerer zu orten. Ohne auf. Vor Ort wusste man nicht, dass das Lücke im Flughafensicherheitssystem, die übermittelten Daten mussten sich 10
Militärgeschichte | 2/2021 Zerstörung im Inneren: Das Federal Bu- reau of Investigation (FBI) veröffentlichte im März 2017 Fotos, welche die Zerstörungen und die Aufräumarbeiten im Inneren des Pentagon zeigen. Trotz der massiven Bauweise des Gebäudes richtete das brennende Kerosin des entführten Flugzeuges enormen Schaden an. picture alliance/Newscom|FBI die Fluglotsen allein auf die Radarechos (Northeast Air Defense Sector – NEADS) ner jeweils nur unvollständige Informa- verlassen, um zu bestimmen, wo sich von NORAD an. Dabei ergab sich folgen- tionen besaßen, ist für Soldatinnen und ein Flugzeug befand. Das war keine der Dialog: Soldaten wie Wissenschaftlerinnen und leichte Aufgabe. Mit dem Wissen, dass Wissenschaftler ein Lehrbeispiel hin- sich definitiv mehr als ein Flugzeug in sichtlich zeitkritischer Entscheidungs- fremder Gewalt befand, und in An FAA: Hallo. Flugleitstelle Boston Center, findungsprozesse in Notlagen. betracht der Möglichkeit, dass noch wir haben hier ein Problem. Wir haben Der zeitliche Ablauf offenbart, wie sich ein entführtes Flugzeug, das in Rich- weitere Flugzeuge entführt werden die Verwirrung am 11. September nie- tung New York unterwegs ist, wir brau- könnten oder sich außerhalb der Radar- derschlug. Die Fluglotsen wussten nicht, chen Euch, wir brauchen jemanden, der reichweite über dem Atlantik bezie- einige F-16 oder so etwas dort hoch- wo welches Flugzeug abgestürzt war, hungsweise Pazifik befanden, standen schickt, helft uns. und gingen um 9:23 Uhr davon aus, dass zivile und militärische Führer vor har- sich der American-Airlines-Flug 11 noch ten und schnell zu treffenden Entschei- NEADS: Ist das echt oder eine Übung? in der Luft befand, während er in Wirk- dungen. Eine Folge der unklaren Lage FAA: Nein, das ist keine Übung und kein lichkeit bereits 37 Minuten zuvor in New war, dass letztlich keines der entführten Test. York City zum Absturz gebracht worden Flugzeuge abgefangen wurde. war. Dennoch forderte die FAA den Start Ein Gespräch um 8:37 Uhr, neun Mi- von F-16-Jagdflugzeugen vom Luftwaf- nuten vor dem ersten Flugzeuganschlag Was der Anrufer der FAA nicht wusste: fenstützpunkt Langley bei Norfolk (Vir- in New York City, verdeutlicht das dif- In dieser Woche fand eine NORAD- ginia) zur Verteidigung von Baltimore. fuse Lagebild. Nachdem festgestellt Übung mit der Bezeichnung »Vigilant NORAD erteilte den Einsatzbefehl und worden war, dass mit einem Flugzeug Guardian« (Aufmerksamer Wächter) binnen sieben Minuten starteten drei (American-Airlines-Flug 11, das als ers- statt. Der Fragesteller von NEADS Maschinen. Sechs weitere Minuten flo- tes abstürzte) etwas nicht in Ordnung wusste bis zu dem Anruf von der Übung, gen sie bis 9:36 Uhr ostwärts über den war, rief die FAA-Flugverkehrsleitstelle aber nichts von den Entführungen. Die Atlantik. Erst dann meldete FAA an beim Luftverteidigungssektor Nordost Erkenntnis, dass beide Gesprächspart- NORAD, dass ein »Flugzeug VFR« (Vi- 11
Militärgeschichte International sual Flight Rules – nach Sichtflugregeln) ebenfalls von den Feuerwehrkräften ge- der Opfer Beistand zu leisten. Nach eini- 10 Kilometer vom Weißen Haus entfernt leitet wurde. Am 21. September wurde gen kurzen Telefonaten fand Falk ein sei (gemeint war Flug 77). Das NEADS- FBI-Sonderermittler Eberhart die Rolle nahegelegenes Hotel, in dem ein solches Personal machte daraufhin die Route des Einsatzführers vor Ort übertragen, Zentrum eingerichtet werden konnte. nach Washington für die Abfangjäger da das Gebäude zugleich ein Tatort war. Sie nahm Verbindung zu sechs frei und wies die Piloten an, ihr Ziel Sein Einsatz dauerte fünf weitere Tage. Traumaberatern auf, die bereits den Fa- schnellstmöglich zu erreichen, mit den Sowohl bei der Bergung als auch bei der milien der Besatzung der »USS Cole« Worten: »Es ist mir egal, wie viele Fens- Untersuchung wurde größter Wert auf geholfen hatten. Am 12. Oktober 2000 ter dabei zu Bruch gehen.« eine umsichtige und umfassende war das Schiff Ziel eines Anschlags in Warum waren die Abfangjäger so weit Durchführung der Arbeiten gelegt. Au- Aden geworden, bei dem 17 Navy-Ange- entfernt? Die Entscheidungen wurden ßerordentliche Sorgfalt wurde ange- hörige ums Leben kamen. Außerdem unter großem Zeitdruck getroffen, was wandt, um die Toten zu identifizieren, machte Falk eine Gruppe von Militär- zu Fehlern führte. Die Kampfflieger flo- sie aus dem Pentagon zu bergen und seelsorgern ausfindig, die sich in Wa- gen aus drei Gründen zunächst ostwärts: nach Beweismaterial zu suchen. Die shington, D.C. zu einer Besprechung 1. ein falsch angegebenes Ziel (der ver- schwierige Aufgabe erschwerten lokale aufhielten und den Trauernden ebenfalls mutete Flug 11), 2. ein Standardflugplan, Schwelbrände und Umweltgefahren beistehen konnten. der eingereicht wurde, um die Maschi- (Asbest, Bleifarbe, giftige Gase bis hin zu Bereits am darauffolgenden Morgen nen aus dem kontrollierten Luftraum Schimmelpilz) in den ausgebrannten öffnete das Familienbetreuungszentrum von Norfolk herauszubekommen, und Büros. des Pentagon (Pentagon Family Assis- 3. ein Fehler sowohl von der FAA als tance Center – PFAC), das von Lieute- auch dem Führer der F-16-Rotte, der Aufklärung und Hinterbliebenen- nant General John van Alstyne (US dazu führte, dass das Trio »090 für 60« versorgung Army) geleitet wurde. In den nächsten flog (Richtung Ost für 60 Seemeilen). vier Wochen beherbergte und verpflegte Daher befanden sich die Jagdflugzeuge Zivile Feuerwehrleute durften zudem es die Überlebenden, von denen viele mehr als 250 Kilometer von Washing- einzelne Gegenstände und Materialien außerhalb der Hauptstadt wohnten. Au- ton, D.C. entfernt, als sie den Befehl er- nicht entfernen, da sich im Pentagon ßerdem bot es finanziellen und juristi- hielten und gerade noch etwas mehr als zahlreiche der Geheimhaltung unter- schen Rat sowie psychologische Bera- eine Minute Zeit zum Abfangen hatten. liegende Dokumente befanden. An- tung an. Lieutenant General van Alstyne Gleichzeitig hatte die FAA um 9:25 Uhr gesichts der sicherheitsempfindlichen sprach zweimal täglich persönlich mit einen Stopp für alle Flugzeugstarts in Tätigkeiten wurden 60 Soldaten vom den Familien, erlebte dabei zahlreiche den gesamten Vereinigten Staaten ange- 3. Infanterieregiment der US-Army in bewegende Momente und wurde häufig ordnet (Ground stop). 12-Stunden-Schichten in die Arbeit ein- mit sehr emotionalen Fragen konfron- Um 9:42 Uhr wurde der Befehl erneut gebunden. Normalerweise waren der tiert. Nichts hatte ihn, einen Infanterie- geändert und alle etwa 4500 über den protokollarische Dienst und Trauerfei- offizier, auf diese Rolle, die er nun zu er- USA befindlichen Linienflugzeuge wur- ern auf dem Nationalen Friedhof von füllen hatte, vorbereitet. Allerdings den angewiesen zu landen. So ein Befehl Arlington ihre Aufgaben. Einige dieser handelte er im Bewusstsein, dass das war noch nie zuvor erteilt worden. In jungen Soldaten bemerkten, dass sie PFAC mit den bestmöglichen Fachleu- ganz Nordamerika beeilten sich die die ausgebrannten Büros an das Film- ten besetzt war. Fluglotsen daraufhin, diese Flugzeuge set eines Katastrophenfilms erinnerten. Was können Militärexpertinnen und mit zehntausenden Passagieren an Bord Unter Aufsicht von FBI-Agenten sowie -experten gleich welcher Nationalität sicher auf den Boden zu bringen. Inmit- der Polizei des Pentagons, dem Defense von den Beispielen des Rettungseinsat- ten dieser teilweise chaotischen Impro- Protective Service, war es ihr Auftrag, zes im Pentagon im September 2001 visationen erreichten die F-16 trotz nach den Toten zu suchen und diese zu lernen? Ein Vorteil bei der Analyse be- 1050 km/h Fluggeschwindigkeit den bergen. Gleichzeitig stellten sie Beweis- steht darin, dass die Ereignisse nicht Luftraum über Washington zu spät. Sie material für juristische Ermittlungen lange zurückliegen und somit noch stark kreisten über der Stadt und wurden spä- sicher. im öffentlichen Bewusstsein verankert ter von lokal stationierten Jagdflugzeu- Die Fürsorge für die Hinterbliebenen sind. Viele von uns haben Erinnerungen gen abgelöst. Keiner der Piloten bekam der Toten und Familien der Verletzten an den 11. September 2001, die haupt- jedoch ein einziges entführtes Linien- war eine weitere Maßnahme, bei der im- sächlich auf den Bildern des World flugzeug zu Gesicht. provisiert werden musste. Bereits im Trade Centers in New York basieren, Am 12. September 2001 um 18:00 Uhr Laufe des Vormittags des 11. September weshalb uns dieser Teil der Anschläge folgte die Erklärung, dass das Inferno im 2001 erkannte die Direktorin des Büros stärker präsent ist. Die Angriffe vom 11. Pentagon unter Kontrolle sei. Nun än- für Familienpolitik im Verteidigungsmi- September waren aber auch ein globales derte sich der Auftrag von einem Ret- nisterium, Meg Falk, dass Räumlichkei- Ereignis, mit hunderten Opfern, die tungs- in einen Bergungseinsatz, der ten benötigt wurden, um Angehörigen keine US-Amerikaner waren, darunter 12
Militärgeschichte | 2/2021 IMAGO/ZUMA Wire Erinnerung und Gedenken: Das am 11. September 2008 eingeweihte »Pentagon Memorial« vor dem Pentagon in Virginia. Eine Bank reprä- sentiert jeweils eines der 184 Todesopfer. auch elf deutschen Staatsbürgern. Als schlagen gilt, besteht sicherlich in der kritische Entscheidungen trafen. Die Augenblick der Zeitgeschichte sind uns Verhinderung von Katastrophen. Diese Rettungskräfte des 11. September 2001 die Organisationen, Ausrüstungen und Erkenntnis erspart jedoch nicht, zu un- am Pentagon waren Menschen, viele Begriffe zudem vertraut, weshalb sich tersuchen, wie im Fall der Fälle zu re- Berufssoldatinnen und -soldaten, an- das Ereignis leichter analysieren lässt. agieren ist. Letztlich kann ein klares dere Zivilpersonen, genau wie die Be- Eine Untersuchung der Geschehnisse Verständnis vom Anschlag auf das Pen- teiligten in jedem Krieg. Deshalb wurde am 11. September 2001 im Pentagon hat tagon Aufschluss über die einge- dieses Ereignis zu einem Beispiel für darüber hinaus einen langfristigen Ef- schränkte Wahrnehmung der Menschen eine ressortübergreifende Herausfor- fekt. Dieser liegt in der Menge der histo- vor Ort geben, ihre jeweilige Motivation derung. Wenn aus 9/11 eine Lehre zu rischen Quellen begründet, die von die- in Krise oder Kampf erklären sowie prak- ziehen ist, dann diese: Der Umgang mit sem Ereignis zur Verfügung stehen. tische Beispiele für Führung und Kom- der in einer Katastrophe herrschenden Beteiligte und Betroffene lieferten den munikation liefern. Ungewissheit muss von militärischen Historikerinnen und Historikern der und zivilen Rettungskräften gemeinsam staatlichen Stellen zahlreiche Einzelhei- Lehren für die Zukunft? trainiert werden. Am besten sollte dies ten, um die verschiedenen Erfahrungen in Form einer realitätsnahen Übung verstehen zu können. In der Zukunft Mit enormen Herausforderungen kon- erfolgen, die das vorhandene Personal könnten auch andernorts ähnliche An- frontiert, konnten die Beteiligten le- schult, um es für Katastrophenfälle kri- schläge erneut erfolgen. Die Zeitzeugen diglich auf ihre Ausbildung, ihre Erfah- senfest zu machen. Improvisation kann sind uns in diesem Sinn sehr ähnlich, sie rung und ihr Improvisationsvermögen in Krisenfällen nur bedingt helfen! nehmen Dinge in gleicher Weise wahr bauen. Dank ihnen können wir uns im und reagieren ebenso wie wir. Ihr Erle- übertragenen Sinne in die Köpfe de- ben in derartigen krisenhaften Situatio- rer versetzen, die einem brennenden Sarandis Papadopoulos nen zeigt uns, was wir berücksichtigen Büro entkamen, in einen in Flammen ist US-amerikanischer Historiker und sollten, falls wir je in solch ein bedrohli- stehenden Raum rannten, um Kolle- arbeitet im Pentagon. ches, sich schnell entwickelndes Szena- gen zu retten, ein entführtes Flugzeug rio geraten. Der beste Kurs, den es einzu- abfangen wollten oder unter Zeitdruck 13
Im Blickpunkt 11. September 2001 Anti-Terror-Gesetze Enduring Freedom Special Forces NATO-Bündnisfall Taliban Afghanistan ullstein bild George W. Bush Gotteskrieger Dschihadisten Selbstmordanschläge IED Asymmetrische Kriegführung 9/11 CJTF ISIS Collateral Damage Zivile Opfer Irak Global War on Terror Drohnenangriffe Al Quaida Fundamentalismus KSK Islamismus Failed State Counter Daesh Active Endeavour Folter Guantánamo Osama bin Laden picture alliance/dpa|Preston Keres Verschwörungstheorien Ein so komplexes und gleichzeitig welthistorisch relevan- tes Ereignis wie »9/11« bietet häufig den Hintergrund für Verschwörungstheorien. Schon kurz nach den Anschlägen verbreiteten sich alternative Erklärungen zu den offiziellen Angaben der US-Behörden. Während diese erst müh- sam ermitteln mussten, was wie warum geschehen war, lieferten die Verschwörungstheoretiker schnell einfache »Antworten«. Die Hauptstränge dieser Erzählungen laufen darauf hinaus, dass die US-Regierung der eigentliche Drahtzieher der Anschläge sei oder diese geduldet bezie- hungsweise sogar unterstützt habe. Ein weiterer Bereich betrifft technische Aspekte. So seien die Türme des World Trade Centers gezielt durch Sprengsätze zum Einsturz gebracht oder das Pentagon durch einen Marschflugkörper angegriffen worden. Die Gemeinsamkeit dieser Erzählun- gen besteht jeweils darin, dass einfache »Lösungen« für Ein Feuerwehrmann fordert offensichtlich Unterstützung am komplexe Sachverhalte angeboten werden und vornehm- 15. September 2001 an. Oder braucht er etwa mehr Hilfe zum lich das Internet als Verbreitungsweg dieser »Wahrheiten« weiteren Zerstören? Was können wir auf Bildern erkennen? Auch dient. cj Bilder können Verschwörungstheorien unterstützen. 14
Militärgeschichte | 2/2021 Bei den Anschlägen des 11. September 2001 picture alliance/imageBROKER|Norbert Eisele-Hein starben knapp 3000 Menschen aus über 90 Nationen, vermutlich 2606 am World Trade Center und 125 im Pentagon, darunter 343 Feu- erwehrleute und 71 Polizisten. 265 Menschen kamen in den vier Flugzeugen ums Leben, darunter auch die 19 Selbstmordattentäter. Zahlen nach: Philipp Gassert, 11. September 2001, Ditzingen 2021, S.3. »South Pool« mit Blumen, Gedenkstätte World Trade Center. 9/11 Memorial picture alliance/Photoshot Überrest einer der zerstörten Maschinen im 9/11 Memorial Museum. Als »9/11 Memorial« oder »National September 11 Memorial and Museum« wird das Mahnmal bezeichnet, das an die fast 3000 Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 erinnern soll. Die Gedenkstätte befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen World Trade NATO-Bündnisfall Centers im Süden Manhattans, das heute als »Ground Zero« bekannt ist. An der Stelle, wo sich bis zum 11. September 2001 die Zwillingstürme des Als Folge der Anschläge vom 11. September 2001 World Trade Centers befanden, wurden zwei große wurde zum ersten und bisher einzigen Mal in der Wasserbecken geschaffen, in deren Umrandung die NATO-Geschichte der Bündnisfall ausgerufen. Dieser Namen aller Opfer der Terroranschläge eingraviert ist im Artikel 5 des NATO-Vertrages geregelt. Dort heißt sind. In der Mitte der Becken fällt das Wasser neun es: Ein bewaffneter Angriff gegen eines oder mehrere Meter in die Tiefe. Zehn Jahre nach den Anschlägen NATO-Länder wird als Angriff gegen alle im Bündnis wurde die Gedenkstätte am 11. September 2011 angesehen. In einem solchen Fall sollen alle NATO- offiziell eingeweiht. cg Partner dem Angegriffenen Beistand leisten. Eine der Folgen war der durch die UN mandatierte Einsatz in Afghanistan mit dem Ziel des Sturzes des dortigen Taliban-Regimes. cg 15
DEUTSCH-DEUTSCHE MILITÄRGESCHICHTE »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten« Berlinkrise und Mauerbau 1961 Als Walter Ulbricht, Staats- und Parteichef der DDR, im Juni 1961 diesen berühmt gewordenen Satz sagte, dauerte es nur noch wenige Wochen, bis erste Absperrungen in Berlin aufgebaut wurden. Die DDR war im Krisenmodus, ihre Bürger flohen in den Westen und gefährdeten den Weiterbestand des ostdeutschen Regimes. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wurde eine Mauer gebaut. Sie teilte Berlin und ganz Deutschland – eine Teilung, die bis 1989 andauerte. Von Winfried Heinemann Unter Beobachtung: Eine Maurerkolonne erhöht die Berliner Mauer am Potsdamer Platz im September 1961. Im Hintergrund überwachen Volkspolizisten und Angehörige der DDR-Volksarmee die Szene. 16
Militärgeschichte | 2/2021 A m Ende des Zweiten Weltkrieges den. Dazu wurde die Stadt in vier Sekto- desrepublik Deutschland, und kurz war Deutschland besetzt. Die Ge- ren geteilt, wobei alle Besatzungsmächte darauf entstand in der »Ostzone« unter biete östlich von Oder und Nei- sich in ganz Berlin frei bewegen durften. Führung der Sozialistischen Einheits- ße fielen an Polen und die Sowjetunion Das sollte gemäß dem Potsdamer Ab- partei Deutschlands (SED) die Deut- und im verbleibenden Teil Deutsch- kommen gelten, bis eine von allen getra- sche Demokratische Republik unter so- lands richteten die Siegermächte So- gene Regelung über Deutschland als wjetischer Vorherrschaft. Diese erklärte wjetunion, USA, Großbritannien und Ganzes gefunden und ein Friedensver- bald den sowjetischen Sektor von Berlin Frankreich vier Besatzungszonen ein. trag unterzeichnet wurden. zur »Hauptstadt der DDR«, obwohl die Einen Sonderfall bildete die ehema- Dazu aber kam es nicht. Wie die Welt unter Vier-Mächte-Verwaltung ste- lige Reichshauptstadt Berlin, mitten in und Europa wurde Deutschland dauer- hende Stadt bei genauer Betrachtung der sowjetisch besetzten Zone gelegen, haft durch die aufkommende bipolare gar nicht zum Staatsgebiet der DDR ge- aber dennoch nicht zu ihr gehörend. Ordnung geteilt. Die in den drei westli- hörte. West-Berlin hingegen war nun- Vielmehr sollte Berlin von den »Vier chen Besatzungszonen wiedergeschaf- mehr vom Umland isoliert. Wie unsi- Mächten« gemeinsam verwaltet wer- fenen Länder gründeten 1949 die Bun- cher die Verbindungen in den Westen UPI/Süddeutsche Zeitung Photo 17
DEUTSCH-DEUTSCHE MILITÄRGESCHICHTE waren, zeigte sich, als im Sommer 1948 Berlin benutzen sowie ungehindert Die Sechsmonatsfrist verstrich, ohne die Sowjets die Zugangswege nach durch den DDR-Luftraum fliegen. Sollte dass die Sowjetunion ihre Ankündigung West-Berlin abriegelten – Straßen, Ei- die DDR sich als vollgültiger Staat etab- wahrmachte. Für die DDR-Oberen senbahnen und Wasserwege. Lediglich lieren wollen, würde dieser »anomale« wurde die Situation immer unhaltbarer: auf dem Luftweg war die »Insel im Ro- Zustand beseitigt werden müssen. Ihr Status als souveräner Staat war wei- ten Meer« noch zu erreichen. Dass die Schon früh drängte die Ost-Berliner Re- terhin nicht gesichert, und die Abwan- Westalliierten trotzdem nicht aufgaben, gierung daher auf jenen Friedensvertrag, derung hielt an. Andererseits hatten vor sondern fast ein Jahr lang ihre West- der ihrem Staat die volle Souveränität allem die USA deutlich gemacht, dass Berliner Garnisonen und die Bevölke- gewähren und die westalliierten Zu- ihr Verbleib in der Stadt und die Siche- rung mit einer »Luftbrücke« versorgten, gangsrechte beenden würde. Damit rung der Zugangswege »essential«, also bewies ihre politische Entschlossen- könnte man gleich mehrere Fliegen mit unverzichtbar waren. Von Ost-Berlin heit. In den Augen der West-Berliner einer Klappe schlagen: Die Westmächte war dabei keine Rede gewesen – US-Prä wandelten sich die früheren westlichen würden sich nicht in Berlin halten kön- sident John F. Kennedy hatte damit still- »Siegermächte« jetzt zu »Schutzmäch- nen; über kurz oder lang würde auch der schweigend der DDR freie Hand für ten«. Westteil der Stadt der DDR zufallen. Maßnahmen auf ihrem eigenen Territo- Könnte die DDR darüber bestimmen, rium gelassen. Ulbrichts Kontrollverlust wer ihren Luftraum nutzt, würde zudem Damit rückte die Möglichkeit in den niemand mehr unkontrolliert aus West- Vordergrund, West-Berlin völlig vom 1952 begann die DDR-Regierung, die Berlin in die Bundesrepublik gelangen Ostteil der Stadt abzuriegeln. Vielleicht etwa 115 km lange Grenze des Berliner können – auch das Flüchtlingsproblem würden die Westalliierten auf diese Umlands zu West-Berlin zu befestigen, wäre mit einem Schlag gelöst. Weise einsehen, wie unhaltbar ihre Posi- um ihre Bevölkerung an der Flucht zu Am 27. November 1958 übermittelte tion dort war? Wollte die SED die beiden hindern. Die innerstädtische Grenze die sowjetische Führung unter General- Hälften der Stadt mit einer Mauer tren- zwischen Ost- und West-Berlin hinge- sekretär Nikita S. Chruschtschow den nen? »Niemand hat die Absicht, eine gen, rund 45 km lang, blieb vorerst noch drei Westmächten die Forderung, inner- Mauer zu errichten«, sagte deren Partei- offen. Weiterhin konnten Bürger der halb eines halben Jahres in diesem Sinne chef Walter Ulbricht noch in einer Pres- DDR auf dem Umweg über Ost-Berlin einen Friedensvertrag mit Deutschland sekonferenz am 15. Juni 1961. in den freien Teil der Stadt flüchten, zu schließen; sollten die drei West- von wo sie dann nach Westdeutschland mächte dem nicht nachkommen, werde Eine Mauer als Lösung ausgeflogen wurden. Diese Fluchtbewe- die Sowjetunion einseitig den Kriegszu- gung nahm mit der Zeit stetig zu, vor stand mit Deutschland beenden und der Da liefen die Vorbereitungen jedoch allem nachdem die sowjetische Besat- DDR die volle Souveränität zugestehen. schon auf Hochtouren, und auch Mos- zungsmacht am 17. Juni 1953 den Volks- Hektische Betriebsamkeit in Washing- kau hatte inzwischen seine Zustim- aufstand auf den Straßen der DDR mit ton, London, Paris, aber auch in Bonn mung gegeben – Chruschtschow war militärischer Gewalt niedergeschlagen war die Folge. Würde es zu einer erneu- nicht bereit, wegen Berlin einen Atom- hatte. Der niedrigere Lebensstandard, ten Blockade der Zugangswege kom- krieg zu riskieren, den sein Land nicht die Einparteienherrschaft und die all- men; würde eine erneute Luftbrücke würde gewinnen können. Und doch gemeine Unfreiheit im SED-Staat trie- notwendig sein? steckte in Ulbrichts Erklärung ein Körn- ben viele Menschen dazu, das Risiko Die Westalliierten waren schon früh chen Wahrheit: Die Absicht war ja, die einer Flucht in den Westen auf sich zu zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht Westalliierten durch die Abriegelung nehmen. Da der »Arbeiter- und Bauern- noch einmal möglich sein würde, West- der Grenze aus der ehemaligen Haupt- staat« Akademiker und Intellektuelle Berlin längere Zeit aus der Luft zu ver- stadt zu verdrängen. Danach würde man stark benachteiligte, war unter diesen sorgen. Stattdessen gedachten sie im ganz Berlin dem eigenen Machtbereich Bevölkerungsgruppen die Bereitschaft Falle einer erneuten Blockade der Zu- einverleiben und die Absperrungen zur Flucht besonders hoch; Ostdeutsch- fahrtswege, mit begrenzten militäri- wieder aufheben. land drohte personell auszubluten. schen Vorstößen einen möglichen Krieg Was also da am 13. August 1961, einem Schätzungen zufolge verließen zwi- zu riskieren. Dazu wurde – zusammen Sonntagmorgen, entlang der innerstäd- schen 1949 und 1961 über zwei Millio- mit der Bundesregierung – ein separater tischen Grenze entstand, war zunächst nen Menschen die DDR. und hochgeheimer militärischer Pla- eher ein Provisorium, und an den meis- Das stellte die staatliche Legitimität nungsstab namens »LIVE OAK« geschaf- ten Stellen sah es auch so aus. Von einer des SED-Regimes in Frage. Hinzu kam, fen, der solche Szenarien durchspielen »Mauer« konnte zumeist keine Rede dass die DDR offenbar kein wirklich sou- und Planungen für Gegenmaßnahmen sein, vielmehr wurde Stacheldraht aus- veräner Staat war, denn die Westalliier- entwickeln sollte. Auch die NATO er- gerollt und so gut es ging mit pioniermä- ten konnten die ostdeutschen Straßen, klärte, West-Berlin falle unter den ßigen Mitteln befestigt. Die nach dem Schienen und Kanäle auf dem Weg nach Schutz des Bündnisses. DDR-Volksaufstand von 1953 gebildeten 18
Militärgeschichte | 2/2021 »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« si- dabei erlittenen Verletzungen. Die nicht überwacht werden. Die erste Ge- cherten, Maschinenpistolen im An- Westalliierten machten jedoch auch in neration der »Mauer« war dann in der schlag, die Arbeiter – und hinderten sie Anbetracht dieser Maßnahmen keiner- Tat gemauert, Stein auf Stein, obwohl zugleich, im Verein mit der Volkspolizei, lei Anstalten, aus ihren Sektoren abzu- Baumaterialien in der DDR knapp wa- an der Flucht. Erst im Hinterland der ei- ziehen. Wollte die DDR nicht ihr Gesicht ren. Aber diese Lösung erwies sich nicht gentlich entmilitarisierten Stadt stand verlieren, musste sie die Absperrungs als besonders stabil: An der Grenze zum die Nationale Volksarmee der DDR be- maßnahmen auf Dauer befestigen. französischen Sektor fielen im Winter reit, außer Sichtweite des Westens. So Erst jetzt wurde an einigen Stellen 1962 rund hundert Meter Mauer schlicht provisorisch waren die Absperrungen, (aber auch längst nicht überall!) aus den um. dass sie der 19-jährige Grenzpolizist Stacheldrahtrollen eine dauerhafte Erst sehr viel später entstanden andere Conrad Schumann in einem unbeob- Mauer. Allerdings erlaubten die inner- Formen der »Berliner Mauer«: senkrecht achteten Moment mitsamt seiner Ma- städtischen Verhältnisse nicht, die Er- stehende H-Profile aus Stahl, zwischen schinenpistole überspringen konnte, fahrungen an der innerdeutschen denen vertikale Betonplatten eingelas- um in den Westen zu gelangen. Auch die Grenze eins zu eins zu übertragen. Der sen wurden, und noch später die heute erste Mauertote war ein Indiz für die un- »Todesstreifen«, anderswo fünfzig Me- wohl sinnbildlichen L-förmigen Beton- vollständige Abriegelung: Ida Siekmann ter und mehr breit, schrumpfte in Berlin segmente mit der oben aufgesetzten gelang es am 22. August 1961, aus dem hier und da auf wenige Meter zusam- Rolle. Fenster ihrer Wohnung in der Bernauer men. Entsprechend höher war der per- Doch die politischen Spannungen wa- Straße zu springen. Sie schlug auf dem sonelle Aufwand, denn auch hier galt ren noch nicht beigelegt. Noch immer bereits zu West-Berlin gehörenden Bür- die alte militärische Erfahrung, wonach machten die Westalliierten ihr Recht auf gersteig auf, erlag aber kurz darauf ihren Sperren wirkungslos sind, wenn sie Präsenz in der gesamten Stadt Berlin picture alliance/dpa|Rainer Jensen Sprung in die Freiheit: Der Grenzpolizist Conrad Schumann bei seiner Flucht am 15. August 1961. Die Fotografie ist auf dem Gelände der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße in Berlin zu sehen. 19
DEUTSCH-DEUTSCHE MILITÄRGESCHICHTE Konfrontation: US-amerikanische und sowjetische Panzer stehen Ende 1961 am Grenzkontrollpunkt Friedrichstraße »Checkpoint Charlie« in Berlin. picture alliance/dpa geltend, und das hieß auch, dass sie sich tierte aus der mittlerweile verfolgten die einst über die innerstädtische Grenze nicht von Deutschen an den Sektoren- Politik der Entspannung zwischen Ost geführt hatten und nun an der »Mauer« grenzen kontrollieren ließen. Die Probe und West – Brandt war inzwischen Bun- endeten, wurden auch in West-Berlin aufs Exempel machte ein Mitarbeiter der deskanzler geworden – unter anderem überbaut. Wer ein Beispiel sucht, schaue US-Botschaft Mitte Oktober am Grenz- ein Viermächte-Abkommen, das die alli- sich die »Potsdamer Straße« am Potsda- übergang Friedrichstraße (»Checkpoint ierten Zugangsrechte festschrieb und mer Platz an: quer über der Straße, die Charlie«). Als die DDR-Grenzer ihn kon- auch die Besuche von West-Berlinern früher von Berlin nach Potsdam führte, trollieren wollten, erschien ein Zug be- im Osten der Stadt auf eine sicherere steht heute die von Hans Scharoun er- waffneter US-amerikanischer Infanterie rechtliche Basis stellte. baute Staatsbibliothek. und eskortierte den Diplomaten durch Die West-Berliner empfanden ihre die DDR-Grenzübergangsstelle. Die Si- Wer ist drinnen, wer ist draußen? Stadt als »Insel«. In dem Musical »Li- tuation eskalierte über mehrere Tage, bis nie 1«, seit den 1970er Jahren das Parade- sich am 27. Oktober 1961 US-amerikani- Für die Bewachung der Grenzanlagen stück des Kinder- und Jugendtheaters sche und sowjetische Kampfpanzer auf betrieb die DDR einen gewaltigen Auf- »Grips« im West-Berliner Hansaviertel, wenige Meter Entfernung gegenüber- wand. Die Truppen des »Grenzkom- heißt es: »Berlin ist die einzige Stadt der standen. Es bedurfte eines unmittelba- mandos Mitte«, das allein der Bewa- Welt, wo in jede Richtung Osten ist.« ren Kontakts zwischen US-Präsident chung der Berliner Grenzanlagen diente, Aber wer war nun eigentlich einge- John F. Kennedy und dem sowjetischen entsprachen in etwa einer Division der sperrt? Die West-Berliner auf ihrer »In- Parteichef Nikita S. Chruschtschow, um Nationalen Volksarmee. Jedoch stellte sel im Roten Meer«, dem »Außenposten die angespannte Lage schrittweise zu sich wie jeher die Frage: »Wer aber be- der Freiheit«, wie sie es empfanden? War entschärfen. wacht die Wächter?« – auch Soldaten die Mauer ein »antifaschistischer Es blieb bei der dauerhaften Teilung der Grenztruppen desertierten immer Schutzwall«, der das Arbeiter- und Bau- der Stadt. Die menschlichen Härten wa- wieder. Aufwendige technische Siche- ernparadies DDR vor Spionen und »Zer- ren erschütternd: Eltern und Kinder rungsanlagen und ständig verbesserte setzern« bewahren sollte? Die Struktur konnten einander nicht mehr besuchen, bauliche Vorkehrungen sollten Flucht- des Mauerbaus und der tief gestaffelten Brüder nicht ihre Schwestern. Oft genug versuche möglichst schon weit im Hin- Anlagen ließ und lässt keinen Zweifel mussten ein Blick und ein Winken über terland der Grenze unterbinden, sodass daran, dass die »Mauer« fast ausschließ- den Stacheldraht hinweg genügen. Nach Schusswaffen nicht eingesetzt werden lich der Verhinderung von Bewegungen einigen Jahren gelang es dem West-Ber- mussten und die Medien im Westen aus der DDR nach West-Berlin, also von liner Senat und dem Regierenden Bür- nichts bemerkten. Immerhin sei dies Fluchtversuchen von DDR-Bürgern germeister Willy Brandt, kleine Erleich- eine »Grenze wie andere auch« – oder diente. Diese waren es, die in Wirklich- terungen zu erzielen. Weihnachten 1963 jedenfalls wollte die DDR diese Fiktion keit eingemauert waren. Gewiss: West- konnten West-Berliner erstmals mit ei- aufrechterhalten. Da waren nächtliche Berliner konnten nicht einfach nach nem »Passierschein« ihre Verwandten Schießereien nicht willkommen. Schon Potsdam, Jüterbog oder Rheinsberg fah- im Ostteil der Stadt besuchen, wenn ein bald rechnete niemand mehr so recht ren – aber nach Hamburg, Helmstedt »familiärer Härtefall« vorlag. 1971 resul- mit einem Ende der Teilung. Straßen, oder Hof schon. Die Grenzübergänge zu 20
Militärgeschichte | 2/2021 den Transitwegen waren zur Hauptrei- Aufgabe der geplanten westdeutschen So betrachtet lässt sich die Frage »Wer sezeit in aller Regel überlastet, und schi- Wiederbewaffnung und damit der West- ist drinnen? Wer ist draußen?« auch kanös waren die Grenzkontrollen noch bindung) in Aussicht gestellt hatte, ge- ganz anders beantworten. Letztlich hat- dazu: Aber die West-Berliner konnten hörten ebenfalls in diesen Zusammen- ten Moskau und sein Satellitenregime in aus ihrer Stadt heraus, die DDR-Bürger hang. Diese Grundlinie sowjetischer Ost-Berlin sich selbst eingemauert. Sie aus ihrem Land nicht. Politik hatte sich auch mit der Entstalini- hatten eingestanden, dass die Präsenz War der »Mauerbau« am 13. August sierung der Jahre 1953‑1956 nicht geän- der drei Westmächte in der Mitte der 1961 also ein erneutes Zeichen für die dert, wie Chruschtschow mit seinem DDR von Dauer sein würde. aggressiven, expansiven Absichten der Vorschlag eines Friedensvertrages 1958 So ganz war aber die auf Veränderung sowjetischen und der Ost-Berliner Par- deutlich machte. Letztlich ging es da- gerichtete sowjetische Politik noch teiführungen? Wohl kaum, eher im Ge- rum, die Sicherheitsgarantie der USA nicht an ihr Ende gekommen. Im Okto- genteil. unglaubwürdig werden zu lassen und so ber 1962 verlagerte Chruschtschow die Auseinandersetzung mit den USA in die westliche Hemisphäre. Die Stationie- Aufbau der Grenzanlagen um Berlin Ende der 1970er Jahre rung sowjetischer Nuklearwaffen auf Kuba sollte das gesamtstrategische Gleichgewicht entscheidend verändern. Berlin Grenzsignalzaun 2,3 m Berlin US-Präsident Kennedy wusste die Ku- (West) Glasfaserstäbe Plasteabweiser (Ost) bakrise so zu meistern, dass am Ende ein Chrom-Nickel-Stacheldraht Abbau der sowjetischen Raketen stand. Hinterlandmauer oder -zaun 2 m bis 3 m Erneut war ein sowjetischer Versuch ge- scheitert, die Mächtebalance nachhaltig Grenzmauer Kolonnenweg zu verschieben. 3,2 m Betonplatten Berlin- und Kubakrise gehören daher Erdbeobach- tungsstelle unmittelbar zusammen. Sie markieren Lichttrasse das, wie sich zeigte, endgültige Schei- tern einer auf Expansion ausgerichteten Politik Moskaus. Die Stadt Berlin hat dafür einen hohen Preis gezahlt; fast Kfz-Sperrgraben Postenhaus/ vierzig Jahre lang lebten Ost- wie West- oder Höckersperren Grenzsignal- Staatsgrenze Kontrollstreifen Beobachtungsturm Flächensperren zaunanlagen Berliner in gewisser Weise »drinnen« und hinter Stacheldraht. 140 Menschen Quelle: Originaldokument der Grenztruppen der DDR, GVS-Nr. G 691 936, BArch. © ZMSBw verloren allein an dieser Grenze der DDR 09134-02 rund um Berlin ihr Leben, darunter spie- lende Kinder, Flüchtlinge auf dem Weg in die Freiheit und auch Grenzsoldaten. Josef Stalin hatte die sowjetische Besat- die andere große Siegermacht des Zwei- zungszone in Deutschland und später ten Weltkrieges aus der europäischen Si- die daraus gegründete DDR nicht nur als cherheitspolitik hinauszudrängen. Winfried Heinemann den sowjetischen Anteil an der Kriegs- Das sowjetische Ziel war eine Verände- ist Oberst a.D. und Honorarprofessor an beute gesehen, nicht nur als wirtschaft- rung des Status quo gewesen; darin war der Brandenburgischen Technischen lich starkes Land, aus dem Reparationen man sich mit der DDR-Führung einig. Universität Cottbus und forscht zum herausgepresst werden konnten, um den Aber einen Krieg wegen Berlin zu füh- militärischen Widerstand im National Wiederaufbau der kriegszerstörten sow- ren, dazu war man in Moskau nicht be- sozialismus sowie zur Militärgeschichte jetischen Industrie und Infrastruktur vo- reit. Zu eindeutig war das US-amerikani- der DDR und der NATO. ranzutreiben. Für Stalin war der östliche sche nukleare Übergewicht, zu sehr Teil des besetzten Deutschlands zugleich wirkten die verheerenden Schäden des der Brückenkopf, von dem aus das ganze Zweiten Weltkrieges noch nach, als dass Literaturtipps Land unter seine Kontrolle gebracht wer- Chruschtschow einen weiteren Konflikt Harald van Nes, Das Ringen um Berlin im den sollte – und letztlich ganz Europa. in Kauf genommen hätte. Einen Stell- Kalten Krieg. Die Geschichte von LIVE OAK, Die Berlin-Blockade 1948/49 hatte die- vertreterkrieg in Korea hatte Stalin 1950 Berlin 2021. sem Ziel gedient; die »Stalin-Noten«, in noch gebilligt – eine Konfrontation, die Jochen Maurer, Halt – Staatsgrenze! Alltag, denen 1952 der Diktator ein Jahr vor sei- in einem nuklearen Schlagabtausch en- Dienst und Innenansichten der Grenztruppen nem Tod eine Wiedervereinigung auf den konnte, wäre für die Sowjetunion der DDR, Berlin 2015. dem Boden der Neutralität (also nach nicht zu gewinnen gewesen. 21
Sie können auch lesen